ra-2A. RossJ. LukasA. LassonPuchtaF. Adickes    
 
FELIX DAHN
Zur Lehre von den
Rechtsquellen


"Warum gelangen die Menschen überhaupt zum Recht? Weil der Mensch nicht bloß um des lieben Friedens willen und zur Verhütung von Mord und Raub das praktische Bedürfnis nach einer beliebigen Ordnung der äußeren Verhältnisse der Menschen zueinander und zu den Sachen hat, sondern neben dieser realen Nötigung zum Recht die ideale innere Notwendigkeit, das theoretische Vernunftbedürfnis ihn zwingt, nicht eine beliebige, sondern eine vernünftige Friedensordnung der äußeren Verhältnisse zu anderen Menschen zu den Sachen zu gestalten."

"Es gibt keine objektive Natur der Sache, vielmehr ist jedes Rechtsideal ein relatives: auch die Römer glaubten in ihrer naturalis ratio ein solches objektives für alle Völker und Zeiten gleichbleibendes Instrument für juristische Konstruktionen gefunden zu haben: aber diese naturalis ratio ist lediglich das relative Rechtsideal der Römer und zwar der Römer einer bestimmten Kulturperiode."

"Wirft man die nicht zu unterdrückende Frage auf: Warum? aus welchem Grund wird die Verbindlichkeit der Gesetze allgemein anerkannt? so erhalten wir die wenig befriedigende Antwort: weil sie durch den Staatswillen verkündet sind; und fragen wir weiter, warum muß man dem Staatswillen gehorchen? so erfahren wir: weil die Existenz des Staates selbst anerkannt ist. Hiernach würde jeder nicht mehr an die Gesetze gebunden sein, der erklärte, für seine Person die Existenz des Staates nicht mehr anerkennen, auf seine Hilfe und seinen Schutz verzichten, dagegen auch an seine Normen nicht gebunden sein zu wollen."

Ich knüpfe an die Besprechung der vielfach anregenden Schrift von FRANZ ADICKES, Zur Lehre von den Rechtsquellen, die Erörterung einiger Fragen, welche den Rechtsphilosophen, den Rechtshistoriker und den Praktiker fast gleichmäßig beschäftigen müssen. Eine erschöpfende Darstellung der Lehre vom Gewohnheitsrecht vom Standpunkt der neuen, auf vergleichender Rechtsgeschichte fortbauenden historischen Schule, welche die Methode und Ergebnisse der deutschen Philosophie seit HEGEL und SCHELLING nicht ignoriert, wie die alte historische Schule, sondern verwertet, wäre eine dankenswerte Arbeit, die des berufenen Meisters harrt.

ADICKES bemerkt mit Recht (Seite V), daß die schon vor einem Menschenalter von SAVIGNY als die nächste Aufgabe der wahrhaft historischen Rechtswissenschaft bezeichnete Aufgabe: "Ausscheidung der abgestorbenen und nur scheinbar noch fortlebenden Teile des römischen Rechts" noch immer nicht gelöst ist, und findet den Grund darin, daß der Beweis der  Ausübung  eines derogatorischen [beschränkenden, aufhebenden - wp] Gewohnheitsrechts, welche er neben der Rechtsüberzeugung als Voraussetzung der Entstehung von Gewohnheitsrecht fordert, in den meisten Fällen nicht zu erbringen sei.

Es müssen daher die Bedingungen untersucht werden, unter denen einzelne Bestandteile der römischen Rechtstheorie für nicht mehr anwendbar erklärt werden dürfen: eine Untersuchung der Lehre von den Rechtsquellen erscheint so als Vorarbeit für die weiter in Aussicht gestellte Erörterung über die Geltung des römischen Rechts als Quelle des heutigen Zivilrechts - das ist Zweck und Bedeutung der vorliegenden Schrift.

Die Lehren des römischen Rechts sind anerkanntermaßen nicht maßgebend in dieser Materie. Die Frage: "Welches sind die Quellen des Rechts?" ist so notwendig eine rechtsphilosophische wie die für dieselbe präjudizielle: "Was ist das Wesen des Rechts?" und kein Volk und keine Zeit kann die Tyrannisierung seines Denkens ertragen, welche darin läge, sich auch diese Fragen von einer anderen Nation oder zeit beantworten zu lassen, so daß auch hier nur eine "Rezeption" des von anderen Gedachten vorläge.

Hier ist vielmehr eine der Brücken geschlagen, auf denen sich immer wieder die notgedrungene Annäherung der positiven Rechtswissenschaft an die philosophische Betrachtung des Rechts vollzieht: hier fühlt man sich auf das Prinzipiensuchen, d. h. eben auf Philosophieren angewiesen. Die positive Rechtswissenschaft kann jene Fragen aus ihrem Material heraus nicht beantworten.

Nach der ursprünglichen Theorie der historischen Schule soll (nach ADICKES) der Volksgeist der letzte Grund des Rechts sein, dessen unmittelbare Grundlagen aber die von diesem "befruchteten" Quellen: die gemeinsame Rechtsüberzeugung (Gewohnheitsrecht), Gesetz und Wissenschaft.

Auf diesem Boden sei aber eine Theorie der Rechtsquellen nicht aufzubauen, da die gesetzlichen Bestimmungen in ihrer Geltung selbst bestritten werden (z. B. inwiefern ein Gesetz, welches die Bildung von Gewohnheitsrecht überall ausschließt, gelten kann), das Gewohnheitsrecht nur wenige unzureichende Normen hierüber aufstellt in Ermangelung einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung in diesen Fragen und die Wissenschaft, sofern sie überhaupt als besondere Rechtsquelle erscheint, nur vorhandenen Rechtsstoff weiter verarbeiten, nicht solchen schaffen kann. Die philosophischen Deduktionen aber, aus welchen man die Lehre von den Rechtsquellen konstruieren will, seien entweder unfähig, objektives Recht zu schaffen oder man müsse zum Satz des alten Naturrechts zurückkehren, welchen die historische Schule, wie man bisher angenommen hat, für immer widerlegt hat: daß nämlich die bloße subjektive Vernunft eine Quelle objektiven Rechts ist (Seite 4 - 6).

ADICKES bemüht sich nun, diesen scheinbar sehr gefährlichen Satz teils einzuschränken, teils gegen die historische Schule aufrechtzuhalten.

Dieser Satz ist aber, richtig verstanden,  voll  vereinbar mit den Lehren der  fortgeschrittenen  historischen Schule, welche sich der philosophischen Durchbildung nicht verschließt, vielmehr die durch HUGO, PUCHTA, SAVIGNY inhaltlich gewonnenen Ergebnisse mit philosophischer Methode, aber freilich immer auf dem Boden der Beobachtung, d. h. der vergleichenden Rechtsgeschichte, verwertet.

Ich habe schon vor Jahren die Grundlinien einer rechtsphilosophischen Anschauung auf der Basis der fortgebildeten historischen Schule angedeutet (1) und bin allerdings fest überzeugt, daß eine Rechtsphilosophie, die den Namen einer Wissenschaft und nicht einer Phrasensammlung verdient, nur durch eine Kombinierung der philosophischen Methode mit der Rechtsvergleichung geschaffen werden kann: wie alle Sprachphilosophie, Kunst- und Religionsphilosophie desgleichen fortan der historischen Methode, des "verglichenen Experiments" nicht wird entraten können. Der Unterschied naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung liegt fortan nur im Objekt, nicht mehr in der Methode.

Die subjektive Vernunft ist allerdings die letzte Erzeugerin allen Rechts, nur gibt es eine rein-subjektive Vernunft überall nicht: vielmehr ist jedes Individuum, auch das genialste, bedingt durch den Inbegriff seiner geschichtlichen Voraussetzungen und zumal durch den Nationalcharakter seines Volkes. Hierin liegt der Versöhnungspunkt der philosophischen und der historischen Rechtsschule. Einerseits ist der kühne Denker, der das Recht  a priori  konstruieren oder ganz originelle Rechtssätze abstrakt schaffen will - Rechtsphilosophen wie KANT, FICHTE, HEGEL oder die Verfasser der verschiedenen aus der "reinen Vernunft konstruierten" Konstitutionen der französischen Republik - doch immer abhängig von seiner Nationalität und Zeit; nur in deutscher Sprache und von Deutschen konnten die Philosopheme der genannten drei Männer gedacht werden und die Zeitverhältnisse Deutschlands spiegeln sich in KANTs Kosmopolitismus wie in FICHTEs patriotischen Reden und in HEGELs System der Verherrlichung des protestantischen und monarchisch-konstitutionellen Preußen - und andererseits wird ja das "objektive Recht" durch die subjektive Rechtsvernunft der Gesetzgeber, Juristen und der einzelnen Glieder der Rechtsgenossenschaft gebildet und verändert.

Damit widerlegt sich unserer Auffassung nach von tiefster rechtsphilosophischer Basis aus der vom Verfasser ebenfalls bekämpfte Einwand, daß die subjektive Rechtsüberzeugung wegen der unerläßlichen Positivität allen Rechts nicht Recht schaffen kann, da das freie Individuum nur der objektiv bestehenden Rechtsnorm, nicht der subjektiven Rechtsüberzeugung anderen unterworfen werden kann: die subjektive Rechtsüberzeugung  wird  eben objektives Recht, sie macht sich als solches geltend, indem sie sich ausspricht und, nötigenfalls mit Gewalt, gegen eine bisher bestandene der ehemaligen Rechtsüberzeugung der Mehrzahlnicht mehr entsprechende Rechtsnorm durchsetzt. Allerdings die rein innerlich gehegte, gar nicht manifestierte, ich möchte sagen, bloß theoretische Rechtsüberzeugung auch der Mehrzahl der Genossen eines Lebenskreises ist ansich noch nicht objektives Recht, aber sie kann es jeden Augenblick werden, wenn sie als Gesetz oder als Gewohnheitsrecht auftritt: ja, sie kann auch, in merkwürdiger Vermischung rechtschaffender und rechtanwendender, d. h. gesetzgeberischer und richterlicher Gewalt im  Urteil  sofort als objektives Recht erscheinen; der Verfasser weist mit Fug darauf hin, daß nicht nur die deutschen Schöffen des Mittelalters in Fällen, welche das bisherige Statut oder Gewohnheitsrecht nicht vorgesehen hatte, aus ihrer redlichen Rechtsüberzeugung heraus neue Rechtssätze schöpften und sie auf den vorliegenden Fall anwandten: Rechtserzeuger und Richter, Urteiler) Rechtsanwender zugleich - auch in der römischen Republik wurden die Strafurteile von den Komitien [Versammlungen - wp] in unvorhergesehenenn Fällen aus der freien Überzeugung herausgefunden, wie ohne Zweifel ein germanisches  Thing,  vor Einführung der Schöffenverfassung, ebenfalls einen bisher nicht vorhergesehenen Fall aus der Überzeugung der Thing-Genossen zu entscheiden für sich berufen erachtet haben würde. Und zwar von Rechtswegen, denn das sind nicht abnorme, das sind die normalen Voraussetzungen der Rechtsbildung.

Warum gelangen die Menschen überhaupt zum Recht? Weil der Rechtstrieb ein wesentlicher notwendiger Faktor der menschlichen Vernunft ist, weil das Recht ein notwendiges Attribut menschlicher Gesellung, menschlichen Wesens in Gesellung ist - und das Naturgesetz zwingt den Menschen zur Gesellung - wie Familie, Sprache, Kunst, Religion und Ethos. Weil der Mensch nicht bloß um des lieben Friedens willen und zur Verhütung von Mord und Raub das praktische Bedürfnis nach einer  beliebigen  Ordnung der äußeren Verhältnisse der Menschen zueinander und zu den Sachen hat, sondern neben dieser realen Nötigung zum Recht die ideale innere Notwendigkeit, das theoretische Vernunftbedürfnis ihn zwingt, nicht eine beliebige, sondern eine  vernünftige  Friedensordnung der äußeren Verhältnisse zu anderen Menschen zu den Sachen zu gestalten.

So vollzieht sich im Zusammenleben der Menschen unaufhörlich und unwillkürlich die Fortbildung des Rechts, ganz wie die Umbildung der Sprache: taucht ein neues Lebensverhältnis, eine neue Beziehung zur Sachenwelt auf oder gestalten sich aus Gründen veränderter Kultur-, Wirtschafts-, Verkehrszustände die bisherigen Beziehungen zu gewissen Sachen tatsächlich anders, so wartet die Rechtsproduktion in der Volksseele nicht, bis etwa durch einen Zusammentritt zur Volksversammlung auf dem Weg der Gesetzgebung von Staats wegen für den neuen Lebensinhalt die neue Rechtsform festgestellt wird, sondern stillschweigend bildet sich in allen Einzelnen, welche überhaupt von dem neuen Problem berührt werden, eine Vernunftüberzeugung über die bestimmte Form für diese neue Lebensgestaltung - diese Überzeugung wird aus später zu erörternden Gründen in den meisten Fällen eine mehr oder weniger gleiche sein - und ohne Zweifel ist diese mit der  opinio necessitatis  begleitete Rechtsüberzeugung theoretisches, inneres Recht, welches, sowie es sich im Leben bei der ersten Anwendung bestätigt, bereits praktisches, äußeres Recht geworden ist. In diesem Sinn ist die Unterscheidung des Verfassers Seite 9 von zweierlei objektivem Recht, dem bereits "positivierten" und jenem, welches für den neu auftauchenden Fall erst gefunden wir, wohl begründet.

Die Rechtsbildung ist ein Kristallisationsprozeß: nicht nur nach der vollendeten Kristallisation, auch schon im Augenblick des Zusammenschießens der Gedanken zu einem neuen Rechtsgebilde ist "Recht" vorhanden; die entgegenstehende Ansicht, welche nur das positivierte Recht kennt, verkennt die Kontinuität der Rechtsbildung. Aber freilich, wenn die neue theoretische Rechtsüberzeugung nicht dazu gelangt, sich zu betätigen, entweder in der Form eines das bisherige Recht ändernden Gesetzes, oder in praktischen Anwendungen des neuen Rechtsgedankens, welche das bisherige Recht durchbrechen, dann liegt eben nur der  Versuch  einer Rechtsbildung vor, dann ist es dem theoretischen Rechtspostulat nicht gelungen, sich als praktisches Recht zu verwirklichen: z. B. ist ja das Rechtspostulat der Abschaffung der Leibeigenschaft, des Zunftzwangs und dgl. lange Zeit eben nur ein Rechtspostulat geblieben. Der Richter (Seite 11) ist daher allerdings ein sehr wichtiges, aber keineswegs das einzige Organ der Neubildung des Rechts: Handelsgebräuche der Kaufleute können lange Zeit bereits neues Recht geschaffen haben, theoretisches und praktisches, bevor eine richterliche Entscheidung der Frage provoziert wird. Alsdann ist es freilich von großer Wichtigkeit, wie sich der Richter zu einem neu erwachsenen Recht stellt oder nach der geltenden Gesetzgebung, welche z. B. derogatisches Gewohnheitsrecht ausgeschlossen wissen will, stellen soll.

Die sich neu bildende Rechtsanschauung der Genossen eines Lebenskreises wird nun im Großen und Ganzen wesentlich eine gleiche, übereinstimmende sein, schon deshalb, weil ihnen eben die zu ordnenden Probleme und die in den äußeren natürlichen, wirtschaftlichen, kurz historischen Voraussetzungen für die Art dieser Ordnung gegebenen Anhaltspunkte gemeinsam sind. Auf die Bedeutung dieser  "geschichtlichen Voraussetzungen"  kommen wir zurück - sie sind neben dem inneren Faktor, dem  National-  (oder Genossen-)  Charakter,  der äußere Faktor aller Rechtsproduktion. ADICKES verwertet diesen Begriff nur (Seite 14), um zu zeigen, daß die "subjektive Vernunft niemals unbeschränkt subjektiv schalten und walten kann.

Mit Recht wird (Seite 19) die Vernunft als die letzte, oberste Quelle des Rechts, die betreibende Ursache der Rechtsbildung bezeichnet und die "Natur der Sache" unmittelbar als Rechtsquelle hiervon abgeleitet: der Nachweis, in was für einem notwendigen Zusammenhang mit den übrigen Gebieten des inneren und äußeren menschlichen Lebens die Sphäre des Rechts steht, wird nicht geführt: wie uns dann der einzige Mangel in der Komposition der herangezogenen Abhandlung darin zu beruhen scheint, daß bei ansich nicht unrichtigen Sätzen die tiefere rechtsphilosophische Begründung fehlt, die doch, wenn solche Fragen einmal angeregt sind, die einzig erschöpfende, das Problem nach allen Richtungen lösende ist.

Das Richtige an der Lehre der alten naturrechtlichen Schule soll die Erkenntnis gewesen sein, daß die Vernunft die letzte Grundlage des Rechts ist, das Irrige die Annahme, daß diese Vernunft das Recht frei aus sich heraus in nur begrifflicher Entwicklung und unter Abstraktion von den Realitäten des Lebens zu gestalten vermag: letzteren Irrtum soll die historische Schule widerlegt, aber leider im Eifer des Streits um die Gegensätzlichkeit der Ansichten recht scharf hervorzuheben, auch den ersten Fundamentalsatz mit über Bord geworfen haben. ADICKES strebt nun eine Verschmelzung beider Ansichten in einer höheren Einheit an, zu welcher die naturrechtliche Schule gewissermaßen die Form, die historische Rechtstheorie den Inhalt zu geben hat.

Wir begegnen uns hier auf gleichen Wegen; denn auch ich erblicke die Aufgabe der Rechtsphilosophie in einer Fortbildung der historischen Schule: nur daß wir das Spekulative, dessen sie allerdings bedarf, nicht aus der verknöcherten Hand des abgestorbenen rationalistischen Naturrechts empfangen, sondern auf der Höhe deutscher Spekulation, welche SCHELLING und HEGEL uns erobert haben, suchen wollen; die auf nicht spekulativem Weg gewonnenen Ergebnisse der historischen Schule halte ich fest, trachte aber nach philosophischer Begründung derselben auf einer umfassenden Weltanschauung, nach Überschreitung der jener nur empirischen Forschungsmethode gezogenen Schranken und unter Durchführung der Konsequenzen, welche die alte historische Schule vermöge ihrer hoch konservativen (NIEBUHR) und kirchlichen (STAHL) Wahlverwandtschaften zu ziehen sich nimmermehr würde entschlossen haben.

FRANZ ADICKES nennt nun Seite 21 "Rechtsquelle" nur das, woraus der Recht Suchende und zwar in erster Linie der zum Finden des Rechts berufene Richter eine Norm für die Entscheidung des einzelnen Falls zu gewinnen vermag; in diesem Sinn sind "jene Momente nicht Rechtsquellen, welche auf die Bildung des Rechts von Einfluß sind: Volkscharakter, Sitten, klimatische Bedürfnisse, äußere Vorgänge, kurz, all das, was man unter dem Bild des Volksgeistes zu personifizieren sich gewöhnt hat." - Hiergegen ist zu erinnern, daß vom "Volksgeist" Nationalcharakter, (der freilich in seiner allmählichen Gestaltung auch von den äußeren Einflüssen in Zeit und Raum gefärbt und bestimmt wird) die geschichtlichen Voraussetzungen, von denen ADICKES einige aufführt und sie geradezu mit dem Volksgeist identifiziert, doch genau unterschieden werden müssen. - Auch die Gesetzgebung (PUCHTA) wird nicht als Quelle des Rechts bezeichnet, wohl aber deren Produkt, das Gesetz. Die Wissenschaft erscheint als Mittel zur Benutzung der wirklichen Rechtsquellen; (sie kann das theoretische, innere, werdende Recht darstellen, bevor es praktisch geworden ist) die "etwas verschrieene" Natur der Sache soll, "die Gesamtheit aller derjenigen äußeren Verhältnisse und Umstände zusammenfassen, aus denen heraus die subjektive Vernunft die Rechtssätze zu finden hat" (Seite 22); dadurch wäre die objektive Seite, welche auch diese subjektivste Rechtsquelle aufzuweisen vermag, in zweckmäßiger Weise hervorgehoben. So ist die Vernunft die Grundquelle allen Rechts; zur genaueren Formulierung der einzelnen anzuwendenden Sätze dient die Natur der Sache: aus ihr sind die Rechtssätze zu entnehmen, welche bezüglich der aktiven Rechtsquellen: Gesetz, gemeinsame Rechtsüberzeugung und Gewohnheitsrecht, anzuerkennen sind."

Zu der Operation mit dem (nicht mit Unrecht "verschrieenen") Begriff der "Natur der Sache" wurde ADICKES durch die Erkenntnis der Notwendigkeit gedrängt, die allzu subjektivistische Rechtsvernunft zu objektivieren; allein es ist eine Selbsttäuschung, dieses objektive Gegengewicht in der "Natur der Sache", einem Erbstück aus dem Nachlaß der alten naturrechtlichen Schule, zu erblicken. Denn diese scheinbar objektive, gleichbleibende "Natur der Sache", die Gesamtheit der äußeren Umstände, aus denen die subjektive Vernunft die Rechtssätze finden soll, spiegelt sich ja doch jedesmal verschieden in der Anschauung des betreffenden Volkes in seiner jeweiligen Kulturperiode. Es gibt keine objektive Natur der Sache, vielmehr ist jedes Rechtsideal ein relatives: auch die Römer glaubten in ihrer "naturalis ratio" ein solches objektives für alle Völker und Zeiten gleichbleibendes Instrument für juristische Konstruktionen gefunden zu haben: aber diese  naturalis ratio  ist lediglich das relative Rechtsideal der Römer und zwar der Römer einer bestimmten Kulturperiode. Mit anderen Worten: legen wir den Römern der XII. Tafeln [Zwölf-Tafel-Gesetz / wp], dann denen HADRIANs, ferner den Germanen der Volksrechte, dann denen der Rechtsbücher und schließlich den modernen, legen wir Hellenen, Hebräern, Kelten, Slaven unter der nämlichen Gesamtheit der äußeren Umstände das gleiche juristische Problem vor - sie werden alle eine verschiedene "Natur der Sache" in sich spiegeln, sie werden die gleichen objektiven Verhältnisse verschieden auffassen und vermöge der Verschiedenheit ihrer durch den verschiedenen Nationalcharakter bedingten Rechtsideale zu verschiedenen Ergebnissen gelangen. Dieselben Römer, welche zuvor die strenge Ehe mit  manus  [Ehefrau geht aus der Hand des Vaters in den Bräutigam über. -wp] und die agnatische [ausschließlich durch Männer begründete Blutsverwandtschaft - wp] Erbfolge als "der Natur der Sache" entsprechend gefunden haben, gelangen, nach Umwandlung der geschichtlichen Voraussetzungen und dementsprechend des Nationalcharakters, zur freien Ehe und der cognatischen [jede natürliche Blutsverwandtschaft - wp] Sukzession [Erbfolge - wp].

Ja - es bedarf nicht der Ausführung - Juristen desselben Volkes derselben Zeit gelangen nur allzuhäufig in vorgelegten Rechtsfällen zu entgegengesetzten Entscheidungen, weil sie die angeblich objektive "Natur der sache" widersprechend auffassen.

Die objektive Ergänzung und Schranke, welche der Verfasser in richtiger Empfindung für die Gefahr einer ausschließlich subjektiven Rechtserzeugung anstrebt, ist in den rechterzeugenden Subjekten selbst schon gegeben: sie liegt in der Gebundenheit des Einzelnen an seine Nation und seine Umgebung in Zeit und Raum, an die geschichtlichen Voraussetzungen; diese, nicht eine stets verschieden gespiegelte "Natur der Sache", enthalten das objektive, beschränkende Moment in der Rechtsbildung durch die subjektive Vernunft des Einzelnen. Ein Beispiel: eine römische Stadtgemeinde und eine germanische Bauerngemeinde sind jede Eigentümerin eines Waldes; die "Natur der Sache" erfordert in beiden Fällen die Verwertung des Ertrags, unter Schonung der Substanz, für die Gemeindemitglieder; aber beide Gemeinden lösen das durch die "Natur der Sache" gleichmäßig aufgeworfene Problem verschieden: die römischen Kurialen bestellen am Wald gegen Entgelt einen  ususfructus  [Nießbrauch - wp] oder verpachten ihn, indem sie den Geldbetrag in die Gemeindekasse werfen, die germanischen Markgenossen bestellen dingliche an die Höfe geknüpfte Nutzungsrechte nach der Größe des Grundbesitzes oder des Viehbestandes des einzelnen Hofwirts: jene römische, diese germanische Auffassung der "Natur der Sache" ist bedingt durch den betreffenden Volkscharakter und der Summe der geschichtlichen Voraussetzungen, welche beide Faktoren in ihrer Verschiedenheit auch schon zuvor den Unterschied herbeigeführt hatten, daß dort eine Stadt, hier ein Dorf gegeben ist. Mit anderen Worten: die "Natur der Sache" bezeichnet nur den wirtschaftlichen, politischen usw.  Zweck der erreicht werden soll, aber mit welchen juristischen  Mitteln,  in welcher  Rechts bildung er erreicht wird, das hängt nicht von der "Natur der Sache", sondern von der national und geschichtlich bedingten Auffassung und Eigenart der zur Rechtsbildung berufenen Vernunftsubjekte ab.

Wenn ADICKES daher Seite 24 die Ansicht, daß der "Volksgeist" oder die von ihm erzeugte Rechtsüberzeugung die eigentliche Quelle allen Rechts sei, widerlegt und den Volksgeist durch die subjektive Vernunft, welche gemäß der "Natur der Sache" handelt, ersetzt zu haben glaubt, so irrt er: die subjektive Vernunft, sofern sie Recht erzeugt, ist objektiv an die Schranken des "Volksgeistes" und der geschichtlichen Voraussetzungen gebunden; doch hat der Verfasser mit Fug hervorgehoben, daß die Genossenschaft, als deren Glied der Einzelne Recht schafft, nicht gerade immer eine Volksgenossenschaft sein muß. Von dieser wichtigen Modifikation der Lehre der älteren historischen Schule ist später ausführlich zu handeln.

Was nun den Grund der verbindlichen Kraft des Gesetzes anlangt, so vermissen wir gerade hier die tiefere rechtsphilosophische Begründung: "alle Gesetze sind allgemein verbindlich": warum? "nicht weil das einzelne Gesetz und sein Inhalt auf die Rechtsüberzeugung des Volkses zurückzuführen sind, - das ist eine Fiktion PUCHTAs - sondern weil nur dieser  eine  Rechtssatz von der allgemeinen Verbindlichkeit aller Gesetze auf der Rechtsüberzeugung des Volkes beruth." Wirft man nun aber die nicht zu unterdrückende Frage auf: Warum? aus welchem Grund wird die Verbindlichkeit der Gesetze allgemein anerkannt? so erhalten wir (Seite 27) die wenig befriedigende Antwort: "weil sie durch den Staatswillen verkündet sind"; und fragen wir weiter, warum muß man dem Staatswillen gehorchen? so erfahren wir: "weil die Existenz des Staates selbst anerkannt ist". Hiernach würde jeder nicht mehr an die Gesetze gebunden sein, der erklärte, für seine Person die Existenz des Staates nicht mehr anerkennen, auf seine Hilfe und seinen Schutz verzichten, dagegen auch an seine Normen nicht gebunden sein zu wollen. Erwidert ADICKES: "Dies ist unstatthaft, der Staat  muß  anerkannt werden", so wiederholt sich unsere Frage nach dem Warum? und wir erachten es als eine wesentliche Lücke in der Arbeit des Verfassers, wenn er uns auf diese letzte Frage statt der Antwort den Bescheid erteilt, daß "eine Einigung über die tiefere philosophische Begründung dieser Sätze (ähnlich die PUCHTAsche Begründung des Gewohnheitsrechts) weder wahrscheinlich noch für das Rechtsleben nötig ist."

Die Entscheidung der Prozesse wird freilich nicht durch die Lösung dieses Problems berührt; aber, wenn man Fragen behandelt, welche in letzter Instanz nur eine rechtsphilosophische Lösung oder gar keine zulassen, kann man sich der "tieferen philosophischen Begründung" nicht wohl entschlagen.

Wir bedürfen nicht erst des Umwegs durch die Begründung des Staates um die Verbindlichkeit der Gesetze zu motivieren. Denn versteht man auch heute unter "Gesetz" im engeren technischen Sinn nur die durch die oberste Staatsgewalt ausgesprochene Rechtsnorm, so ist doch ohne Zweifel der ursprüngliche Begriff des Gesetzes ein weiterer und gerade dieser weitere ist der rechtsphilosophisch fruchtbarere: Gesetz ist nur  eine  der mehrfachen Erscheinungsformen des Rechts; auch schon vor einem Staat im Verband der Sippe, Horde, Gemeinde kann ein Rechtssatz durch die Gesamtheit oder das Haupt der Genossenschaft bewußt und ausdrücklich ausgesprochen z. B. bisher geltendes Gewohnheitsrecht dadurch geändert werden; eine solche Norm ist Gesetz und gilt als verbindlich, obwohl vom Staat und seiner Anerkennung noch gar keine Rede ist.

Das Gesetzesrecht wie das Gewohnheitsrecht ruht vielmehr auf der Vernunftnotwendigkeit des Rechts.

Es ist ein unabweisliches Bedürfnis der menschlichen Vernunft, daß in einer Menschengenossenschaft die äußeren Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Sachen jener Friedensordnung gemäß gestaltet werden, welche dieser Genossenschaft als die vernünftige, die vernunftnotwendige erscheint. Jene vernünftige Friedensordnung einer Menschengenossenschaft in ihren äußeren Beziehungen zueinander und zu den Sachen ist - ihr Recht. Ob die Satzungen dieser Friedensordnung ursprünglich unbewußt, instinktiv erwachsen - Gewohnheitsrecht - oder ob sie später absichtlich mit Reflexion geschaffen werden auf dem Weg des Vertrags oder der Satzung durch höhere Autorität, ist gleichgültig: die  opiono necessitatis,  um deren willen diesen Normen gehorcht wird, ist einfach die  Vernunftnotwendigkeit des Rechts,  die zwingende Gewalt der Logik: wie wir in anderen, rein theoretischen Gebieten eine Verschiedenheit der Ansichten durch gemeinsame logische Operationen zu beseitigen suchen, z. B. in einem mathematischen Problem, so sucht eine Volks- oder Familiengenossenschaft das zugleich theoretische und praktische Problem, wie es z. B. mit dem Nachlaß eiens Verstorbenen gehalten werden soll, (ob derselbe als herrenloses Gut behandelt und von jedem beliebig okkupiert oder an Verwandte - und zwar an welche? - des Verstorbenen verteilt oder noch bei dessen Lebzeiten auf den Todesfall auch Fremden zugewendet werden kann) so zu lösen, wie es ihrem Charakter und den geschichtlichen Voraussetzungen nach dieser Genossenschaft als das Vernunftnotwendige erscheint; von dem durch das Rechtsideal dieser Genossenschaft gefundenen und geforderten Prinzip aus - dies wird zunächst, wie Sprache und Sitte, ohne Reflexion produziert - werden dann im Detail die konsequenten Sätze entwickelt, z. B. daß, wenn bei Familienerbfolge die Gradnähe der Verwandtschaft allein entscheidet, das sogenannte Repräsentationsrecht der Kinder vorverstorbener Kinder oder Geschwister des Erblassers nicht gelten kann. Das ist eine logisch notwendige Deduktion und wir fordern Anerkennung dieses Satzes wie etwa einer mathematischen Konklusion; wer letztere nicht anerkennen will, nach geführtem Beweis, den überlassen wir achselzuckend seinem Irrtum. Anders freilich auf dem Gebiet des Rechts, weil hier die logische Entscheidung nicht  nur  eine theoretische ist, - zunächst ist sie das, wie jede logische Operation - sondern sehr wichtige praktische Folgen hat: theoretische Forderungen z. B. der Sohnes-Söhne werden theoretisch abgewiesen werden mit der Berufung auf das Prinzip der Gradnähe als das nunmal herrschende; suchen sie ihre Nichtanerkennung dieser Konsequenz durch Handlungen, z. B. Anmaßen von Erbschaftssachen, zu betätigen, so werden sie freilich auch tätlich zur Anerkennung gezwungen.

Kommt es nun im Fortschritt der Kultur des Staates,  dann  freilich, aber auch erst dann, wird auch die Selbsterhaltung des Staates und die Aufrechterhaltung seines ausgesprochenen Willens, des Staatsgesetzes, als eine Vernunftnotwendigkeit empfunden und die Verletzung desselben zunächst um der formalen Gehorsamspflicht willen nicht geduldet; der materielle Grund dieser Verpflichtung aber ist die Vernunftnotwendigkeit des Staates und seines Rechtswillens.

Im nächsten Abschnitt, der vom Gewohnheitsrecht handelt, wird zunächst (nach dem Voranschreiten von UNTERHOLZNER, MÜHLENBRUCH, KIERULFF) an der ursprünglichen PUCHTA-SAVIGNYschen Theorie gerügt, daß gerade eine  national  verbundene Gesamtheit von Menschen als Trägerin oder Erzeugerin von Gewohnheitsrecht vorausgesetzt werde. Jene Beschränkung ist allerdings aufzugeben: vielmehr ist  jede  Menschengenossenschaft als solche, also auch nur  ein  Paar, ansich fähig und bei längerem Bestand ihrer Gesellung, sogar innerlich genötigt, in Betätigung des Rechtstriebs Recht zu produzieren.

Um das darzutun, bedarf es nicht erst des Hinweises auf das internationale und auf das Kirchenrecht; es genügt die Erinnerung, daß auch in jenen kleineren Verbänden, welche der Bildung eines Volkes vorhergehen, daß auch in der Sippe, Horde, Gemeinde bereits Recht erzeugt wird.

Aber es ist doch wohl begreiflich und, richtig verstanden, auch voll berechtigt, daß die ältere historische Schule die Nation als die eigentliche Trägerin des Rechts erfaßte; denn einerseits entbehrt das Recht sowohl in seinen Anfängen bei jenen kleinen Kreisen wie auch in seinen Ausläufen in den allzuweiten internationalen und anationalen des Völker- und Kirchenrechts der Sicherheit der Anerkennung und Durchführung und andererseits entziehen sich auch jene scheinbar außerhalb des Nationalen stehenden kleineren und größeren Kreise keineswegs vollständig nationalem und analogem Einfluß. Wir sagen:  vor  dem Nationalstaat,  vor  der nationalen Stütze, in seinen Anfängen, entbehrt das Recht leicht der Anerkennung und Sicherheit der Vollstreckung: diese Kreise sind zu klein - es fehlt im patriarchalen Rechtsverband an einem Gegengewicht gegenüber dem Haupt des Geschlechts und oft ergeht Willkür für Recht; wird aber das Band des Rechts um mehrere Staaten geschlungen, so werden die Kreise leicht zu groß, zu selbständig und mächtig: im Völkerrecht klafft ja bekanntlich die Lücke der Erzwingbarkeit so weit, daß man deswegen, freilich mit Unrecht, die Existenz dieses Rechts überhaupt geleugnet hat; auch das Kirchenrecht mit seinen nur geistlichen Zwangsmitteln ist kein Muster normaler Rechtsbildung; das Normale ist vielmehr das im Staat erwachsene, vom Staat geschützte und durchgeführte Recht; der Staat aber, auch wenn er sich nicht mit einem Volkskreis deckt, ist immer national gefärbt in seiner Rechtsbildung: entweder dominiert in solchen Mischstaaten eine Nationalität die andere oder es entfalten sich im Gesamtverband des Staates provinziell und stammtümlich, also doch wieder national, gefärbte Rechtsprodukte.

Andererseits sind auch jene kleineren und größeren Kreise nicht ohne nationale oder dem Nationalen analoge Einwirkungen auf ihre Rechtsbildungen: das Völkerrecht nimmt notwendig Einflüsse der Nationen auf, welche es verbindet; das antike Völkerrecht, das sich der Amphiktyonen [griech. loser Städteverbund auf religiös-kultischer Basis - wp] und Fetialen [römischer kultischer Ritus - wp] bedient, hat anderen Charakter als das der wilden Stämme Amerikas oder das Kriegsrecht der modernen Völker. Selbst das auf kosmopolitische Universalität angelegte Recht der Kirche, welches, über allen Nationen stehend, alle umfassen will, wie muß es doch so vernehmlich, obgleich widerwillig, Zeugnis ablegen von der unvermeidlichen Gewalt des Nationalen über alle Rechtsbildung! Einmal ist von Geist, Inhalt und Form des römischen Rechts doch wahrlich sehr viel in die Gestaltung des kanonischen Rechts eingedrungen, weil ja die orthodoxe Kirche Staatskirche des römischen Imperiums wurde und weil diese Bischöfe und Priester, welche es bildeten, Röer und römisch geschulte Griechen oder doch Angehörige des Römerreiches waren und sich der römisch-griechischen Kultur und Nationalität auch in den Augenblicken nicht zu entziehen vermochten, in welchen sie auf den Konzilien der heilige Geist inspirierte. Andererseits ist es aber im letzten Grund nichts anderes als die Verschiedenheit der Nationalcharaktere, welche die beabsichtigte Einheit der katholischen Kriche, ihrer Dogmane und folgeweise auch ihres Rechts, in die romanisch-katholische, griechisch-russische, protestantisch-germanische auseinander gebildet hat.

Schließlich aber: auch in den kleineren dem Staat und Volk vorhergehenden Kreisen der Sippe, Horde, Gemeinde nimmt das Recht die Färbung des besonderen Charakters der  Rasse  an, welchem diese Gruppe angehört, die eine Vorstufe des nationalen Verbandes darstellt.

Es war also ein verzeihliches Versehen, daß die ältere historische Schule alle Rechtsbildung an den Volksverband knüpfte: galt es doch den innigen Zusammenhang dieses Teils des Volkslebens mit den übrigen Erscheinungen der Nationalität: Sprache, Sitte, Kunst, Religion, hervorzuheben.

Die zweite große Streitfrage auf diesem Gebiet betrifft die Bedeutung der Ausübung, d. h. der wirklichen Anwendung des Rechtsgedankens für die Entstehung des Gewohnheitsrechts: ob die Ausübung eine Wesensvoraussetzung oder nur (das wichtigste freilich) Erkenntnismittel des gewordenen Rechtssatzes ist.

Gegen letzteren Staz PUCHTAs (Gewohnheitsrecht, Bd. 1, 1828, Bd. 2, 1837, Seite 131) wandte sich zuerst KIERULFF, (Theorie des allgemeinen Zivilrechts, 1839, Seite 9), SAVIGNY, (System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Seite 37) räumte dann ein, daß bei manchen "ins Einzelne gehenden" Bestimmungen die Ausübung mehr als Erkenntnismittel, nämlich daß sie mitwirkender Entstehungsgrund sein kann. ADICKES stellt Seite 33 die Schriftsteller zusammen, welche mit KIERULFF in der Ausübung eine begrifflich notwendige Erfordernis der Entstehung des Gewohnheitsrechts erblicken: sie bilden bei weitem die Mehrzahl; nur von GERBER, GÖSCHEN, STOBBE und THÖL legen der gemeinsamen Rechtsüberzeugung ansich verbindliche Kraft bei; der Verfasser verwirft den Haupteinwand gegen die PUCHTAsche Theorie, das Axiom von der Positivität allen Rechts, aber auch deren Hauptstütze, den Satz, daß die gemeinsame Rechtsüberzeugung der Grund allen Rechts sei gelangt jedoch zuletzt, aus anderen Gründen, zum gleichen Ergebnis wie die historische Schule, d. h. zur Geltungskraft der gemeinsamen Rechtsüberzeugung als solcher.

Wenn er dabei die gemeinsame Überzeugung in vielen Fällen für eine Fiktion erklärt, da in Wahrheit die Ansichten der Alten und der Jungen, der Reichen und der Armen, der Landbauer und der Handeltreibenden in vielen Punkten voneinander abweichen werden und der Richter also mit seinem subjektiv aus der "Natur der Sache" geschöpften Entscheid doch nur  seine  Ansicht von dem, was alle als Rechtsüberzeugung verständigerweise anerkennen  "müßten"  (d. h. seiner Meinung nach  sollten)  aus der Mehrzahl der Anschauungen bilden muß, so ist dagegen doch vor allem zu erinnern, daß ja im einzelnen Fall bekanntlich die Rechtsüberzeugung nur des betreffenden Lebenskreises, nicht die vielleicht abweichende anderer Stände, zu beachten ist: wenn ein Handelsgepflogenheit der Bankiers  einer  Stadt von den übrigen Kaufleuten derselben Stadt oder den Bankiers einer anderen mißbilligt wird, so ist das für die Verbindlichkeit derselben ganz gleichgültig. Ferner: der Richter  darf  nicht aus "der Natur der Sache" subjektiv entscheiden, wo ein zweifelloses "Gewohnheitsrecht" entgegengesetzten Inhalts vorliegt: es gibt, wie ADICKES Seite 63 selbst einräumt, eine Anzahl wirklicher gemeinsamer Überzeugungen, deren Existenz der Richter "verständigerweise" (ich sage: pflichtschuldigerweise) nicht ignorieren darf; ja er muß sich, was (Seite 45) freilich geleugnet wird, die "seiner Ansicht nach fehlerhaft gebildete Ansicht der Laienwelt allerdings als Richtschnur aufdrängen lassen." Denn er hat nicht jenes Recht zu sprechen, welches nach seiner subjektiven, aus der "Natur der Sache" geschöpften Meinung gelten  sollte,  sondern jenes, welches objektiv in der Anschauung der Rechtsgenossen gilt: so wenig der Richter ein ihm unzweckmäßig scheinendes Gesetz, so wenig darf er eine ihm unvernünftig scheinende Gewohnheit in seinem Urteil ignorieren.

Nur in Ermangelung eines bereits feststehenden Gewohnheitsrechts - wenn z. B. noch die ältere und die neuere Rechtsanschauung miteinander um die Herrschaft über die Geister ringen - mag der Richter seine Entscheidung aus der "Natur der Sache", d. h. aus seiner Rechtsüberzeugung von dieser schöpfen. Damit ist auch obige Streitfrage entschieden: nach unserer Auffassung von Wesen und Werden des Rechts müssen wir allerdings die gemeinsame Rechtsüberzeugung (welche natürlich eine individuelle Auffassung und Nuancierung nicht ausschließt) auch schon vor ihrer Betätigung in einzelnen Anwendungen, also bevor sie durch Ausübung ein äußeres praktisches Gewohnheitsrecht geworden ist, in dem Sinne für inneres theoretisches Recht erklären als Schöffen, Geschworene, Richter nach dieser Überzeugung - in Ermangelung entgegenstehenden Gesetzes- oder Gewohnheitsrechts - auftauchende Rechtsfälle entscheiden dürfen und müssen. Für diese Ansicht, deren bedenkliche Seite wir nicht verkennen, sprechen nicht nur die oben erwähnten geschichtlichen Präzendenzfälle, spricht zwingend die Logik der Rechtsproduktion selbst: es heißt die Kontinuität des menschlichen Denkens, hier der Produktion des Rechts, verkennen, will man das innere theoretische Recht bestreiten: aus welchem Grund denn sonst, wenn nicht der "opinio necessitatis" wegen, d. h. die Vernunftnotwendigkeit sie zwingt, handeln die von einem innerlich entfalteten Rechtssatz beherrschten Geister der Menschen so, wie sie handeln? weil sie es für "Recht" halten. Soll nun dieses Recht erst dann Recht sein, wenn sie danach (einmal? zweimal?) gehandelt  haben,  in dem Augenblick aber, da sie danach zu handeln  beginnen,  noch nicht?

ADICKES führt (Seite 44) in verständigen Erörterungen die Gründe aus, welche die Identität der Rechtsüberzeugung im Verlauf der Kulturfortschritte aufheben: der zunehmende Subjektivismus, das Eindringen fremder, gelehrter, dem Volk unverständlicher Rechte, die Ausbildung eines besonderen Juristenstandes: doch ist hervorzuheben, daß sich auch bei den Germanen schon zur Zeit der Volksrechte - und bei den Nordgermanen ganz abgesehen vom fremden Recht - frühzeitig besonders rechtskundige Männer finden, welche durch Talent, Neigung, Übung nicht nur als bevorzugte Depositare [Vertragsabwickler - wp], sondern auch als hervorragende Beherrscher und Fortbilder des Rechtstoffs erscheinen.

Weiter hebt er dann die Bedeutung, die Vorzüge der gemeinsamen Rechtsüberzeugung auch für fortgeschrittene Kulturperioden hervor: so namentlich für die Stetigkeit der Rechtspflege.

Bei unserer Auffassung (im Wesentlichen, scheint es, übereinstimmend auch ADICKES Seite 50) kann es ein besonderes "Juristenrecht" als eine Mittelstufe, ein dritte Rechtsquelle neben Gesetz und Gewohnheit nicht geben; vielmehr ist dieses "Juristenrecht" als obrigkeitliches Recht, z. B. Anordnungen über den äußeren Gang der Rechtspflege, ein unmittelbarer Ausfluß des staatlichen Verordnungsrechts, welches als Äußerung der Gesetzgebung (im weiteren Sinne) erscheint, oder es beruth in diesen Beziehungeu auf dem Herkommen (usus fori) oder, falls unter gewissen Voraussetzungen, Präjudizien der obersten Gerichtshöfe wie z. B. in Bayern, durch Gesetz verbindende Kraft beigelegt ist, mittelbar auf der Autorität der Gesetzgebung. Oder endlich es erscheint die "Praxis" (in diesem engeren Sinne) d. h. die konstante Auslegung zweifelhafter oder Ergänzung lückenhafter Rechtsnormen durch die Gerichte als eine Art des Gewohnheitsrechts.

Hier läßt sich häufig ein theoretisches inneres Recht nachweisen, wie in den Gepflogenheiten etwa des Handels: hat sich an einem bestimmten Platz z. B. die Rechtsüberzeugung gebildet, daß, in Abänderung bisheriger Übung, die Maklergebühr für einen vermittelten Kauf fortan nicht mehr vom Verkäufer allein, (d. h. von ihm auf den Kaufpreis geschlagen), sondern von den beiden Parteien gleichermaßen getragen werden soll, so ist dies ein theoretisches inneres (Gewohnheits)-Recht, so lange bis die erste Anwendung des Satzes praktisch erfolgt; wird z. B. infolge der Deduktionen einer Monographie bei den Gliedern eines Handelsgerichts die Ansicht alleinherrschend, daß im Zweifel beim Kauf auf Probe die Bedingung eine aufschiebende, nicht eine auflösende, sei, so ist diese Anschauung theoretisches inneres (Juristen-)Recht, bis sie in Urteilen des Gerichts auftritt; dann ist sie praktisches äußeres Juristenrecht geworden. Stößt man sich an den allzu subjektivistisch klingenden Ausdrücken: "inneres theoretisches Recht", so substituiere man das Wort: "werdendes Recht": dieses Wort erinnert einerseits an die notwendig erst durch ihre Anwendung, zu erreichende Vollendung, andererseits bezeichnet es die Rechtsüberzeugung als solche doch schon als das, was sie in Wahrheit ist:  Recht,  nicht ein bloßes Rechtspostulat. Darin spiegelt sich die ununterbrechbare Kontinuität geistiger Produktion. Ich erinnere wiederholt, daß dieses werdende Recht nur dann als Recht zu betrachten ist, wenn ihm nicht gewordenes Recht noch auschließend entgegen steht: es muß Raum dasein für das wachsende und werdende Recht; so lange gegenüber dem geltenden Gesetz oder Gewohnheitsrecht sich nur Opposition einer Minderheit erhebt oder bloße Negation, welche den neuen entgegenstehenden Rechtssatz nicht zu formulieren vermag, oder so lange es an der  opinio necessitatis  gebricht, kann auch von  werdendem  Recht keine Rede sein; das sind nur vorbereitende Bewegungen, welche vielleicht zu einem werdenden Recht führen, vielleicht aber auch wieder erlahmen mögen.

In unserer Grundauffassung des Juristenrechts als einer Art des Gewohnheitsrechts liegt nun zugleich auch seine Schranke und das Kriterium für die Entscheidung der Frage, inwiefern, unter welchen Voraussetzungen die Ausbildung eines besonderen Juristenrechts als eine krankhafte Erscheinung im Rechtsleben zu betrachten ist.

Ohne Grund hat man schon im Aufkommen eines Juristenstandes die Widerlegung des Prinzips der historischen Schule zu finden gemeint. Wenn die vergleichende Rechtsgeschichte zeigt, daß sich bei den allermeisten uns bekannten Völkern, oft sogar schon ziemlich früh, besondere Depositare und Kenner des Rechtsstoffs finden, (in den Zeiten der Vorkultur freilich oft identisch mit den in die Geheimnisse des Götterglaubens mehr als die Menge eingeweihten Priestern oder auch auf aristokratische Geschlechter beschränkt) so ist das so wenig ein Widerspruch gegen das historische Prinzip, wie etwa die Tatsache, daß es auch in der, der Kunstpoesie vorhergehenden Periode der Volkspoesie doch notwendig immer Einzelne sind, welche, durch hervorragendes Talent dazu berufen, die im ganzen Volk lebende poetische Anschauung zum Ausdruck bringen. Bildet sich dann im Fortschritt der Kultur in notwendiger Arbeitsteilung immer schärfer ein Juristenstand empor, so sind doch diese Juristen auch ein Teil des Volkes und es ist wahrlich nicht abzusehen, weshalb an der gemeinsaen nationalen Arbeit der Erzeugung und Fortbildung des Rechts zwar Kaufleute und Bauern teilhaben sollen, nicht aber jene Männer, welche ihre Neigung, Talent, Übung und Kenntnis gerade vor anderen zu einer solchen Weiterbildung berufen.

Aber freilich, nur sofern die Juristen ein lebendes Glied des Volkskörpers sind, werden sie ihre hohe Aufgabe der Rechtsfortbildung gedeihlich lösen: sie dürfen und sollen diese Bildung leiten und dem Volk auf diesen Bahnen voranschreiten, aber sie sollten nicht eine nicht im Volkscharakter und den Zeitbedürfnissen wurzelnde Rechtsgestaltung erzwingen und der Nation, etwa vermöge der Autorität und Zwangsgewalt des Staates, ein fremdes Recht aufdrängen.

Darin, in der Modalität der Rezeption des römischen Rechts, nicht in der Tatsache der Rezeption selbst, lag die beklagenswerte Verirrung des Juristenrechts des 15. bis 18. Jahrhunderts (2). Die Rezeption war eine kulturgeschichtliche Notwendigkeit: sie ist ein Stück der "Renaissance" und wie wir in unsere Sprache, Kunst und jede Art von Kultur die griechisch-römischen Überlieferungen angenommen haben, so dann auch in unser Recht; es wäre töricht, die Bereicherung im Inhalt, die Schulung in der Form der Rechtskultur zu bestreiten, welche wir auch auf diesem Gebiet dem Antritt der Erbschaft der Antike verdanken. Aber die Rezeption hätte eine freie Assimilation des für unsere Bedürfnisse Verwertbaren sein müssen, nicht eine unterscheidungslose Unterwerfung unter die Autorität der Sammlungen JUSTINIANs, als wären diese ein für das deutsche Reich publiziertes Gesetzbuch.

Man wird einwenden: "Ist nicht die Möglichkeit dieser Rezeption des fremden Rechts ein schlagender Beweis gegen die Grundauffassung der historischen Schule?"

Mitnichten: denn es war eben der deutsche Nationalcharakter und die Gesamtheit der geschichtlichen Voraussetzungen, der politischen und der Kulturzustände Deutschlands im 15. und 16. Jahrhundert, was die Rezeption möglich und notwendig machte. Und bei näherer Prüfung erweist sich ja auch, daß die angebliche formale Rezeption in Wahrheit vielfach eine materielle Assimilation war, d. h. daß nicht nur das ungelehrte Volk nach wie vor in seinem außergerichtlichen Rechtsleben in den deutschen Anschauungen, mit wenigen Ausnahmen, fortlebte, daß die Juristen selbst ihre deutschrechtliche Haut nicht abzustreifen vermochten und, ohne Wissen und WOllen, römische Institute wie  patria potestas  [uneingeschränkte Verfügungsgewalt des männlichen Familienoberhauptes - wp],  peculium  [Besitz von Personen, die nur über eingeschränkte Eigentumsrechte verfügen - wp],  dos  [Mitgift - wp],  donatio propter nuptias  [Witwenvorsorge - wp] u. a. in deutschrechtlichem Sinn auffaßten und darstellten. -

Wenn im nächsten Abschnitt (Gewohnheit und Herkommen, § 5, in welchem ADICKES ebenfalls ausführt, daß Übung nicht Voraussetzung der Entstehung von Gewohnheitsrecht sein kann) mit Berufung auf WINDSCHEID die "Macht der Tatsache, welche sich eine längere Zeit hindurch zu behaupten imstande gewesen ist" hervorgehoben und im Anschluß an STAHL betont wird, daß das einmal geübte Recht eben dieser Übung wegen Geltung hat, so sind doch Zeit und Übung, diese realen Momente  allein,  nicht fähig,  Recht  zu gestalten; ein deutsches Rechtssprichwort drückt dies treffend aus:
    "Hundert Jahre Unrecht ist keine Stunde Recht."
Nicht ein bloß Tatsächliches, welches im Widerspruch gegen die Rechtsüberzeugung des fraglichen Lebenskreises, z. B. mit Gewalt, eine Zeit lang aufrechterhalten wird, kann dadurch allein zum Recht werden - vom Gebiet des öffentlichen Rechts, des internationalen und des Staatsrechts und den Fragen der Legitimierung revolutionärer Gewalten ist hier vorläufig abgesehen -: wenn z. B. im Mittelalter Raubritter längere Zeit auf der Strom- oder Landstraße ziehenden Kaufleuten einen Zwangszoll abnehmen, so kann aus diesem vielleicht durch ein Menschenalter fortgesetzten Geschehen allein kein Recht erwachsen.

"Die Rechtsüberzeugung erkennt allgemein jeder bestehenden Ordnung eben wegen dieses Bestehns Rechtsverbindlichkeit zu" (Seite 52) - ganz einverstanden: nur liegt in  dieser  Fassung im Wort "bestehende  Ordnung"  bereits das ideale Moment, in dessen Ermangelung eine Rechtsverbindlichkeit zu zuerkannt wird: "Beim Streit über ein Herkommen ... kommt es häufig vor, daß Parteien auch als Richter gar nicht darüber zweifelhaft sind, daß das Herkommen herrschen soll, vielmehr befinden sie sich nur über den Inhalt dieses Herkommens in Ungewißheit: das einmal geübte Recht soll auch ferner gelten und zwar nur deshalb, weil es bislang so geübt worden ist, das ist den Interessenten unzweifelhaft. Ihre Rechtsüberzeugungen aber, die Rechtsanschauungen der übrigen Interessenten und die des Gerichts kommen gar nich in Betracht" ... ganz richtig (vorausgesetzt, daß hier unter Herkommen nicht die Ersetzung des fehlenden Beweises der rechtmäßigen Entstehung eines Zustandes durch unvordenliche Zeit, d. h. die Präsumtion rechtmäßiger Entstehung von subjektiven Besitzrechten, sondern eine Art des objektiven Gewohnheitsrechts verstanden wird); aber was fortan geübt werden soll ist eben:  "das  Recht": nicht ein beliebiger, sondern der bisher als rechtsnotwendig anerkannte Modus soll fortan geübt werden. Und daß es auf die Rechtsüberzeugung der Beteiligten gar nicht ankommt, ist nur dann richtig,  wenn  eben alle Beteiligten das bisherige Herkommen fortgeübt wissen wollen; wenn sie die Rechtsüberzeugung hegen, daß der der bisherigen Gewohnheit unterliegende Rechtsgedanke vernunftnotwendigermaßen durch den entgegengesetzten verdrängt werden muß, dann kommt die Rechtsüberzeugung der Interessenten dann doch in Betracht. Und auch die Rechtsüberzeugung jener Interessenten ist maßgebend, unter welchen sich  zuerst  die fragliche Gepflogenheit entwickelt hat: vermag z. B. die Gemeinde, welche von der Pfarrkirche aufgrund des Herkommens für zehentpflichtig erklärt wird, darzutun, daß die Entrichtung des Zehent nur  jure precario  auf der frommen oder mildtätigen Gesinnung der Pfarrkinder, nicht auf einer anerkannten Rechtsnotwendigkeit beruth, so hat diese "lange Zeit bestehende Ordnung" gleichwohl "wegen der Rechtsüberzeugung der Beteiligten" nimmermehr den Charakter eines Gewohnheitsrechts zu gewinnen vermocht. Seite 59 wird dann, in einem anderen Zusammenhang, eingeräumt, auch in den Fällen, wo neben einem bestehenden Herkommen die entsprechende Rechtsüberzeugung nicht nachgewiesen werden kann, weil eben überall keine vorhanden ist, (?) werde man doch annehmen dürfen, "daß das Herkommen  bei seiner Entstehung  dem Rechtsgefühl und dem Bedürfnis entsprach." Das ist eine notwendige Ergänzung der Seite 52 aufgestellten Sätze. Und die angeblich nicht vorhandene Rechtsüberzeugung der Beteiligten ist gleichwohl in zweifachem Sinn vorhanden: sie war als  opinio necessitatis  tätig bei der Bildung des Herkommens und sie ist noch "vorhanden", sofern dieses Herkommen für verbindlich erachtet wird.

Da das Juristenrecht, sofern es nicht durch Gesetz in den Präjudizien mit verbindender Kraft ausgestattet ist, so lange es nur inneres theoretisches Recht ist, lediglich auf der wissenschaftlichen Überzeugung der Juristen beruth, versteht sich, daß der Richter von dem in der Doktrin herrschenden Satz abweichen muß, "wo er die positive Überzeugung der Irrigkeit desselben gewonnen hat" (Seite 57); das Gleiche gilt auch von der bereits in einem einzelnen oder in mehreren Urteilen niedergelegten Ansicht; mit Recht fügt ADICKES an, überall wo dem Richter die Entscheidung z. B. einer Streitfrage, zweifelhaft erscheint, soll er sich, schon im Interesse der Stetigkeit der Rechtspflege der bisherigen Ansicht einfügen; denn allerdings, "in der überwiegenden Anzahl von Rechtsverhältnissen ist die Art der Regelung von überwiegend geringer Bedeutung gegen das Faktum, daß überhaupt eine feste Art der Regelung existiert (Seite 58). So ist es z. B. für das ganze weite Gebiet des Handels viel wichtiger, daß eine einheitliche, allen Beteiligten im Voraus bekannte und daher ihren Spekulationen mit Sicherheit zugrunde zu legende Norm in der Entscheidung einer bestrittenen Frage (durch einen obersten Gerichtshof z. B.) besteht, als daß diese Entscheidung gerade unter den mehreren denkbaren die theoretisch richtigste ist.

ADICKES fährt aber Seite 57 fort: "Endlich auch da, wo das bisher Geübte mit dem Heiligenschein des Wohlhergebrachten in der allgemeinen Anschauung umgeben worden ist, wird der Richter auch fernerhin die eigene Ansicht dem Herkommen unterordnen müssen und nur da wird er neue Rechtsgrundsätze aufzustellen wagen, wo er sich überzeugt hat, daß es nicht nur seine subjektive Anschauung von der Nützlichkeit einer Änderung ist, die ihn drängt, sondern die Erkenntnis einer wahren Notwendigkeit", so ist dagegen doch mehrerlei einzuwenden. Es kommt vor allem darauf an, ob das "Herkommen" äußeres Recht ist oder nicht: ist es Gewohnheitsrecht, so hat der Richter seine subjektive Anschauung einfach diesem Rechtssatz unterzuordnen, auch wenn ihn "die Erkenntnis einer wahren Notwendigkeit" zur Änderung drängen sollte, denn er hat geltendes, ihm unvernünftig scheinendes Gewohnheitsrecht ganz ebenso zu respektieren wie geltendes, ihm unvernünftig scheinendes Gesetzesrecht. Ist dagegen jener "Heiligenschein des Wohlhergebrachten" - es ist dringend notwendig, dieses etwas nebelduftige Phänomen durch eine bestimmte Unterscheidung aufzulösen - eine nicht mit der  opinio necessitatis  ausgerüstete Ansicht, welche höchstens eine Gepflogenheit, eine Sitte, aber kein Recht zu erzeugen vermag, - dann darf und wird der Richter seine entgegenstehende Rechtsansicht nicht dadurch beirren lassen und mag jener Heiligenschein noch so viele Laien blenden; auf die "Nützlichkeit" freilich kommt es dabei nicht an und gegenüber der Unterscheidung zwischen "subjektiver Anschauung" und "Erkenntnis einer wahren Notwendigkeit" ist doch zu erinnern, daß die Entscheidung des Richters darüber, ob das Eine oder Andere vorliegt, ja doch wieder eine "subjektive Anschauung" ist.

Wir sind nach dem Obigen ganz damit einverstanden, daß die Übung den Rechtssatz nicht erzeugt (Seite 60), sondern den entstandenen eben nur anwendet; doch ist das nicht so auszudrücken, daß die Übung "einer unsicheren und etwas unfaßbaren Quelle eine sichtbare und positiv gestaltend wirkende Quelle  substituiert":  die positiv (richtiger wohl: äußerliche) Gestaltung tritt hinzu, aber keineswegs wird nun die Übung Quelle an der Stätte des Rechtssatzes.

Es drängt sich nun aber die Frage auf, aus welchem Grund, mit welchem Recht unterwerfen wir auch solche Personen dem fraglichen Rechtssatz, welche denselben nicht nur bisher geübt haben, (hierauf beschränkt ADICKES Seite 61 seine Erörterung) auch solche, welche dieser Norm widersprechen, welche sie, nachdem sie z. B. im Prozeß ihre Anwendung zum ersten Mal als herrschend erfahren, nicht gelten lassen wollen?

Schwerlich wird man die Antwort des Verfassers völlig befriedigend und tief genug geschöpft finden: "weil in den Übungshandlungen (auf diese kommt es nicht an, denn ungeübte Überzeugung genügt) der Anderen die geübte Norm als eine für die Gesamtheit des Kreises, dem auch er angehört, geltende geübt wird (was gibt den Anderen das Recht, die Norm  für die Gesamtheit,  auch für den Widersprechenden, aufzustellen und zu üben?) und weil die so hervortretende Norm eben aus den bisher entwickelten Gründen den Bedürfnissen und Anschauungen aller Beteiligten "vermutlich" (!) am besten entspricht und sonach bei der Regelung der Rechtsverhältnisse aller in gleicher Lage befindlichen Interessenten in erster Linie in Anwendung zu bringen ist."

Das kann offenbar nicht entscheidend sein: denn weshalb die Ansicht z. B. von 12 Kaufleuten in einem zum ersten Mal praktisch auftauchenden Fall oder warum die bisherige Übung die Vermutung für sich haben soll, daß sie jedesmal die "besser entsprechende" d. h. die mehr rationelle, zweckbefriedigende sei als die von 6 anderen oder als die sich neu geltend machende, ist nicht abzusehen.

Auch gibt es ja der unzweifelhaften Fälle sehr viele - jeder Rückblick auf die Rechtsgeschichte zeigt das - in welchen die Ansicht, welche wir für die schon damals berechtigte, für die mehr der Vernunft und den Bedürfnissen entsprechende erachten, lediglich in der Minderheit bestanden und noch lange Zeit unterdrückt wurde: Leibeigenschaft, Zunftzwang, Negation des Urheberrechts, des sogenannten Repräsentationsrechts auf dem Gebiet des Erbrechts. Verweilen wir bei dem zuletzt genannten Beispiel: man weiß, wie langsam und mühevoll diesem Prinzip, zunächst in enger Beschränkung auf Sohnes-Söhne, im Recht des deutschen Mittelalters die Anerkennung errungen, ja buchstäblich erkämpft wurde; denn da sich die Ansichten und Gründe die Waage zu halten schienen, griff man zur Entscheidung sowohl des Einzelfalls als des Prinzips zum Gottesurteil des Zweikampfs, in welchem glücklicherweise der liebe Gott sich für die rationale Ansicht entschied.

Man wird nun wohl nicht behaupten, daß erst vom Ausgang jenes Zweikampfs an die Repräsentation "den Bedürfnissen und Anschauungen aller Beteiligten am Besten entsprochen habe", wird vielmehr annehmen müssen, daß bis dahin eine irrationale Ansicht, trotz des Widerspruchs der Minderheit, herrschte. Dieser Herrschaft aber unterwarfen sich auch die Dissidenten notwendig und von Rechtswegen; warum? Aus  Vernunftnotwendigkeit.  In Kraft und Namen der Vernunft verlangt man von jedem Menschen, der selbst ein Träger der Rechtsvernunft ist, die Anerkennung für und Unterwerfung unter die Folgesätze des Rechts, welche mit zwingender Logik aus den anerkannten, gemeinsam gebildeten Obersätzen, auch den Widerstrebenden zur Annahme nötigend, abgeleitet werden. Wer eine solche Rechtsrechnung nicht gelten lassen will, dem ist so wenig zu helfen, wie jenem, welcher das Zwingende einer Zahlenrechnung nicht einräumen will.

Aber die "Obersätze", die angeblich anerkannten, gemeinsam gebildeten, - wird man einwenden - sind eben häufig nicht anerkannt, nicht gemeinsam gebildet oder nicht mehr gemeinsam gebildet. Wird z. B. der satz des älteren deutschen Rechts "der Tote vererbt den Lebenden" oder der Ausschluß der Weiber von der Nachfolge in Liegenschaften von einer Minderheit des Volkes nicht mehr als vernünftig angesehen, entspricht es der Rechtsüberzeugung einer Menge von Rechtssubjekten nicht mehr, kraft welchen Rechts verlangen wir auch dann von den Dissentierenden die Unterordnung ihrer theoretischen Ansichten und die Verleugnung ihrer hierauf gestützten praktischen Ansprüche?

Antwort: Abermals aus Vernunftnotwendigkeit. Auch diese opponierende Minderheit muß anerkennen, daß die Verwirklichung von Recht und Staat, dieser unentbehrlichen, von der menschlichen Vernunft unabweislich geforderten Güter, nur durch die Unterordnung der Minderheit unter die in gehöriger Form ausgeprägte Anschauung der Mehrzahl (oder der durch die Verfassung zur Normierung des Gesamtwillens berufenen Organe) geschehen kann: Rechtsordnung und Staatsleben hören auf, wenn in jedem Divergenzfall die Minderzahl (oder die Staatsangehörigen) sich am Beschluß der Mehrheit (oder der Staatsgewalt) kraft des angeblichen Rechts der gleichen souveränen Gewalt ihrer Vernunft nicht für gebunden erachten. Es ist das geringere Übel auch für mich, muß sich der gute Staatsbürger sagen, daß ich ein meiner besseren Einsicht widersprechendes Recht, ein ungerechtes Recht über mich ergehen lasse, als daß das Prinzip der Anarchie die Rechtsordnung auflöst. Hier gilt in der Tat eine politische und juristische Disziplin wie eine militärische: die höhere formell korrekte Anordnung muß auch von dem anerkannt und vollzogen werden, der ihre Mangelhaftigkeit durchschaut und durch einen angemessenen Entscheid ersetzen könnte.

Aber diese Gehorsamspflicht hat freilich gegenüber unvernünftigen Gesetzen und Gewohnheitsrechtssätzen ihre Schranken in den Grenzen von Recht und Staat selbst. Auf dem Gebiet des Privatrechts sind die Nachteile, welche ein verkehrter Rechtssatz im Gefolge führt, wohl fast nie so schwer und so akut wirkend, daß nur die Wahl zwischen seiner oder des Gemeinwesens Existenz übrig bleibt. Bekanntlich aber geschieht es auf dem Gebiet des Staatsrechts, der öffentlichen und wirtschaftlichen Zustände nicht selten, daß eine veraltete Norm starr als formelles Recht festgehalten wird, während der veränderte Lebensinhalt des Volkes und der Zeit dringend eine Umgestaltung auch der alten Formen erfordert: in solchen Fällen kann dann allerdings nur die Wahl zwischen Untergang des Staats und Volkstums oder der erstarrten Rechtsform übrig bleiben und es geschieht, daß sich die Rechtsanschauung der Mehrzahl (oder des Volkes) gegenüber dem von der Minderheit (oder der Regierung) aus selbstischen Motiven oder aus Verblendung festgehaltenen formellen Recht mit Gewalt, d. h. also mit Verletzung des bestehenden Rechts, aus werdendem, innerem Recht in gewordenes äußeres umsetzt.

Etwas spät (Seite 64) richtet auch ADICKES den Blick auf die Möglichkeit, daß Inhalt und Form des Volkslebens sich nicht decken, d. h. das Recht nicht gleichen Schritt hält mit den Umgestaltungen des Volkstums in allen Zweigen von Kultur und Wirtschaft, er zieht dann auch, namentlich gegen STAHL sich wendend, die richtigen Folgerungen aus einer gesunden Grundanschauung; nur möchten wir in dem Satz: "Die Anschauungen einer früheren Generation sind sonach nicht geeignet, als Rechtsquelle für die Gegenwart zu dienen" einschieben: "nicht  immer";  denn bekanntlich verändert sich, namentlich in einfachen, von äußeren Einflüssen abgeschlossenen Kulturzuständen der Inhalt des Volkstums oft in Generationen sehr wenig, während es allerdings auch Perioden gibt, in welchen die Fortschritte der Kultur, die Zersetzung der bisherigen substanziell den Volksgeist beherrschenden Anschauungen so rasch voraneilen, daß die Rechtsproduktion, welche, der Natur des Rechts entsprechend, langsam arbeiten muß, den rapiden und tief greifenden Veränderungen und den daraus folgenden Anfordernungen nach Rechtsreform nicht zu folgen vermag: solche Phasen der Entwicklung haben die Athener nach dem ersten und zweiten Perserkrieg, die Römer nach dem zweiten punischen Krieg und der Unterwerfung von ganz Italien, die Germanen während des Übertritts auf römisches Gebiet und fast alle europäischen Staaten gegen Ende des Mittelalters und zu Anfang des 16. Jahrhunderts durchlebt. Kommt nun hinzu, daß der Prozeß der Rechtsumbildung bei einem solchen Volk gerade besonders schweratmig und mit zähem Widerstreben vor sich geht, (wie dies z. B. bei den Römern und Engländern aus Gründen des Nationalcharakters, der geschichtlichen Überlieferung, der Kompliziertheit der gesetzgeberischen Organe und ihrer Funktion, schließlich aus einer gewissen nationalen und historischen Angewöhnung sich gestaltet hat), dann kann es begegnen, daß eine schwer auszufüllende Distanz sich einschiebt zwischen dem außergewöhnlich rapiden Fortschritt des Volkslebens und der außergewöhnlich starren Retardation [Verzögerung - wp] der Rechtsgestaltung. Freilich kann auch bei sehr beweglichem Temperament des Volksgeistes das noch Schlimmere eintreten, daß der fieberhaft erregte Puls des Volkslebens auch die Gesetzgebung ergreift und nun eine Überhaftung der Rechtsproduktion erfolgt, welche das Athen der Sophisten und das Frankreich der Jakobiner kennzeichnet.

In dem folgenden Abschnitt (Seite 6) behandelt ADICKES die Analogie; mit Recht bemerkt er, daß dieselbe einer gesunden Rechtsbetrachtung nur als eines der "mancherlei Bestimmungsmomente neben vielen anderen" erscheinen wird, welche bei der Rechtserzeugung, auch bei der wissenschaftlichen Weiterbildung des Rechts tätig sind.

Nur möchten wir wiederholt vor der starken Betonung der "Natur der Sache" bei solchen Deduktionen warnen; denn wir sahen schon, was im Einzelfall für "Natur der Sache" erklärt wird, ist doch immer nur die Spiegelung der objektiv gegebenen Verhältnisse und daraus folgenden Bedürfnissen in einem subjektiven Nationalcharakter, der freilich seinerseits wieder durch die objektiven Mächte der geschichtlichen Voraussetzungen determiniert wird. Auch die Unterscheidung zwischen Logik und Gerechtigkeit in der Weiterbildung des Rechts durch Analogie wird in einer höheren Einheit aufgehen müssen: die Logik in der Rechtsbildung darf nicht ungerecht, aber die Gerechtigkeit darf auch wahrlich nicht unlogisch sein.

Aufrichtig gesprochen: die "Gerechtigkeit" hat mit der Jurisprudenz viel weniger zu tun, als die Laien und manche wohlwollende Juristen anzunehmen pflegen. Denn die Gerechtigkeitsliebe, jene moralische Gesinnung, welche z. B. für sich nicht mehr als gebührend in Anspruch nimmt an Vorteilen und Gütern (die  dikaiosyne  [Rechtschaffenheit des Staates - wp] im Gegensatz zur  pleonexia  [Habsucht - wp], d. h. jener Gesinnung, welche stets profitieren, stets mehr als begründet ist in Anspruch nehmen will) ist im Rechtsleben ohne Einfluß: sowohl was die Forderungen und die Gegenforderungen der Parteien, als was die Würdigung durch den Richter anlangt, ist die  aequitas  [Gleichheit - wp] vielfach von Bedeutung.

Aber nicht nur dies ist in der Gesamtheit des Rechtslebens doch nur ein sehr verschwindendes Moment, es fehlt auch nicht an Fällen, in welchen in direktem Widerspruch mit jener sogenannten Gerechtigkeit das Recht Ergebnisse produziert, welche die  aequitas  verletzen, welche daher dem Laienverstand geradezu als schreiendes Unrecht erscheinen. Und doch sind sie Recht, wenn auch vielleicht nicht gerecht; denn die Aufgabe der Rechtspflege ist nicht, wie man salbungsvoll zu moralisieren pflegt, die Realisierung der Idee der  Gerechtigkeit,  sondern der Idee des  Rechts.  Diese sind aber keineswegs identisch, auch subordiniert sind sie einander nicht, so daß das Recht lediglich äußeres Mittel zum Zweck der inneren Tugend der Gerechtigkeit wäre; sondern das Recht ist Selbstzweck, genauer: ist Befriedigung eines eigenartigen Bedürfnisses der menschlichen Vernunft und wie unter Umständen Konflikte zwischen dem Recht und anderen moralischen Tugenden (z. B. der Wohltätigkeit) entstehen können, so kann es auch Konflikte geben zwischen Recht und Gerechtigkeit; wenn z. B. im Wechselprozeß wegen des abstrakten und formalen Charakters der Skriptur-Obligation die Verurteilung des Akzeptanten erfolgt und dessen aus der "Gerechtigkeit" geschöpfte Einreden, die sich etwa auf Widerruf des Trassanten oder auf eine mangelnde Deckung stützen, abgewiesen werden, so scheint diese Konsequenz des formellen Rechts eine Verletzung der moralischen Gerechtigkeit.

Aber die menschliche Vernunft, welche das Recht produziert, arbeitet auf diesem Gebiet mit einer eigenartigen Logik: sie hat erkannt, daß bei der vernunftgemäßen Friedensordnung der äußeren Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Sachen jenes Moment, welches man als Gerechtigkeit, Billigkeit, moralische Gesinnung zu beschreiben mehr als zu definieren pflegt, zwar auch ein Faktor, aber eben nur ein Faktor unter vielen ist; daß die Zweckdienlichkeit, die Rücksicht auf die Verkehrsbedürfnisse, die Logik der Rechtskonstruktion unter Umständen die Ansprüche jener Gerechtigkeit überwiegen müssen. Ein Beispiel von großer Tragweite gewährt die Behandlung des Rechtsirrtums: es ist eine Fiktion, daß heutzutage jeder volljährige Staatsangehörige das Recht kennt oder auch nur zu kennen vermag; es wäre also ein Postulat der "Gerechtigkeit", gegen jeden aus Rechtsirrtum erlittenen Nachteil eine Wiedereinsetzung zu gewähren und doch kann eine solche Anforderung ungmöglich erfüllt werden. Wenn ADICKES daher (Seite 69) verlangt, daß die Rechtspflege nicht bloß die Logik der Rechtskonstruktion, sondern auch andere Faktoren, die "materielle Gerechtigkeit" berücksichtigen soll, so möchten wir als "materiell gerecht" eben jene Entscheidung bezeichnen, welche  alle  in Frage kommenden Momente in gebührender Abwägung ihrer Bedeutung würdigt.

Nicht ganz klar ist uns geworden, was dem Verfasser bei dem Satz auf Seite 70 vorschwebte:
    "Niemals aber darf die Wissenschaft sich erkühnen wollen, den aus der Natur der Sache gefundenen, mit den bestehenden Rechtssätzen  nicht  in Widerspruch tretenden neuen Rechtssätzen nur deshal den Zutritt zu verwehren, weil sie aus logischen Gründen nicht in ihr System passen."
Wenn man z. B. der Ansicht ist, die neuen Rechtssätze, welche sich aus der Natur der Inhaberpapiere ergeben, treten  nicht  in Widerspruch mit den bestehenden Rechtssätzen, wie soll dann die Wissenschaft überhaupt in Versuchung geraten, ihnen den Zutritt zu verwehren, "weil sie aus logischen Gründen nicht in ihr System passen"? Stimmen sie mit den "bestehenden", also in das System passenden, Rechtssätzen überein, so müssen sie, wie diese, in das System passen.

Wie aber - diese Frage verdient allerdings eine ernstere Erwägung - wenn die neuen, aus der Natur der Sache gefundenen Rechtssätze mit den bisher bestehenden allerdings in Widerspruch treten? Wer soll dann nachgeben, das Recht oder der Verkehr, die Wissenschaft oder das Leben? In einer solchen Fassung ist die Frage unrichtig gestellt und daher so gestellt, unlösbar; denn weder kann das Bedürfnis des Lebens sich einer Theorie opfern, noch darf die Wissenschaft die Logik verleugnen.

Es handelt sich aber gar nicht um den Gegensatz von Wissenschaft und Leben oder Recht und Bedürfnis, sondern es handelt sich um neu gebildetes Recht, das von der Wissenschaft als solches erkannt werden muß unter Aufhebung oer Umgestaltung des bisherigen Rechts und seiner Theorie.

Wenn z. B. auf dem Gebiet des Handelsrechts das Prinzip der freien Stellvertreung, der Übertragbarkeit nicht bloß der  actio,  vielmehr der  obligatio  selbst, der Singularsukzession in Obligationen, der Verkörperung einer Forderung in einem Wertpapier, der Begründung von Schulden an unbekannte Gläubiger auftaucht und zahlreiche Rechtsbildungen treibt, so liegt nicht ein Konflikt von Recht und Leben oder Wissenschaft und Verkehrsbedürfnis vor, sondern vielmehr das von der Wissenschaft zu lösende Problem, eine neue Rechtsbildung anzuerkennen und theoretisch zu würdigen.

Aber freilich, dies setzt voraus, daß man nicht an die alleinseligmachende Unfehlbarkeit der  römischen  Rechtslehre glaubt.

Ich kann mir nicht versagen, die vortrefflichen Bemerkungen STOBBEs (3) hierüber anzuführen:
    "Man darf nicht, weil etwas nach römischem Recht unmöglich ist, es überhaupt für unmöglich erklären (diese vornehme Behandlung praktischer Institute ist noch nicht ganz verschwunden; so sagt z. B. LENZ, Recht des Besitzes, 1860, Seite 59: die Order- und Inhaberpapiere "lassen sich in der Tat nicht unter die Normen des römischen Rechts subsumieren und  sind deshalb überhaupt nicht  juristisch zu konstruieren!"); denn die römische Art, die Dinge anzusehen, ist nicht die einzig denkbar und was nach römischen Recht unmöglich ist, kann in einem anderen Recht nicht bloß möglich, sondern auch vernünftig und zweckmäßig sein."
Eine tiefere rechtsphilosophische Auffassung erkennt, daß es ein vernunftwidriges Recht überall nicht geben kann; wenn irgendwo, so gilt auf dem Rechtsgebiet der Satz: "Alles was ist, ist vernünftig", d. h. es ist zur Zeit seiner Entstehung jedes Rechtsgebilde mit Notwendigkeit als Vernunftpostulat seiner Bildner geschaffen worden; mag ein solches Gebilde unter veränderten Lebensbedingungen nicht mehr zweckmäßig oder mag es unserer anders angelegten Art von Anfang an als vernunftwidrig erscheinen - es war bei seiner Entstehung ein Versuch, die Rechtsidee in diesem Kreis von Rechtsgenossen zu befriedigen, wie z. B. auch ein verunglücktes Kunstwerk, eine ganze Stil- oder Geschmacksrichtung, welche wir verwerfen, immerhin ein Versuch bleibt, die Idee des Schönen zu verwirklichen. Hat nun gegenüber abgestorbenen Rechtsbildungen die Wissenschaft als geschichtliche Rechtsbetrachtung die Aufgabe, den zugrundeliegenden Rechtsgedanken, das von der Rechtsvernunft dabei Gewollte zu ermitteln, so hat sie gegenüber den Neubildungen des Rechts, welche der Verkehr erzeugt, die entsprechende Aufgabe als dogmatische konstruierende Rechtsbetrachtung den hier verwirklichten Rechtsgedanken ansich zu erschließen und die Folgerungen zu ziehen, unbekümmert darum, ob dieses Institut mit den Grundsätzen (älterer oder fremder) Rechtsbildungen übereinstimmt oder nicht. Wesentlich ist nur die innere Logik jeder Neubildung des Rechts für sich. Wenn sich z. B. schon im mittelalterlichen Handelsrecht von den römischen Sätzen abweichende Anschauungen entwickelt haben, hätte man diese Gestaltungen weil "unkonstruierbar" unterdrücken sollen? oder ist es ein unerträglicher Zustand, daß z. B. für Stellvertretung, für Zinsrecht in Handelsgeschäften in der Tat gerade das Gegenteil von den vom römischen Recht aufgestellten Normen galt und gilt? Oder beruhigt sich nicht vielmehr die Rechtsvernunft über diesen Widerspruch vollständig mit der Erkenntnis, daß es ein absolutes Recht nicht gibt, daß für jede der widerstreitenden Anschauungen vernünftige, im Nationalgeist und den jeweiligen Kulturvoraussetzungen wurzelnde Gründe sprechen und daß es eben als Folge unserer reichgemischten Kulturzustände hinzunehmen ist, daß wir für Zivilrecht und Handelsrecht in diesen Fragen widerstreitende Rechtsnormen haben. Nicht einmal einen kranken Rechtszustand kann man darin erblicken, man müßte denn die gesamte Entwicklung unseres Rechts in ihrer Kombinierung verschiedener nationaler Rechtsstoffe eine krankhafte nennen, was doch eine arge Verkennung des dadurch gewonnenen Reichtums und der dadurch getragenen Feinbildung unseres Rechts wäre. Freilich ist es höchst lehrreich, zu verfolgen, wie die freieren modernen Grundsätze - man kann nicht sagen, daß es gerade nur deutsche Anschauungen sind, es sind die Auffassungen des gemein europäischen Handelsverkehrs schon mit dem Aufblühen des italienischen Handels im späteren Mittelalter -, welche in Beseitigung der ängstlichen römischen Kautelen [Vorbehalte - wp] (Zinsbeschränkung, Lex Anastasiana, exceptio und  querela non numeratae pecuniae  [Anspruch auf Geldzahlung bei Nichteinhaltung - wp]; Verbot der  lex commissoria,  Beschränkung der Konventionalstrafe etc.) sich zunächst nur für das Gebiet der Handelsgeschäfte Anerkennung erkämpft hatten, in unseren Tagen einer nach dem anderen durch die Partikulargesetzgebung aus dem Handelsrecht in das gemeine Zivilrecht herüber getragen werden.

Aber nicht nur, weil das gemeine römische Recht volksfremd ist, kann es geschehen, daß moderne Rechtsbildungen, unverträglich mit dem "System" der bestehenden Rechtslehre erwachsen, - die Geschichte verfährt auch innerhalb der rein nationalen Rechtsgestaltung nicht mit der säuberlichen Gleichförmigkeit theoretischer Konstruktionen; oder zeigt nicht jeder Blick in die Geschichte unseres öffentlichen Rechts, daß Reste mittelalterlicher Institutionen erhalten geblieben sind in unverträglichem Widerspruch mit den sie umgebenden Einrichtungen des modernen Rechtsstaates? ja zeigt nicht auch die Geschichte des römischen Zivilrechts ein Nebeneinander starr festgehaltender Grundsätze des alten  jus civile  und darüber hinaus gewachsener Normen des prätorischen Rechts und des  jus gentium?  [Stammesrecht - wp]

Der Rechtszustand eines Volkes bei reicher entwickelter Kultur weist Mannigfaltigkeit, ja Widersprüche der Rechtsbildungen deshalb auf, weil im Volksgeist selbst und seinen Lebenserscheinungen und Bedürfnissen eine solche Mannigfaltigkeit, ja Widersprüche bei einer gesteigerten und komplizierten Zivilisation unvermeidlich sind.

So gefiel sich das deutsche Mittelalter in einer sehr weit getriebenen Mannigfaltigkeit der Rechtsbildung nach Geburts- und Berufsständen, wobei es die Unterschiede gern zum Gegensatz, den Gegensatz zum ausgesprochenen Widerspruch antithetisch zu steigern liebte; oder es stellte auch je nach objektiven Sachunterscheidungen widerstreitende Grundsätze geflissentlich nebeneinander: z. B. errungenes und ererbtes Gut; ja es behandelte die gleiche Sache nach verschiedenen Grundsätzen, je nach Verschiedenheit der beteiligten Rechtssubjekte: so wenn ein bekanntes Weistum [mündlich überlieferte historische Rechtsquelle - wp] Häuser als Liegenschaften bezüglich des Einspruchsrechts der Erben, als Fahrnis [bewegliche Sache - wp] gegenüber dem Veräußerungsverbot der Herrschaft behandelt.

Das Leben erzeugt gleichzeitig Rechtsbildungen mit widerstreitenden Prinzipien; Aufgabe der Wissenschaft kann es nur sein, das Prinzip jedes Instituts zu erfahren und konsequent durchzuführen - auch hier kann ihr "die  utilitas  ein Halt zurufen" (JHERING) - nicht aber den Widerstreit der Prinzipien zu ignorieren oder die neuen Erscheinungen um ihres Widerspruchs willen gegen die bestehenden Rechtssätze nicht anzuerkennen.

Im letzten Abschnitt bespricht ADICKES das Verhältnis des Gesetzes zu den übrigen Rechtsquellen § 7; er gelangt hier zum Ergebnis der "Superiorität" des Gesetzesrechts über diese anderen Rechtsquellen, namentlich über das Gewohnheitsrecht; danach soll das Gewohnheitsrecht dem Gesetzesrecht nicht derogieren [für ungültig erklären - wp] können. Diese dem Gewohnheitsrecht mißgünstige Anschauung, welche bekanntlich die großen Kodifikationen in Preußen und Österreich beherrscht (die in einer Periode tiefer Verkennung des volkstümlichen Erwachsens allen Rechts entstanden waren), auch in das sächsische bürgerliche Gesetzbuch und leider auch in das Allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch eingedrungen ist, wird von ADICKES mit Eifer wieder verteidigt. Er bemerkt mit Recht, daß er die PUCHTA-SAVIGNYsche Begründung der Gleichberechtigung des Gewohnheitsrechts mit deren Auffassung des Gesetzes als fingierter Rechtsüberzeugung, welche der wirklichen des Gewohnheitsrechts zu weichen habe, bereits beseitigt hat.

Aber im Verlauf der Darstellung muß ADICKES dann doch Zugeständnisse machen, welche im tatsächlichen Ergebnis die angebliche Superiorität in der entscheidenden Frage beseitigen: auf "rechtmäßigem Weg" soll ein Gewohnheitsrecht ein entgegenstehendes Gesetzesrecht nie beseitigen können, "erst die Zeit zieht den Schleier über den illegalen Vorgang" - der aber eben doch, und zwar mit Rechtswirkung, vorgegangen ist. Die eigenen Ausführungen ADICKES' Seite 77 erläutern dann, wie eine solche Abänderung von Gesetzesrecht durch Gewohnheitsrecht tatsächlich materielles Recht sein kann, wenn auch mit einer Verletzung positiven Rechts.

Darin aber liegt das Wesentliche. ADICKES kann nicht bestreiten, daß bestehende Gesetze durch  desuetudo  [Aufhebung oder Änderung von Normen - wp] aufgehoben werden, und doch ist die Nichtanwendung des Gesetzes in einem Fall, da es angewendet werden will, nicht minder eine Verletzung des formalen Rechts wie die Anwendung eines entgegengesetzten Grundsatzes; in dieser liegt nur immer auch die Nichtanwendung des gesetzlichen. Selbstverständlich bedarf es auch für die Ausbildung eines dem Gesetz derogierenden Gewohnheitsrechts "der Zeit", d. h. der wiederholten Übung - sonst gebricht es dem herrschenden Rechtszustand gegenüber an einer erkennbaren Änderung - aber es ist nicht abzusehen, weshalb bei dieser Art von Gewohnheitsrechtsbildung die heiligende Wirkung der Zeit eine andere Bedeutung als sonst, ja die allein entscheidende haben soll; das ideale Moment, die  opinio necessitatis,  ist auch in diesem Fall wahrlich nicht Nebensache.

Allerdings, ein revolutionärer Vorgang im weiteren Sinne ist es, wenn der Staatswille, der im Gesetz geäußert ist und fort gelten will, bis er durch Gesetz aufgehoben wird - "hac lege in perpetuum valitura sancimus" [Dieses Gesetz gilt für immer und alle. - wp] - nicht durch Gesetz, sondern vorher durch Nichtbefolgung, durch Ausbildung einer entgegenstehenden Rechtsüberzeugung aufgehoben wird. Aber, ist es denn nach so vielen Erfahrungen vernünftig, kann dem Gesetzgeber die Einbildung eingepflanzt werden, er könne unvergängliche, der ändernden Gewohnheit entrückte Normen aufstellen? Der Gesetzgeber soll wissen (und soll nichts anderes wollen) und das muß als seine Anschauung und Absicht vermutet werden, daß seine Produkte dem Wandel der menschlichen Dinge nach hergebrachter Umgestaltungsart unterliegen, daß also, wie ein änderndes Gesetz, Nichtanwendung oder die Ausbildung einer entgegenstehender Rechtsüberzeugung sie ändern kann. Mit einer solchen Voraussetzung liegt in der Änderung auch formell nichts Jllegales.

Wie aber, wenn ausdrücklich der Gesetzgeber die ändernde Kraft des Gewohnheitsrechts ausgeschlossen hat?

Mit Grund verlangt ADICKES, daß eine konsequente Anschauung auch einem solchen Verbot gegenüber die ändernde Kraft des Gewohnheitsrechts aufrechterhält.

Ich aber erlaube mir nicht, diese Konsequenz zu ziehen.

Der Gesetzgeber hat in jenem Fall etwas Unmögliches geboten, etwas Notwendiges verboten: er hat die Rechtsvernunft zum Stillstehen verurteilt und sie in Notstand versetzt. Freilich, es mag viele Sätze des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs geben, gegen welche niemals eine ändernde  opinio necessitatis  mit entsprechender Übung auftritt. Tritt aber eine solche in äußerlichen Anwendungen bereits erschienen hervor, so ist die Rechtsänderung bereits eingetreten und es hilft nicht, daß man sie eine illegale schilt; auch die "heiligende Macht der Zeit" ist bei diesem allerdings das formale Recht durchbrechenden revolutionären Vorgang so wenig wesentlich wie bei der Legitimation von staatsrechtlichen Revolutionen; denn man muß fragen, wie groß muß die Spanne Zeit sein, auf daß sie heiligend wirke?

Es wird also in solchen Fällen "durch die Fortsetzung illegaler Handlungen" - Nichtanwendung eines Gesetzes - allerdings ein Rechtssatz beseitigt, mag auch "diese Weg kein legaler sein", - das Recht wir eben nicht nur auf legalem, es wird nötigenfalls auch auf illegalem Weg weiter gebildet.

Im Privatrecht handelt es sich allerdings nicht so leicht um Lebensfragen für das ganze Volk oder den Staat, welche vor die Wahl stellen zwischen einem gewaltsamen Bruch des formalen Rechts oder Untergang; es kommt hier nicht so leicht zu akuten Krisen; dafür sind die Fälle desto häufiger, in welchen die Gewohnheit die Versäumnis des Gesetzgebers gut macht, veraltete oder von vornherein verfehlte Gesetze zu ändern. Dies geschieht unbefangen, wenn das Gesetz das ändernde Gewohnheitsrecht nicht ausdrücklich ausschloß; beging das Gesetz den Fehler dieses Gebots, so sucht sich die Praxis entweder durch Hinweginterpretation des Veralteten, also unter dem Schein der Aufrechterhaltung des Gesetzes, zu helfen - eine Erscheinung, welche mehr juristische Finesse als politische Gesundheit voraussetzt.

Oder: es richtet sich die  opinio necessitatis  gegen jenes gesetzlich Verbot des Gewohnheitsrechts selbst:  es wird herrschende Rechtsüberzeugung, daß jenes Verbot übertreten werden muß,  und nach dieser präjudiziellen Entscheidung tritt das junge Gewohnheitsrecht bei der ersten praktischen Anwendung bereits ausgewachsen und zum Sieg gerüstet hervor wie ATHENE aus dem Haupt des ZEUS.
LITERATUR Felix Dahn, Zur Lehre von den Rechtsquellen, insbesondere vom Gewohnheitsrecht; Zeitschrift für die deutsche Gesetzgebung und für einheitliches deutsches Recht, Bd. 6, Berlin 1872
    Anmerkungen
    1) Siehe den Aufsatz "Rechtsphilosophie", "Rechtsschulen" im Staatswörterbuch von BLUNTSCHLI und BRATER und eine Abhandlung "Zur Rechtsphilosophie" in der "Kritischen Vierteljahrsschrift", Bd. XII, Seite 3.
    2) Mit Fug nennt es ADICKES Seite 30 eine arge Verdrehung der Sachlage, wenn PUCHTA umgekehrt von einem "von seinen Juristen sezierten Volk" spricht.
    3) OTTO STOBBE, Handbuch des deutschen Privatrechts, Bd. 1, Seite 33