tb-1Briefe über die Kantische PhilosophieKants Theorie der Erfahrung    
 

AXEL HÄGERSTRÖM
Kants Ethik
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"Man darf es wohl als eine immer mehr anerkannte Tatsache ansehen, daß das bewußte Geistesleben im Ganzen stark von unbewußt wirkenden Faktoren beeinflußt ist. Zu diesen Faktoren gehören wohl auch unbewußte Schlüsse, die das bewußte Denken bestimmen. Die einfachste Überlegung führt zu der Notwendigkeit, solche anzunehmen. Schon bei der Konstatierung der Identität einer Erscheinung bei Wahrnehmungen, die in verschiedene Zeitmomente fallen, operiert man mit unbewußtem Schließen. Trotzdem eine solche Identität unmittelbar angenommen wird, liegt eine Gedankenoperation dahinter. Man geht dabei von einer bestimmten allgemeinen Voraussetzung aus, der nämlich, daß es eine von meinen Empfindungen verschiedene Wirklichkeit gibt, die hinsichtlich ihrer Fortdauer vom zufälligen Auftreten der Empfindungen unabhängig ist, und nun wendet man diese allgemeine Voraussetzung auf den vorliegenden Fall an."

"Die allgemeingültige Notwendigkeit der Wissenschaft soll daraus erklärt werden, daß ihre Objekte durch allgemeine psychische Verfahrensweisen bestimmt werden. Wie läßt es sich aber begreifen, daß diese objektiv sind, mit anderen Worten: daß sie imstande sind, eine  objektive,  d. h. eine im  Vorgestellten  selbst liegende innere Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu konstituieren, und nicht nur ein Zwang, in einer gewissen Weise vorzustellen? Sie sind ja eigentlich doch  nur  subjektiv. Nun, die Erklärung geschieht so, daß sie Verfahrensweisen der  Wissenschaft  sind, welche eine derartige allgemeingültige Notwendigkeit besitzt! Die Allgemeingültigkeit der Wissenschaft wird aus der Objektivität ihrer Methoden erklärt. Die Objektivität der Methoden wird aus der Allgemeingültigkeit der Wissenschaft erklärt."

Vorwort

Wenn man die umfängliche moderne KANT-Literatur studiert, ist es besonders  eine  Überlegung, die sich dem Betrachter dabei aufdrängt. Sie betrifft die Art und Weise, wie man bei der Forschung zu Werke geht. Gewöhnlich geht man von gewissen leitenden Gesichtspunkten aus, durch deren Anwendung man die Bedeutung der Kantischen Philosophie begreiflich machen will. Hierin liegt nun gewiß an und für sich nichts Unrichtiges. Sofern man im allgemeinen voraussetzen darf, daß diese Philosophie irgendwie ein Ganzes ausmacht, ist es klar, daß die einzelnen Sätze nicht anders begreiflich gemacht werden können, als indem man sie als von gewissen allgemeinen leitenden Gedanken bestimmt auffaßt. Die Art aber, wie diese Methode angewendet wird, muß den Betrachter mißtrauisch machen. Auffällig ist es vor allen Dingen, daß die betreffenen allgemeinen Gesichtspunkte bei den einzelnen KANT-Forschern fast ausnahmslos von der philosophischen Denkrichtung bestimmt sind, der sie angehören. Und es geschieht dabei, daß man, wenn man KANTs Philosophie nicht ganz mit seiner eigenen identifizieren will, gewisse Gesichtspunkte aus dem eigenen System herausreißt, die dort ihren gebührenden Rahmen und damit auch ihre begreifliche Bedeutung haben, aus ihrem Zusammenhang herausgerissen aber allen Sinn verlieren: dieses mit dem unbewußten Nebengedanken, später dann feststellen zu können, wie die Schwierigkeiten bei KANT durch das eigene System gelöst worden sind. In der nachfolgenden Darstellung sollen Beispiele hierfür gegeben werden. Weiter aber überrascht einen die Art, wie man oft die Richtigkeit der angenommenen Gesichtspunkte zu beweisen versucht. Man reißt ohne Bedenken einzelne Äußerungen heraus, worauf man durch eine mechanische Zusammenstellung die Richtigkeit seiner Annahmen zu beweisen sucht. Nun liegen die Verhältnisse indessen so, daß bei KANT, wie bei jedem tiefergehenden Denker, die einzelne Äußerung, besonders wenn sie von tieferer Bedeutung für das System im Ganzen ist, eben durch den Zusammenhang, in dem sie vorkommt, bestimmt ist. Wird der Zusammenhang fortgelassen, so bleibt der einzelne Satz in einem Gedankensystem in Wirklichkeit hinsichtlich seiner Bedeutung unbestimmt, so daß in ihn ganz anderes hineingelegt werden kann, als was gemeint ist. Dabei ist das Unvermögen der Sprache, sich völlig einem Denken anzuschmiegen, das sich nicht bloß mit dem sinnlich Darstellbaren beschäftigt, von großer Bedeutung. Dieses Unvermögen muß eben durch die nähere Bestimmtheit ersetzt werden, die Ausdrücke und Sätze durch ihren Zusammenhang erhalten. Die isolierende Methode darf hier wie im allgemeinen, wenn es sich um Erzeugnisse geistigen Lebens handelt, nur mit größter Vorsicht angewandt werden. Aber der ebenerwähnte Mangel soll im Folgenden durch Beispiele beleuchtet werden. Schließlich ist zu bemerken, wie man, wenn es nicht auf andere Weise geht, das Ganze begreiflich zu machen, ohne weiteres als grundlegend Gedanken annimmt, die in einem absoluten Widerspruch zueinander stehen, und bei denen der Widerspruch so zutage liegt, daß ein Anfänger philosophischer Forschung ihn ohne weiteres muß finden können. Man kann danach keine andere Auffassung bekommen, als daß KANT an Denkkraft hinter den obskursten Denkern bedeutend zurückgestanden haben muß, und daß sein Ruhm jedes haltbaren Grundes entbehrt. Auch für dieses Forschungsverfahren werden Beispiele genug nachzuweisen sein.

Hieraus kann man indessen gewisse Lehren ziehen. Vor allen Dingen muß man mit aller Kraft danach streben, jede  Wertschätzung  der leitenden Gedanken des behandelten Denkers von der historischen Betrachtung fernzuhalten. Da eine solche vom einzelnen Philosophen niemals geschehen kann, ohne daß er in gewissem Grade Gesichtspunkte für die Beurteilung annimmt, die aus seiner eigenen philosophischen Anschauungsweise geholt sind, muß ihre Verknüpfung mit der historischen Darstellung die Versuchung mit sich führen, auch in diese eigene Gesichtspunkte hineinzulegen, trotzdem sie für das System, das dargestellt wird, ganz fremd sein können. Wir haben nun auch im Folgenden mit aller Kraft versucht, uns von  jeder derartigen Wertschätzung  fernzuhalten. Haben wir es bisweilen unternommen, die prinzipielle Kritik anderer zu widerlegen, so ist das nur geschehen, um vorhandene Mißverständnisse in der Auffassung festzustellen. Weiter aber wird man durch die erwähnte Reflexion über das gewöhnliche Verfahren dazu geführt, das Kriterium für die Wahrheit einer die Kantische Philosophie behandelnden Darstellung zu formulieren. Man muß fordern, daß wirklich ein einheitlicher Gedanke derart nachgewiesen wird, daß KANTs eigene Darstellung, wie sie Punkt für Punkt verläuft, sich durch denselben als ein zusammenhängendes Ganzes begreifen läßt. Es ist zwar nicht notwendig, daß dieser Gedanke soweit stichhaltig ist, daß man nicht einen versteckten Widerspruch nachweisen könnte. Was man aber verlangen muß, ist, daß sich in ihm wenigstens  ein einigendes Element  findet, welches bewirkt, daß die etwa vorhandenen strittigen Elemente einen Berührungspunkt haben, wodurch der Gedanke vom einen zum andern hinübergeleitet wird. Dieses Element muß wenigstens eine Erörterung darüber möglich machen, ob ein wirklicher Widerspruch vorhanden ist. Ferner ist es auch nicht notwendig, daß dieser Gedanke, damit seine grundlegende Natur angenommen werden kann, als vollständig durchgeführt nachgewiesen wird. Es läßt sich ja wohl die Möglichkeit starker Einflüsse denken, die sich in einer anderen Richtung geltend gemacht haben. Auch sind Inkonsequenzen aus zufälligen Ursachen nicht ausgeschlossen. Wenn aber bedeutendere Abweichungen vorhanden sind, so muß dargetan werden, teils daß wirklich starke Einflüsse mehr äußerer Natur vorliegen, teils daß die Art und Weise, wie KANT sie seinem System zu assimilieren gesucht hat, von dem als leitend angenommenen Gedanken bestimmt ist. Und hinsichtlich weniger bedeutender Inkonsequenzen müssen die zufälligen Umstände, durch die sie hervorgerufen worden sind, ganz genau bestimmt werden können. Im Folgenden haben wir dieses Wahrheitskriterium zur Richtschnur genommen.

Ich will als Beispiel hierfür folgende Darstellung der Kantischen Lehre von  Ding-ansich  anführen.  Daß  KANT wirklich irgendwie das Ding-ansich als Grund der objektiven Bestimmtheit der sinnlichen Vorstellung annimmt, und daß dieses ein wesentliches Moment im System ausmacht, läßt sich nicht leugnen, ohne dem vorliegenden historischen Material Gewalt anzutun. Wir aber die Sache so dargestellt, daß das Ding-ansich durch ein in die Zeit fallende Kausalität, die der mechanischen Kausalität gleichzustellen sei, der empirischen Anschauung zugrunde liegen sollte, so ist der Widerspruch  offenbar.  Der ganze Transzendentalismus wird damit aufgehoben. Die psychologische Schwierigkeit, die hier in der Annahme liegt, daß ein Denker von der Tiefe und Schärfe, wie sie KANT sonst an den Tag legt, sich durchweg in einem solchen Widerspruch bewegen sollte, muß hier außerordentlich schwer wiegen. Sie muß so schwer wiegen, daß der Widerspruch nicht eher als bewiesen angesehen werden darf, als bis auch gezeigt worden ist, daß KANT  mit ausdrücklichen Worten  sagt: die betreffende Kausalität ist  sinnlicher  (zeitlicher) Natur. Nun läßt sich indessen keine einzige solche Stelle nachweisen, sondern es handelt sich hier bloß um eine  Deutung.  Ich will jetzt aber zeigen, daß es eine Deutung gibt, nach welcher sich KANTs Darstellung wirklich begreifen läßt. Nach dieser Deutung gibt es wirklich ein verbindendes Element, das vom Ding-ansich zum Transzendentalismus hinüberleitet und umgekehrt. Es soll damit nicht geleugnet werden, daß in jedem Fall ein Gegensatz vorhanden ist, aber er ist nicht ohne jede Einheit. Der Widerspruch ist dann unter allen Umständen  versteckt  und damit begreiflich. Die Sache liegt so, daß der Begriff des Dings-ansich ein notwendiges Moment im transzendentalen Denken selbst ist, und nur wenn man so weit geht, daß man aufgrund der Einheitsforderung des Denkens das absolute Primat der Vernunft postuliert, kann das Ding-ansich auf einen  bloßen  Gedanken reduziert werden.  Sofern dieses Postulat nicht aufgestellt worden ist,  besteht die  Notwendigkeit,  das Ding-ansich im Zusammenhang mit den transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis zu denken, ohne daß diese Denknotwendigkeit durch Reduktion derselben zu einem  unter  der Vernunft stehenden Moment zu überwinden möglich wäre. Und unter der gleichen Voraussetzung kann auch kein Widerspruch in der Annahme des Dings-ansich hervortreten. Jedes Moment im Fortgang steht als notwendig und zum andern überleitend da. Es ist zu beachten, daß die Forderung absoluter Einheit seitens des Denkens sich nicht geltend machen kann, wenn sich nicht die  Möglichkeit  der Durchführung einer solchen Einheit irgendwie gezeigt hat. Daher ist auch in der folgenden Darstellung kein Widerspruch hierin bei KANT nachgewiesen worden. Um einen solchen zu behaupten, wäre notwendig gewesen, dem System selbst fremde Gesichtspunkte in die Darstellung zu bringen. Und da solches bei einer historischen Betrachtung aus oben angegebenem Grund nicht vorkommen darf, haben wir uns damit begnügt zu zeigen, wie wirklich bei KANT in diesem Punkt das eine Moment zum andern hinübergeleitet.

Hieran ist aber eine weitere Überlegung anzuknüpfen. Wenn man wirklich auf die angegebene Weise nachweisen kann, daß bei KANT ein bestimmter mehr oder weniger einheitlicher Gedanke vorhanden ist, der das Ganze durchzieht, so muß es von großer historischer Bedeutung sein, überhaupt diesen Gedanken hinsichtlich dessen, was darin liegt oder daraus abgeleitet werden kann, genau zu durchforschen. Ohne diese Erkenntnis ist es unmöglich, zu einem völligen Verständnis von KANTs eigener Darstellung zu kommen. Man darf es wohl als eine immer mehr anerkannte Tatsache ansehen, daß das bewußte Geistesleben im Ganzen stark von unbewußt wirkenden Faktoren beeinflußt ist. Zu diesen Faktoren gehören wohl auch unbewußte Schlüsse, die das bewußte Denken bestimmen. Die einfachste Überlegung führt zu der Notwendigkeit, solche anzunehmen. Schon bei der Konstatierung der Identität einer Erscheinung bei Wahrnehmungen, die in verschiedene Zeitmomente fallen, operiert man mit unbewußtem Schließen. Trotzdem eine solche Identität unmittelbar angenommen wird, liegt eine Gedankenoperation dahinter. Man geht dabei von einer bestimmten allgemeinen Voraussetzung aus, der nämlich, daß es eine von meinen Empfindungen verschiedene Wirklichkeit gibt, die hinsichtlich ihrer Fortdauer vom zufälligen Auftreten der Empfindungen unabhängig ist, und nun wendet man diese allgemeine Voraussetzung auf den vorliegenden Fall an. Weiter ist zu beachten, daß, wie man sagt, jedermann ein Kind seiner Zeit ist. Dies zeigt sich wohl in erster Linie darin, daß man unbewußt in seinem Denken von Ideen bestimmt wird, die aufgrund allerhand Umstände, politischer, sozialer, kultureller Einflüsse, sich im allgemeinen Bewußtsein geltend gemacht haben. Ist dem aber so, so muß auch angenommen werden, daß der Charakter des Grundgedankens, der für das Denken eines bestimmten Philosophen maßgebend wird, auch von Umständen abhäng, über die er nicht selbst Herr ist. Diese Unfreiheit aber muß mit sich führen, daß es für ihn nicht möglich ist, vollständig mit seinem Denken die Idee zu bemeistern, die ihn leitet. Damit wird sie stets in gewissem Grabd auch  unbewußt  bestimmend auf sein Denken wirken. Wenn man daher aus anderen Gründen hat feststellen können, daß wirklich eine gewisse idee für ein philosophisches System bestimmend gewesen ist, und wenn sich gemäß dieser Idee ein wirklicher Zusammenhang zwischen besonderen Momenten des Systems denken läßt, obwohl dieser Zusammenhang nicht in der Darstellung selbst klar hindurchscheint, so hat man allen Grund, anzunehmen, daß er wirklich beim Denker selbst in unbewußter Form vorhanden gewesen ist. Ja, es kann sogar, wenn es zu zeigen gilt, daß eine gewisse Idee wirklich im ganzen bestimmend ist, aufgrund des Nachweises, daß sich die Darstellung als ein Ganzes bloß durch diese Idee begreifen läßt, zulässig sein, solche unbewußten Schlüsse anzunehmen. Jedoch muß dabei zugesehen werden, daß man wirklich in der Darstellung selbst bestimmte Anknüpfungspunkte hat. Hier ist die Grenze der willkürlichen Konstruktion leicht zu überschreiten.

Im allgemeinen kann man sagen, daß die zur Zeit gewöhnliche Abneigung dagegen, in eine Darstellung, die die Geschichte der Philosophie betrifft, anderes aufzunehmen, als was in den eigenen Worten des behandelten Denkers unmittelbar ausgedrückt liegt, seine guten wie auch seine schlechten Seiten hat. Einerseits ist sie offenbar als der Ausdruck der Achtung vor der historischen Wahrheit gegenüber HEGEL'schen Konstruktionen zu betrachten. Andererseits aber geht sie wohl in bedeutendem Maße auf eine übertriebene Tendenz zurück, die naturwissenschaftliche Methode auf alle möglichen Gebiete anzuwenden. Wenn ich auch durch Analyse eine chemische Zusammensetzung kennenlernen kann, wenn auch das physische Leben auf analytischem Weg aufgrund der chemisch-physikalischen Prozesse, auf die es zurückzuführen ist, erkannt werden kann, so ist es nicht gesagt, daß man in die Gedankenwelt eines Philosophen durch ein Zerpflücken und Zusammenstellen seiner Äußerungen Einblick gewinnen kann. Dort ist doch etwas vorhanden, das vom Gebiet naturwissenschaftlicher Forschung verschieden ist, und das ist die innere Einheit des Gedankens. Daher läßt sich ein historisches Gedankensystem nicht durch eine Art Verbindung einzelner Äußerungen erkennen. Überhaupt kann man dazu nicht  von außen her  durch die bloße Aufnahme dessen, was gegeben ist, gelangen. Es ist für eine solche Erkenntnis notwendig, daß man selbständig den leitenden Gedanken im eigenen Bewußtsein aufsprießen läßt. Die äußeren Fakta können dabei bloß als Richtschnur zur Hervorbringung des für den behandelnden Philosophen leitenden Gedanknens im eigenen Bewußtsein und als Prüfstein dafür dienen, ob man das Rechte getroffen, niemals aber darf man glauben, daß man aus den äußeren Fakta direkt den Gedanken herausholen kann. Nicht ohne Grund läßt es sich sagen, daß manche moderne KANT-Forscher in vielem einem Schüler ähneln, der da glaubt sich einen geometrischen Satz dadurch zueigen zu machen, daß er - den Beweis dafür aus dem Lehrbuch auswendig lernt. Indessen ist zu beachten, daß der gesunde Instinkt dabei in eine andere Richtung führt, als die Durchführung der angenommenen naturwissenschaftlichen Methode es tun würde. Die Sache ist die, daß man unwillkürlich einen Gedanken aus dem, was man liest, herausholen will, und wenn man durch das Studium nicht direkt zu einem solchen kommen kann, greift man zu Gedanken, mit denen man selbst vertraut ist und erklärt das Ganze daraus. - Wenn aber so das Hauptgewicht immer auf eigenes freies Nachdenken gelegt werden, und ein Mangel an einem solchen notwendig zu einer Verfehlen der historischen Wahrheit selbst führen muß, so muß auch das selbständige Durcharbeiten des als leitend eingesehenen Gedankens von wesentlicher Bedeutung für die Erkenntnis der historischen Wahrheit sein, mögen auch direkte Stützpunkte in den äußeren Fakta fehlen. Aus diesem Gesichtspunkt ist manches in der folgenden Darstellung zu sehen.

Ferner ist stark zu betonen, daß es sich hier nicht darum handelt, eine Monograhie über KANT zu geben. Dazu hätte vieles andere in den Bereich der Darstellung gezogen werden müssen, als es hier geschehen ist: die Zeitverhältnisse, unter denen er lebte, die früheren Denker, die auf ihn eingewirkt, der Einfluß, den Leben und Charakteranlage auf sein Denken gehabt haben, der Gang seiner Entwicklung bis zum eigentlich kritischen Standpunkt und anderes mehr. Hier ist die Aufgabe eng begrenzt auf eine  systematische  Darstellung von KANTs Ethik im Verhältnis zu seinen erkenntnistheoretischen Grundgedanken. Dabei sind ausschließlich KANTs eigene Schriften während der kritischen Periode als Grundlage für die Darstellung angewendet worden und zwar hauptsächlich die seit 785 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) herausgegebenen. Erst mit dieser "Grundlegung" hat KANTs Ethik den Ausdruck erhalten, den sein kritischer Standpunkt notwendig macht. Wohl wäre es nützlich gewesen, wenn für diese Darstellung auch andere Fakta hätten in Betracht gezogen werden können. Um das Werk aber nicht auf allzu große Dimensionen zu bringen, habe ich mich auf das beschränken müssen, was unter allen Umständen als das hauptsächliche Hilfsmittel für die Lösung einer solchen Aufgabe angesehen werden muß. Im übrigen ist zu beachten, daß, wenn auch die Erkenntnis der Bedeutung von KANTs kritischem Standpunkt in gewissem Grad von der Einsicht in die Entwicklung seines Denkens und die Einflüsse, unter denen er gestanden hat, bedingt sein wird, dieses Bedingungsverhältnis doch auch möglicherweise umzukehren ist. Es ist klar, daß eine Entwicklung überhaupt nicht ihre gehörige Beleuchtung erhalten kann, sofern nicht ihr Endpunkt bereits bekannt ist. Man muß wohl annehmen, daß KANTs Entwicklung wesentlich von zum Teil unbewußten Ansätzen zu einem kritischen Standpunkt bestimmt war. Ist dem aber so, so muß es auch stets für die Einsicht in die Entwicklung des  Kantischen  Denkens von Bedeutung sein, zu entscheiden, wie der kritische Standpunkt bloß im Anschluß an die direkt darauf zurückgehenden Schriften festgestellt werden kann.

Hinsichtlich des rein Formellen in der folgenden Darstellung sei eins bemerkt. Da ein Kommentar seine Existenzberechtigung wohl nur hat, wenn er den leser dem richtigen Verständnis der Meinung eines Denkers näher führen kann, mußte großes Gewicht auf Leichtfaßlichkeit gelegt werden. daher die an und für sich vielleicht unnötige Umständlichkeit an verschiedenen Stellen. Außerdem ist zu bemerken, daß auf den Gang der Darstellung, obwohl er im Ganzen von logisch systematischen Forderungen bestimmt ist, doch in Einzelheiten andere Rücksichten einwirkten, teils nämlich die bereits erwähnte notwendige Rücksicht auf Leichtfaßlichkeit der Darstellung, teils die Absicht, soweit wie möglich KANTs eigener Darstellung in ihrem Fortgang an verschiedenen Stellen zu folgen, um so die Gefahren einer isolierenden Methode zu vermeiden. Diese beiden Umstände haben es mit sich gebracht, daß gewisse Moment nicht an dem Platz, den sie logisch gesehen einnehmen, vollständig erörter werden konnten, sondern ihre vollständige Behandlung aufgeschoben werden mußte. So ist z. B. das Verhältnis zwischen der reinen allgemeinen Vernunft und dem einzelnen vernünftigen Wesen nicht im theoretischen Teil erörtert worden, trotzdem hinsichtlich der logischen Bedingungen dem nichts im Wege stand. Die Rücksicht auf Leichtfaßlichkeit war hier bestimmend. Erst auf praktischem Gebiet erhält nämlich dieses Verhältnis bei KANT einen bestimmteren Ausdruck im Begriff der Autonomie. Besonders aber gilt das eben Gesagte von KANTs Freiheitslehre, hinsichtlich welcher die eine Darstellung bei KANT die andere vervollständigt. Daher haben wir, wo wir einer bestimmten Darstellung, z. B. der in der Kr. d. r. V., folgten, nicht vollständig alle Punkte erörtern können, die logisch gesehen dahin gehören, sondern haben sie bis zur Behandlung anderer Darstellungen aufschieben müssen. - Was die einleitende Untersuchung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für KANTs Ethik betrifft, so könnte auffallen, daß die Behandlung der Denkbarkeit der kosmologischen Freiheit darin nicht aufgenommen, sondern bis zum Hauptteil verschoben worden ist. Dies hat unseres Erachtens seine Berechtigung darin, daß sie wesentlich ein  Glied  in KANTs  Ethik  ist, wenn sie sich auch unmittelbar auf erkenntniskritische Prinzipien stützt. Sie gehört nämlich zu dem Teil derselben, in dem das logische Konstituens des kategorischen Imperativs untersucht wird, welcher Untersuchung in der "Grundlegung etc." ein ganzer Abschnitt gewidmet wird. Außerdem ist zu beachten, daß KANT selbst in der Vorrede zur "Kritik der praktischen Vernunft" es als eine der Hauptaufgaben dieser Schrift betrachtet, die logische Möglichkeit der Freiheit näher zu erörtern. (1) Damit zeigt sich ja deutlich, daß er selbst diese Untersuchung als einen integrierenden Teil seine ethischen Untersuchungen betrachtet. - Was endlich die Teilung der Hauptdarstellung selbst in einen analytisch progressiven und einen synthetisch regressiven Teil betrifft, so ist sie im Anschluß an die Darstellung der "Grundlegung" vorgenommen worden. "Ich habe meine Methode in dieser Schrift so genommen, wie ich glaubte, daß sie die schicklichste sei, wenn man von der gemeinen Erkenntnis zur Bestimmung des obersten Prinzips desselben analytisch und wiederum zurück von der Prüfung dieses Prinzips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntnis, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will" (2). Daher benutzen wir auch hier die Darstellung der "Grundlegung" in ihrem Fortgang als Leitfaden für den Gang unserer eigenen Darstellung.

Hinsichtlich der berücksichtigten Literatur habe ich im ganzen das Prinzip befolgt, hervorragendere Vertreter verschiedener Richtungen von Kantauffassungen auszuwählen. - Von KANTs Schriften sind die "Kritik der reinen Vernunft" (abgek.: Kr. d. r. V.), "Kritik der praktischen Vernunft" (abgek.: Kr. d. pr. V.) und "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (abgek.: Rel.) nach KEHRBACHs Ausgaben, "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (abgek.: Grundl.) und "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik usw." (abgek.: Proleg.) nach von KIRCHMANs Ausgaben, die übrigen Schriften nach ROSENKRANZ' Kantausgabe (abgek.: R.) angeführt worden.




Einleitung zur Kantischen Ethik

Grundzüge seiner Erkenntnistheorie

1. Wenn wir hier KANTs Erkenntniskritik zum Gegenstand einer Untersuchung machen, so geschieht das lediglich, um damit eine Einleitung zur Darstellung seiner Ethik zu geben. Es muß daher die Untersuchung auf das dazu Nötige beschränkt werden. Im allgemeinen ist es notwendig, sich über den prinzipiellen Standpunkt Klarheit zu verschaffen. Außerdem bedarf es aber einer besonderen Darstellung der Kantischen Lehre vom Ding-ansich wegen des speziellen Zusammenhangs dieser Lehre mit den ethischen Fragen.

Es dürfte allgemein anerkannt sein, daß die erkenntniskritischen Untersuchungen KANTs durch ein Bestreben, die Möglichkeit und die Grenzen der Erkenntnis durch ein zurückgehen auf das Erkenntnisvermögen selbst zu untersuchen, gekennzeichnet sind. Im übrigen scheinen die Meinungen darüber, was den erkenntniskritischen Standunkt KANTs im besonderen kennzeichnet, weit auseinander zu gehen. Eins aber haben sie tatsächlich noch alle gemein, nämlich die Auffasung, daß KANT mit dem Erkenntnisvermögen oder dem erkennenden Bewußtsein das  psychologisch  gegebene Bewußtsein, und mit der Erkenntnis, deren Möglichkeit untersucht wird, eine  psychische  Erscheinung meint, womit gegeben ist, daß die Methode mehr oder weniger wesentlich psychologisch ist. In offenbarer Übertreibung wird diese Auffassung von SCHOPENHAUER entwickelt, wenn er z. B. gegen KANTs Satz, es sei im Wesen der Vernunft begründet, auf eine unbedingte Ursache zurückzugehen - die Urreligionen des Menschengeschlechts anführt (3). Dasselbe gilt von WUNDT, wenn er z. B. gegen die Kantische Herleitung des Kausalgesetzes einwendet, diese Deduktion widerstreitet der Beschaffenheit der intellektuellen Entwicklung. Die Anschauung des Weltalls als eines gesetzmäßigen Ganzen sei ein sehr spätes Produkt derselben und keineswegs als Voraussetzung der primitiven Vorstellung der zeitlichen Reihenfolge zu betrachten (4). Daß im übrigen Kantforscher, wie KUNO FISCHER, VOLKELT, BENNO ERDMANN, PAULSEN, VAIHINGER u. a. eine psychologische Auffassung der Kantischen Erkenntnistheorie haben, ist leicht einzusehen. (5) Schwieriger scheint es, eine psychologische Auffassung bei COHEN und seinen direkteren Schülern oder selbständigen Nachfolgern - deren bedeutendster ALOIS RIEHL ist - nachzuweisen. Wir untersuchen deshalb zuvörderst den diesbezüglichen Standpunkt dieser beiden Verfasser genauer. Dabei müssen wir die Untersuchung streng begrenzen, so daß wir alles, was für die Entscheidung der Frage nicht notwendig ist, außer Acht lassen.

2. COHEN erklärt in der allgemeinen Zusammenfassung seiner Ansicht, über die Erkenntnistheorie KANTs, welche in der Einleitung zur Schrift "Kants Begründugn der Ethik" vorkommt, die transzendentale Methode etwa folgendermaßen. Es handelt sich darum, die Bedingungen der Möglichkeit der gegebenen Erfahrung, und zwar der Möglichkeit ihrer strengen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu erörtern: "dann sind diese Bedingungen als die konstituierenden Merkmale des Begriffs der Erfahrung zu bezeichnen, und aus diesem Begriff ist sodann zu deduzieren, was immer den Erkenntniswert  objektiver Realität  beansprucht. Das ist das ganze Geschäft der Transzendentalphilosophie". Mit Erfahrung wird hier Mathematik und reinen Naturwissenschaft gemeint (6) - anderswo wird von der Erfahrung der Ausdruck "die mathematische Naturwissenschaft" (7) gebraucht. Alle Bedingungen der Erfahrung lassen sich in eine Einheit - die Einheit des Gesetzes - zusammenfassen. Was der Wissenschaft angehören will, muß unter die Einheit des Gesetzes gebracht werden können. Das ist der höchste Grundsatz. Wo aber ist diese Einheit zu finden? Nur das Bewußtsein bietet eine wirkliche Einheit dar. Daher ist die Einheit des Bewußtseins die Einheit der Erfahrung. Das bedeutet, daß "ein Inbegriff von Mitteln und Methoden" im wissenschaftlichen Bewußtsein vorhanden ist, wodurch die Erfahrung zustande gebracht wird. Damit können wir nun die Möglichkeit der Gemeingültigkeit und Notwendigkeit der (mathematischen Natur-)wissenschaft begreifen. Nur wenn ihr Objekt nicht unabhängig vom Bewußtsein existiert, sondern durch Methoden konstituiert wird, welche auf das wissenschaftliche Bewußtsein zurückgehen, kann die Wissenschaft diesen Charakter besitzen. "Wir können a priori nur das von den Dingen erkennen, was wir selbst in sie legen" (8). Die Mathematik und die reine Naturwissenschaft erhielten den stetigen Verlauf einer Wissenschaft durch eine Revolution des Denkens, die darin bestand, daß plötzlich die Einsicht erwachte, daß die Vernunft a priori mit  objektiver  Gültigkeit nur das aussagen kann, was sie selbst in die Objekte hineinlegt. (9) Dieses "Hineinlegen" wird dadurch vor subjektiver Willkür bewahrt, daß nur dasjenige hineingelegt werden darf, was die  Erfahrung  tatsächlich ermöglicht, d. h. was den anschaulichen  Gegenstand  für uns bestimmt. (10) "Die rechtmäßige Wirksamkeit desselben ist eine weitere Frage, deren Lösung von dem Nachweis abhängt: ob jenes im Geist Entspringende im wissenschaftlichen Verfahren sich fruchtbar macht" (11). Der transzendentalen Erklärung obliegt es nun, diesen Maßregeln und Methoden nachzugehen, durch deren Anwendung die mathematische Naturwissenschaft konstituiert wird. Die so dargelegten Bedingungen machen "das transzendentale Apriori" aus: Raum und Zeit sind konstituierende Bedingungen der Erfahrung. Diesen konstitutiven Wert jedoch haben sie als fundamentale Werkzeuge der Wissenschaft" (12). Genauer bestimmt Raum und Zeit transzendental a priori als  Konstruktions methoden, durch welche die Mathematik möglich ist. Da diese Wissenschaft "die Methoden für die Entdeckung der Natur" enthält, sind diese Konstruktionsmethode konstitutive Merkmale der Erfahrung (13). Als wissenschaftlichen  Vereinigungsweisen  wohnt den Kategorien eine entsprechende transzendentale Bedeutung bei (14). Indem diese "Grundzüge des wissenschaftlichen Bewußtseins" (15) als transzendental a priori im Material der Anschauung die Erfahrung konstituieren, konstituieren sie auch den Gegenstand. Deshalb heißt es (gegen den Skeptizismus): "Erscheinungen sind ... die echten Dinge,  die durch die Gesetze des reinen Denkens bestimmten Gegenstände der Anschauung,  welch letztere nicht minder dem Gesetz der Reinheit empfänglich ist". (16)

Sodann dürfte es nötig sein, die Auffassung COHENs vom Begriff der  Form  bei KANT klarzulegen. Er bestreitet aufs Entschiedenste (gegenüber TRENDELENBURG u. a.), daß Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit in dem Sinne zu betrachten seien, als wären sie Organe oder "Behälter" eines Vermögens. Sie sind nur Formen der Erscheinung, d. h. des unbestimmten Gegenstandes der Anschauung (17). Diese Formen werden aus der konkreten Anschauung ausgeschieden, nur um zu bezeichnen, daß in ihr Seiten existieren, die dem selbsttätigen Schaffen von Erscheinungen - in der geometrischen Wissenschaft - zugrunde liegen. Diese Erscheinungen eigener Schöpfung sind Konstruktionsbilder, welche ihrerseits wiederum das Mittel sind, das Objekt der empirischen Anschauung zu bestimmen (18). Die Sinnlichkeit ist überhaupt kein Vermögen der Seele, sondern nur ein Genusbegriff jener Anschauungen benannten Gruppe psychischer Erscheinungen. (19) Ähnlich ist der Verstand nicht als psychisches Vermögen aufzufassen, sondern als Genusbegriff der Kategorien, welche in der Abstraktion als jene Seiten des Denkens hervorgehoben werden, welche als Verbindungsweisen die Mittel der wissenschaftlichen Objektivierung ausdrücken. (20) Daß sie  Formen  des Verstandes sind, bedeutet demnach nur, daß die Begriffe, welche als Formen der Synthese des wirklichen Denkens vorkommen, auch Grundformen des wissenschaftlichen Denkens sind, "Typen des wissenschaftlichen Geistes" (21). Dem Selbstbewußtsein gegenüber sind die Kategorien Bestimmungen, die es als Einheit der Synthese der Einbildungskraft erhält (22). Das Selbstbewußtsein aber ist kein Vermögen, sondern "eine Abstraktion in der Analyse des Erkennens, welche andere Abstraktionen erforderlich macht, um in Verbindung mit denselben die erkennende Tätigkeit des Bewußtseins nach ihrer objektiven Gültigkeit zu erklären." (23) "Die Arten gehen nicht hervor aus dem Ich, sondern das Selbstbewußtsein entsteht selbst erst in der einzelnen synthetischen Einheit ... die Einheit der Apperzeption ... besteht gar nicht an und für sich etwa als Stamm". (24)

Schließlich ist es, um das Verhältnis COHENs zur psychologischen Kantauffassung völlig zu verstehen, erforderlich, seine Lehre vom sogenannten metaphysischen Apriori zu erörtern. Man vergegenwärtige es sich gründlich, daß COHEN die Momente der wirklichen Erkenntnis als  psychologische  Erscheinungen betrachtet. "Was sind in letzter Instanz alle Bedingungen des Erkennens anders als psychologische Vorgänge?" (25) "Elemente des Wissens sind nun einmal psychologische Vorgänge und können nicht anders als mit psychologischen Zangen aus dem Feuer geholt werden". (26) In Übereinstimmung hiermit faßt COHEN die Bedeutung der transzendentalen Deduktion so auf, daß sie "psychische Vorgänge" des Denkens liefert, durch welche die Einheit der Erfahrung dargestellt werden könnte (27). "Die Synthese der produktiven Einbildungskraft" wird als dem Begriff einen "bildlebendigen" Charakter verleihend aufgefaßt und dient als psychologisches Bindemittel zwischen Anschauung und Begriff (28). Unter der von KANT urgierten Faktizität der mathematischen Naturwissenschaft versteht COHEN auch übereinstimmend hiermit deren  literarisches  Vorhandensein. Die Grundbegriffe jener Wissenschaft werden durch den "literarischen Nachweis" entdeckt (29). Es heißt, daß die transzendentale Methode "die obersten Grundsätze einer in gedruckten Büchern wirklich gewordenen Erfahrung" sucht (30). Die Wissenschaft ist demnach als ein faktisches psychisches Erzeugnis zu betrachten. Deshalb erfordert die Erklärung der Möglichkeit der Erfahrung das Zurückgehen auf das psychologisch gegebene Bewußtsein. Die Verfahrensweisen, welche bei der wirklichen Erfahrung zur Verwendung gelangen, müssen als ursprüngliche, der psychologischen Analyse unzugängliche Elemente des wirklichen Bewußtseins dargetan werden. Wäre die faktische Wissenschaft das Erzeugnis zufälliger Assoziationen, Gewohnheiten usw., so könnte sie keinen Anspruch auf allgemeingültige Notwendigkeit erheben (31). Hiermit sind wir beim "metaphysischen Apriori" angelangt. Solche Elemente des Bewußtseins werden teils durch die innere Erfahrung, teils mit Hilfe der wissenschaftlichen Literatur entdeckt. (32) Letzteres ist offenbar so zu verstehen, daß die Elemente des Bewußtseins aus den Grundsätzen, wie sie in der literarisch vorhandenen mathematischen Naturwissenschaft gegeben sind, hergeleitet werden können. Diese Herleitungsweise ist offenbar für COHEN das Bedeutsamste und geradezu Entscheidende. Die Kategorien z. B. werden als "metaphysisch a priori" aus den in der gewöhnlichen Logik festgestellten Urteilsformen hergeleitet. daß diese Herleitung möglich ist, beruth darauf, daß diese Formen nichts sind als "die Schablonen, die bei aller materiellen Verschiedenheit des Inhalts der Erkenntnisse die durchgängig gemeinsamen Grundzüge derselben kennzeichnen" (33).

Nun dürfte das nötige Material zur Beurteilung der Stellung COHENs zur psychologischen Auffassung KANTs vorliegen. Der  Ausgangspunkt  der Erkenntnistheorie KANTs ist psychologisch: die mathematische Naturwissenschaft als ein faktisches psychisches Erzeugnis, das in "gedruckten Büchern" vorliegt. Das  Problem  ist allerdings insofern objektiver Natur, als es sich darum handelt, zu erörtern, wie die Wissenschaft auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit Anspruch erheben kann. Die  Lösung des Problems  ist aber im Grunde durch und durch psychologischer Natur. Sie geschieht so, daß die  psychologischen  Bedingungen des gegebenen psychischen Erzeugnisses aufgesucht werden. Diese Bedingungen werden durch eine literarische Untersuchung der Grundsätze der Wissenschaft in allgemeinen Methoden der psychischen Tätigkeit gefunden, durch die die Wissenschaft konstituiert wird. Diese Methoden sind als die Formen des wissenschaftlichen Bewußtseins zu betrachten. Da die Objekte der Wissenschaft durch sie, mithin durch das wissenschaftliche Bewußtsein selbst bestimmt werden, so kann sie Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit besitzen. Mit anderen Worten: für die Wissenschaft kann allgemeingültige Notwendigkeit daraus erschlossen werden, daß ihre Methoden als die Formen des wissenschaftlichen Bewußtseins die Objekte selbst konstituieren. Nun scheint es zwar, als wäre die Untersuchung deswegen objektiver Natur, da die Methoden ja als das logische Konstituens in der Objektivität der Erfahrung nachgewiesen werden. Bei einem tieferen Eindringen offenbart sich aber der ganze Kern dieser scheinbar objektiven Untersuchung als ein unverkennbarer Circulus vitiosus, der durch ein  bestimmtes Wort  verhüllt wird. Man beachte: die allgemeingültige Notwendigkeit der Wissenschaft soll daraus erklärt werden, daß ihre Objekte durch allgemeine psychische Verfahrensweisen bestimmt werden. Wie läßt es sich aber begreifen, daß diese objektiv sind, mit anderen Worten: daß sie imstande sind, eine  objektive,  d. h. eine im  Vorgestellten  selbst liegende innere Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu konstituieren, und nicht nur ein Zwang, in einer gewissen Weise vorzustellen? Sie sind ja eigentlich doch  nur  subjektiv. Nun, die Erklärung geschieht so, daß sie Verfahrensweisen der  Wissenschaft  sind, welche eine derartige allgemeingültige Notwendigkeit besitzt! Die Allgemeingültigkeit der Wissenschaft wird aus der Objektivität ihrer Methoden erklärt. Die Objektivität der Methoden wird aus der Allgemeingültigkeit der Wissenschaft erklärt. Hier aber verdeckt ein  Wort  den ganzen Zirkel. COHEN bezieht nämlich die Methoden auf das  wissenschaftliche Bewußtsein,  indem sie dessen Formen seien, und hieraus scheint er ihre Objektivität erklären zu wollen. Dieses Verfahren sucht aber die Rettung nur in einem  Wort,  denn jenes "wissenschaftliche" Bewußtsein zielt eben einfach nur auf die Gesamtheit der Methoden als transzendentaler, d. h. objektive Bedeutung besitzender ab. Dies wird so ausdrücklich wie nur möglich gesagt (34). Durch einen solchen Ausdruck dürfte mithin keine Erklärung gewonnen werden. Tatsächlich liegt dann auch der Schwerpunkt in einem "metaphysischen Apriori". Der einzige Schritt zu einer wirklichen Erklärung der Allgemeingültigkeit der Methoden ist der Nachweis derselben als elementärer Momente im menschlichen Bewußtsein. Daß aber diese Erklärung rein psychologischer Natur ist und keine objektive Notwendigkeit begründen kann, leuchtet ohne weiteres ein.

Man kann demnach sagen, daß nach COHEN die ganze Erkenntnistheorie KANTs auf eine psychologische Erklärung der allgemeinen Methoden hinausläuft, durch welche die mathematische Naturwissenschaft psychologisch entsteht. Diese Methoden finden sich in den literarisch gegebenen Grundsätzen und beziehen sich auf ursprüngliche Elemente des menschlichen Geistes. Daß diese Methoden das logische Konstituens in der Objektivität der Erfahrung seien, wird freilich behauptet, es bleibt jedoch beim Wort, das nie zu voller Begreiflichkeit gebracht wird. Der einzige Unterschied zwischen COHEN und den psychologischen Auffassungen anderer ist eigentlich der, daß die Lehre von den Seelenvermögen ausgeschieden wird, und daß die Formen nicht als psychologische Realitäten gedacht werden, sondern nur als Abstraktionen aus der für die Erkenntnis in Frage kommenden psychischen Tätigkeit. Das erkennende Bewußtsein ist in keinem Fall etwas anderes als das tatsächlich psychologisch gegebene, wenn es auch nicht in einem Seelenvermögen begründet ist. Eine Objektivität kann COHEN sich niemals "hineindenken".
LITERATUR - Axel Hägerström, Kants Ethik, Uppsala / Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) KANT, Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, Seite 5
    2) KANT, Grundlegung einer Metaphysik der Sitten, Seite 5
    3) SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Seite 571.
    4) WILHELM WUNDT, Logik I, Seite 592
    5) Was KUNO FISCHER betrifft, den einzigen der genannten, hinsichtlich dessen vielleicht ein Zweifel an der Richtigkeit des oben Gesagten entstehen könnte, so ergibt sich das unmittelbar aus der Formulierung der Aufgabe, welche sich KANT nach ihm in seiner Erkenntnistheorie gestellt hat: die Entstehung der Erkenntnis zu erklären (Geschichte der neueren Philosophie V, 2. Auflage, Seite 4 und III, 3. Auflage, Seite 5 - 7). Damit wird die Erkenntnis als ein Prozeß bezeichnet, mithin als eine zeitliche Erscheinung. Das Subjekt, bei welchem sich dieser Prozeß vollzieht, kann doch wohl nur der in der Zeit lebende Geist sein. Noch entschiedener tritt die psychologische Auffassungsweise hervor, wenn er die Aufgabe dahin bestimmt, daß sie eine Erklärung "unserer gemeinsamen Wertvorstellung" sein soll (a. a. O. Bd. V, 2. Auflage, Seite 5). Erkenntnissubjekte werden somit alle menschlichen Geister, welche infolge innerer Gesetze notwendigerweise übereinstimmende Vorstellungen haben.
    6) HERMANN COHEN, Kants Begründung der Ethik, Seite 24 -25
    7) COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Auflage, Seite 138, 143, 188, 217 und sonst.
    8) COHEN, a. a. O. Seite 142
    9) COHEN, a. a. O. Seite 100 - 101
    10) COHEN, a. a. O. Seite 143
    11) COHEN, a. a. O. Seite 117; vgl. auch Seite 145
    12) COHEN, a. a. O. Seite 217
    13) COHEN, a. a. O. Seite 145; vgl. auch Seite 117
    14) COHEN, a. a. O. Seite 252
    15) COHEN, a. a. O. Seite 81
    16) COHEN, Kants Begründung der Ethik, Seite 23
    17) Zum Begriff der Erscheinung vgl. "Kants Theorie der Erfahrung", Seite 109
    18) COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 148, 154 und 155.
    19) COHEN, a. a. O. Seite 108 - 109
    20) COHEN, a. a. O. Seite 312 und 313
    21) COHEN, a. a. O. Seite 251
    22) COHEN, a. a. O. Seite 312 und 317
    23) COHEN, a. a. O. Seite 346
    24) COHEN, a. a. O. Seite 370
    25) COHEN, a. a. O. Seite 144; vgl. Seite 72
    26) COHEN, a. a. O. Seite 197
    27) COHEN, a. a. O. Seite 300
    28) COHEN, a. a. O. Seite 312 und 313
    29) COHEN, a. a. O. Seite 78
    30) COHEN, Kants Begründung der Ethik, Seite 27. Vgl. auch Seite 20 das Beispiel von den faktisch vorhandenen astronomischen Berechnungen als Gegenstand der Transzendentalphilosophie.
    31) COHEN, Kants Theorie der Erfahrung, Seite 76
    32) COHEN, a. a. O. Seite 134
    33) COHEN, a. a. O. Seite 267. Vgl. auch Seite 408 und 78.
    34) Siehe z. B. Seite 142 und 310. Vgl. auch oben die Darstellung der Sinnlichkeit und des Verstandes.