ra-2Freies RechtGewohnheitsrechtRechtsquellen    
 
GEORGES GURVITCH
Eugen Ehrlich

"Die Tatsache, daß die dogmatisch normative Wissenschaft des Rechts keine Wissenschaft, sondern eine konkreten Zwecken dienende Technik ist, verdeutlicht sich insbesondere, wenn man feststellt, daß bestimmte Vorgänge, die gewöhnlich als Folge einer unbeweglichen Rechtslogik angesehen werden, sich in Wirklichkeit als Anpassungen an sehr genaue historische Umstände erweisen."

"Unter den besonders vom Staat ausgearbeiteten abstrakten Rechtssätzen, unter den vornehmlich von den Gerichten und Richtern ausgearbeiteten Entscheidungsnormen hinsichtlich der Konflikte zwischen Individuen und Gruppen (die man angesichts der Unabhängigkeit von den abstrakten Rechtssätzen freies Recht oder lebendiges Recht genannt hat) behauptet sich ein Recht, das die Gesellschaft zu einer friedlichen inneren Ordnung führt. Dieses Recht, das als Grundlage aller Regeln dient und viel objektiver ist als jede Regel, bildet die direkte rechtliche Ordnung der Gesellschaft - das gesellschaftliche Recht."

"Heute so wie immer stützt sich die Wirksamkeit des Rechts hauptsächlich auf die stumme Aktion der Vereinigungen, welche die Individuen integrieren. Der Ausschluß aus einem autonomen Kreis, sei es die Kirche, die Partei, die Familie, die Gewerkschaft, der Trust oder eine andere Gruppe, der Verlust einer Position, eines Kredits oder einer Kundschaft, sind die wirksamsten Mittel, um den Rechtsbruch zu bekämpfen."


Hochverehrte Versammlung!

Obwohl die Rechtssoziologie MAX WEBERs im VII. Kapitel des zweiten Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" mehrere Jahre später veröffentlicht worden ist, als die Werke des österreichischen Gelehrten EUGEN EHRLICH, kann man dennoch in den Entwürfen dieses letzteren eine vorweggenommene Antwort auf die WEBER'sche Tendenz erblicken, die Soziologie des Rechts der dogmatisch-konstruktiven Systematisierungen der Juristen unterzuordnen. Es genügt hier, an den Namen MAX WEBERs zu erinnern, um die Tragweite der von EHRLICH bezogenen Positionen vollends zu verdeutlichen. EHRLICH beweist, daß, wenn die Rechtssoziologie nur die Systematisierungen, die sich in den effektiven Verhaltensweise zeigen, zum Ausgangspunkt nähme, sie niemals dahin käme, ihr eigentliches Objekt zu erfassen. Dieses nämlich besteht in der integralen sozialen Rechtswirklichkeit, die jeden Schematismus "abstrakter Rechtssätze und Streitregelungen" überschreitet. Diese Problemstellung läßt die Verwandtschaft zwischen der Rechtssoziologie von EHRLICH und HAURIOU ahnen. Ohne einander zu kennen, suchten beide Gelehrten die institutionelle Basis ("Einrichtungen" nach EHRLICH) des Rechtslebens. EHRLICH, der sich zwar durch ein soziologisch konsequenteres, relativistisches, mehr von der Geschichte durchdrungenes und vorurteilsloseres Denken vorteilhaft von HAURIOU unterscheidet, ist ihm jedoch wiederum unterlegen durch seine einseitig realistische Tendenz, die weder die Kollektivpsychologie, noch die geistige Tiefenschicht der sozialen Wirklichkeit in Rechnung stellt. Gleichviel fällt er deshalb doch nicht in den Sensualismus DUGUITs zurück.

In seinen drei Hauptwerken "Beitrag zu einer Theorie der Rechtsquellen". 1903, "Grundlegung der Soziologie des Rechts", erste Auflage 1913, und "Rechtslogik", 1919, unterzieht sich EHRLICH einer doppelten Aufgabe:
    a) Er versucht zu zeigen, daß die sogenannte "Rechtswissenschaft" der Juristen nur eine relative "Technik" ist, die veränderliche Zwecke verfolgt und vom Standpunkt ihrer künstlichen Systematisierungen aus nur die oberflächlichste Kruste der efffektiven Rechtswirklichkeit zu erfassen vermag;

    b) versucht er, auf objektive, methodische und von aller "Technik" befreite Art und Weise, die integrale und spontane Wirklichkeit des Rechts in all ihren Tiefenschichten zu beschreiben.
Mehr noch als bei HAURIOU ersetzt der horizontale Pluralismus der Gesellungsformen, und zwar in einem solchen Maße, daß EHRLICH schließlich das Problem der Differenzierung der Rechtsregelung ausschließlich an das Problem der Tiefenschichten bindet, als ob nicht jede Rechtsart auch ihre eigenen übereinander gelagerten Schichten besäße.

Die Tatsache, daß die dogmatisch normative "Wissenschaft" des Rechts keine Wissenschaft, sondern eine konkreten Zwecken dienende Technik ist, verdeutlicht sich insbesondere, wenn man feststellt, daß bestimmte Vorgänge, die gewöhnlich als Folge einer unbeweglichen "Rechtslogik" angesehen werden, sich in Wirklichkeit als Anpassungen an sehr genaue historische Umstände erweisen. Das sind die drei Postulate der "angeblichen Rechtslogik", die in Wirklichkeit keine ist:
    1. die Negierung jeder Freiheit des Richters, der durch im Voraus fixierte Rechtssätze gebunden ist.

    2. die Abhängigkeit allen Rechts gegenüber dem Staat.

    3. die Rechtseinheit, die mit der systematischen Kohärenz der Rechtssätze identifiziert wird.
EHRLICH beweist, daß es sich bei diesen Postulaten nur um "Täuschungsmanöver" handelt, um eine "Maske", die der effektiven Rechtswirklichkeit vorgebunden wird, Vorgänge, die nur in bestimmten historischen Epochen des Rechtslebens Sinn haben, um den Bedürfnissen eines zentralisierten Staates und seiner Gerichtshöfe zu dienen (zum Beispiel in der Epoche JUSTINIANs; im 17. bis 19. Jahrhundert). Die Rechtssoziologie, die keineswegs von dieser "Rechtslogik" abhängt, ist berufen, deren grobschlächtigen Symbolismus zu entschleiern und ihre Gültigkeit einzuschränken, indem sie ihre Herkunft aufdeckt.

Das erste Postulat betreffs der Bindung des Richters durch abstrake, im Voraus fixierte Rechtssätze ist nur das Resultat einer künstlichen Übernahme fremden (römischen) Rechts seitens einer Reihe der festländischen europäischen Länder. Dieses Recht, das in der römischen Republik selbst - um von den anderen Kulturkreisen ganz zu schweigen - völlig unbekannt war (das Recht der archaischen Gesellschaften zum Beispiel oder das orientalische Recht) und das in den angelsächsischen Ländern ebenfalls unbekannt ist, wird unter dem Druck der ganz und gar neuen und unvorhergesehenen Fälle und Einrichtungen gegenwärtig den Richtern auferlegt; es ist jedoch überall längst aufgegeben worden. Das zweite Postulat, die Abhängigkeit allen Rechts vom Staat, ist im Hinblick auf die Bedürfnisse des monarchischen Absolutismus angewandt worden ("Quod principi placuit, habet leges vigorem" [Gerechtigkeit ist der konstante und ewige Wille, jedem das Seine zu geben. - wp] und in der Folge auf die konstitutionellen und republikanischen Regime übergegangen. Man kann das römische Recht für diese Auffassung nicht gänzlich verantwortlich machen (wie es DUGUIT zum Beispiel getan hat). EHRLICH hat gezeigt, daß das römische Recht der klassischen und republikanischen Epoche denkbar weit entfernt war von jener etatistischen Auffassung, die erst in der Kaiserzeit aufkam. Die Juristen des Mittelalters einerseits und die der Gegenwart andererseits haben auf diese Fiktion verzichten müssen und dies unter dem Einfluß der verschiedenen autonomen Gruppierungen im Inneren des Staates und der internationalen Organisationen außerhalb des Staates. Das dritte Postulat schließlich - das der monistischen Einheit des Rechts - ist nur ein Vorgang gewesen, um die hypertrophierte [angeschwollene - wp] staatliche Zentralisation zu begünstigen, ein bewußt fiktiver Vorgang, der den deduktiven Rationalismus als Basis benutzte. Dieses Postulat geriet dort, wo sich die rechtliche Autonomie der mannigfaltigen sozialen Gruppierungen und der Pluralität der Gebräuche einzelner Kreise auferlegten, so offensichtlich mit dem lebendigen Recht in Konflikt, daß man, um die Fiktion zur Annahme zu bringen, zurückgreifen mußte auf die künstlichen Konstruktionen der "Begriffsjurisprudenz", die stolz war, aus den Juristen "Männer, die das Wesentliche als beiläufig und das Beiläufige als entscheidend ansehen", zu formen. Tatsächlich wird selbst, wenn die ersten beiden Postulate zugelassen wurden (zum Beispiel im 17. und 18. Jahrhundert), das dritte nur sehr schwer heimisch, und gegenwärtig kann es zu gar nichts mehr dienen. Um eine neue, den Umständen angepaßte Technik zu finden, um neue symbolische Postulate anzuwenden, sind die Juristen selber daran interessiert, daß die Rechtssoziologie nicht einer angeblichen "Rechtslogik" unterworfen wird, die nur deren Beobachtungsgebiet einengen würde.

Unter den besonders vom Staat ausgearbeiteten abstrakten Rechtssätzen, unter den vornehmlich von den Gerichten und Richtern ausgearbeiteten Entscheidungsnormen hinsichtlich der Konflikte zwischen Individuen und Gruppen (die man angesichts der Unabhängigkeit von den abstrakten Rechtssätzen "freies Recht" oder "lebendiges Recht" genannt hat) behauptet sich ein "Recht, das die Gesellschaft zu einer friedlichen inneren Ordnung führt". Dieses Recht, das als Grundlage aller Regeln dient und viel objektiver ist als jede Regel, bildet die direkte rechtliche Ordnung der Gesellschaft - das "gesellschaftliche Recht". Das Studium dieser Ordnung ist die spezifische Aufgabe der Rechtssoziologie, die sich so nicht nur durch ihre völlig interesselose, lediglich auf Beobachtung gegründete Methode, sondern auch durch ihren Gegenstand von der dogmatisch-systematischen Rechtswissenschaft unterscheidet. Während die Juristen sich an die Systematisierung der beiden ersten Oberflächenschichten der Rechtswirklichkeit halten, nehmen die Rechtssoziologen die tiefere Schicht dieser Wirklichkeit, nämlich die spontane, direkte und friedliche innere Ordnung der Gesellschaft selbst zum Ausgangspunkt, indem sie die Bedingungen erläutern, die ins Spiel kommen müssen, damit sich die übereinander gelagerten Regelungen aus dieser Ordnung herauslösen. Auf diese Weise verdeutlicht die Rechtssoziologie die These, gemäß der "heute wie zu allen Zeiten der Mittelpunkt der Rechtsentwicklung weder im Gesetz, noch in der Jurisprudenz oder in der Doktrin und erst recht nicht ganz allgemein in einem Regelsystem, sondern vielmehr in der Gesellschaft selbst gesucht werden muß."

"Die friedliche und spontane Ordnung der Gesellschaft" gestaltet sich als eine Überschneidung einer Vielzal von internen Rechtsordnungen besonderer Gruppierungen, mit Ausnahme des Staates. EHRLICH nähert sich hier den Problemen der Rechtstypologie der Gruppierungen, aber da er einzig und allein damit beschäftigt ist, die Tiefenschichten der Gesamtgesellschaft zu untersuchen, verfolgt er die Analyse nicht weiter. Er bietet nur eine ganz allgemeine Charakteristik. Die innere Ordnung der Gruppen ist nicht nur die primäre historische Form allen Rechts; diese Ordnung behauptet sich vielmehr heute ebenso wie früher als eigentliche Basis. "Heute so wie immer stützt sich die Wirksamkeit des Rechts hauptsächlich auf die stumme Aktion der Vereinigungen, welche die Individuen integrieren. Der Ausschluß aus einem autonomen Kreis, sei es die Kirche, die Partei, die Familie, die Gewerkschaft, der Trust oder eine andere Gruppe, der Verlust einer Position, eines Kredits oder einer Kundschaft, sind die wirksamsten Mittel, um den Rechtsbruch zu bekämpfen."Was der Staat darüber hinaus unternimmt, um seinerseits das Recht zu sanktionieren, hat eine weit geringere Bedeutung, und man könnte mit gutem Grund behaupten, daß die Rechtsordnung der Gesellschaft schwerlich angegriffen würde, wenn diese Sanktionen nicht bestünden." Mehr noch, die abstrakten, vom Staat formulierten Rechtssätze, "die sich mit dem Schaum, der sich auf der Oberfläche des Wassers bildet, vergleichen lassen", wenden sich im Grunde nur an die staatlichen Gerichtshöfe und andere Organe des Staates. Die Gruppen und Individuen führen ihr Rechtsleben in völliger Unkenntnis des Inhalts dieser Rechtssätze; sie kennen nur die spontane Rechtsordnung der aus "Einrichtungen" zusammengesetzten Gesellschaft, Einrichtungen, denen gegenüber jede Regel nur eine oberflächliche Kruste, eine Projektion ist. So kann nur "ein unendlich kleiner Teil der sozialen Rechtsordnung von der Rechtsgebung des Staates berührt werden, und der größere Teil des spontanen Rechts entwickelt sich in völliger Unabhängigkeit von den abstrakten Rechtssätzen". Diese letzteren bilden die unbeweglichste Schicht des Rechts, und selbst wenn sie einen Sektor des spontanen sozialen Rechts berühren, sind sie im Verhältnis zu jenem dennoch immer im Verzug. Die meisten der wichtigsten Ereignisse des Rechtslebens, zum Beispiel die Abschaffung der Leibeigenschaft im Mittelalter, die Bauerbefreiung in England, die Umwandlung des individuellen Eigentumsrechts in Befehls- und Regierungsgewalt über die Arbeitermassen, die Bildung der Gewerkschaften und Trusts, die Entwicklung der kollektiven Arbeitsabkommen vollzogen sich in gänzlicher Unabhängigkeit von den abstrakten Rechtssätzen und blieben der staatlichen Gesetzgebung lange Zeit völlig unbekannt. Letztenendes ist das staatliche Recht dem sozialen Recht gegenüber nicht nur ohnmächtig, sondern beugt sich im Konfliktfall immer vor ihm, denn es handelt sich hier lediglich um Spannungen zwischen der obersten und der tiefsten Schicht der Rechtswirklichkeit. Die Tatsache, daß die spontane und friedliche Rechtsordnung der Gesellschaft von Entscheidungsnormen, und daß diese Normen wiederum von abstrakten Rechtssätzen überlagert werden, diese Tatsache läßt sich nach EHRLICHs Auffassung ebenso wie die Veränderungen der Beziehungen zwischen diesen drei Tiefenschichten der Rechtswirklichkeit soziologisch erklären. EHRLICH rührt hier an die Probleme der Rechtstypologie der Gesamtgesellschaften, ohne jedoch tiefer in sie einzudringen. Die Entscheidungsnormen setzen Konflikte zwischen Individuen und Gruppen voraus, deren Interessen und Kompetenzen sie abgrenzen. Es handelt sich hier eher um Kriegs- als um Friedensfragen, einen Fall, in dem sich die kollektiven und individuellen Subjekte als kollektive Einheiten gegenüberstehen. Damit diese Normen sich deutlich von der friedlichen und spontanen Ordnung abheben, bedarf es einer Differenzierung zwischen dem Individuum und der Gruppe und einer Vermehrung der Gruppen, die sich als gleichwertig erweisen. Da diese Entscheidungsnormen jedoch genauer, bestimmter und abstrakter sind als die spontane Rechtsordnung, setzen sie eine intensive Entwicklung des Rationalismus, des reflektierten und auf Logik begründeten Denkens voraus. Das Ausmaß der Isolierung des Individuums gegenüber der Gruppe und die Vielfalt der gleichwertigen Gruppierungen sind sehr relative Erscheinungen, die vielfache Nuancen und Abstufungen zulassen; so sind die Beziehungen zwischen den Entscheidungsnormen und dem spontanen Recht in den verschiedenen Gesellschaften und historischen Umständen unterschiedlich, was EHRLICH übrigens nicht weiter ausführt. - Wenn es zu einer Überlagerung der Entscheidungsnormen durch abstrakte Rechtssätze kommt (was nicht unmittelbar der Bildung des Staates entspricht, denn der bereits konstituierte Staat mischte sich lange nicht oder mischte sich kaum in das Rechtsleben ein), so muß zuvor ein sehr großes Bedürfnis nach einer Stabilität und einer rechtlichen Allgemeinheit bestehen. Dieses Bedürfnis macht sich zum Beispiel seit dem Kampf des territorialen Staates gegen den Feudalismus und seit der Entwicklung des modernen, auf genaue Berechnung begründeten Kapitalismus deutlich bemerkbar und fordert nunmehr gleiches Recht für alle. Schließlich gründet sich diese Überlagerung auf einen verstärkten Rationalismus, der behauptet, alle Besonderheiten konkreter Regeln aus einem einzigen Prinzip ableiten zu können. Da dieses Bedürfnis nach Stabilität, Einheit und Allgemeinheit selbstverständlich verschiedene Nuancen und Abstufungen zuläßt, dabei jedoch nur sehr relative Resultate ergibt, so ist die Rolle der abstrakten Rechtssätze und die Rolle des Staates, der sie formuliert, in den verschiedenen Gesellschaften und Epochen sehr unterschiedlich. Wir leben nach der Auffassung EHRLICHs heute in einer Zeit, in der diese Rolle aber wieder an Bedeutung verliert.

Der wesentliche Mangel dieser übrigens hochinteressanten Rechtssoziologie (die, zumal in den Vereinigten Staaten, einen tiefen Einfluß ausgeübt hat) ist das Nichtvorhandensein jeglicher mikrosoziologischer und differentieller Analyse, das heißt, Analysen der Gesellungsformen und der Rechtstypen der Gruppierungen. Der soziologische und rechtliche Pluralismus dieses Autors ist ein ausschließlich vertikaler Pluralismus. Das verleitet EHRLICH dazu, daß er unter dem Terminus "Gesellschaftsrecht" eine Reihe sehr verschiedener Rechtsarten vermengt, und diese Vermengung wiederholt sich bei den Entscheidungsnormen und abstrakten Rechtssätzen. Nach Auffassung EHRLICHs kommt alles, was "Institution" oder Spontaneität im Recht ist, von der außerstaatlichen Gesellschaft her und hat den Charakter eines Verbandsrechts. Das Vertragsrecht, das Eigentumsrecht und das unilaterale Herrschaftsrecht sind dabei nur verschleierte Formen des sozialen Rechts, und die objektive und spontane Ordnung des individuellen (interindividuellen und intergruppalen) Rechts bleibt inexistenz. Gleichzeitig wird der Staat nur in der Form von abstrakten Rechtssätzen begriffen, als ob es in der staatlichen Ordnung nicht auch Tiefenschichten gäbe und als ob nicht eine spontane politische Gesamtheit bestünde, die von anderen (wirtschaftlichen, religiösen usw.) Gesamtheiten verschieden ist. Der Mangel einer Mikrosoziologie und einer Rechtstypologie der Gruppierungen führt EHRLICH hier zu eindeutig monistischen Konzeptionen zurück. Darüber hinaus wird das Recht der außerstaatlichen Gesellschaft künstlich verarmt, da es lediglich in die Spontansphäre verlagert wird, als wenn es nicht in seinen autonomen Statuten über seine eigenen abstrakten Sätze und als wenn es nicht in der Tätigkeit seiner Schiedsgerichte über seine eigenen ausgearbeiteten Entscheidungsnormen verfügte. - Nachdem der Gegensatz zwischen dem Recht, das dem  Wir  entspricht, und dem Recht, das den Beziehungen zur anderen  (ich, du, er, sie)  entspricht, zunächst ignoriert worden ist, taucht dieser Gegensatz von neueme auf in der Form von Entscheidungsnormen für Konfliktfälle, Normen, die sich abheben von der friedlichen inneren Ordnung der Gesellschaft. Aber diese Identifizierung von Rechtsarten und Tiefenschichten (die für jede soziale Wirklichkeit charakteristisch sind) erweist sich als künstlich und unwirksam. Sie vernachlässigt die Tatsache, daß jede Rechtsart ihre eigenen Tiefenschichten besitzt und daß die Gerichte sich ebensosehr mit der "friedlichen inneren Ordnung" der Gruppen wie mit dem interindividuellen und intergruppalen Recht beschäftigen, wobei letzteres übrigens selber eine institutionelle und spontane Basis hat. Anstatt die Überschneidung von Tiefenschichten der Rechtswirklichkeit mit den Rechtsarten, die je nach den Gesellungsformen unterschieden sind, und mit den Rechtsordnungsgefügen, die sich nach den verschiedenen Gruppierungstypen unterscheiden, zu untersuchen, verfällt EHRLICH auf Parallelsetzungen und künstliche Identifizierungen und vereinfacht auf diese Weise das komplexe Gewebe des Rechtslebens. Seine Gleichgültigkeit hinsichtlich des geistigen Elements des sozialen und rechtlichen Lebens, das heißt, seine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten und Ideen, die dieses Leben und insbesondere die verschiedenen Aspekte des Gerechtigkeitsideals inspirieren, kurzum EHRLICHs übertriebener "Realismus" hat zweifellos zu dieser Uniformierung des Gegenstandes seiner Rechtssoziologie beigetragen.
LITERATUR Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, Darmstadt und Neuwied 1974