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ALF ROSS
Theorie der Rechtsquellen
[Ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts
auf Grundlage dogmengeschichtlicher Untersuchungen]

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"Beim Jahrhunderfest des Code civil  im Jahre 1904 trat der Präsident des ›Cours de cassation‹ Ballot-Beaupré  mit der ganzen Autorität seiner Stellung für eine freiere Interpretationsmethode ein. Von nun an sind die Beiträge zahlreich, die in Reden, Abhandlungen, Thesen und hier und da in größeren Werken erscheinen und den Kampf für die neue Methode  beleuchten. Erwähnen möchte ich Le Roys  und Cruets  vortreffliche Untersuchungen, die die Ohnmacht des Gesetzes gegenüber soziologischen Kräften nachweisen, d. h. die Unmöglichkeit, durch Paragraphen souverän die sozialen Verhältnisse beherrschen zu können."

"Entweder muß man sich an das Naturrecht (die Ethik) wenden, um zu versuchen, einen gewissen höchsten Wert als objektiv notwendig zu verifizieren, oder man muß jede Wertbestimmung aufgeben und sagen, daß die Rechtssoziologie und die durch sie begründete Rechtstechnologie, keine Mittel gibt, das Recht zu bestimmen, das sein soll,  sondern nur das, das man haben  will; daß sie nicht über irgendeine soziale Pflicht  Aufklärung gibt, sondern nur darüber, wie man eine Rechtsprechung einrichten muß, um ein gewisses vorausgesetztes, willkürliches Ziel zu erreichen. Auch der Herrscher in einem Räuberstaat oder ein grausamer Tyrann kann mit Nutzen Soziologie studieren und ein vergleichendes Recht anwenden."


Französische Doktrin
[F o r t s e t z u n g]

Kapitel III
Die Theorie des positiven Rechts

1. Man kann kurz die Rechtsquellenlehre der Revolution in einem Glauben an das Gesetz als einzige Rechtsquelle zusammenfassen; im Glauben an das Gesetz - den allmächtigen Willen des souveränen Volkes als den einzigen rechtschaffenden Faktor, der alles Recht umfaßt. Die Revolution übernimmt vom Absolutismus den Souveränitätsbegriff, und setzt nur das Volk an die Stelle des Fürsten (1). Insofern ist die Theorie des positiven Rechts wirklich positiv, d. h. ohne daß die herrschenden naturrechtlichen Vorstellungen einen Einfluß auf sie ausübten, wenn man auch einräumen muß, daß im Souveränitätsbegriff, wenn er auf das Volk angewendet wird, eine Tendenz zur Justifikation liegt. Es ist kein Widerspruch, daß die Rechtsauffassung der Revolution gleichzeitig naturrechtlich und positiv ist. In  rechtsethischer  Hinsicht herrscht der Glaube an ein metaphysisches, absolutes und konkret vollständiges Naturrecht. In  rechtstheoretischer  Hinsicht faßt man das positive Recht als den Willen des Souveräns auf. In  rechtssoziologischer  Hinsicht endlich denkt man sich das Recht frei und willkürlich, als ein Produkt des freien Willens entstanden. Eben deshalb wird das Rechtsideal von so großer Bedeutung. Es kommt nur auf den guten Willen und etwas gesunde Vernunft an. Wenn die Souveränität auf das Volk übergeht, wird eine neue Ära beginnen. ...

Als Korrelat zur Vorstellung von der Allmacht des Gesetzes entspricht die Vorstellung von der rechtlichen Abhängigkeit des Richters. Die Rolle des Richters in der zivilisierten Republik ist keine andere als die eines Sprachrohrs für das Gesetz.

Diese Vorstellung geht auf MONTESQUIEUs Lehre von der Scheidung der drei Gewalten zurück. Hiernach ist es natürlich, dem Richter jede rechtschaffende Macht abzuerkennen.
    "Je mehr die Regierung sich der Republik nähert, umso mehr gewinnt die Art Recht zu sprechen an Bestimmtheit ... In der republikanischen Regierung bringt es die Natur der Verfassung mit sich, daß die Richter das Gesetz buchstäblich befolgen. ... Die Richter der Nation sind nur der Mund, der die Wortes des Gesetzes spricht, sie sind im Grunde leblose Wesen, die weder Festigkeit noch Strenge zumessen." (2)
Hieraus folgt die Abneigung der Revolution gegen das Gewohnheitsrecht und die Jurisprudenz. Auf dem Hintergrund der vielen verschnörkelten Gewohnheiten mehr oder weniger feudalen Charakters, auf dem Hintergrund einer oft willkürlichen und bestochenen Jurisprudenz unter dem  ancien régime [alten Staat - wp] versteht man psychologisch die Sehnsucht der neuen Männer nach dem Gesetz als dem gelobten Land. In einem der Tribunalgutachten zum Projekt des  Code civil  heißt es, voller Ungedult, daß der  Code  nicht reinen Tisch mit allen alten Gewohnheiten gemacht hatte:
    "Die Franzosen, unwürdig einer nationalen Gesetzgebung, der römischen und überhaupt aller fremden Gesetze und Gebräuche überdrüssig und in den meisten ihrer eigenen Sitten und Gebräuchen seltsam uneinheitlich ... haben die katastrophalen Auswirkungen einer unterschiedlichen Rechtsprechung der Gerichte über Jahrhunderte hinweg, die immer ziemlich willkürlich waren, verstanden und fordern ein vollständiges und einheitliches Gesetz."
Als Universalmittel gegen alle diese Mißstände empfiehlt man das Gesetz:
    "Es braucht eine allgemeine und gemeinsame Kontrolle der Urteile. Diese Kontrolle sind das Gesetz, das nur als ein Ausdruck von Gerechtigkeit betrachtet werden kann. Der Richter muß Sklave des Gesetzes sein." (3)
Der Richter ein unbeseeltes Wesen! Der Richter ein Sklave des Gesetzes! Das ist der Schlüssel zur ersehnten Gleichheit.

L'Assemblée Constituante [konstituierende Versammlung - wp] bemächtigte sich dieser Lehre vom Gesetz und der Stellung des Richters und führte sie mit doktrinärer Rigorosität durch. Man braucht nur einige der Verhandlungen der Versammlung durchzulesen, besonders die über die Konstitution und die Erklärung der Menschenrechte, um sich davon zu überzeugen, daß alle Mitglieder (mit einer einzigen Ausnahme) (4) von diesem Geist beherrscht waren. THOURET verlangte, die Konstitution solle erklären
    "daß die Judikative im Wesentlichen getrennt von der gesetzgebenden Gewalt ist ... und daß die Funktion des Richters nur die Pflicht betrifft, die Durchsetzung des Gesetzes in einem wörtlichen Sinn zu erfüllen, nicht davon abzuweichen und auch nichts zu interpretieren." (5)
Den gleichen Standpunkt nahm BERGASSE (6) in einem Bericht über die Justiz (le pouvoir judicaire) ein. ROBESPIERRE erklärte kategorisch:
    "Das Wort  Rechtsprechung der Gerichte ... wird aus unserer Sprache gelöscht. Ein Staat, der eine Verfassung, eine Gesetzgebung und rechtsprechende Gerichte hat, ist nichts anderes als das Gesetz." (7)
Die gesetzgebende Versammlung gelangte zwar nicht dazu, einen  Code  durchzuführen, aber durch die Einführung des  référé législatif [richterliche Vorlage- und Anfragepflicht an den Gesetzgeber bei Auslegungszweifel - wp] und durch die Einsetzung des  Tribunal de Cassation [übergeordnete Überprüfungsinstanz - wp] gab sie auf unzweideutige Weise einen legalen Ausdruck (8).

Durch das Dekret über die Organisation des Gerichtshofes vom 16. bis 24. August 1790, das die Lehre von der Scheidung der Gewalten streng durchführt, wurde bestimmt (Art. 12, tit. II), daß nicht nur der Richter nicht berechtigt ist, Vorschriften zu erlassen, sondern darüber hinaus, daß er nicht befugt ist, das Gesetz zu interpretieren. Hält er eine Interpretation für notwendig, dann soll er sich an die gesetzgebende Macht wenden. Dieses "référé facultatif" wurde durch ein Dekret vom 27. November bis 1. Dezember 1790 (Art. 21, Abschnitt 2) dahin erweitert, daß es im Fall eines Streites zwischen verschiedenen Gerichtshöfen obgligatorisch sein sollte.

Le tribunal de Cassation  (der spätere  Cours de Cassation)  wurde durch das letztgenannte Dekret von 1790 eingesetzt. Seine Aufgabe wurde darin als genaue Überwachung des  Textes des Gesetzes  festgelegt. Das Tribunal sollte alle Urteile annullieren, die eine "contravention expresse au texte de la loi" [Abweichung vom Ausdruck des Gesetzestextes - wp] enthielten, aber es wird ihm verboten, "sous aucun prétexte et en aucun cas de connaître du fond des affaires" [unter allen Umständen und in jedem Fall die materiellen Hintergründe zur berücksichtigen - wp]. So hatte auch dieses Institut die Voraussetzung zur Grundlage, daß des Richters einzige Aufgabe die ist, streng dem Text des Gesetzes zu folgen. Noch charakteristischer aber ist es vielleicht, daß  le Tribunal de Cassation  selbst nicht als ein Gerichtshof aufgefaßt wurde, vielmehr als ein Ausläufer der gesetzgebenden Macht. Als Repräsentant der gesetzgebenden Macht sollte er darüber wachen, daß die Gerichtshöfe sich keine irgendwie eigenmächtige Interpretation erlaubten. Bereits im 1. Artikel des Dekretes findet sich folgende bezeichnende Wendung: "Il y aura un tribunal de cassation établi  auprés du corps législatif." [Es wird ein oberster Gerichtshof in nächster Nähe zum Gesetzgeber festgelegt werden. - wp]. Mit aller Deutlichkeit bringt ROBESPIERRE diesen Gedanken bei den Verhandlungen in der gesetzgebenden Versammlung zum Ausdruck.
    "Es ist nötig eine Aufsicht zu haben, die rechtliche Prinzipien wieder vor Gericht bringen kann. Wird diese Überwachungsbehörde ein Teil der Justiz? Nein, denn es ist die Justiz selbst, die überwacht. Wird es eine Exekutive sein? Nein, denn die würde zum Meister des Gesetzes ... Das Recht zur Überwachung ist von der Legislative abhängig." (9)
Diese beiden Institutionen,  le référé législatif  und  le Tribunal de Cassation  ergänzen einander auf eine eigentümliche Weise und geben zusammen ein unverkennbares Bild von der Rechtsquellentheorie der Revolution. Das Gesetz, die Gesetzgebungsmacht ist eine Quelle allen Rechts. Die Aufgabe des Richters besteht darin, passiv, wie "ein lebloses Ding", als "Sklave des Gesetzes", das Gesetz ohne irgendeine Art von Interpretation anzuwenden. Sollten die Verhältnisse ihn einmal ausnahmsweise zu einem aktiven Auftreten zwingen, dann muß er sich erst an den Gesetzgeber wenden. Im Übrigen wacht dieser durch  le Tribunal de Cassation  darüber, daß der Richter sich genau an den Text des Gesetzes hält. Für die Gewohnheit oder die Jurisprudenz als Rechtsquelle bleibt also kein Platz. Eine in doktrinärer Hinsicht noch weitergehende Rechtsquellentheorie, die sich auf den Glauben an die Omnipotenz des Gesetzes gründet, läßt sich kaum denken:  vox populi [Stimme des Volkes - wp] - das Gesetz - vox dei [Stimme Gottes - wp].

2. Durch ein Dekret vom 5. Juli 1790 hatte  l'Assemble Constituante  bestimmt, "daß die Zivilgesetze vom Gesetzgeber überprüft und reformiert werden, so daß ein einfaches und klares Gesetzbuch vollbracht wird, das im Einklang mit der Verfassung steht." Wie erwähnt fand die Versammlung keine Gelegenheit, selber diesen verheißungsvollen Paragraphen durchzuführen. Nicht besser erging es ihrer Nachfolgerin, der  Assemblée législative [gesetzgebenden Versammlung - wp]. Erst in der  Convention national  wurde die Arbeit begonnen (10). Unter dem Nationalkonvent, später unter dem Direktorium und den Kommissionen, die den Übergang zum Konsulat vorbereiteten, wurden nacheinander nicht weniger als vier Vorschläge zum  Code civil  ausgearbeitet und vorgelegt. Drei wurden von CAMBACÈRÈS und eins von JAQUEMINOT ausgearbeitet, ohne daß es indessen glückte, eine Einigkeit über Plan, Abfassungsform oder Inhalt zu erzielen. Der erste Vorschlag wurde als zu weitläufig abgelehnt, man wollte ihn kürzer und philosophischer. Dafür wurde der zweite Vorschlag wieder zu philosophisch. Liest man diesen dünnleibigen Entwurf (11) durch, der mehr an ein Inhaltsverzeichnis, als an ein Gesetz erinnert, dann kann man sich darüber wundern, daß das Ergebnis schließlich ein Werk wie der  Code civil  wurde. In der Zwischenzeit hatte sich eine Systemveränderung vollzogen. BONAPARTE,  le premier consul,  hatte die Arbeit in die Hand genommen. Sein größtes Verdienst liegt vielleicht darin, daß er die richtigen Männer gewählt hatte. Am 24. Thermidor des Jahres 8 setzte er eine Dreimänner-Kommission ein, deren führender Geist PORTALIS war. Er arbeitete den Entwurf aus, der zur endlichen Abfassung des  code civil  führte. Man muß aber einräumen, daß der  Code Napoleon  ebensowenig ein Werk der französischen Revolution im eigentlichen Sinne wurde, wie man BONAPARTE oder PORTALIS Revolutionsideologen nennen könnte (12). So ist er dann auch der Ausdruck einer anderen Rechtsquellenlehre.

PORTALIS übte einen entscheidenden Einfluß auf die Verhandlungen aus. Sein berühmter  Discours préliminaire (13) verblüfft in gleichem Maß durch seinen schönen Stil, der ihn literarischen Meisterwerken an die Seite stellt, wie durch die überraschende Weise, in der er das Beste der historisch-soziologischen Schule vorwegnimmt. In  rechtsethischer  Hinsicht teilt er wohl noch die Vorstellungen der Revolution von einem Naturrecht und insofern ist er ein Naturrechtsvertreter. In  soziologischer  Hinsicht aber huldigt er nicht mehr einem rationalen Optimismus, sondern bringt in seinen Reden einen klugen, vorsichtigen, historischen Moderatismus zum Ausdruck (14). PORTALIS wendet sich gegen die enttäuschten Revolutionäre, die beklagen, "de ne pas rencontrer  aucune grande conception" [daß es sich um keinen großen Wurf handelt - wp] im Projekt des  Code civil: 
    "Es wäre wünschenswert, eine genaue Vorstellung davon zu haben, was unter einem  großen Entwurf  zu verstehen ist. Haben wir es bei diesem Wort mit einer sehr mutigen Erneuerung dieser Institution zu tun wie bei  Solon  oder  Lykurg?  Aber aufgepaßt, ihr Gesetzgeber! So eine gewagte Neuerung ist oft ein brillianter Fehler, bei dem der plötzliche helle Schein dem des Pulvers ähnelt, der zwar leuchtet, aber auch trifft. Dann haben wir nur den Geist verwirrt und verprellt, indem wir innovative Ideen schufen ... der Geist der Mäßigung ist der wahre Geist des Gesetzgebers." (15)
An einer anderen Stelle spricht er die berühmten Worte, die man als Motto über die historische Schule setzen könnte:
    "Die Erfahrung füllt nacheinander alle Lücken, die wir leer lassen. Das Gesetzbuch selbst tut das auch mit der Zeit streng genommen nicht."
Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit, daß auch PORTALIS' Rechtstheorie und damit seine Quellentheorie von der Revolution verschieden ist. Er sieht nicht das Gesetz als einzige Rechtsquelle an. Er räumt auch dem Gewohnheitsrecht einen Platz ein, und, was noch wichtiger ist, er begreift, daß dem Richter notwendigerweise eine gewisse selbständige, rechtschaffende Tätigkeit zukommen muß. Im  livre préliminaire  des Entwurfs, (das später fortgelassen wurde), wurden "coutumes et usages" [Sitten und Gebräuche - wp] ausdrücklich als Rechtsquellen anerkannt, indessen erst nach dem Gesetz (Art. 4 und 5 tit. I). Über die Stellung des Richters wurde zum erstenmal bestimmt, daß ihm das Recht zukäme, das Gesetz zu interpretieren, wenn es auch strenge Regeln dafür gab, wie diese Interpretation vor sich gehen sollte. Man ging noch weiter und bestimmte, daß "in Zivilsachen der Richter, in Ermangelung einer präzisen Gesetzgebung, ein Minister der Billigkeit ist" (Art. 11) und schließlich, daß "sich der Richter, falls er sich unter dem Vorwand des Schweigens, der Dunkelheit oder der Unzulänglichkeit des Gesetzes weigert, zu urteilen, sich so eines Machtmißbrauchs oder der Rechtsverweigerung schuldig macht." (Art. 12, tit. V)

Wie man sieht, eine völlige Änderung der Auffassung vom Richter! Nicht mehr "Sklave des Gesetzes", sondern "Minister der Billigkeit".

PORTALIS wendet sich in seinen Reden gegen den Glauben, daß es möglich sei, ein Rechtssystem in die Paragraphen eines Gesetzes zu pressen.
    "Alles vorherzusagen", sagt er, "ist ein Ziel, das zu erreichen unmöglich ist. Es ist daher notwendig, viele Umstände, unter denen ein Richter gesetzlos ist, vorherzusehen. Der Richter soll deshalb befähigt werden, das Gesetz durch eine natürliche Beleuchtung der Gerechtigkeit in einem guten Sinn zu ergänzen. Es ist nicht kindisch, diesbezüglich angemessene Vorkehrungen für einen Richter zu treffen, der es nie mit einem genauen Text zu tun hat."
Natürlich ging PORTALIs Aufgabe der Revolutionsideale nicht ohne Protest ab. Wir haben bereits oben Lyon-Tribunales enttäuschten Protest zitiert, der sich dagegen richtete, daß das Gewohnheitsrecht stets statthaft sei, sowie gegen die freie Stellung des Richters. Mehrere andere schließen sich an, so Mitglieder der Gerichtshöfe von Paris und Rouen. Am charakteristischsten ist vielleicht Tribun MAILLA-GARATs zornbebender Protest im Tribunal. "Tribunen", ruft er, "es ist in dieser Rechnung eine absolute Bestimmung, auf die ich eure Aufmerksamkeit richten muß, die oft mißbraucht wird und sogar tödlich sein kann." Er wendet sich damit, indem er sich auf MONTESQUIEU beruft, gegen den Artikel 6 des revidierten Entwurfs (der oben besprochene Art. 12, Code civil Art. 4).

Gewiß wurde der erste Teil der besprochenen Bestimmungen über das Gewohnheitsrecht und die Aufgabe des Richters in der endgültigen Fassung des  Code civil  fortgelassen. Das lag aber nicht an einer Auffassungsänderung. Man strich das ganze  livre préliminaire  wegen seines abstrakt-philosophischen Charakters, der nicht für ein Gesetzbuch paßt. Aber der besonders umstrittene Artikel, der Artikel 12, tit. V., des ursprünglichen Vorschlags, der Art. 6 des revidierten Vorschlags, wurde doch im  Code civil  als dessen 4. Artikel beibehalten.

Es muß zugestanden werden, daß der  Code civil  nicht mit derselben Klarheit, wie sein Entwurf, das Gepräge der veränderten Auffassung trägt. Der Art. 4 ist aber doch das historische Endergebnis einer Entwicklung, die sich von der Rechtsquellenlehre der Revolution entfernt. Es soll zum Schluß gezeigt werden, wie es nach der Einführung des Code den beiden oben besprochenen Institutionen,  le référé législatif  und  le Tribunal des Cassation  erging, die auf der Theorie von der unbedingten Alleinherrschaft des Gesetzes beruhten.

Le référé législatif  muß durch den Artikel 4 des  Code civil  als aufgehoben gelten. Dieser Artikel war gerade dazu bestimmt, das Referenzsystem aufzuheben, dessen schädliche Folgen man einmütig verurteilte. Er trägt in sich die Voraussetzung, daß der Richter berechtigt ist, das Gesetz zu interpretieren. Sein natürliches - wenn nicht notwendiges - Verständnis muß weiter dazu führen, daß der Richter in einem Fall, wo das Gesetz schweigt, berechtigt und verpflichtet ist, auf eigene Hand ein Urteil zu fällen. Daß dies historisch der Sinn des Artikels war, das ergibt sich klar aus dem Entwurf, in dem er, wie oben angeführt, unmittelbar hinter einem Artikel stand, der im Falle eines Schweigens des Gesetzes den Richter zu einem "ministre d'équite" machte (16).

Le Tribunal de Cassation  erfuhr wohl keine direkte Veränderung durch den  Code civil.  Aber eine Macht, die stärker war, als Paragraphen, führte eine solche Veränderung herbei. Die Kompetenz des Tribunals war durch ein Dekret vom 27. November bis 1. Dezember 1790 sehr streng auf Fälle beschränkt, in denen "eine Abweichung vom Ausdruck des Gesetzestextes" vorlag, aber die Voraussetzungen für diese Bestimmung waren sozusagen zerfallen. Die Voraussetzung war nämlich, daß die Aufgabe des Richters nur in einer mechanischen Gesetzesanwendung bestand, dergestalt, daß die Mission des Tribunals, die Einheit des Rechtssystems zu sichern, völlig dadurch erfüllt wurde, daß "l'unitè de la loi" [die Einheit des Gesetzes - wp] überwacht wurde. Sollte diese Mission jetzt erfüllt werden, wo man nicht mehr die selbständige Rolle der Interpretation und Jurisprudenz übersehen konnte, dann mußte die Aufgabe des Tribunals  a fortiori [erst recht - wp] darauf ausgehen, "l'unité de la jurisprudence" [die Einheit der Rechtsprechung - wp] zu sichern. So sieht man dann auch, daß eine Kassation nicht allein aufgrund einer  violation formelle de la loi  [eine formelle Rechtsverletzung - wp], sondern auch aufgrund einer  fausse interprétation de la loi  [falsche Auslegung des Gesetzes - wp] erfolgte (17). Diese Wandlung wurde dadurch ermöglicht, daß es keine höhere Instanz gab, die es in ihrer Macht hatte, das Vorgehen des Tribunals zu korrigieren. Diese eigenmächtige Kompetenzentwicklung hatte eine andere Umgehung des konstituierenden Dekrets zur Folge, die Umgehung nämlich des ausdrücklichen Verbotes, "du fond des affaires" [mit materiellem Hintergrund - wp] zu urteilen (vgl. oben). Denn, wie man leicht einsehen kann, es ist nicht möglich, eine Kassation einer extra-legalen Jurisprudenz vorzunehmen, ohne sich über die materielle Grundlage der Sache zu unterrichten. Formell wurde indessen die Jllusion aufrechterhalten, als würde die Materie der Sache nicht beurteilt. Durch ein Gesetz vom 1. April 1837 erlangte diese Entwicklung eine gewisse Legitimation. Dieses Gesetz bestimmte im Artikel 2, daß nach einer zweiten Kassation, die sich auf dieselben Motive gründet, wie die erste, die untergeordneten Gerichtshöfe verpflichtet sind, der Entscheidung des Tribunals Folge zu leisten. Damit wurde dem  Cours de Cassation  ein positiver Einfluß auf die Jurisprudenz eingeräumt, der offenbar über die Prinzipien der  Constituante  hinausgeht.

3. Der  Code civil  bedeutete so einen guten Schritt auf eine gesündere Rechtsquellentheorie hin. Aber, eigentümlich genug, sein Charakter  als Kodifikation  sollte später in Frankreich einen Einfluß ausüben, der im Gegensatz zu dem stand, was die Redakteure sich gedacht hatten. Als Kodifikation bewirkte er, daß die Lehre vom Gesetz als einzige Rechtsquelle wieder mit neuer Stärke auftauchte. Diesmal inkarniert die Rechtsquellentheorie sich in der herrschenden Interpretationslehre. In der ersten Zeit nach der Einführung des  Code,  unter den ersten Kommentatoren (bis rund gerechnet 1840) spürte man diese Tendenz noch nicht. Männer wie TOULLIER, MERLIN, PROUDHON, DELVINCOURT, DURONTON und TROPLONG sahen wohl vor allem ihre Aufgabe darin, die exakte Bedeutung und Reichweite des Textes analytisch zu bestimmen. Aber sie hielten das Rechtssystem durch diese Gesetzesanalyse nicht für erschöpft (18). Sie rechneten mit dem modifizierenden oder supplierenden [ergänzenden - wp] Einfluß der Gewohnheiten oder der Jurisprudenz.
    "Ich suche die Prinzipien der Theorie", schrieb  Toullier,  der erste Kommentator des Code civil, und sehe ihren Aufenthaltsort nicht nur in der Geschichte, also im Vergleich mit dem alten, mit den römischen Gesetzen und mit der Gesetzgebung der Nachbarländer, sondern besonders im Schoß der wahren Rechtsphilosophie ... deshalb glaube ich, ein Juraprofessor sollte sich nicht darauf beschränken, Gesetze zu  erklären." (19)
Aber mit dem nächsten Geschlecht und bis gegen Ende des Jahrhunderts entstand eine Gruppe von Kommentatoren (20), die man oft unter dem Namen der  école de l'exégése [Schule der Ausleger - wp] zusammenfaßt, und die eine ganz andere Anschauung von der Interpretationsmethode und der Rechtsquellentheorie bildeten und festlegten. In Ermangelung einer Kenntnis aus erster Hand, die eine Kenntnis des größten Teils der positiven französischen Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert voraussetzen würde - verweisen wir auf FRANCOIS GENYs "Exposé analytique de la méthode traditionelle" in seiner "Méthode d Interpretation" (Bd. I, Seite 17-60) auf den sich das Folgende bezieht (21).

Diese Interpretationsmethode beruth auf zwei Hauptgedanken, die man so wiedergeben kann.
    1. Unter der Herrschaft einer kodifizierten Gesetzgebung muß sich jede juristische Entscheidung direkt oder indirekt an das geschriebene Gesetz anlehnen, das die einzige konstitutionelle Rechtsquelle ist.

    2. Die Umwandlung der Gesetzesregeln in Rechtsentscheidungen erfolgt unter Anwendung einer formellen, deduktiven Logik, die von gewissen abstrakten Rechts(inhalts)begriffen als Elementen für eine juristische Konstruktion ausgeht.
Als erste Konsequenz ergibt sich hieraus, daß der Ausgangspunkt für die Rechtsanwendung eine Interpretation  stricto sensu [streng genommen - wp] des Gesetzestextes ist. Ist der Text klar und betrifft er direkt den vorliegenden Fall, dann beschränkt sich die Auslegung auf eine grammatikalische Interpretation. Ist der Text dagegen unklar oder betrifft er den gegebenen Fall nur indirekt, dann erfolgt eine logische Ausdeutung. Diese beschränkt sich auf die formalen Schlüsse  e contrario, a majori ad minus, a minori ad majus  und  a pari  [vom Gegenteil aus, vom Größeren auf das Kleinere, vom Kleineren auf das Größere und vom Gleichen aus - wp]; im Übrigen werden Vorarbeiten und dergleichen herangezogen, um den Willen des Gesetzgebers klarzustellen.

Als eine zweite Konsequenz ergibt sich, daß Gewohnheit, Billigkeit, die Natur der Sache und dergleichen nicht in Betracht kommen können. Nur einzelne Autoren, die nicht der Schule angehören, machen mit dem Gewohnheitsrecht eine Ausnahme (22).

Schließlich folgt aus dem Ausgangspunkt, daß da, wo das Gesetz nicht direkt oder durch eine allgemeine logische Auslegung Anwendung finden kann, die Entscheidung durch eine juristische Konstruktion auf Grund des Gesetzes und der juristischen Begriffe gesucht werden muß. Einzelne Juristen, wie BLONDEAU, DEMOLOMBE und HUC (23) sind sogar weitergegangen und haben behauptet, daß in diesem als äußerst selten angesehenen Fall der Richter den Anspruch ablehnen muß, da er im Gesetz keine Stütze findet. Diese Auffassung läßt sich wohl mit dem Wortlaut des Artikel 4 des  Code civil  in Einklang bringen, insofern als die Freisprechung auch eine Beurteilung der Materie der Sache ist. Sie steht aber ganz augenscheinlich im Widerspruch zur historischen Auffassung, die, wie wir gezeigt haben, hinter diesem Artikel liegt. Die juristische Konstruktion erfolgt durch eine doppelte Funktion. Zuerst wird aus einer oder mehreren im Gesetz vorliegenden Lösungen ein "höheres" Prinzip induziert; dann werden die verlangten Lösungen aus diesem Prinzip deduziert.

Durch diese Auffassung erhielt das Gesetz seine alte Bedeutung wieder. Das Recht ist das Gesetz. Der Jurist ist ein Geometriker. Das Urteil ein Syllogismus. LIARD verleiht dieser Auffassung einen klaren Ausdruck:
    "Das Recht ist das geschriebene Gesetz. Daher ist es ihre Aufgabe (d. h. der juristischen Fakultäten) Erfahrungen zu sammeln, um das Gesetz zu interpretieren. Daraus ergibt sich, daß ihre Methode deduktiv ist. In den Paragraphen des Gesetzbuches sind die Sätze, die in Frage kommen, um die Verbindungen aufzuzeigen und die entsprechenden Schlüsse zu ziehen ... Der wahre Rechtsanwalt ist ein Experte im Vermessungswesen." (24)
Man erkennt hierin die "Begriffsjurisprudenz" wieder, die JHERING kritisierte und verspottete.

Wenn man daran denkt, daß diese ganze Interpretationsmethode auf dem Dogma beruth, daß jede juristische Lösung entweder direkt im Gesetz oder im  Willen des Gesetzgebers wie sich dieser durch den im Gesetz liegenden latenten Keim rekonstruieren läßt, gefunden werden muß, und wenn man daran denkt, daß dieses Dogma historisch seinen Ursprung in der energischen Durchführung der Lehre von der Trennung der Gewalten in der Revolutionszeit hat, so sieht man, daß man mit Recht sagen kann, daß diese Rechtsquellenlehre deren Mittelpunkt der Wille des Gesetzgebers ist, sich als eine Konsequenz von MONTESQUIEUs Lehre darstellt.

4. Gegen das Ende des Jahrhunderts begann sich eine Reaktion gegen diese Interpretationsmethode geltend zu machen. Eine ständig größer werdende Kluft zwischen Praxis und Theorie gab den Anstoß zu der neuen Bewegung. Die Praxis hatte, in enger Berührung mit den hervortretenden Forderungen des sozialen Lebens, oft die Rechtsfrage durch eine biegsame Auslegung in einer Weise gelöst, die unzweifelhaft dem Resultat widersprach, das eine formal-logische Interpretation ergeben haben würde. Die Theorie war indessen noch immer davon überzeugt, daß der Gesetzgeber im Jahre 1804 alles vorausgesehen und alles geordnet hätte. Sie erkannte keine anderen Quellen an, als den  Code civil  und lehrte die daraus sich ergebenden Resultate, unbekümmert darum, wie weit sie von der Praxis befolgt wurden oder nicht. Man blickte auf sie mit einer gewissen ignorierenden Überlegenheit (25); wenn man sie einmal ausnahmsweise erwähnte, dann geschah das nur, um damit eine richtige oder falsche Anwendung der Theorie zu illustrieren. Noch im Jahre 1903 konnte LAMBERT von diesem Schisma [Spaltung - wp] schreiben:
    "Die Kluft zwischen Rechtstheorie und Praxis wird immer größer. Das Recht, das in der Schule gelehrt und in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht wird, unterscheidet sich mehr und mehr vom Recht, das im Palast gilt." (26)
Es begreift sich von selbst, daß ein solcher Zustand auf die Dauer unhaltbar war. Es mußte der Theorie allmählich klar werden, wie ohnmächtig sie bei dieser vornehmen Zurückgezogenheit werden mußte. Bereits unter Männern, die man sonst zur "Schule der Ausleger" rechnen muß, begannen sich mehr praktische Gesichtspunkte geltend zu machen. VALETTE gab, besonders in seinen Vorlesungen, häufiger Hinweise auf die Praxis (27). MARCADÈ faßte den Gedanken seiner Kommentare zur Praxis (die sogenannten  annotations),  die später so fruchtbar das Zusammenarbeiten von Praxis und Theorie förderten (28). Im Jahre 1877 schrieb BROCHER de la FLÈCHÉRE einen Artikel, in dem er die bedeutungsvolle Rolle des Gewohnheitsrechts betonte (29).

Erst in den Neunzigerjahren gewann die Bewegung an Einfluß. SALEILLES gab den Anstoß dazu. Zu wiederholten Malen ergriff er das Wort, um die historische Methode zu rühmen. Darunter verstand er eine fruchtbare, schöpferische Interpretationsmethode, die sich auf die Beobachtung der Forderungen und Gesetze des sozialen Lebens gründete. Später betonte er auch die Rolle des Naturrechts aber in einem historisch-relativistischen Geist. Von STAMMLER entlehnte er das Schlagwort "droit naturel á contenu variable" [im Naturrecht sind variable Inhalte enthalten - wp]. Andere schlossen sich ihm an. FRANCOIS GENYs groß angelegtes Werk "Méthode d'Interprétation", das im Jahr 1899 herauskam, lenkte die Bewegung in eine neue Bahn. GENY systematisiert und synthetisiert die verschiedenen Tendenzen und macht "le combat pour la méthode" [den Kampf um die Methode - wp] zu einer bewußten Aktion. Er macht den Versuch, eine theoretische Interpretations- und Quellenlehre zu einem Fundament für die praktischen Forderungen zu gestalten. Im Jahre 1902 eröffnete ESMEIN die "Revue trimestrielle de droit civil" mit einer Art Manifest, in dem er auf die Notwendigkeit aufmerksam machte, daß die französische Doktrin die Jurisprudenz zum Gegenstand eines eingehenden Studiums machen soll (30). Im Jahre darauf wies LAMBERT in seinen ausgezeichneten Untersuchungen über das Gewohnheitsrecht nach, daß dieses zum großen Teil durch die rechtschaffende Tätigkeit des Richters entsteht. Im übrigen wies er auf das "droit comparé" [vergleichendes Recht - wp] hin und nannte es das wichtigste Instrument einer fruchtbaren Rechtspolitik (31). Beim Jahrhunderfest des  Code civil  im Jahre 1904 trat der Präsident des  Cours de cassation  BALLOT-BEAUPRÉ mit der ganzen Autorität seiner Stellung für eine freiere Interpretationsmethode ein (32). Im "livre de centenaire" [Buch zur Jahrhundertfeier - wp] betonte SALEILLES, daß die französische Praxis stets seit der Einführung des  Code civil  und trotz seines Einflusses eine historisch-soziale Ausdeutungsweise befolgt hat (33). Von nun an sind die Beiträge zahlreich, die in Reden, Abhandlungen, Thesen und hier und da in größeren Werken erscheinen und den Kampf für "la méthode nouvelle" [die neue Methode - wp] beleuchten. Es ist unmöglich, hier näher darauf einzugehen. Erwähnen wollen wir nur LE ROYs und CRUETs vortreffliche Untersuchungen, die die Ohnmacht des Gesetzes gegenüber soziologischen Kräften nachweisen, d. h. die Unmöglichkeit, durch Paragraphen souverän die sozialen Verhältnisse beherrschen zu können. (34)

Man muß zugeben, daß die Bewegung in ihrer Kritik der lebensfremden Auslegungsweise der alten Schule siegreich gewesen ist. Es findet sich heutzutage in Frankreich kaum ein Jurist, der es wagen würde, seine Theorie mit einer souveränen Verachtung des praktischen Rechtslebens zu "konstruieren". In PLANIOLs "Traité élémentaire de droit civil" findet man ein schönes Beispiel für ein Werk im neuen Stil, das in einem fruchtbaren Anschluß an die Rechtspraxis aufgebaut ist.

Man kann innerhalb der "école nouvelle" [neue Schule - wp] zwei verschiedene Richtungen unterscheiden: eine historisch-soziologische und eine naturrechtliche.

Die erste wird besonders von SALEILLES vertreten (35). Er verlangt einerseits eine historisch-soziologische Interpretation, andererseits betont er ein Naturrecht mit wechselndem Inhalt. Im selben Augenblick, wo das Naturrechtsideal  jeden  absoluten Inhalt verliert, um nach Ort und Zeit mit der "conscience collective" [kollektives Bewußtsein - wp] zu wechseln, wird das so umgeformte Naturrecht in Wirklichkeit identisch mit der Lehre der historischen Schule. Nur mit dem Unterschied, daß die historische Schule in der Bestimmung des Rechts durch den Volksgeist nicht bloß eine politische Maxime sah, sondern - unter dem Einfluß einer romantischen Geschichtsphilosophie - einer merkwürdige Vermischung einer politischen Maxime und einer historischen Notwendigkeit. Wenngleich SALEILLES selbst sich als Anhänger eines relativistischen Naturrechts bekennt, wird es deshalb doch richtiger sein, ihn, in Übereinstimmung mit der gebräuchlichen groben Klassifikation, in die historisch-soziologische Schule einzureihen. SALEILLES bestreitet dann auch dem Richter das Recht, einem "Naturrecht" zu folgen, wenn es sich nicht in einer der drei folgenden Formen objektiviert hat: entweder in Rechtsregeln, die in Analogie mit dem positiven Recht aufgestellt sind, oder in "la conscience collective", einem soziologischen Begriff, der der "Volksüberzeugung" entspricht, oder endlich im "droit comparé", d. h. den Hinweisen auf einen Zusammenhang zwischen gegebenen sozialen Verhältnissen und der rechtlichen Ordnung, die aus einer vergleichenden Rechtswissenschaft geholt werden (36). Wenn SALEILLES eine solche Lehre als Naturrecht bezeichnet, so läßt sich das nur als eine Reaktion gegen eine Interpretationslehre verstehen, die keine anderen Quellen kannte, als das Gesetz. In Anlehnung an SALEILLES hat LAMBERT die rechtspolitische Bedeutung der vergleichenden Rechtswissenschaft nachgewiesen.

Die andere Richtung wird von FRANCOIS GENY repräsentiert. Seine Lehre, die weiter unten näher besprochen werden soll, hält sich nicht an historisch-objektivierte Quellen, sondern sucht direkt in metaphysisch-ethischen Prinzipien eine Grundlage für eine Interpretationsmethode. Das ist unverfälschtes Naturrecht. Seine Anhänger gehören einem Kreis von metaphysischen Naturrechtlern an, die alle mehr oder weniger dieses Naturrecht als subsidiäre [provisorische - wp] Rechtsquelle ansehen.

Dies war, in großen Zügen, der äußere Verlauf der Reformbewegung und die Forderungen, die sie erhob. Welches war nun die veränderte Rechtsquellentheorie, die dieser Bewegung zugrunde lag, und die durch sie in der neueren französischen Jurisprudenz zur Herrschaft gelangen sollte?

Es ist in dieser Hinsicht wichtig, zu bemerken, daß der Kampf für die neue Methode, wie es sich aus der Natur der Sache wohl verstehen läßt, so gut wie ausschließlich auf zivilistischer Grundlage geführt wurde. Die  Publizisten  sind nur in einem geringen Grad davon berührt worden. Ihre Rechtsquellenlehre gründet sich dann auch unverändert auf das Axiom des 19. Jahrhunderts vom Gesetz als einziger Rechtsquelle und dem Richter als seinem passiven Vollstrecker. Die jurisdiktionelle Funktion wird im Gegensatz zur legislativen als rechtsprechende (jurisdictio) gegenüber der rechtschaffenden (legislatio) beschrieben.
    "Richter erklären das Gesetz", sagt  Artur,  "der Richter trifft keine freie Entscheidung in Bezug auf das Gesetz, für das er zuständig ist. Es braucht wohl Einsicht und einen klaren Verstand, um in seine genaue Bedeutung einzudringen: sobald die Bedeutung des Gesetzes aber bestimmt ist, beschränkt sich seine Rolle auf eine mechanische Anwendung desselben." (37)
Dieselbe Auffassung finden wir bei BERTHÉLEMY:
    "Das Urteil des Gerichts erhält seinen Wert nur durch das Gesetz, dessen treue Übersetzung es ist. Der Richter fügt dem Gesetz nichts hinzu, er bestimmt nur seine präzise Bedeutung." (38)
Es ließen sich viele weitere Beispiele (39) anführen, doch das ist überflüssig, die gegebenen illustrieren die herrschende Auffassung. Nur ganz wenige haben mit diesem doppelten Dogma gebrochen. CARRÈ de MALBERG bricht mit ihm insofern, als er anerkennt, daß die Aufgabe des Richters, falls das Gesetz eine Lücke aufweist, wirklich rechtschaffend, rechtsergänzend ist. Mit Rücksicht auf das Dogma von der Trennung der Gewalten aber, macht er nur den Vorbehalt, daß diese Rechtsschöpfung nur im vorliegenden Fall konkret ist, so daß die Praxis also noch nicht als Rechtsquelle mitzählen kann (40). DUGUITs Bruch mit dem Dogma liegt woanders: er lehrt, daß der Richter nicht nur das Gesetz, sondern auch  la régle de droit objective [objektives Recht - wp] (d. h. ein Naturrecht, das sich auf  la conscience collective [Kollektivbewußtsein - wp] gründet), anwendet. Er hält ausdrücklich daran fest, daß die Funktion des Richters nicht rechtschaffend ist, und auch er kann so MONTESQUIEUs Lehre getrost beibehalten (41).

Innerhalb der  Zivilisten  ist die Stellung eine andere. Aus teuer erkaufter Erfahrung hat man gelernt, daß es nicht angängig ist, das Gesetz als einzige Rechtsquelle zu betrachten. Indessen zieht man daraus nicht den Schluß, daß der Jurisprudenz eine rechtschaffende Kraft als Rechtsquelle zukommt. Man schließt vielmehr, daß es aus logischer Notwendigkeit noch  andere Rechtsquellen  neben dem Gesetz geben muß,  um die Entscheidung des Richters zu determinieren.  Dies ist die psychologische Triebfeder im Kampf der neuen Richtung für eine Rechtsquellenlehre. GENY gibt dieser Schlußfolgerung einen prägnanten Ausdruck:
    "Da das geschriebene Gesetz nicht den Bedürfnissen der rechtlichen Organisation genügt, ist es nötig, außerhalb und über dem Gesetz nach einem Prinzip oder einer Reihe von Grundsätzen zu suchen, die eine Ergänzung der Lücken erlaubt. Kurzum: durch die bloße Kraft von Ablehnungen (der Auslegung), über die wir uns einig sind, wird unwiderstehlich die Existenz eines Unbekannten bestätigt, das noch zu entdecken ist." (42)
Daß das fehlende Glied durch die Rechtsanwendung selber sollte ergänzt werden können, daß diese teilweise rechtlich indeterminiert sollte sein können, ist ein Gedanke, der überhaupt nicht beachtet wird. Wieder einmal verhindert MONTESQUIEUs Prinzip die rechte Erkenntnis.

Die Publizisten und die Zivilisten stimmen also darin überein, daß sie, mögen sie nun eine Rechtsquelle außerhalb des Gesetzes anerkennen oder nicht, jedenfalls, gestützt auf das Prinzip von der Trennung der Gewalten, daran festhalten, daß die Jurisprudenz nicht als Rechtsquelle gelten kann. Das besagt, daß man  eine vollständige, prä-judexiell existierende Rechtsordnung voraussetzt, die sozusagen über dem Richter schwebt, und aus der dieser nur seine Lösungen herzuleiten braucht.  Das schließt die  Voraussetzung ein, daß die Entscheidung des Richters stets rechtlich determiniert ist, d. h. daß Rechtsquelle dasselbe bedeutet, wie Quelle einer Richterentscheidung. 

Hierin liegt der erste Fundamentalfehler, den die moderne französische Rechtstheorie begeht (43). Man kann ihn das Dogma von der vollständigen prä-judexiellen Rechtsordnung nennen. Man ist noch von der Fiktion gebunden, die AUSTIN bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der englischen Doktrin ausjätete. In der Vorstellung befangen, daß der Richter stets ein  schon existierendes Recht  anwendet, kann man nicht das rechte Verständnis für das Wesen der jurisdiktionellen Funktion und damit für einen wichtigen Punkt in der Rechtsquellenlehre gewinnen. Man kann wohl praktisch eine ganze Menge politischer Motive finden, um diese Fiktion aufrechtzuerhalten, aber sie haben mit der Theorie nichts zu schaffen. - Sagen wir die Wahrheit: eine Fiktion ist eine Fiktion.

Ein anderer Fehler liegt in der Methode, mit der die Lehre vom Gesetz (und den anderen Rechtsquellen) aufgebaut wird. Wie oben gezeigt, ist die Frage, was es bedeutet, und woran man erkennen kann, daß eine Norm existiert oder Geltung hat, eine Frage  sui generis [aus sich selbst heraus - wp], die eine eigene Methode, die normative oder positive, verlangt. Die Frage ist eine ganz andere, als die natur-kausal-wissenschaftliche, die man in der Rechtsethik (Rechtspolitik) stellt. Sie kann daher weder mit einer soziologischen noch mit einer naturrechtlichen Methode gelöst werden.

Im besten Fall (44) begnügt sich nun die französische Theorie damit, positivistisch das positive Recht als die Anordnungen zu bestimmen, die von der gesetzgebenden Macht, von der kompetenten Behörde oder dergleichen ausgehen. Diese Antwort ist harmlos, aber auch nichtssagend.

Soweit man überhaupt auf die Theorie der Rechtsquellen näher eingeht, so geschieht das - im Widerstreit mit der Natur des Problems - aufgrund einer soziologischen oder naturrechtlichen Methode. Das muß notwendigerweise zu Verwicklungen führen.

Die augenscheinlichste Konsequenz dieses Methodensynkretismus [Mischmasch - wp] ist eine Disharmonie, ein Dualismus im Rechtsbegriff. Es gibt nämlich eine Rechtsquelle, deren Positivität - d. h. deren normative Gültigkeit als eine  Sache für sich,  unabhängig von ihren sozialen Ursachen und naturrechtlichem Ideal - besonders einleuchtend ist. Das ist das Gesetz. Möge man daher einen soziologischen oder einen naturrechtlichen Rechtsbegriff als Ausgangspunkt genommen haben: man kann nicht umhin, das Gesetz (das positive Recht) als  Recht ansich,  unabhängig vom angenommenen Rechtsbegriff, anzuerkennen. So sieht man sich genötigt,  zwei Arten Recht ohne inneren Zusammenhang  anzunehmen, was eine unzulässige Disharmonie im Rechtsbegriff bedeutet (45). Diese Disharmonie wird auf die Rechtsquellenlehre übertragen. Da die Positivität der anderen Quellen nicht so anschaulich ist, wie die des Gesetzes, so benutzt man getrost den nicht-positiven Rechtsbegriff zur Bestimmung der extra-legalen Quellen. Das Resultat ist, daß der gesamte Rechtsbegriff in zwei völlig disparate Teile zerfällt:  einerseits  das Gesetz, dessen Geltung man als etwas Gegebenes und Unproblematisches hinnimmt (nichtssagender Positivismus) (46),  andererseits  das extra-legale Recht, das sich auf soziologische oder naturrechtliche Betrachtungen gründet (Methodensynkretismus). Abgesehen von der Wertlosigkeit, die jenen, und der methodischen Unmöglichkeit, die diesen Teil der Rechtsbestimmung charakterisiert, ist die Disparität [Nebeneinander von Ungleichem - wp] selber, die zwischen diesen beiden Teilen herrscht, ein Beweis für die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes.

Was besonders die Richtung betrifft, die den nicht-positiven Rechtsbegriff auf "la conscience collective" gründet - ob man diesen Begriff nun soziologisch als eine wirkende Naturkraft auffaßt, oder naturrechtlich als ein relatives Rechtsideal - so entsteht auf diese Weise eine weitgehende Gleichheit mit der deutschen historischen Schule. Eine Gleichheit, die nicht auf eine äußere Beeinflussung zurückzuführen ist, sondern auf eine innere, strukturelle Gleichläufigkeit des Gedankengangs. In beiden Fällen findet man dieselbe Schwierigkeit, die Positivität des Gesetzes mit einem Rechtsbegriff zu vereinen, der sich auf ein Kollektivideal gründet. Die historische Schule half sich damit, daß sie als eine  Fiktion  behauptete, daß der Gesetzgeber stets die Volksüberzeugung repräsentiert. Die französische Theorie spricht von einer  Präsumtion [Annahme, Vermutung - wp] (47). Da man diese Präsumtion aber wohl als unabweisbar ansehen muß, so ist das nur ein anderer - minder ehrlicher - Ausdruck für eine Fiktion.

Bei diesen beiden fundamentalen Fehlern des Ausgangspunktes, teils der unrichtigen Auffassung von der Stellung des Richters, teils der inadäquaten Methode, ist es nicht nötig, im einzelnen zu verfolgen, wie die Rechtsquellenlehre ausgestaltet wird. In der Regel wird neben dem Gesetz die Gewohnheit als Rechtsquelle anerkannt; bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Verfasser wird sie in der üblichen römisch-germanischen Form als durch ein objektives und subjektives Element konstituiert dargestellt  (opinio necessitas [Gesetz der Notwendigkeit - wp] in einer ihrer Formen) (48); einige ältere einzelne Verfasser schließen sich an die Anerkennungstheorie an (49). Nur LAMBERT hat eine ausgezeichnete Darstellung vom Gewohnheitsrecht als (teilweise) durch die Jurisprudenz geschaffen, gegeben. Die Lehre soll unten unter Nr. 8 besprochen werden.

Im übrigen führt man das Naturrecht und die Soziologie als subsidiäre [ergänzende - wp] Rechtsquellen an. Im folgenden soll das näher erläutert werden.

Zu diesem Zweck wollen wir in Nr. 5 eine Besprechung und Kritik des einzigen französischen Werkes geben, das versucht, eine zusammenhängende Rechtsquellentheorie zu entwickeln: FRANCOIS GENYs "Méthode d'Interpretation et source en droit privé positif." Wie erwähnt, nimmt GENY innerhalb der modernen Reformbestrebungen den Platz eines Hauptrepräsentanten einer metaphysisch-naturrechtlichen Rechtstheorie ein.

5. Der Ausgangspunkt und die psychologische Triebfeder für GENYs Werk ist eine Kritik der herrschenden logisch-formellen Interpretationsmethode, die sich auf das Gesetz als einzige Quelle gründet. Das Leitmotiv für diese Kritik ist das Unzulängliche jeder auf das Gesetz sich stützenden juristischen Lösung. Die Aufgabe seiner eigenen Theorie ist daher die andere supplierende [ergänzende - wp] Quellen zu finden (50).

Als solche extra-legalen Quellen führt GENY die Gewohnheit und die Autorität an (d. h. Rechtspraxis und Doktrin), dazu - als wichtigste - die Wissenschaft,  la libre recherche scientifique [freie wissenschaftliche Forschung - wp]. Zuerst wollen wir einmal sehen, wie der Verfasser sich die  Wissenschaft als Rechtsquelle  vorstellt.

GENYs Gedanke ist, daß vor dem Gesetz ein höheres Recht existiert, das eigentliche Recht, das direkt von der menschlichen Vernunft und der Natur der Verhältnisse stammt. Das Gesetz ist nur ein unvollständiger, empirischer Ausdruck für dieses höhere Recht (51). Aber ebenso, wie das Gesetz seine Kraft und Geltung von diesem anderen Recht holt, tritt dieses supplierend hinzu, wenn das positive Recht aufhört. Das überempirische Recht ist gleichsam ein Hintergrund, vor dem das Muster des Gesetzes sichtbar wird und wieder verschwindet. Diesem allein kommt der Name  Recht  zu.

Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, dieses überpositive Recht zu erforschen, indem sie in die intimen Tiefen des menschlichen Gewissens und der menschlichen Vernunft, wie auch in die fundamentalen Zusammenhänge der Dinge eindringt, die ewigen Prinzipien der Rechtfertigkeit zu entschleiern und sichtbar zu machen, und so das Recht zu schaffen. So besitzt die Wissenschaft also "une activité proprement productive" (52), die sich in der "élaboration scientifique du droit" entfaltet (53). Dieses von der Wissenschaft geschaffene Recht tritt supplierend ein, wenn das Gesetz aufhört (54). Als die wichtigste subsidiäre Quelle nennt GENY daher  "le libre recherche scienticique".  "Die Felduntersuchung war präzise und vollständig. Zuerst prüfen wir mit Vernunft und Gewissen und unserer inneren Natur entsprechend die Grundlagen der Gerechtigkeit zu entdecken und dann adressieren wir die sozialen Phänomene und die Gesetze ihrer Harmonie und was nötig ist, um diese Ordnungsprinzipien zu erreichen." (55)

Aber diese wissenschaftliche Aufgabe, das höchste Recht zu schaffen, ist schwierig. Der übliche Begriff von Wissenschaft (als auf der Autonomie der Vernunft begründet), reicht nicht aus. Die Rechtswissenschaft als eine autoritäre Disziplin "mit im Wesentlichen praktischen Tendenzen" beruth auf einer "einem diskreten Zusammengehen des Gedankens mit der Tat". (56) Tiefere Kräfte tretend helfend hinzu: die Intuition und Glaube.
    "Mit anderen Worten: die Wissenschaft ist bei diesen Fragen etwas in Verzug und der wird verstärkt durch eine obskure Offenbarung wie sie von den geheimnisvollen Tiefen der Seele, die man Glauben nennt, aber nicht ersetzt; auch wenn dieser Glaube die Grundlage aller Aktivität ist, unverzichtbar und notwendig um dem Menschen die Richtung zu geben auf dem Weg zu seiner vollen Bestimmung." (57) Wissenschaft oder Glaube, ganz gleich, der Unterschied ist wesentlich. Der Glaube ist eine Quelle der Sicherheit, und was ist die Wissenschaft wohl anderes? (58)
Tief muß die so ausgerüstete Wissenschaft forschen, um der Menschheit und der Natur die ewige Rechtfertigkeitsnorm abzuringen.
    "Entscheidend ist, daß das Prinzip der moralischen Normen der rechtlichen Aktivität mit großer Sicherheit und überzeugender Festigkeit mit der allgemeinen Auffassung des Universums übereinstimmt, mit dem Wesen und der Natur des Menschen, dem Mysterium seines Ursprungs und seiner Existenz in der Welt und dem Rätsel seiner Bestimmung." (59)
Der Begriff des Universums! Das Wesen und die Natur des Menschen! Das Mysterium seines Ursprungs! Das Rätsel seiner Bestimmung! Das Geheimnis des heiligen Pentagramms in der Kabbala! kann man ohne weiteres hinzufügen, ohne den Übergang zu merken. Von Gott selber muß die Wissenschaft diese höchste Norm holen:
    "Das ist die moralische Regel, die von Gott ausgehend, der ganzen Menschheit und auch dem einzelnen Menschen die unterschiedlichsten Strafen auferlegt. Und seinem eigenen Zweck entsprechend nehmen die moralischen Regeln bisweilen den Charakter einer Rechtsregel an, deren höchste Quelle aber immer in der göttlichen Autorität liegt." (60)
Diese Prometheus-Aufgabe hat GENY durchgeführt und er hat das wissenschaftlich Gegebene im Recht (science en droit, le donné) auf vier Grundformen reduziert: ein real, ein historisch, ein rational und ein ideal Gegebenes (61). In diesem Zusammenhang sind besonders die beiden letzten von Interesse.

Der Unterschied ist höchst unklar, aber es ist wohl am ehesten so gedacht, daß das, was notwendigerweise aus den logischen Forderungen der Vernunft folgt, von dem gesondert wird, was mehr auf einem Gefühl beruth, das ein Ideal formt. So erfährt man, daß das Verbot der Blutschande zwischen Verwandten gleicher Linie und die Forderung, daß die Ehe eine stabile und permanente Vereinigung ist, aus "rationalen Gegebenheiten" erfolgt. Wohingegen die Erweiterung des Blutschandebegriffs auf andere Fälle, ebenso wie das Prinzip der Monogamie und die fundamentale Unauflöslichkeit der Ehe aus  les données idéales [ideal gegeben - wp] folgt (62). Wie man sieht, ist die Sonderung ganz willkürlich. Die Forderung, daß die Ehe "stabil und permanent" sein soll, ist natürlich ebensogut ein Ideal wie eins der anderen. Zusammen bilden sie, wie gesagt, das Resultat der  wissenschaftlichen  Erkenntnis des Rechts.

Unter einer Voraussetzung ließe sich gegen all das nichts einwenden, nämlich, wenn man die Bezeichnungen "Wissenschaft" und "wissenschaftlich" verwandelt in Magie und magisch, dergestalt, daß der Name der fundamentalen Rechtsquelle "le libre recherche magique" [freie magische Untersuchung - wp] lautet (63). Die Auffassung der Wissenschaft als einer schaffenden Kraft, die aus "den mystischen Tiefen der Seele" quillt, ist magisch. Durch mystische Spekulationen und okkulte Kräfte greift die Magie schaffend in den Weltprozeß ein. Zu jeder Zeit gibt es sowohl Magier wie Männer der Wissenschaft. Man muß nur dagegen Protest erheben, daß die Magie sich den Namen  Wissenschaft  entleiht. Ihre Aufgabe ist bescheidener. Wissenschaft ist Erkenntnis, d. h. Bestimmung des Seins. Produktion ist Handlung. KAUFMANN benennt die Lehre von einer schaffenden Wissenschaft mit dem richtigen Namen: Nonsens. (64)

6. Der leitende Gedanke in GENYs Werk ist die Vorstellung von einer schaffenden Wissenschaft und einem subsidiären Idealrecht als ihrem Produkt. Wollten wir ein zusammenhängendes Referat von der Durchführung dieses Gedankengangs geben, so würde das über den Rahmen dieser Skizze hinausgehen. Wir wollen uns also darauf beschränken, zu zeigen, wie die oben (unter Nr. 4) besprochenen beiden Grundfehler, die man in aller neueren französischen Quellentheorie findet, sich in GENYs Lehre eben durch diesen leitenden Gedanken widerspiegeln.

Daß erstens alles Recht identisch ist mit Prämissen für eine Gerichtsentscheidung, bildet das Leitmotiv in allen Untersuchungen GENYs. Er geht davon aus, daß das Gesetz "unzulänglich" ist, und schließt, daß man also andere subsidiäre Rechtsquellen finden muß. Das Dogma von der präjudexiellen [für zukünftige Fälle maßgebend - wp] Existenz des Rechts wurden oben eben durch ein Zitat GENYs illustriert. Man kann weiter hinzufügen, daß GENY ausdrücklich unter Berufung auf das Prinzip von der Trennung der Gewalten, bestreitet, daß die Praxis eine Rechtsquelle ist (65).

Auch was die Methode betrifft, ist GENYs Auffassung für den üblichen Methodensynkretismus typisch. GENY wendet zur Lösung des Problems der Rechtsquellen sowohl eine naturrechtliche, wie auch eine soziologische Methode an. An einer Stelle fragt er, ob das Rechtsquellenproblem (speziell die Kompetenz des Gesetzgebers) sich durch die inhaltsmäßigen Bestimmungen des positiven Rechts, des Gesetzes, hierüber lösen läßt. Die Frage wird mit Recht in einem verneinenden Sinn beantwortet.
    "Die Kompetenz des Gesetzgebers ist den Regeln der Höherrangigkeit gegenüber immer willkürlich ... die Natur der Sache verlangt einen wichtigen Grund, der zu enthüllen ist." (66)
In diesen beiden Momenten  Natur der Sache  und  Grund,  auf die das ganze Werk hindurch von Anfang bis Ende Bezug genommen wird, liegt eine Hindeutung auf eine soziologische, bzw. naturrechtliche Methode. GENY entgeht auch nicht dem aus diesem Methodensynkretismus folgenden erwähnten Dualismus im Rechtsbegriff. Auf der einen Seite gelangt er durch seine naturrechtliche Methode dazu, ein supra-legales Naturrecht, das eigentliche Recht zu postulieren, von dem das Gesetz nur eine unvollkommene Ausdrucksforum ist (67). Auf der anderen Seite erkennt er die unbedingte Geltung des Gesetzes an und bestimmt seinen Begriff naiv-positivistisch als "l'oeuvre du pouvoir compétent" [Arbeit der zuständigen Behörde - wp] (68). Er bestreitet ausdrücklich, daß es einen Zweck hat, weiter darüber zu spekulieren, warum es Geltung hat (69). Die Existenzbedingungen der anderen Rechtsquellen dagegen werden von naturrechtlichen Betrachtungen über das Nützliche, Rechtfertigte, Zweckmäßige, Natürliche (soziologischer Gesichtspunkt) aus bestimmt, indem man sie als Rechtsquellen ansieht. So besteht eine Diskrepanz zwischen dem unerklärten Positivismus (denn wer ist kompetent? Das läßt sich weder mit einem Fernglas, noch mit einem Mikroskop entscheiden) und der idealen Bestimmung der anderen Rechtsquellen.

Dieser Dualismus kommt auch im Rechtsquellenbegriff zum Ausdruck. Es wird zwischen zwei Arten Quellen unterschieden: teils solchen, die als "sources formelles" [formale Quellen - wp] charakterisiert werden, teils solchen, die diese Qualifikation nicht haben. Von den ersten heißt es, sie seien "autoritäre Verfügungen, die kompetent gebildet, ohne interpretiert werden zu müssen, dazu berechtigen, sich ein Urteil zu bilden." (70) Unter Quelle ohne besondere Qualifikation wird "direction du jugement pour l'interprété" [eine interpretierende Richtung des Urteils - wp] verstanden (71). Dieser Unterschied bei den Rechtsquellen bezieht sich auf den erwähnten Unterschied im Wesen des Rechts und beruth also darauf, ob man das Recht als  autoritären  Ursprungs ansieht oder nicht. Um einer Verwechslung mit dem germanischen Sprachgebrauch vorzubeugen, werde ich mir die Freiheit nehmen, GENYs "sources formelles" als autoritäre Quellen zu bezeichnen. GENY versucht, dieser Scheidung eine Bedeutung beizumessen, die, recht besehen, gar keinen Sinn macht. Es heißt, daß die autoritären Quellen eine "force obligatoire absolue" [absolute Bindungskraft - wp] besitzen, während den anderen nur eine "direction moins impérieuse" [weniger zwingende Bedeutung - wp] zukommt (72). Diese Scheidung ist sinnlos. Denn entweder ist eine Norm bindend oder nicht. Gradunterschiede gibt es nicht, wohl aber Artunterschiede. Eine Norm kann von verschiedenen normativen Gesichtspunkten aus verbindend sein. Das ist es wohl auch, was der Scheidung zugrunde liegt: die nicht-autoritären Quellen sind in Wirklichkeit keine  Rechts quellen, sondern moralische Direktiven, die sich auf eine metaphysische Moraltheorie gründen.

Aber was noch wichtiger ist: GENY rubriziert die von ihm angeführten Rechtsquellen bei der Scheidung in autoritäre und nicht-autoritäre in einer Weise ein, die der Definition widerspricht, die er selber von dieser Scheidung gegeben hat. Es leuchtet ein, daß das Gesetz, das Werk der kompetenten Behörde, unter die autoritären Quellen gehört. Es ist aber ganz unverständlich, wie man auch die Gewohnheit zu ihnen rechnen kann. (73) Das Gewohnheitsrecht entstammt nach GENYs Darstellung dem unbestimmten Kreis der Ausübenden, Interessierten, Rechtsunterworfenen. Es scheint unverständlich, wie man hierin eine  autorité  ayant qualité pour commander" [legitime Autorität zur Ausführung einer qualifizierten Befehlsgewalt - wp] erblicken kann, besonders, da die doktrinäre Meinung an einer anderen Stelle als autoritäre Rechtsquelle mit der Begründung abgelehnt wird, daß dem Gelehrten kein "caractére de publicité et pour ainsi dire, d'authenticité" [werbender Charakter und damit Echtheit - wp] zukommt (74). Ein solcher Charakter kann, scheint es, viel weniger den "Ausübenden" zukommen, als den Gelehrten. Diese oberflächliche Inkonsequenz im System, die sich ganz einfach beseitigen läßt, indem man der Gewohnheit den Titel einer autoritären Quelle nimmt, verrät inzwischen den tiefer liegenden Grundfehler: GENY hat den Drang gefühlt, das Gewohnheitsrecht mit einer ähnlichen Positivität auszustatten, wie das Gesetz, nämlich mit der sogenannten "force obligatoire absolue" (d. h. juridque), und hat da, obgleich sich das keineswegs mit seiner nicht-positiven Rechtsdefinition, speziell mit der Definition des Gewohnheitsrechts, vereinen läßt, ohne weiteres die Gewohnheit unter die autoritären Quellen eingereiht. Sicher hat die weniger präzise Terminologie "sources formelles" dazu beigetragen, diese Manipulation möglich zu machen.

Der Dualismus, der so notwendigerweise in GENYs Rechtsbegriff entstehen muß, weil er keiner positiven Methode folgt, kann wiederum entweder überwiegend soziologischen oder naturrechtlichen Charakters sein. Die soziologische Verwechslung tritt besonders zutage, wenn die faktische Gewohnheit - als eine wichtige soziologische, rechtschaffende Ursache - für eine Rechtsquelle ausgegeben wird. Das hängt mit der unten im englisch-historischen Teil näher behandelten Scheidung zwischen materiellen und formellen Rechtsquellen zusammen. AUSTIN zeigte, daß die sogenannten materiellen Quellen, d. h. Quellen des Rechtsinhalts, wie Religion, Gewohnheiten, moralische Vorstellungen,  Ursachen  sind, die bewirken können, daß ein gegebenes Recht mit gegebenem Inhalt zur Existenz gelangt. Sie sind dagegen nicht mehr Rechtsquellen, d. h. Erkenntnisgrund dafür, daß etwas als Recht Geltung hat, als eine kaiserliche Laune, die auf die Abfassung eines Gesetzes Einfluß gewinnen mußte. Ganz dasselbe gilt von gewissen nicht-autoritären Quellen GENYs (Gewohnheit, Doktrin), die als faktische Verhältnisse Einfluß auf die Entscheidung des Richters haben  können,  und, nach des Verfassers Meinung haben  müssen.  Von Rechtsquellen aber, einem Erkenntnisgrund für Recht, ist hier nicht die Rede.

Die naturrechtliche Anmaßung zeigt sich besonders, wenn GENY freie, "wissenschaftliche" Spekulationen über das "Rechtfertigte", "Nützliche", "Zweckmäßige", "Natürliche als Rechtsquellen anführt.

Glücklich - vielleicht - der Staat, dessen Rechtsordnung ein Bild der Theorien des Verfassers wäre. Man kann aber doch nicht umhin, zu glauben, daß dem Verfasser niemals ein Zweifel gekommen ist, ob denn auch die  Rechtswirklichkeit  dem entspricht, was er sich so als das Rechtfertigste und Vernünftigste ausgedacht hat. Aber das hängt vielleicht damit zusammen, daß GENY niemals verstanden hat, daß das Problem der Rechtsquellen eine Frage einer gewissen Rechtswirklichkeit ist, und daß er im übrigen ein Mann ist, dem es natürlicher ist, zu glauben, als zu zweifeln. Um ein Zitat des Verfassers selbst anzuwenden: "Wissenschaft oder nicht - wen interessiert das schon! Vor allem müssen wir leben." (75)

7. Unter den einzelnen Quellen nennt GENY zuerst und vor allem das  Gesetz  als autoritäre Rechtsquelle. Dieser Begriff wird positivistisch als der Wille der kompetenten Macht bestimmt. Wir wollen nun näher darauf eingehen, wie GENY die Stellung des Gesetzes im Verhältnis zu den übrigen Quellen bestimmt.

Das Gesetz, heißt es, ist eine menschliche Willensäußerung, die sich in eine sprachliche Form kleidet. (76) Hieraus leitet GENY ab, daß das einzige rationale Deutungsprinzip in Übereinstimmung mit der gesunden Vernunft und dem "raison d'être" [Daseinsberechtigung - wp] des Gesetzes das ist, daß man das Gesetz in Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers auslegt. (77) Abgesehen davon, daß man, wie so oft bei rationalen Prinzipien, die von dem einen oder anderen Begriff abgeleitet werden, schwer einsehen kann, welcher Art ihre Notwendigkeit ist, da eine entgegengesetzte Lösung faktisch wohl ebenso möglich ist, soll bemerkt werden, daß es überhaupt nicht möglich ist, dem Begriff "der Wille des Gesetzgebers" als psychischer Realität eine solche Formulierung zu geben, daß sie ein denkbares Auslegungsprinzip abgibt.

GENY weist selber die Möglichkeit zurück, daß man mit dem erwähnten Begriff den  vermuteten  Willen meint. Dieser führt über den Willen als psychologische Realität zu einem selbständigen normativen Gesichtspunkt, von dem aus bestimmt wird, was als des Gesetzgebers vermuteter Wille angesehen werden soll. GENY meint einen realen Willen (78). Abgesehen davon, daß man in unserer Zeit kaum von einem einzelnen gesetzgebenden Willen sprechen kann, da der Gesetzgeber ja keine psycho-physische Person ist, hat diese Auffassung noch andere Schwierigkeiten im Gefolge. Wenn man meint, das Gesetz dürfe nur in den Fällen Anwendung finden, die auf den Reichtagsverhandlungen während seiner Entstehung vorausgesehen wurden, dann gelangt man augenscheinlich zu gar zu unzureichenden Resultaten. Die einzige haltbare Formulierung des Willens des Gesetzgebers ist die, daß er bestimmt, daß der formulierte Gesetzentwurf Gesetz sein soll. Dieser Wille aber sagt nichts aus, setzt vielmehr ein außer ihm liegendes Deutungsprinzip voraus. GENY sieht sich dann auch gezwungen, seinem eigenen Prinzip untreu zu werden. Wenn er als Auslegungsdatum die "harmonie nécessaire" [notwendige Harmonie - wp] hervorhebt, die zutage tritt, wenn man den einzelnen Satz des Gesetzes als Teil eines Ganzen betrachtet, so bedeutet dieses Moment augenscheinlich eine Idealforderung, die von einem existierenden, wirklichen Willen unabhängig ist. (79)

Weiter wird die  Gewohnheit  als Rechtsquelle genannt. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß die Gewohnheit unter die autoritären Quellen eingereiht wird, obgleich keine Autorität angegeben wird, von der sie ausgeht. Die Behandlungsweise ist daher auch nicht positivistisch, wie hinsichtlich des Gesetzes. Hier begegnen wir dem ersten deutlichen Beispiel einer naturrechtlichen Rechtsquellenmethode. Obgleich man der Gewohnheit dieselbe absolut-bindende Kraft wie dem Gesetz beimißt, obgleich man wie auf ein Faktum sich darauf beruft, daß das Gewohnheitsrecht Rechtsquelle gewesen ist und noch immer ist, werden doch die Existenzbedingungen dieses  Faktums  aus  idealen  Überlegungen über soziale und ethische Vorteile bei einem Gewohnheitsrecht hergeleitet, d. h. aus einer Justifikation des Gewohnheitsrechts. Um dies zu "begründen" führt man drei Argumente an. Sie gehen zum Teil darauf aus, daß es mit Rücksicht auf eine gewisse Stabilität, Sicherheit und Gleichheit im Rechtsleben wünschenswert ist, zum anderen Teil darauf, daß es einem tiefen menschlichen Gefühl entspricht, schließlich zum Teil darauf, daß das Gewohnheitsrecht besonders wünschenswert ist, weil es angeblich die vortreffliche Eigenschaft hat, alle beteiligten Interessen zu befriedigen (80). Wir wollen hier nicht bei den materiellen Fehlern verweilen, die diese Argumente enthalten. Wir wollen nur darauf aufmerksam machen, daß in diesen Argumenten, ihrer Form nach, ausgesprochen wird, daß das Gewohnheitsrecht von gewissen Bewertungsmomenten aus als Gewohnheitsrecht  wünschenswert  ist. Das Gewohnheitsrecht wird justifiziert, wie GENY es zum wiederholten Mal ausdrückt (81). Wie kann man aber aus dieser  Wertqualifikation  schließen, daß das Gewohnheitsrecht auch  faktisch existiert,  Rechtsquelle  ist?  oder gar daraus seine Existenzbedingungen deduzieren? Das aber tut GENY. Seine Resultate müssen daher wegen seines Ausgangspunktes jeglichen Wirklichkeitswertes entbehren.

Im übrigen ist GENYs Lehre vom Gewohnheitsrecht nur eine Wiederholung der üblichen römisch-germanischen. Die Existenzbedingungen werden zusammengefaßt: in einem materiellen Element, einem langen, konstanten Gebrauch, und in einem psychologischen,  opinio necessitas (82). Die Bestimmung des letzteren Begriffs muß notwendigerweise dieselben Schwierigkeiten machen, wie sonst. LAMBERT hat nachgewiesen, daß GENY zwischen einer Glaubens- und Willensformulierung hin und her schwankt (83). Das soll hier nicht weiter verfolgt werden.

An dritter Stelle nennt er  autorité  und  tradition  als Rechtsquellen. Damit meint er eine doktrinäre Auffassung und Rechtspraxis, die als Tradition bezeichnet wird, wenn sie älter, als Autorität, wenn sie jünger ist, als der  Code civil. (84) Die Begriffsbildung selber verschleiert so den positiv wichtigen Unterschied, der sich aus der besonderen Autorität des Richters herschreibt, der aber von GENYs naturrechtlich-idealem Gesichtspunkt aus für irrelevant befunden wird (85). Der Ausgangspunkt ist auch in diesem Fall eine Justifikation. Doch werden Nützlichkeitsrücksichten nicht als überragend genug angesehen, um diese Quellen als autoritäre begründen zu können. Man glaubt die Frage auf dieser Basis allein nicht lösen zu können (86). Der Tradition wird eine Bindungskraft (force obligatoire) abgesprochen, da sie älter ist, als die Kodifikation (87). Auch den modernen Autoritäten kommt eine bindende Kraft zu. Soweit es die Gerichtspraxis anlangt, wird auf das Prinzip von der Trennung der Gewalten hingewiesen, das verbietet, in der Jurisprudenz eine Rechtsquelle zu sehen (88). Das Unrichtige an diesem Argument wurde oben eingehend klargelegt. Soweit es die doktrinäre Auffassung angeht, wird die Begründung gegeben, daß den Gelehrten ein Charakter der "Authentizität" [Echtheit - wp] nicht zukommt (89). Das ist ein Gesichtspunkt, der, wie erwähnt, konsequent dazu führen müßte, auch der Gewohnheit die Qualität einer autoritären Quelle abzusprechen. Im übrigen werden Tradition und Autorität als Quellen der allgemeinen Ordnung angesehen.

Als vierte und letzte, als große supplierende Rechtsquelle, wird "le libre recherche scientifique" genannt. Oben unter Nr. 5 haben wir eingehend nachgewiesen, wie unrichtig es ist, diese angebliche Quelle als ein  wissenschaftliches  Produkt auszugeben. Sie bedeutet in Wahrheit nichts anderes, als eine Sammlung moralischer Postulate subjektiv-metaphysischen Charakters. Sie verdient insofern keine ins einzelne gehende Besprechung. Für den Juristen ist alles gesagt, wenn wir auf den Methodensynkretismus und die Begriffsverwirrung hinweisen, die darin liegt, daß man diese Moralpostulate für Recht ausgibt.

Um der Vollständigkeit willen wollen wir jedoch kurz auf diesen Teil von GENYs Lehre eingehen. Seine Absicht ist, ein soziologisch-realistisches Element mit einem naturrechtlich-idealen in einer Synthese zu vereinen. In der "Mèthode d'Interprétation" wird der Ausgangspunkt im soziologischen Element gewählt. Die freie Rechtschaffung beginnt mit dem Begriff "la nature des choses" [Natur der Sache - wp], der sich auf das Postulat gründet, daß "Das soziale Leben enthält in sich selbst die Bedingungen für sein Gleichgewicht und setzt so die Norm, durch die es regiert werden sollte." Aber selbst die allerminutiöseste Analyse der sozialen Verhältnisse ist doch, auf sich selbst gestellt, nicht imstande, diese Norm aus sich heraus zu analysieren. "Wir müssen außerhalb nach den Fakten schauen, um das Gesetz der Harmonie zu entdecken." (90) Damit erfolgt der Übergang zu den rein idealen Spekulationen. Dementsprechend zerfallen die Ausführungen in zwei Teile: a) "Die freie Untersuchung der Elemente aus dem Gewissen und der Vernunft" (91) geht darauf aus, die obersten rationalen und idealen Prinzipien zu bestimmen. Dem entsprechen in der "Science et Technique" die "rationalen und idealen Gegebenheiten". Wie oben geschildert, ist das Mittel, mit dem diese Prinzipien festgestellt werden, subjektiver Glaube, Intuition. Die höchste Begründung ist ein Hinweis auf das Gewissen. Die Behauptungen entziehen sich damit jeder Diskussion. Auf Grund dieses Glaubens und anderer obskurer Seelenkräfte postuliert GENY eine Reihe Rechtsprinzipien von größerer oder geringerer Evidenz und bindender Kraft (92). Zu oberst steht  la justice en soi [die Gerechtigkeit selbst - wp] die mit einer  force obligatoire absolue [absoluten Bindungskraft - wp] auftritt. Sie stützt sich auf Analysen des ARISTOTELES' und des heiligen THOMAS von AQUIN. Ihre Essenz wird auf bekannte, nichtssagende Phrasen zurückgeführt:  suum cuique tribuere, alterum non laedere [andere nicht kränken oder schädigen, jedem das Seine zugestehen - wp] (ne fait pas tort á personne [niemandem schaden - wp]), die beide das Recht voraussetzen, das sie ausdrücken sollen. In zweiter Linie kommen eine Reihe Postulate, die sich auf "die eminente Würde der menschlichen Person" gründen, und auf das Recht, sich seiner Bestimmung gemäß zu entwickeln, ohne jedoch das Recht anderer zu beeinträchtigen. Hierhin gehört die wesentliche Grundlage für die familienrechtliche Ordnung. In dritter Reihe kommen, an Zahl wachsend, eine Menge Regeln teils persönlicher, teils ökonomischer Natur, wie das Verbot der Sklaverei, die Pflicht, den durch Schuld verursachten Schaden zu ersetzen, die Pflicht eine Bereicherung zurückzuerstatten, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Existenz usw. Sie sind, heißt es, weniger sicher, als die vorhergehenden. Daraus ersieht man leicht, daß die angegebenen Maximen entweder, wie die obersten, völlig nichtssagend sind, oder, wie die niedrigeren, willkürlich und jeder Begründung oder Diskussion entzogen.

b) "Positive Elemente einer freien Untersuchung" (93) setzen, wie erwähnt, für die Bestimmung ihrer Harmonie ein ideales Gesetz über die Tatsachen selber voraus. Man kann daher nur staunen, wenn GENY erklärt, daß das einzige sichere Indiz für dieses Gleichgewicht in den gegebenen positiven Organisationen zu finden ist (94). Da diese als Fakta in hohem Maße im Widerspruch zum Ideal stehen können, so scheint es ein wunderlicher Weg, nach diesem zu streben. In Wirklichkeit unternimmt GENY eine Manipulation, um gewisse soziologische, rechtsdeterminierende Faktoren in sein System einzufügen. Als positive Organisationen, die eine Basis für eine Rechtsbildung abgeben können, verweist GENY auf die rechtlichen, die eine Basis für die Analogie bilden, auf die positiv-politische und auf die ökonomische. Schließlich beruft er sich auf alle Wissenschaften, die über die Verhältnisse des sozialen Lebens Aufschluß geben können, in erster Reihe die Soziologie, sodann die Ethik, Psychologie, Geschichte usw.

Es wäre nicht zu rechtfertigen, daß der Leser mit einer so ausführlichen Darstellung und Kritik der Rechtsquellenlehre GENYs ermüdet wurde, wenn es nicht deshalb geschehen wäre, weil sein Werk darüber als das Standardwerk der französischen Literatur auf diesem Gebiet angesehen werden muß.

Als Beispiel für die soziologisch orientierten Reformbestrebungen der Richtung SALLEILEs sollen EDUARD LAMBERTs "Ètudes de droit commun législatif" besprochen werden, die zu dem Besten gehören, was in der französischen Literatur über die Rechtsquellen geschrieben wurde.

8. Wie es in Frankreich allgemein der Fall ist, versteht auch LAMBERT unter "science de droit" Rechtspolitik, "l'art juridique". Er gibt aber ausdrücklich das Unrichtige in diesem Sprachgebrauch zu (95). Seine Bestrebungen gehen, im Gegensatz zu GENYs Metaphysik, darauf aus, eine positive, empirische Soziologie an die Stelle des Naturrechts zu setzen, um die soziale Pflicht zu bestimmen.
    "Die rechtliche Offenbarung in seiner doppelten Form, dem römischen Recht und einem unveränderlichen Naturrecht verankert in einem individuellen Bewußtsein, kann diesen Dienst nicht leisten. Sie verpflichtet und dazu einen Anachronismus [falsche Einordnung - wp] vorzunehmen, um dadurch dem Druck zu entgehen. Die Inszenierung ist nur allzu durchschaubar. Es handelt sich vielmehr um eine Versuchung. Es ist höchste Zeit, daß sie verschwindet. Wir sind an einem Punkt, der eine Richtungsänderung erfordert hin zur Entdeckung der sozialen Pflicht, wie sie in allen soziologischen Wissenschaften vorhanden ist." (96)
Es heißt, daß der Gesetzgeber in unserer Zeit modern und praktisch geworden ist. "Die Nachfolge des Ideals des Naturrechts sind Nützlichkeitserwägungen." (97) Die Aufgabe der Doktrin wird so bestimmt: "als Führer eine juristische Bewegung in Gang setzen, um das Recht, das nötig ist, hervorzubringen." (98) So tritt die Soziologie gänzlich an die Stelle des Naturrechts. Um seine Aufgabe zu erfüllen, muß sich der Jurist deshalb an die sozialen Wissenschaften wenden
    "Die Sozialwissenschaften ... sollten immer mehr den Politiker die Vor- und Nachteile aufzeigen, die möglicherweise in der Gesellschaft auftreten werden, so daß sich Alternativen anbieten, zwischen denen man sich entscheiden kann". (99)
Als besonders wertvoll für diesen Zweck wird  le droit comparé  [Rechtsvergleichung - wp] genannt, das aus zwei getrennten Disziplinen besteht (100).

Die erste von ihnen,  histoire comparative [vergleichende Geschichte - wp] ist ein Teil der beschreibenden Soziologie und bildet - durch vergleichendes Studium der Sukzessionsverhältnisse, die zwischen juristischen Phänomenen bestehen - die Grundlage für die Erkenntnis der Ursachen der juristischen Variationen, der naturwissenschaftlich-soziologischen Gesetze, die diese beherrschen.

Die andere Disziplin,  législation comparée [vergleichende Gesetzgebung - wp], ist keine reine Wissenschaft, sondern eine Kunst (art), eine Technik, die aufgrund der in der ersten Disziplin gewonnenen Resultate ein praktisches Ziel verfolgt. Sie ist eines der Mittel zur zielbewußten Erkenntnis des positiven Rechts. Wie man sieht, fallen diese beiden Disziplinen unter die Gruppen, die wir oben (I, 3) Rechtssoziologie und Rechtstechnologie nannten.

Insofern LAMBERT so die Soziologie an die Stelle des Naturrechts setzen will, begeht er einen Fehler, der sich häufig in der modernen französischen Soziologie findet. Indem er die Soziologie zu einer  normativen  Wissenschaft macht, unterliegt er einem methodischen Irrtum. Die Soziologie wird als eine Kausal-Naturwissenschaft konstituiert und kann deshalb höchstens zu einer Technologie führen, nicht zu einer echten Normenlehre. Es ist deshalb unrichtig, wenn LAMBERT meint, auf Grundlage der soziologischen Wissenschaften die  soziale Pflicht, Vorteile  und  Mängel  einer juristischen Lösung, wie das Recht  sein soll,  bestimmen zu können. All dies setzt Bewertungsgesichtspunkte voraus, die mit einer naturwissenschaftlichen Methode inkommensurabel sind. Diese Bestimmungen setzen einen Wertmesser voraus - also ein Naturrecht im Keim. Einen solchen findet man in LAMBERTs Darstellung, wenn er sich auf "l'équité et l'utilité" [Billigkeit und Nutzen - wp] beruft:
    "Ohne Zweifel muß es für jedes Problem eine Lösung geben, die dem heutigen Stand der Sitten und ihren Ansprüchen an Gerechtigkeit und allgemeinem Nutzen mehr als alles andere entspricht; es muß zwischen den Dingen eine notwendige Beziehung geben. Verglichen mit allen möglichen Instrumenten, die verwendet werden, um die aktuellen Anforderungen an Billigkeit und Allgemeinwohl miteinander in Einklang zu bringen, ist das Zivilrecht das am häufigsten verwendete, aber am wenigsten perfekte." (101)
Dieser Bewertungsstandpunkt aber entbehrt der Notwendigkeit. LAMBERT erklärt wohl, daß er, im Gegensatz zu PETRAZYCKI, mit dem "Nützlichkeitsmaßstab" "zufrieden" ist (102). Aber PETRAZYCKI kann mit ebenso großer Berechtigung erklären, daß er damit nicht zufrieden ist. Der Maßstab besitzt keine objektive Notwendigkeit, und die subjektive Zufriedenheit hat in der Wissenschaft keinen Platz. LAMBERTs Bewertungsgesichtspunkt fällt außerhalb der Soziologie. Entweder also muß man sich an das Naturrecht (die Ethik) wenden, um zu versuchen, einen gewissen höchsten Wert als objektiv notwendig zu verifizieren, oder man muß (und das ist vielleicht in Wirklichkeit LAMBERTs unrichtig ausgedrückter, richtiger Gedanke) jede Wertbestimmung aufgeben und sagen, daß die Rechtssoziologie und die durch sie begründete Rechtstechnologie, keine Mittel gibt, das Recht zu bestimmen, das  sein soll,  sondern nur das, das man  haben  will; daß sie nicht über irgendeine  soziale Pflicht  Aufklärung gibt, sondern nur darüber, wie man eine Rechtsprechung einrichten muß, um ein gewisses vorausgesetztes, willkürliches Ziel zu erreichen. Auch der Herrscher in einem Räuberstaat oder ein grausamer Tyrann kann mit Nutzen Soziologie studieren und ein vergleichendes Recht anwenden. Man muß der Rechtssoziologie jeden Schein einer (echten) Normwissenschaft nehmen. Soweit sie sich einen solchen anmaßt, ist sie ein maskiertes Naturrecht. Die französische moderne Soziologie hat einen Anstrich von Unaufrichtigkeit, sofern sie sich nicht dazu bequemen kann, konsequent die negativen Schlüsse aus ihrem eigenen Ausgangspunkt zu ziehen (103).

9. Als Einlage behandelt LAMBERT in seinen Untersuchungen über eine soziologische Rechtspolitik das  Problem  des Gewohnheitsrechts (die "Einlage" umfaßt die Seiten 111-804). Er behandelt dieses Problem, um das Anwendungsgebiet der politischen Forderungen zu bestimmen (104). Falls das Gewohnheitsrecht nicht, wie man gewöhnlich annimmt, unreflektiert als Wirkung obskurer Naturkräfte entsteht, falls auch diese Rechtsbildung ein Eingreifen des bewußten Willens voraussetzt, umfassen die rechtspolitischen Forderungen nicht allein die Gesetzgebung, sondern auch die bewußte Tätigkeit beim Entstehen des Gewohnheitsrechts. Hieraus folgt, daß LAMBERTs Problemstellung soziologisch ist. Der Verfasser sucht festzustellen, welche sozialen Faktoren bei der Entstehung des Gewohnheitsrechts mitwirken. Die formale Frage, woran man erkennen kann, daß etwas Recht ist, berührt die Aufgabe des Verfassers nicht.

Zuerst stellt der Autor die übliche, römisch-kanonische Gewohnheitsrechtslehre dar. Nach ihr gründet sich die Gewohnheit auf ein doppeltes Moment. Einmal ein objektives: eine gewisse faktische Ausübung, und dann ein inneres-psychologisches: opinio necessitatis, die "Rechtsüberzeugung", ein Glaube an oder ein Wille zum rechtlichen Charakter der Gewohnheit. Wie man sieht, gibt es viele Formen für die nähere Formulierung des psychologischen Elements. In Bezug auf diesen Punkt scheidet LAMBERT zwischen drei Hauptgruppen von Theorien (105). Zuerst die römische, die das psychologische Element als eine stillschweigende Einwilligung des Volkes bestimmt - tacitus consensus populi  [stillschweigende Zustimmung der Menschen - wp]. Sodann die Lehre von der historischen Schule, die im erwähnten Element einen Ausdruck für den "Volksgeist" sieht. Schließlich eine moderne Auffassung, die sich auf das Rechtsgefühl und die freiwillige Zustimmung der "Interessierten", "Ausübenden" gründet. Nach letztgenannter Theorie soll der eminente sachliche Wert des Gewohnheitsrechts eben darin bestehen, daß es notwendigerweise alle beteiligten Interessen befriedigt (siehe GENY). Soziologisch gemeinsam ist allen diesen Formen, daß man das Gewohnheitsrecht als ein unbewußtes, unreflektiertes Produkt ansieht, das, sozusagen, auf  integrale  Weise durch die faktischen Gewohnheiten und die psychologische Einstellung einer Gruppe entsteht.

LAMBERTs Kritik dieser Lehre läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen.
    1. Was zunächst die römische und die moderne Formung der Lehre anbetrifft, so zeigt der Verfasser, daß diese eher als Versuche einer rationalen Justifikation anzusehen sind, als einer wissenschaftlichen Analyse (106). (Das stimmt mit meiner Kritik  Genys  siehe oben überein.)

    2. Sodann wird gesagt, es sei fiktiv, zu behaupten, daß das Gewohnheitsrecht durch eine glückliche Harmonie des Willens entsteht. Es ist ein Sophismus, wenn man sagt, daß auch "ceux qui éventuellement souffrent" [diejenigen, die darunter leiden - wp] freiwillig zustimmen, so daß die Interessen aller befriedigt werden.
      "Öffnen Sie die Augen, um sich zu überzeugen, daß die brennenden Interessenkonflikte, die heute zwischen den verschiedenen Kategorien von Mitgliedern der Gemeinschaft entstehen, z. B. zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Gläubiger und Schuldner, zwischen legitimen Familiennachkommen und bloß natürlichen Kindern, nicht von selbst abklingen durch gegenseitige Handlungen der Selbstverleugnung oder durch eine Reihe gegenseitiger Zugeständnisse. Es braucht eine eingreifende Autorität, um die Konflikte zu beenden und die ergibt sich nicht einfach so spontan." (107)
    3. Die Hauptargumente werden aus einer Reihe eingehender soziologisch-historischer Studien über die Existenzbedingungen des Gewohnheitsrechts geholt. Diese Untersuchungen dokumentieren, daß das Gewohnheitsrecht zu allen Zeiten unter bewußtem aktivem Eingreifen von Seiten der "Experten" entstanden ist, mag es nun der moderne Richter sein, oder die Zauberer der primitiven Gemeinwesen, Priester, Pontifexe oder Gesetzesausleger.
LAMBERT weist darauf hin, daß in der angelsächsischen Rechtswelt das Gewohnheitsrecht - das hier eine besonders hervorragende Rolle als  common law  und  equity  spielt - eben durch eine jahrhundertlange Praxis entstanden ist, wenn man auch zu BLACKSTONEs Zeit den Anschein erwecken wollte, als erklärte der Richter nur ein vorgefundenes Recht (108).

Was die primitiven Gemeinwesen angeht, so weist der Verfasser zuerst darauf hin, daß "die drei Pioniere der Wissenschaft der vergleichenden Rechtsgeschichte  Sumner-Maine, Post  und  Kohler ... darin übereinstimmen, daß es unmöglich ist, die Rechtsbräuche von der Anwendung des Rechts zu isolieren." (109)

Im Übrigen schildert LAMBERT auf eigene Hand ausführlich die Geschichte und Soziologie des Gewohnheitsrechts im hebräischen, islamischen, römischen, wie auch dem frühen französischen und germanischen Rechtsstaat. Der Raummangel gestattet es leider nicht, näher darauf einzugehen. Als Résumé dieser Untersuchungen kann der Verfasser feststellen, daß die Rechtspraxis zu allen Zeiten eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des Gewohnheitsrechts gespielt hat. In größerem oder geringerem Maße übernimmt diese von den extra-judiziellen Gewohnheiten ein Rohprodukt; das Gewohnheitsrecht entsteht aber erst, nach die Praxis diese Rohmaterial bearbeitet hat.
    "Die Rechtsprechung spielt bei der Ausarbeitung des Gewohnheitsrechts eine ähnliche Rolle wie der Arbeiter und die Industrieanlagen bei der Verarbeitung des Rohmaterials zum hergestellten Produkt." (110)
Zu LAMBERTs schönen Ausführungen über das Gewohnheitsrecht will ich nur bemerken, daß sie in ihrer soziologischen Form für das positiv-rechtstheoretische Problem, das uns interessiert, nicht entscheidend sind, wie vortrefflich und wichtig sie auch für eine soziologische Untersuchung sein mögen. Das soziologische und das rechtstheoretische Problem ist zweierlei. So hindert nichts, daß man von einem soziologischen Standpunkt aus die römisch-kanonische Theorie gutheißen kann, und doch den prä-judiziellen Gewohnheiten den Charakter einer Rechtsquelle nicht zuerkennt. Die Anerkennung der soziologischen Kritik LAMBERTs zwingt also keineswegs dazu, daß man die übliche Gewohnheitslehre von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus bekämpft. (AUSTINs Kritik war eben rein analytisch.) Umgekehrt kann man LAMBERTs Kritik gutheißen und doch annehmen, daß schon die faktischen Gewohnheiten Rechtsquelle sind. Zwischen den beiden Gesichtspunkten besteht kein notwendiger Zusammenhang. Etwas anderes ist es, daß sie einander als Kritik der römisch-kanonischen Lehre, die ein Konglomerat [Gemisch - wp] beider Methoden ist, natürlich ergänzen.

Es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß die Scheidung LAMBERT selbst nicht völlig klar gewesen ist. Wenn der Verfasser behauptet, daß die Intervention der Jurisprudenz "indispensable" [wesentlich - wp] ist, um die einfachen Gewohnheiten in wirklichen juristischen  Coutume [Brauch - wp] zu verwandeln, oder daß die extra-judizielle Praktik ein Material sammelt, das die Jurisprudenz meistens bloß mit dem Stempel ihrer Billigung versieht, um es in Recht umzuformen (111), - so ist das zwar vollkommen richtig, nur leider keine soziologische Betrachtung. Die  Transformation,  von der hier die Rede ist, kann nicht bei einer kausal-naturwissenschaftlichen, sondern nur bei einer analytischen Betrachtung vorgenommen werden. In demselben Augenblick, in dem man einräumt, daß eine weitere Bearbeitung des betreffenden Stoffes, soweit sie den Inhalt angeht, nicht zu erfolgen braucht, sondern nur eine "Form"veränderung, eine "Transformation" zum Rechtlichen durch den Stempel der richterlichen Bildung - in demselben Augenblick denkt man bei der Wirksamkeit des Richters nicht mehr an eine wirkende Ursache, sondern an ein Element, das infolge einer Begriffsanalyse als Erkenntnisgrund für das Gewohnheitsrecht notwendig ist.


Résumeé.

Als Résumé des Obigen ergibt sich, daß sich in der französischen Theorie kein einziger Beitrag findet, der die Theorie der Rechtsquellen von einer rechtstheoretischen Problemstellung aus behandelt. Man hat in Frankreich die Möglichkeit oder Notwendigkeit dieser Problemstellung überhaupt nicht verstanden. Soweit die Theorie nicht  um das Problem herumgeht,  indem sie positivistisch auf "das Recht, das faktisch existiert", auf die "Sätze der kompetenten Macht" oder dergleichen hinweist, ist die Methode entweder  soziologisch  oder  naturrechtlich  in der Bedeutung, die oben (I, 3) diesen Begriffen beigelegt wurde. Die soziologische Methode wiederum enthält eine verborgene naturrechtliche. Der vorherrschende gemeinsame Charakterzug ist infolgedessen eine  Disharmonie im Rechtsbegriff und der Rechtsquellentheorie.  Einem obersten soziologisch-naturrechtlichen Rechtsbegriff gegenüber ist man gezwungen, die  Positivität des Gesetzes  in vollkommener Disparität [Nebeneinander von Ungleichem - wp] hiermit anzuerkennen. Die  übrigen Rechtsquellen  hingegen werden durch Deduktion aus dem nicht-positiven Rechtsbegriff bestimmt.

Dieser innere Widerspruch, der selbst bei einer immanenten Betrachtung zutage tritt, muß der französischen Theorie einen tiefer liegenden Fehler anzeigen. Es ist der hier nachgewiesene methodische.

Dieser methodische Fehler verbindet sich mit einem politisch-dogmatischen. An MONTESQUIEUs Lehre von der Trennung der Gewalten gefesselt, hält man am  Dogma von der vollständigen präjudexiellen Rechtsordnung  fest. Dieses Dogma aber verhindert eine richtige Auffassung von der Bedeutung der Rechtspraxis für die Theorie der Rechtsquellen.



E x k u r s u s
[Näheres zur Beleuchtung des Dualismus
im französischen Rechtsbegriff.]

GENY wurde im Vorhergehenden (Nr. 5-7) behandelt. Seine Methode ist überwiegend naturrechtlich.

DUGUIT behauptet, es existiere ein Recht, das über dem Staat steht, andernfalls würde die Rechtswissenschaft nicht ihren Namen verdienen (112. Alles was er geschrieben hat, zielt darauf ab, diese "droit objectif" "supérieur a l'Ètat lui-même" [objektive Recht, Staatshoheit ansich - wp] zu beweisen und die deutsche Theorie zu bekämpfen, nach der das Recht vom Staat ausgeht. Seine Methode, die mit positiven Gesichtspunkten durchsetzt ist, ist teils eine  soziologische,  teils eine  naturrechtliche. 

Sie ist  soziologisch  insofern DUGUIT mit seiner Behauptung, das Recht sei nicht vom Staat geschaffen, ausdrücken will, daß es nicht auf der freien Laune der Regierenden beruht, sondern soziologischen, rechtsdeterminierenden Ursachen unterliegt. Zum Beispiel:
    1. wenn  der Verfasser behauptet, daß nicht der französische "Staatswille", sondern der einige und beharrliche Wille der einzelnen Franzosen den Krieg gegen die deutsche Barbarei durchführte oder einen verbrecherischen Streik niederschlug (113). Das soll besagen: daß ein gewisser psychologischer Zustand im französischen Volk die soziologische Bedingung dafür gewesen ist, daß die Rechtsregeln, durch die der französische Staat Kriegsakte und dergleichen normierte, überhaupt Existenz gewinnen konnten, und vielmehr praktisch durchgeführt wurden.

    2. wenn  er lehrt, daß die Einmischung des Staates nicht ausreicht, um einer Regel den Charakter einer Rechtsregel zu verleihen (114). Als Beispiel wird angeführt, daß das Gesetz vom 5. April 1910 über eine zwangsmäßige Altersrente für Arbeiter und Bauern toter Buchstabe geblieben ist: man konnte es nicht durchführen. Das soll besagen: daß das Machtgebiet, auf dem der Gesetzgeber wirkungsvoll Gesetze geben kann, durch gewisse soziale, rechtsdeterminierende Kräfte beschränkt wird, die nachzuweisen Aufgabe der Soziologie ist. Und

    3. wenn Duguit  lehrt, daß das Recht spontan in "la conscience juridique collective" [kollektives juristisches Bewußtsein - wp] entsteht (115). Hiermit wird eben eine der erwähnten sozialen Kräfte angegeben - wenn eine solche gemeinsame Auffassung überhaupt existiert, was nicht sehr oft der Fall sein wird.
Die Verwechslung ist dagegen  naturrechtlich,  insofern DUGUIT mit der Behauptung, daß das Recht nicht vom Staat geschaffen ist, ausdrücken will, daß ein moralisch verpflichtender Grund für eine Regel nicht in ihr zu finden ist. Zum Beispiel:
    1. wenn Duguit  entrüstet die deutsche Theorie bekämpft, daß das Recht vom Staat ausgeht (les gouvernants, les plus forts [Regierung als stärkste Macht - wp] (116), weil das Recht sich damit auf die Macht begründet.

    2. wenn Duguit  lehrt, daß es bei primitiven Völkern ein Recht gibt, bevor von einer Staatenbildung und Gesetzgebung die Rede ist (117), denn die Frage ist eben, ob das "Recht", das sich dort findet, etwas anderes ist als Moralität (und Konvention). Und

    3. wenn  es heißt, die Rechtsregel hole ihre "force obligatoire" [Bindungskraft - wp] von "la conscience juridique" [juristischem Bewußtsein - wp] (118).
Außer dem bereits nachgewiesenen soziologischen liegt darin auch ein moralischer Gesichtspunkt: das Entscheidende ist das kollektive Rechtfertigkeitsgefühl. Selbst dem positiven Recht schuldet man keinen Respekt, wenn es gegen die kollektive Rechtfertigkeitsauffassung streitet. (119)

Trotz dieser überstaatlichen Rechtsbestimmung ist DUGUIT doch genötigt, die Positivität des Gesetzes anzuerkennen.

Zum ersten wird die Scheidung zwischen normativen und konstruktiven Rechtsregeln eingeführt. Die konstruktiven sind die, die zum Zweck haben, die Durchführung der anderen zu sichern, die normativen sind diese anderen (120). Abgesehen davon, daß diese Scheidung sicher als durchgängig relativ undurchführbar ist, hat sie jedenfalls die Bedeutung, in hohem Grad die Lehre DUGUITs, daß das Recht nicht vom Staat geschaffen wird, zu modifizieren. Es wird nämlich zugegeben, daß die konstruktiven Regeln staatsgeschaffen sind. Da weiter der  Code civil  (abgesehen vom Familien recht) nur drei eigentliche Normen enthalten soll, so bleibt ein sehr bedeutender Raum für das staatsgeschaffene Recht (121).

Ein anderer Punkt ist noch wichtiger. DUGUIT gibt direkt die Positivität des Gesetzes zu:
    "Wenn das positive Recht in Kraft tritt, ist der Beamte offiziell in seinem Wirkungsbereich begrenzt, er kann nichts tun, was gegen die gesetzliche Regelung geht. Jeder Beamte untersteht der Hierarchie des Gesetzgebers. Der moderne Geist zeigt sich in diesem Entwurf, der zu einer unzweifelhaften Rechtsnorm geworden ist." (122)
Hiermit wird das Gesetz als unbestreitbare juristische Norm anerkannt, ungeachtet seiner Übereinstimmung mit  la conscience juridique.  Die Einheit des Rechtsbegriffs ist gesprengt.

Diese Sprengung ist kein Zufall. Sie mußte sich notwendigerweise aus DUGUITs Rechtsbegriff entwickeln. Er geht durchaus richtig davon aus, daß die Rechtsregel eine soziale Norm ist, und daß ihr besonderer Charakter auf der Eigenartigkeit der Sanktion beruth, die im Fall ihrer Übertretung eintritt (123). So ist weder die ökonomische noch die moralische Norm Recht. Sie kann aber zu Recht werden, wenn die Sanktion verändert wird. Die entscheidende Veränderung wird so beschrieben: Die Norm wird Recht, wenn "die breite Masse der Menschen einsieht, daß beim Verstoß gegen eine Regel gewaltsam eine Strafe folgt, um die Herrschaft der Regierung zu sichern." (124). Es ist indessen klar, daß diese Sanktion nur einen Gradunterschied von der gewöhnlichen moralischen Mißbilligung ausdrückt. Daß die Macht als Sanktion  angewendet werden soll  ist nämlich nicht dasselbe wie, daß sie bereits  angewandt wird.  Die Formulierung deutet so über sich selbst hinaus auf eine andere Sanktion hin, die von der angegebenen wesensverschieden ist: die Anwendung der Macht. Hieraus folgt, daß die Regel in demselben Augenblick, in dem die Macht  faktisch  als Sanktion eingesetzt wird, eine wesensverschiedene Sanktion erhält. Das bedeutet, daß die Regel positiv wird. DUGUITs Rechtsdefinition selber enthält so in sich die Notwendigkeit, eine Gruppe wesensverschiedener Normen anzuerkennen, die in noch höherem Grad auf die Bezeichnung "rechtlich" Anspruch erheben: die positiven Rechtsnormen. Der Dualismus ist damit unvermeidlich.

Auch GASTON MAY gibt eine naturrechtliche Rechtsdefinition. Es ist die Rede von "Rechten des Einzelnen, die über denen des Staates stehen". Doch wird das positive Recht als "das derzeit geltende Recht, das einem Volk verordnet wurde" anerkannt. (125)

BERTHÉLEMY schreibt vom Gesetzgeber: "Die Theorie ist auf die richtige Anwendung des Rechts beschränkt", er erkennt aber eine Positivität in einem Umfang an, der diese ideale Definition nichtssagend macht. Er fügt hinzu: "In der Praxis ist es möglich, wo die entsprechende Anerkennung gegeben ist, den Volksgeist zu antizipieren und mit ihm übereinzustimmen." (126).

Le FUR behauptet, daß "L'État n'est pas le créateur du droit" [Der Staat ist nicht Schöpfer des Rechts - wp]; aber er fügt hinzu, daß hierunter nicht nur positives Recht, sondern auch das Recht selbst, "le droit naturel" [Naturrecht - wp] zu verstehen ist. Hiermit wird implizit das positive Recht anerkannt. Dies geschieht ausdrücklich, wenn er sagt, daß der Staat als freie Person imstande ist, die Prinzipien zu brechen, die ihn binden, und gegen das Recht zu handeln (127).

HAURIOU erkennt zwei Arten Recht an: "le droit qui découle de la régle de justice" [Recht, das durch die Herrschaft des Rechts anerkannt wird - wp] und "le droit qui procéde de la souveraineté gouvernamentale" [das Recht, das durch die Souveränität der Regierung ausgeführt wird - wp]. Es kann geschehen, daß diese gegeneinander streiten. In solchen Fällen verlangt die öffentliche Ordnung, daß die Befehle der Regierung befolgt werden, jedenfalls provisorisch, bis ein neues Gesetz oder eine Entscheidung die  Präsumtion [Annahme - wp] umgestoßen hat, daß die Handlungen der Regierung in Übereinstimmung mit "la justice" stünden. Da diese Präsumtion so nur durch einen positiven Rechtsakt entkräftet werden kann, so ist das gleichbedeutend mit einer Anerkennung der unbedingten Positivität des Gesetzes. (128)
LITERATUR Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. XIII, Leipzig 1929
    Anmerkungen
    1) Vgl. DUGUIT, L'Etat, Seite 328f. - BEUDANT, Le droit individuel, Seite 156 und 162.
    2) MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze, VI. Buch, Kap. 3 und XI. Buch, Kap. 6
    3) Tribunal de Lyon; se FENET, Recueil complet des travaux préparatoires du code civil, Paris 1836, tome IV. 27, 35.
    4) BARNAVE, Archives parlémentaires, 1iere série, XV. 410
    5) a. a. O. 1iere série VIII. 330-331.
    6) a. a. O. 1iere série VIII, 440f, sp. 446 (Art. 9)
    7) a. a. O. 1iere série XX. 516.
    8) Vgl. zum folgenden GENY, Méthode, 77f, 84f. CARRÉ de MALBERG, Contribution, 719f.
    9) a. a. O. 1iere série XX. 336
    10) Über die Entstehung des  Code civil  siehe FENET in Anmerkung 3
    11) FENET, a. a. O., Bd. I, Seite 110f. Die 297 Paragraphen des Entwurfs füllen 30 gedruckte Seiten; ein Paragraph ist oft nur eine Zeile lang.
    12) BONNECASE beklagt dieses Faktum, "Themis", Seite 70: "Die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzbuchs ist sehr komplex; politische Ereignisse zügeln die Gedanken und es wird schließlich ein konservatives Gesetzbuch das Frankreich erteilt wird" - wozu vielleicht bemerkt werden kann, daß der  Code civil  kaum die Restauration überlebt hätte, wenn er ein vollgültiger Ausdruck für die Ideale von 1789 gewesen wäre.
    13) FENET, Recueil, Bd, I, Seite 463f; siehe ferner Bd. VI, Seite 33, 243, 344 u. a.
    14) Ein Beispiel dafür, wie unrichtig es ist, von  einer  Rechtswissenschaft und den Bezeichnungen "historische Schule" und "Naturrecht" als eindeutigen, ausschließenden Begriffen zu sprechen.
    15) FENET, Recueil VI, 38 und 42; I. 476. II, 3f, I. 467 und VI. 359; V. 92, 456, 459-460; VI. 150, vgl. 150-170; I. 474 und V. 456.
    16) Der Artikel 4 des  Code civil  wurde in Deutschland mißverständlich als ein klassischer Ausdruck für "die logische Geschlossenheit des Rechts" aufgefaßt. So RADBRUCH, Grundzüge, 187-188.
    17) Vgl. GENY, Méthode d'Interprétation, Bd. I, Seite 92f.
    18) Vgl. CHARMONT et CHAUSSEE, Les interprétes du Code civil. Livre de Centenaire, Seite 140f, vgl. Seite 139; GENY, Méthode d'Interpretation, Bd. I, Seite 23-24.
    19) TOULLIER, Le droit civil francais suivant l'ordre du Code 1811, préface; zitiert nach BONNECASE, "Thémis", Seite 111-112.
    20) vgl. weiter oben, wo die bekanntesten Repräsentanten erwähnt sind.
    21) Siehe auch CHARMONT et CHAUSSEE. Les interprétes, Seite 152f; LAMBERT, Etudes, Seite 16f und 820f.
    22) siehe GENY, Méthode I, Seite 37-38
    23) BLONDEAU in "L'Académie des sciences morales et politiques", 1841. DEMOLOMBE, Cours I, Nr. 113; HUC, Commentaires I, Nr. 179; vgl. GENY I, Seite 39.
    24) L'Enseignement supérieur en France de 1789 à 1893, t. II (1894), Seite 397.
    25) ESMEIN, Le jurisprudence et la doctrine, 9-10: "Die tatsächliche Rechtssprechung und ihre Lehre waren wie zwei rivalisierende Schwestern, die aufeinander neidisch waren. Die Lehre, besonders die, die an den Lehrstühlen der Schulen verbreitet wurde, war ein wenig stolz und nicht willens, sich der Gefahr der Kommerzialisierung durch die Jurisprudenz aussetzen zu lassen. Da war keine unneigennützige Wahrheit, keine Reinheit der Prinzipien und auch keine Strenge des Verfahrens? Was war das überhaupt?"
    26) LAMBERT, Etudes, Seite 17
    27) ESMEIN, La jurisprudence et la doctrine, Seite 10
    28) CHARMONT et CHAUSSEE, Les interprétes du Code civil. Livre de centenaire, Seite 164.
    29) BROCHER de la FLÉCHÈRE, Le droit coutumier et la philosophie du droit
    30) ESMEIN, a. a. O.
    31) LAMBERT, Etudes (siehe hierüber unter Nr. 8 und 9)
    32) siehe GENY, Science et technique I, Seite 29-30.
    33) Le Code civil et la méthode historique, Livre de centenaire I, Seite 95f.
    34) CRUET, La vie du droit et l'impuissance des lois; Le-Roy, La loi. Über die Literatur siehe im übrigen GENY, Science et technique I, Seite 31-33 mit Anm.
    35) siehe besonders Ecole historique et droit naturel
    36) SALEILLES, Ecole historique et droit nat., bzw. Seite 106, 108, 109.
    37) ARTUR, Sépération des pouvoirs et des fonctions, Seite 226 und 227.
    38) De l'exercise de la souveraineté, Seite 210
    39) siehe CARRÈ de MALBERG, Contribution, Seite 700, wo ähnliche Zitate von MOREAU und MICHOUD angeführt werden.
    40) Contribution, Seite 699f, besonders 707, 716, 745.
    41) Traitè, Seite 83: "Ihre (der Richter) Entscheidungen erscheinen dem flüchtigen Beobachter als die Schaffung einer neuen Rechtsnorm, so daß die Richter nicht nur Dolmetscher sind, sondern sozusagen ein neues Recht freigelegt haben, das seine Bindekraft nicht vom Gesetz erhält, sondern durch ein mehr oder weniger obskures Bewußtsein entwickelt wird." Die Verwechslung eines soziologisch-naturrechtlichen Gesichtspunktes mit einem positiven fällt in die Augen (vgl. Seite 95).
    42) Science et technique I, Seite 39. Genau derselbe Gesichtspunkt wird wiedergefunden bei SALEILLES, Ecole historique et droit naturel, Seite 102: "Der Richter fand seinen Auftrag darin, die erforderlichen Elemente seines Urteils zu suchen und diese erforderlichen Elemente können nicht außerhalb von ihm und seiner Gedanken entstehen und sie können auch nicht in den objektiven Gesetzen der Wirklichkeit liegen, die unabhängig von den Gedanken eines Menschen gelten. Der Richter verfügt über objektive Macht; das ist die Definition seiner Funktion". Da diese Verfasser bei den Gesetzen, die der Richter anwenden soll, nicht ausschließlich an das positive Gesetz denken, so ist ihre Stellung mit der DUGUITs identisch (siehe Anmerkung 41).
    43) Ganz Vereinzelte können ausgenommen werden, die die rechtschaffende Rolle der Jurisprudenz erkannt haben. So CAPITANT, Introduction, Seite 57, der anerkennt, daß der Richter Recht schafft, nicht nur konkret, sondern durch einsartige [einheitliche, gleichartige - wp] Wiederholung auch abstrakt. Die Jurisprudenz ist Rechtsquelle; LAMBERT, Etudes, Seite 802; ganz gewiß sind seine Untersuchungen soziologische, aber ein positiver Gesichtspunkt mischt sich zweifellos hinein (siehe darüber unten Nr. 8) CARRÉ de MALBERG erkennt wohl die konkrete rechtsetzende Funktion der Praxis, er bestreitet ihr aber die Eigenschaft einer abstrakten Rechtsquelle.
    44) Beispiele hierfür sin oben I. 1 gegeben.
    45) Siehe hierüber Excursus.
    46) Mitunter wird unter der Voraussetzung, daß das positive Recht faktisch gilt, eine Erklärung - d. h. eine  ethische Justifikation - hinzugefügt, weshalb es gilt. MAY, Introduction, Seite 40: "Wenn die gewählten Mitglieder der politischen Gesellschaft ernannt werden, um als autorisierte Behörden Gesetze zu erlassen, haben sie schon im Voraus vereinbart, wie diese Gesetze anzuwenden sind"; Seite 39: "Die Autorität der Gewohnheit stammt aus Tatsachen, die sich beobachten lassen". Wie die Ausführungen BERTHÈLEMYs, a. a. O., Bd. II, Seite 7 mit Anm. 38, führen diese zu einer  Anerkennungstheorie  in ihrer primitivsten Form (der Kontraktstheorie) zurück.
    47) DUGUIT, Traité, Seite 88; BERTHÉLEMY, a. a. O., Seite 9 (siehe unten Exkurs mit Anm. 128); HAURION, Les idée de M. Duguit, Recueil de legislation de Toulouse, 1911, Seite 22 (vgl. übrigens Exkursus).
    48) AUBRY et RAU, Cours 3, (conscience collective); BEUDANT, Cours, Seite 61; van BEMMELEN, Notions fondamentales, Seite 29 (jugement commun); ESMEIN, La coutum etc., Seite 533 (consentement tacite de la population), BROCHER de la FLÈCHÈRE, Le droit coutumier etc. Seite 581; CAPITANT, Introduction, Seite 46-47; PICARD, Constances du droit, Seite 121, 123; MAY, Introduction, Seite 35; GENY, Méthode I, Seite 361; PLANIOL, a. a. O., Seite 244.
    49) siehe die Übersicht XVI, Seite 6.
    50) GENY, Méthode II, Seite 221, 403; Science et technique, Seite 39.
    51) GENY drückt seinen "pensée maîtresse" [herrschenden Gedanken - wp] folgendermaßen aus: "Auch in seiner positiven Form erscheint uns das Gesetz als eine Reihe von Regeln von der Natur der Dinge, die mit einer mehr oder weniger freien Interpretation ein soziales Element dem Allgemeinwohl dienen. Direkt von der Gerechtigkeit und diesem Zweck inspiriert liegt sein Wesen über den Bereich der formalen Quellen hinaus, die nur empirische Enthüllungen sind, die ohne das unmittelbare menschliche und damit präzisere Urteil, also nur durch sich selbst, immer unvollständig und unvollkommen sind."
    52) GENY, Methode II, 11; Die Aufgabe der Rechtswissenschaft wird bestimmt I. 5: Regeln aufzustellen, "die so sind, daß sie unserem inneren Gefühl der Gerechtigkeit entsprechen, mit der notwendigen Sicherheit und einer wünschenswerten Harmonie, in Übereinstimmung mit dem, was Gott für die Menschheit bestimmt hat"; vgl. auch II. Seite 145-146, 231-233, 98-100.
    53) Untertitel zu Science et Technique II.
    54) Science et Technique - das bedeutet eben den Teil des Rechts, der durch einen schöpfenden wissenschaftlichen Prozeß gefunden werden kann, und den Teil, der eine mehr willkürliche Durchführung des wissenschaftlich Gegebenen ist: le donné [die Gegebenheit - wp] und  le construit [die Konstruktion - wp]. Vgl. Science et technique I, Seite 97.
    55) GENY II, Seite 92
    56) GENY II, Seite 233
    57) GENY I, Seite 187
    58) GENY II, Seite 99; vgl. II. 85 "Wissenschaft oder nicht - wen interessiert das schon? Vor allem müssen wir leben."
    59) GENY II, Seite 354
    60) GENY II, Seite 350-361.
    61) GENY II, Seite 371f.
    62) GENY II, Seite 382, 386.
    63) Eine gute Kritik GENYs "wissenschaftlicher" Rechtsfindung bei DAVY, "Le droit, l'idálisme et l'experiénce, Seite 105f, besonders 116-117.
    64) Vgl. GENY I, Anm. 12
    65) GENY II, Seite 35.
    66) GENY I, Seite 106
    67) siehe oben Anmerkung 52
    68) GENY I, Seite 115, vgl. Seite 243 und 248.
    69) GENY I, Seite 242-244.
    70) GENY I, Seite 238. Der Wortlaut des Zitates wurde gekürzt und etwas verändert.
    71) GENY II, Seite 3
    72) GENY II, Seite 2-3
    73) Besonders da die Gestattungstheorie abgelehnt wird (siehe I, Seite 364-365).
    74) GENY II, Seite 54
    75) GENY, Science et technique II, Seite 85.
    76) GENY I, Seite 116
    77) GENY I, Seite 262
    78) GENY I, Seite 313
    79) GENY I, Seite 285
    80) Die Gewohnheit, heißt es, beruth
      1. "eine echte andauernde soziale Notwendigkeit ... Die notwendige Sicherheit für private Interessen und die erforderliche Stabilität der individuellen Rechte, nicht zuletzt die Notwendigkeit der Gleichstellung und maximale Billigkeit ist erforderlich, damit ein Gesetz auf lange Zeit glaubwürdig angewandt wird, mit dem erforderlichen Charakter der rechtlichen Verpflichtung, die so ein Gesetz darstellt."
      2. "Das daraus resultierende Echo ist ein tiefes Gefühl der menschlichen Natur, das einhüllt und sich vermischt mit einem tiefen Respekt vor unseren Vorfahren und deren Angst vor Veränderung."
      3. "Es werden alle Interessen befriedigt, die in einer positiven Rechtsorganisation auf dem Spiel stehen ... Die gebräuchliche Annahme, per Definition die Zustimmung der betroffenen Parteien - einschließlich derjenigen, die unter einem Gesetz leiden - wobei diese Zustimmung im Wesentlichen freiwillig ist, konstituiert den entscheidenden Wert eines Gesetzes und ist die beste Garantie für das Gleichgewicht der beteiligten Interessen."
    81) GENY I, Seite 344, 348 und öfter.
    82) GENY I, Seite 356
    83) LAMBERT, Etudes, Seite 133
    84) GENY II, Seite 12
    85) GENY II, Seite 9
    86) GENY II, Seite 32
    87) GENY II, Seite 18
    88) GENY II, Seite 35
    89) GENY II, Seite 54
    90) GENY II, Seite 89
    91) GENY II, Seite 93f
    92) GENY II, Seite 105; Science et technique II, Seite 390 und 394f.
    93) GENY II, Seite 113f.
    94) GENY II, Seite 115
    95) LAMBERT, Etudes, Seite 103-104, 823-824.
    96) LAMBERT, a. a. O., Seite 874-875; von mir hervorgehoben.
    97) LAMBERT, a. a. O., Seite 841
    98) LAMBERT, a. a. O., Seite 44
    99) LAMBERT, a. a. O., Seite 879
    100) LAMBERT, a. a. O., Seite 915, 916.
    101) LAMBERT, a. a. O., Seite 37 und 45
    102) LAMBERT, a. a. O., Seite 834
    103) Der Ausgangspunkt für die soziologische Moralbetrachtung ist, das Ideal als ein Faktum zu betrachten,  le fait moral [moralische Tatsachen - wp], das anderen Tatsachen beigeordnet ist. Die wichtigste Frage ist, ob es möglich ist, von diesem Ausgangspunkt aus weiter zu gelangen, als zu einer deskriptiven (explikativen) Morallehre, relativ zu faktisch genährten, kollektiven Moralvorstellungen; oder ob es selbst auf dieser Grundlage möglich sein wird, gewisse imperativische Handlungsregeln über und unabhängig von den kollektiven Moralvorstellungen aufzustellen. Es läßt sich auch so ausdrücken, ob sich Handlungsregeln aufstellen lassen, die nicht nur im Verhältnis zum Individuum, sondern auch zur Kollektivität objektiv sind. Diese Frage muß vom Standpunkt der Soziologie von ihrer Konstitution als Naturwissenschaft aus verneinend beantwortet werden. Nichtsdestoweniger wollen französische Soziologen einem moralischen Skeptizismus gegenüber nicht kapitulieren. DURKHEIM versucht, eine Handlungsnorm auf den Unterschied zwischen kranken und gesunden sozialen Zuständen zu begründen (Régles de la méthode sociologique, Paris 1919, Seite 61). LÈVY-BRUHL bestreitet wohl in "La morale et science des moeurs" die Möglichkeit einer theoretischen Moral, man findet in seinem Buch aber doch hineingeschmuggelte Bewertungsgesichtspunkte (wie bei LAMBERT). Man vergleiche hiermit PARODIs Kritik der beiden erwähnten Soziologen in "Le probleme morale et la pensée contemporaine", Paris 1921, Seite 33-70.
    104) LAMBERT, Etudes, Seite 111, 821.
    105) LAMBERT, a. a. O., Seite 122, 127, 131
    106) LAMBERT, a. a. O., Seite 123, 137, 139
    107) LAMBERT, a. a. O., Seite 137
    108) LAMBERT, a. a. O., Seite 174f; Seite 184 heißt es, daß die englische Doktrin diese Fiktion festgehalten hat; daß das verkehrt ist, ergibt sich aus AUSTINs Darstellung (siehe IV. Punkt 4f).
    109) LAMBERT, a. a. O., Seite 218
    110) LAMBERT, a. a. O., Seite 802
    111) LAMBERT, a. a. O., Seite 802, 814
    112) DUGUIT, L'Etat, a. a. O., Seite 615
    113) DUGUIT, Traité I, Preface VIII-IX.
    114) DUGUIT, Traité I, Seite 43-44, 97
    115) DUGUIT, Traité I, Seite 45 und 56.
    116) DUGUIT, L'Ètat, Seite 227f
    117) DUGUIT, Traité I, Seite 42, 34.
    118) DUGUIT, Traité I, Seite 39, 41, 43, 45, 64.
    119) DUGUIT, Traité I, Seite 91f
    120) DUGUIT, Traité I, Seite 37, 38.
    121) DUGUIT, Traité I, Seite 45, 40.
    122) DUGUIT, Traité I, Seite 92
    123) DUGUIT, Traité I, Seite 26
    124) DUGUIT, Traité I, Seite 42. An einigen Stellen wird wohl eine Formulierung mit "peut" [können - wp] anstelle von "doit" [müssen - wp] gebraucht. Gemeint kann aber augenscheinlich doch nur der Bewertungsausdruck sein, der in "doit" liegt; dieser Ausdruck wird auch am häufigsten verwendet.
    125) GASTON MAY, Introduction, bzw. Seite 92 und 57
    126) BÈRTHELEMY, De l'exercise de la souvérainété, Seite 9
    127) Le FUR, L'Ètat fédéral, Seite 433f, 577 und 441
    128) HAURIOU. Les idées de M. Duguit, Receuil de législation, Toulouse 1911, Seite 14, 19 und öfter (zitiert nach CARRÉ de MALBERG, a. a. O., Seite 57-58, Anmerkung und 210.