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ERNST RUDOLF BIERLING
(1841-1919)
Juristische Prinzipienlehre

"Die juristische Prinzipienlehre zerstört nicht nur nicht das farbenreiche Bild der wirklichen Rechtswelt, d. h. der zahllosen Menge von Rechtsgemeinschaften und ihres unendlich verschieden gearteten Rechts, sie gibt vielmehr erst das rechte Verständnis für, den rechten Überblick über dasselbe."

Einleitung
Aufgabe und Methode
der juristischen Prinzipienlehre


§ 1.

Juristische Prinzipienlehre ist die systematische Darstellung derjenigen juristischen Begriffe und Grundsätze, welche im wesentlichen - ihrem stets gleich bleibenden Kern nach - unabhängig sind von der individuellen Besonderheit irgendeines bestimmten (konkreten) positiven Rechts. Hierher gehört vor allem der Begriff des Rechts selbst und was mit Notwendigkeit aus ihm folgt; sodann aber auch all diejenigen Begriffe und Grundsätze, die sich sonst aus der wesentlich gleichartigen geistigen Organisation aller Menschen für die Theorie und Praxis und Praxis des Rechts ergeben.

Dabei ist sofort zuzugeben, daß alle diese Begriffe und Grundsätze, mit denen sich die juristische Prinzipienlehre befaßt, oder wenigstens diejenigen, die allein ihren eigentlichen Gegenstand bilden, rein formaler Natur sind. Und eben hierin liegt der tiefgreifende Unterschied sowohl vom älteren "Naturrecht" als von der Rechtsphilosophie im Sinne der heutigen Wissenschaft.  Jenes  versuchte nicht nur den allgemeinen formalen Charakter des Rechts, sondern auch einen gewissen allgemeinen Rechtsinhalt aus der Natur des Menschen abzuleiten und fand demgemäß seinen Ausgangspunkt nicht sowohl in Untersuchungen über den Begriff und das Wesen des tatsächlich geltenden, d. h. eben positiven Rechts, als vielmehr in der schlechthinnigen Voraussetzung eines angeblich allem positiven Recht zugrunde liegenden idealen Rechtsbestandes. Die  Rechtsphilosophie  im heutigen Sinne dagegen verfolgt das Ziel, im Ganzen der dem Menschengeist obliegenden Aufgaben die Stelle nachzuweisen, die dem Recht zukommt, und von diesem Gesichtspunkt aus zu untersuchen,  was  entweder allgemeine oder unter bestimmten Voraussetzungen  Rechtens sein sollte. 

1. Daß es überhaupt juristische Begriffe und Grundsätze gibt, die unabhängig sind von der Individualität der einzelnen konkreten rechtsbildenden Gemeinschaft oder mit anderen Worten gleichmäßig verwendbar oder gültig für  jedes  positive Recht, ist und bleibt freilich schließlich ein reines Postulat; ein eigentlicher Beweis ist dafür nicht zu geben. Selbst wenn unser Versuch, aufgrund dieser Voraussetzung eine juristische Prinzipienlehre zu schaffen, in einem Maß gelänge, wie es niemals - auch nicht annähernd - zu erwarten ist, wäre damit die Richtigkeit der Voraussetzung noch nicht "erwiesen". Allein  in Wahrheit macht diese Voraussetzung jeder, der überhaupt eine Rechtswissenschaft anerkennt.  Gleichwie ohne das Gefühl der Evidenz und den Glaube an seine Zuverlässigkeit nicht nur keine Logik, sondern schlechterdings  keine Wissenschaft  denkbar ist, gleichwie ohne die Annahme, daß es überhaupt eine bestimmte Ordnung in der Welt gibt, keine Naturwissenschaft, so ist auch keine wahre Rechtswissenschaft denkbar ohne die Voraussetzung, daß  der Geist der Menschen,  auf den schließlich alles, was irgendwo und irgendwann als Recht bezeichnet wird, zurückweist,  im ganzen gleichartig organisiert  ist, daß derselbe - trotz der ihm bezüglich des Inhalts seiner Tätigkeit gewährten Freiheit -  mit Rücksicht auf die Form seiner Tätigkeit an bestimmte Schranken und Gesetze gebunden ist, die allen seinen Produkten einen bestimmten gleichartigen Charakter aufdrücken.  Wer da meint, allgemeine Begriffe und Grundsätze vom Recht ließen sich nicht aufstellen, weil das ein Gebiet sei, auf dem die Individualität, ja die Willkür den weitesten Spielraum habe, und dennoch nicht aufgibt Rechts wissenschaft  zu treiben, - wer da etwa gar meint, einen allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft rein auf dem Weg der Induktion aus  einem  bestimmten positiven Recht und entsprechend auch immer nur  für  ein solches herstellen zu können und zu sollen, der täuscht sich in Wirklichkeit nicht nur über die Aufgaben der Rechtswissenschaft, sondern auch ebenso sehr über seine eigene Stellung zu derselben. Wäre wirklich  alles  am Recht positiv und demgemäß auch alles daran veränderlich, so wäre es von vornherein ganz unzulässig, von einer Rechtswissenschaft schlechtweg zu reden; man müßte vielmehr mindestens von einer unbestimmten Anzahl von Wissenschaften sprechen, von denen möglicherweise jede - und zwar berechtigterweise - einen besonderen Begriff von Recht hat, je nach der Auffassung des betreffenden Gemeinwesens, des betreffenden Volkes, der betreffenden Zeit. Und genauer besehen wäre selbst eine wissenschaftliche Bearbeitung eines einzelnen sogenannten Rechts von diesem Standpunkt aus ein Nonsens oder zumindest eine Sisyphus-Arbeit; denn warum sollte es dann nicht auch geschehen können, daß in ein und demselben Staat und in demselben Zeitalter zwei oder noch mehr ganz verschiedene Anschauungen von "Recht" gesetzlich sanktioniert würden und daß demzufolge - gerade von dem gedachten Standpunkt aus - von  ein und demselben Recht  gar nicht die Rede sein könnte? Natürlich ist von einem solchen Standpunkt aus auch eine Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung im bisher gebräuchlichen Sinn unmöglich; denn beide setzen immer das  eine  voraus, daß dasjenige, was sie "Recht" nennen, bei aller Verschiedenheit des Inhalts im Wechsel der Zeiten und Völker, etwas wesentlich Gleich artiges  sei, da ohne eine solche Gleichartigkeit weder an eine wahre Vergleichung der Rechte verschiedener Völker noch an eine wahre geschichtliche Entwicklung eines bestimmten Rechts zu denken wäre. Eben das aber herauszufinden und im Zusammenhang darzustellen, was an allem positiven Recht gleichartig ist, oder mit anderen Worten was der  Gattung  "Recht" - im Gegensatz zu allen konkreten Einzelrechten - angehört, das ist die spezifische Aufgabe der Wissenschaft, welcher das vorliegende Werk gewidmet ist.

2. Nicht alles am Recht ist positiv, nicht alles  daran  ist individuell. Mit dieser Grundvoraussetzung unserer Erörterungen soll keineswegs geleugnet werden, daß alles Recht im juristischen Sinne  nur als  positives, d. h. irgendwo und irgendwann geltendes, auf irgendeinen bestimmten Kreis von Subjekten beschränktes Recht, und darum auch stets  nur als  individuell bestimmtes Recht wirklich existiert; vielmehr stimmen wir insofern völlig mit der heute herrschenden Meinung überein. Und eben hierin liegt der nicht zu übersehende, durchaus nicht etwa bloß nebensächliche, sondern das innerste Wesen der Sache ergreifende Unterschied zwischen unserer Anschauung einerseits und den "naturrechtlichen Theorien" andererseits. Allerdings darf bei der Beurteilung der letzteren nicht unbeachtet bleiben, daß dieselben unter dem "jus positivum"  nicht  ganz das Gleiche verstehen, wie  wir  heutzutage unter "positivem Recht". Auch sie verkennen meist nicht, daß Recht nur sein kann, was für diejenigen, an welche es sich richtet, bindende Kraft hat, also wahrhaft als Recht  gilt.  Aber sie unterscheiden doch jedenfalls nach Grund, Umfang und Dauer der Geltung - also innerhalb des wirklich geltenden Rechts -  zwei Hauptarten von Recht:  einmal das "jus positivum" in  ihrem  Sinne, d. h. das Produkt des Gemeinschaftswilens, speziell des Staatswillens, das natürlich auf den betreffenden Staat beschränkt ist und durch denselben Willen, dem es seine Entstehung verdankt, jederzeit wieder geändert werden kann; andererseits das "jus naturale", d. h. das  über  aller Gemeinschaft, auch über dem Staat stehende, auf einem transzendenten Prinzip beruhende, mindestens seinem Kern nach ewige und unabänderliche Recht. Sie täuschen sich mithin über eine doppelte Tatsache:
    1) daß die angeblich dem "jus naturale" angehörenden Rechtssätze, selbst die vermeintlich unaufgeblichen, durchaus  nicht  überall und zu allen Zeiten nachzuweisen sind, vielmehr die wirkliche Rechtswelt bisweilen ganz entgegengesetzte Erscheinungen aufzeigt;

    2) daß auch da, wo die betreffenden Naturrechtssätze wirklich Rechtens sind, sie  dies  nur sind vermöge der in der betreffenden Gemeinschaft, dem betreffenden Staat,  herrschenden  Anschauung, d. h. (wie später zu zeigen sein wird) vermöge der Anerkennung derselben als Recht seitens der Rechtsgenossen.
Auf der anderen Seite hat dieser zweifache Irrtum die Vertreter des Naturrechts zugleich abgehalten, in rechter Weise nach dem zu forschen, was wirklich an allem Recht gemeinsam ist; ihre Werke bieten daher verhältnismäßig wenig Ausbeute für eine juristische Prinzipienlehre in unserem Sinne. (1)

3. Wenn es ein Irrtum der Naturrechtstheorien war, einen gewissen - wenn auch noch so minimalen - Rechts inhalt  als ein- für allemal gegeben anzunehmen, so folgt daraus von selbst, daß die Grundsätze und Begriffe, welche nach unserer Ansicht den Gegenstand der juristischen Prinzipienlehre bilden sollen, nur wesentlich  formale  sein können. Durchaus von dieser Voraussetzung aus sind auch schon meine früheren Untersuchungen "zur Kritik der juristischen Grundbegriffe", welche in vielfacher Hinsicht die Grundlage des vorliegenden Werkes darstellen, geschrieben. Man hat nun freilich gerade hieraus den Grund zu einem neuen Vorwurf entnommen; man hat behauptet, derartige "formalistische Theorien" seien noch schlimmer als das alte Naturrecht, sie zerstörten das in Wirklichkeit so reiche Bild des Rechtslebens, führten zu einer schauerlichen Verödung der Rechtswissenschaft und dgl. mehr. Dieser Vorwurf erscheint schließlich nicht gar so verwunderlich, wenn man bedenkt, daß auch der modernen Naturwissenschaft ein ganz ähnlicher Vorwurf nicht erspart geblieben ist. Aber näher betrachtet beruth er doch auf einem totalen Mißverständnis. Die juristische Prinzipienlehre soll nimmermehr das volle Rechtsleben selbst darstellen, sondern vielmehr nur die allgemeinen Bedingungen, von denen dasselbe aller Orten und aller Zeiten abhängig ist und welche demgemäß allen seinen Erscheinungen ein eigentümliches mehr oder minder gleichmäßiges Gepräge aufdrücken. Eben dies war auch schon das Ziel, das ich bei meinen oben erwähnten früheren Untersuchungen verfolgt habe. Unter "juristischen Grundbegriffen" verstand ich gerade jene unserer heutigen Jurisprudenz längst unentbehrlich gewordenen Begriffe, die nichts anderes sind als Ausdruck von  Bedingungen allen Rechts;  ist doch auch die Definition vom "Recht" nichts anderes, als eine eigentümliche logische Zusammenfassung aller wesentlichen Bedingungen desselben. Behält man dies fest im Auge, so liegt die Nichtigkeit des obigen Vorwurfs klar auf der Hand: die juristische Prinzipienlehre zerstört nicht nur nicht das farbenreiche Bild der wirklichen Rechtswelt, d. h. der zahllosen Menge von Rechtsgemeinschaften und ihres unendlich verschieden gearteten Rechts, sie gibt vielmehr erst das rechte Verständnis  für,  den rechten Überblick  über  dasselbe.

4. Gleich unberechtigt wie der soeben besprochene Vorwurf dürfte das öfter auftretende Bedenken sein, daß formale Erörterungen von der Art, wie sie nach unserer Meinung Aufgabe oder Voraussetzung der juristischen Prinzipienlehre sind, die  historische Auffassung des Rechts  beeinträchtigen. Daß zuvörderst die Hinneigung zu solchen Erörterungen durchaus nicht immer ein Zeichen für einen Mangel an historischem Sinn ist, dafür glaube ich mich allenfalls auf mein eigenes Beispiel berufen zu können; das Interesse an der Geschichte ist für mein ganzes wissenschaftliches Streben einst der Ausgangspunkt gewesen, und daß mir auch später nicht der historische Sinn abhanden gekommen ist, dürften mehrere meiner Schriften, namentlich meine beiden Abhandlungen über die "konfessionelle Schule in Preussen und ihr Recht" zur Genüge beweisen. (2) Indessen ist damit das gedachte Bedenken noch nicht ohne weiteres erledigt. Vielmehr ist ernstlich die Frage zu erwägen: Welche Bedeutung kommt der juristischen Prinzipienlehre für oder wider die historische Auffassung des Rechts zu?

Bei der Beantwortung dieser Frage sind meines Erachtens  zwei  Dinge streng auseinander zu halten, deren Unterschied zwar auch bisher schon nicht völlig verkannt, aber doch nicht genügend betont und namentlich praktisch so gut wie gar nicht berücksichtigt worden ist: einerseits die Anschauung, die  eine  Rechtsgemeinschaft, z. B. ein Volk, zu einer bestimmten Zeit  vom eigenen Recht hat,  andererseits die Anschauung, die  dem wirklichen Bestand eben dieses Rechts  zu einer gegebenen Zeit  entspricht.  Daß diese beiden Anschauungen durchaus nicht immer übereinstimmen, daß mithin die erstere in größerem oder geringerem Maße eine irrige sein kann, wird die Voraussetzung jeder juristischen Prinzipienlehre bilden. Freilich ist zuzugeben, daß auch in einem solchen Fall die Sache einigermaßen anders liegt, als bei einer bloßen irrigen Privatanschauung vom Recht, welche regelmäßig nur Bedeutung hat für die Geschichte der Wissenschaft, nicht für die Geschichte des Rechts selbst. In der Tat spricht eine starke Vermutung dafür, daß eine Anschauung, die wirklich als Anschauung einer Rechtsgemeinschaft selbst, speziell eines Volkes bezeichnet werden darf, mehr oder weniger Einfluß auch auf die Rechtsbildung geübt hat, während dies bei einer bloßen Privatanschauung höchstens ausnahmsweise anzunehmen, jedenfalls immer besonders zu beweisen sein wird. Es ist daher auch sofort weiter zuzugeben, daß eine solche Gemeinanschauung von größter Bedeutung sein kann für die Auslegung des betreffenden Rechts und für das Verständnis seiner Geschichte. Dagegen ist schlechterdings  nicht  zuzugeben, daß  durch das Recht  eine  irrige  Anschauung  vom  Recht  zur wahren  werden könnte. Auch die Rechtsbildung hat ihr unüberschreitbaren Schranken im Wesen des Rechts oder wenn man lieber will in der Natur des menschlichen Geistes. Hielt sich die Gemeinanschauung  innerhalb  dieser Schranken, mit anderen Worten bezog sich dieselbe nur auf einen an sich durchaus möglichen  Inhalt  des Rechts, so kann sie allerdings - zwar nicht für die Vergangenheit, wohl aber für die Zukunft - entweder selbst zum Recht oder doch zu einer dem nunmehrigen wirklichen Rechtsbestand entsprechenden Anschauung werden. Hat sie dagegen jene Schranken ignoriert und bewußt oder unbewußt überschritten, so führt sie im günstigsten Fall zu einer rechtlich anerkannten - bewußten oder unbewußten - Fiktion, d. h. zu einer Forderung des Rechts, allgemein oder in gewissen Fällen so zu handeln, als wenn die betreffende Gemeinanschauung der Wahrheit entspräche. Im  günstigsten  Fall: denn in den meisten Fällen ist das Recht in Wirklichkeit nicht durch theoretische Erwägungen irgendwelcher Art, sondern allein durch praktische Rücksichten bestimmt, und selbst in den Fällen, wo theoretische Gesichtspunkte in der Rechtsbildung wirksam gewesen sind, liegt in ihrer Berücksichtigung nicht notwendig eine rechtliche Anerkennung derselben.

Um es mit  einem  Wort zusammenzufassen: Der zeitweiligen Gemeinanschauung vom Recht, soweit es sich nicht bloß auf einen bestimmten  Rechtsinhalt,  sondern auf  Wesen und allgemeine Eigenschaften des Rechts  bezieht, kommt gegenüber den Recht selbst oder mit anderen Worten für die Rechtsbildung keine andere Bedeutung zu, als irgendeiner anderen Gemeinanschauung, ja überhaupt irgendwelcher Anschauung, die gelegentlich Einfluß auf die Rechtsbildung zu gewinnen vermag. Daraus folgt aber weiter: So gewiß auf der einen Seite die Dauer eines Gesetzes nicht davon abhängt, daß gewisse naturwissenschaftliche Voraussetzungen, von denen dasselbe ausgegangen ist, von der Naturwissenschaft selbst fortgesetzt festgehalten werden, und so gewiß auf der anderen Seite die fortschreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis nimmermehr als durch das Gesetz gebunden angesehen werden kann, ebenso gewiß gilt das Gleiche in der einen wie in der anderen Hinsicht vom Verhältnis zwischen Recht und juristischer Prinzipienlehre. Jedenfalls bleibt also auch neben der ausgebildetsten Gemeinanschauung  vom  Recht eine wissenschaftliche Forschung nach dem Wesen, den allgemeinen Bedingungen und Eigenschaften des Rechts möglich und wohlberechtigt.

Am deutlichsten wird das vorher Gesagte wohl durch einige Beispiele in der angegebenen zwiefachen Richtung.

Bekanntlich beruth das allen Kulturvölkern eigene Kalenderwesen auf gewissen astronomischen Erkenntnissen. Nun können wir vom Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus den  Tag  von 24 Stunden kurzweg als die Zeiteinheit bezeichnen, die sich aus der Rotation der Erde um sich selbst ergibt, das  Jahr  aber  prinzipiell  als die Zeit, in welcher die Erde ihren Umlauf um die Sonne vollendet. Prinzipiell: denn genauer betrachtet stimmt ja freilich das bürgerliche Jahr nach julianischem und gregorianischem Kalender mit dem wirklichen tropischen Jahre nur mit der Modifikation überein, daß es anstelle der 365 Tage 6 Stunden, bzw. 5 Stunden 48 Minuten 50 Sekunden, im allgemeinen 365 Tage setzt und nachträglich alle 4 Jahre einen ganzen Tag einschaltet, bzw. unter Ausnahme von 3 Jahren innerhalb 400 Jahren. Dagegen war nicht nur den Alten, sondern auch noch der Reform-Kommission GREGORs XIII. die Vorstellung von der Rotation und dem Umlauf der Erde um die Sonne bekanntlich vollständig fremd; nur die  Erscheinungen,  welche die  Folge  jener Tatsachen sind, - der Wechsel von Tag und Nacht und die fortschreitende Stellung der Sonne in der Ekliptik, - die von der damaligen Gemeinanschauung irrtümlich auf eine Bewegung der Sonne um die Erde, sowie um sogenannte Epizyklen zurückgeführt wurden, bilden die Grundlage der julianischen wie der gregorianischen Zeitrechnung und damit auch unserer heutigen. Dieses Beispiel illustriert in sehr glücklicher Weise dreierlei. Fürs Erste zeigt es, wie damit, daß gewisse Naturerscheinungen zur Grundlage von Rechtseinrichtungen gemacht werden, durchaus nicht immer eine rechtliche Anerkennung der zur Zeit herrschenden Gemeinanschauung von jenen Naturerscheinungen und namentlich nicht von ihrem Grund gegeben ist, vielmehr der fortschreitenden Wissenschaft jederzeit vorbehalten bleibt, nicht nur diese Naturerscheinungen, sondern folgeweise auch die darauf gegründeten Rechtsbestimmungen von  ihrem  augenblicklichen Standpunkt aus zu  erklären.  Und zwar hat den letzteren Teil dieser Doppelaufgabe offenbar nicht die Naturwissenschaft, sondern die Rechtswissenschaft auf Grundlage jener zu leisten. Zum Zweiten zeigt das Beispiel freilich auch, wie eine Differenz bezüglich der Natur erscheinung  selbst nicht unmittelbar zum Umsturz der auf eine mehr oder weniger irrige Beobachtung gegründeten Rechtseinrichtung führt, vielmehr immer nur und oft erst nach langer Zeit zu einer Reform auf dem Wege der Gesetzgebung oder der Gewohnheitsrechtsbildung. Aber auch so lange es noch nicht zu dieser Reform gekommen ist, - und das ist das Dritte, was uns das Beispiel bestätigt, - erscheint die Wissenschaft ungebunden, nicht nur in bezug auf die Prüfung der betreffenden Naturerscheinungen selbst, sondern auch bezüglich der sich daraus ergebenden Kritik der damit zusammenhängenden Rechtsbestimmungen.

Beispiele dafür, daß die Wissenschaft auch einer Gemeinanschauung vom Recht selbst, namentlich soweit sich solche nicht bloß auf einen bestimmten Rechtsinhalt bezieht, nicht anders gegenübersteht, als einer Gemeinanschauung von gewissen Naturerscheinungen, die den Ausgangspunkt für irgendwelche Rechtsbestimmungen bilden, wird natürlich die juristische Prinzipienlehre selbst in ausreichender Zahl darbieten. Nur  ein  meines Erachtens besonders charakteristisches Beispiel mag schon hier seine Stelle finden. Durch das Jugendalter wohl fast aller Kulturvölker geht ein mehr oder weniger ausgebildeter theokratischer Zug. Das Recht wird aufgefaßt als eine von den Göttern gegebene ewige Ordnung. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß diese Gemeinanschauung auch einen ganz gewaltigen Einfluß auf die Rechtsbildung selbst geübt hat; die deutlichen Spuren dafür, daß das älteste Recht einen stark sakralen Charakter getragen hat, finden sich regelmäßig noch im späteren Recht der betreffenden Völker. Aber ebenso zweifelsohne wird es heute niemand einfallen zu sagen: "Das Recht jener ältesten Zeit  war  - in Wirklichkeit! - eine von den Göttern des Volks diesem selbst gegebene Ordnung, das spätere Recht dagegen  war  oder  ist  ganz etwas anderes, nämlich das und das." Und doch würde eine solche gewiß von keiner Seite beliebte Auffassung die streng logische Konsequenz jeder Ansicht sein, welche die zeitweilige Gemeinanschauung vom Recht nicht nur als wesentlich erklärt für das  Verständnis des konkreten Rechts eines Volkes zu einer bestimmten Zeit,  was auch wir durchaus zugeben, sondern auch als maßgebend für die  Erkenntnis dessen, was das betreffende Recht allein zum Recht im juristischen Sinne machte.  Umgekehrt schließt eine fortgeschrittene Auffassung vom Recht, ein rein formaler Rechtsbegriff wie der vom Verfasser seit Jahren vertretene, eine wahrhaft historische Betrachtung der Rechtsentwicklung nicht nur nicht aus, sondern ermöglicht gerade erst das rechte Verständnis derselben, namentlich auch der eigentümlichen Verknüpfung ja selbst Verschmelzung von Religion und Recht in den Jugendperioden der Völker. (3)

5. Die juristische Prinzipienlehre ist nicht nur vom "Naturrecht" (Nr. 2), sondern auch von der  "Rechtsphilosophie"  streng zu unterscheiden. Allerdings ist der Sprachgebrauch bezüglich des letzteren Ausdrucks auch heute noch ein so schwankender, daß ein jüngerer Vertreter der Rechtsphilosophie sogar hat wagen können, seine Wissenschaft geradezu als Lehre "vom juristischen Denken" zu definieren. Und selbst wenn man von einer so offenbaren Willkürlichkeit absieht, wird man doch zugeben müssen, daß die Aufsuchung und Darstellung "derjenigen Begriffe und Grundsätze, welche unabhängig sind von der Individualität irgendeines bestimmten positiven Rechts", wie solche oben als Aufgabe der juristischen Prinzipienlehre bezeichnet worden ist, auch als eine Art philosophischer Erörterungen über positives Recht gekennzeichnet werden kann. In der Tat entspringen auch sie dem Bestreben, das wir mit LOTZE als die formale Aufgabe der ganzen Philosophie betrachten dürfen, - dem Bestreben, "Einheit und Zusammenhang in die zerstreuten Gedanken der  Bildung  zu bringen," insbesondere  "die  Gedanken, welche im Leben und in einzelnen Wissenschaften  Prinzipien  der Beurteilung sind, noch einmal zu  Objekten  der Untersuchung zu machen und die Grenzen ihrer Gültigkeit zu bestimmen." Allein ebenso gewiß beschränkt sich die juristische Prinzipienlehre in  unserem  Sinne auf ein ganz bestimmtes Stück dieser philosophischen Arbeit am "Recht"; sie beschränkt sich namentlich darauf, nur gewisse  formale  Begriffe und Grundsätze, mit denen sowohl die juristische Praxis, als auch die juristischen Einzelwissenschaften als mit mehr oder weniger bekannten operieren, zu Objekten nochmaliger besonderer Untersuchung zu machen, und "den Grund, den Sinn und die Grenzen ihrer Gültigkeit" darzulegen. All die weiteren Fragen, die sich demjenigen aufdrängen, der seine Rechtsauffassung in eine engere Beziehung zu seiner ganzen Weltanschauung zu setzen unternimmt, der es mit anderen Worten versucht, die Stelle und die Bedeutung aufzuzeigen, die dem "Recht" innerhalb der gesamten  Welt ordnung zukommt, alle diese Fragen lassen die juristische Prinzipienlehre als solche unberührt. Insbesondere hat dieselbe - soweit sie nicht zur Vermeidung von Mißverständnissen zu gelegentlichen Exkursen genötigt wird - völlig davon abzusehen, ob es schlechthin gültige sittliche Ideen oder, was wesentlich dasselbe besagt, ob es einen absoluten Maßstab des Wertes oder Unwertes der Dinge und vor allem des Handelns gibt, und welche sittlich-praktischen Konsequenzen sich hieraus für die materielle Beurteilung des bestehenden und die Gestaltung des künftigen Rechts ergeben. Gerade  diese  Aufgaben aber werden stets die eigentliche Domäne der  Rechtsphilosophie  bilden. Ob im übrigen diese Rechtsphilosophie im engeren Sinne als eine selbständige Wissenschaft ausgebaut oder mit Rücksicht darauf, daß ihre oberste Aufgabe, die Aufsuchung und Darstellung der sittlichen Ideen, mit der der Moralphilosophie identisch ist, mit letzterer unter dem Titel "praktische Philosophie" oder "Ethik" zu  einem  Ganzen verschmolzen werden soll, darf  hier  dahingestellt bleiben.

6. Was ich  im einzelnen  als Gegenstand und Aufgabe der juristischen Prinzipienlehre ansehe, mögen vorläufig die Titel der vier Bücher andeuten, aus denen sich das gegenwärtige Werk zusammensetzen soll:
    I. Wesen und allgemeine Struktur des Rechts.
    II. Entstehen und Vergehen des Rechts.
    III. Störung und Bewährung des Rechts.
    IV. Praktische Handhabung und wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts.
Wieweit freilich mit dieser vorläufigen, übersichtlichen Umgrenzung unserer Aufgabe das Richtige getroffen ist, kann natürlich nur die fortschreitende wissenschaftliche Untersuchung lehren.


§ 2.

Die Methode für unser Darstellung ist im ganzen schon durch die in § 1 gegebene Charakteristik der juristischen Prinzipienlehre zugleich mit gegeben. Denn eine systematische Darstellung ist als solche notwendig ein Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen, sei es in deduktiver, sei es in klassifikatorischer Form. Oberster Ausgangspunkt aber für die gegenwärtige Darstellung ist natürlich der allgemeine Begriff des Rechts; an ihn haben alle weiteren Ausführungen der juristischen Prinzipienlehre anzuknüpfen.

Hiermit soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß dieser oberste Ausgangspunkt, gleichwie jeder neue Ausgangspunkt, der sich im Laufe der nachfolgenden Darlegungen als notwendig herausstellen sollte, nur gewonnen werden kann auf dem Wege der Reduktion, bzw. Induktion. Aber für die systematische Darstellung erscheinen diese Ausgangspunkte als etwas uns Gegebenes; die Erörterung darüber, wie wir zu ihnen gelangt sind, kann sich hier nur in der Form des Rückblicks, des nachträglichen Beweises vollziehen.

1. Es würde müssig sein, an diesem Ort in eine längere Auseinandersetzung über die  Methoden systematischer Darstellung  einzutreten. Was im  allgemeinen  über dieselben zu sagen ist, welche Bedeutung den beiden Formen der Deduktion und der Klassifikation zukommt, welche verschiedenen Arten der Verwendung derselben in Betracht kommen können, all das zu erörtern ist Sache der Logik; es kann und soll dem Juristen, der sich über Charakter und Wert der verschiedenen wissenschaftlichen Methoden orientieren will, nicht erspart bleiben, sich mit gründlichen logischen Studien zu befassen. In welcher Weise dagegen die betreffenden Methoden verwertet werden sollen  speziell für die juristische Prinzipienlehre,  dies im einzelnen oder doch über die vorstehend gegebene Andeutung hinaus zu erörtern und zu rechtfertigen, ist gar nicht möglich, ohne bereits eine ziemlich umfassende Kenntnis des Gegenstandes, der behandelt werden soll, vorauszusetzen, - gehört also zumindest nicht in die gegenwärtige Einleitung.

2. Im Grunde gilt ganz dasselbe von den Methoden zur Auffindung neuer Wahrheiten, zur  Gewinnung neuer Erkenntnisse,  und damit folgeweise  fruchtbarer Ausgangspunkte  für die systematische Darstellung. Was sich darüber im allgemeinen sagen läßt, ist wiederum aus den Darstellungen der Logik zu entnehmen. Warum ich insbesondere in § 2 zunächst auf die Methode der Reduktion und erst nach ihr auf die der Induktion hingewiesen habe, ergibt sich leicht aus den Ausführungen SIGWARTs (Logik II, Seite 584, Nr. 19) über das Verfahren zur Auffindung ethischer Prinzipien, das hiernach kein anderes ist als das Verfahren zur Gewinnung der logischen oder mathematischen Axiome, und offenbar auch Platz greifen muß für die Aufsuchung der obersten Grundsätze unserer Wissenschaft. Noch weiter mich hierüber zu verbreiten, habe ich umso weniger Anlaß, als jeder einzelne auf solchem Weg gewonnene Ausgangspunkt der folgenden Darstellung doch in dieser selbst gerechtfertigt werden muß.

Nur eine  allgemeine Verwahrung  glaube ich schon hier einlegen zu müssen: Verwahrung gegen die Art und Weise, wie neuerdings nicht selten in juristischen Kreisen  eine  ganz bestimmte Methode als die allein richtige oder wissenschaftlich mögliche hingestellt wird, die in Wahrheit nur eine partielle und gerade in vielen Fällen, für die sie in Vorschlag gebracht wird, nur höchst zweifelhafte Bedeutung in Anspruch nehmen kann. Die Vertreter der fraglichen Anschauung selbst nennen diese Methode meist kurzweg "Induktion". Genauer betrachtet jedoch denken sie regelmäßig nur an Induktionsschlüsse aus einer möglichst großen Zahl einander ähnlicher Einzelfälle und haben gar keine Ahnung davon, daß unter methodisch festzustellenden günstigen Umständen ein Induktionsschluß aus einem einzigen konkreten Fall ein sehr sicherer sein kann, - jedenfalls viel sicherer, als unter anderen weniger günstigen Umständen ein Schluß aus vielen Tausenden von Beispielen. Es kann nicht meine Absicht sein, hier eine Verständigung mit Vertretern solcher Ansichten zu versuchen. Wollen dieselben sich die Mühe machen, nicht bloß auf eigene Faust, sondern anhand der logischen Wissenschaft  ernstlich  Methodenlehre zu treiben, so werden sie sich sehr bald von der Unzulänglichkeit ihrer bisherigen Anschauungen überzeugen; wollen sie aber dergleichen nicht, so ist überhaupt nicht mit ihnen zu streiten.
LITERATUR Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Freiburg i. B. und Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) Hiermit stimmen auch die Ausführungen BERGBOHMs (Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, Seite 224 - 281) im wesentlichen überein. Wenn im übrigen BERGBOHM nicht nur die hervorragende historische Bedeutung des Naturrechts, namentlich für die Umgestaltung der Rechts- und Staatszustände des 18. Jahrhunderts und somit für die Begründung unseres modernen Rechts- und Staatswesens, sondern auch den im stillen immer noch fortdauernden Einfluß naturrechtlicher Anschauungen auf Vertreter unserer heutigen Wissenschaft betont hat, so sind das alles Dinge, die ich in keiner Weise bestreiten möchte (vgl. meine eigenen Bemerkungen "zur Kritik der juristischen Grundbegriffe" I, Seite 164f). Aber mit unserer gegenwärtigen Betrachtung haben sie jedenfalls nichts zu tun. Denn so dankenswert es auch, gerade aus den angegebenen beiden Gründen, sein mag, die immer wieder auftauchenen naturrechtlichen Vorstellungen und Neigungen gründlichst zu bekämpfen, so gewiß ist die Überzeugung davon, daß nur dem positiven Recht der Titel "Recht" zukommt, die stillschweigende, aber nie zu übersehende Voraussetzung jeder juristischen Prinzipienlehre in unserem Sinne.
    2) Die Objektivität der in dem erwähnten Buch enthaltenen Ausführungen ist so ziemlich von allen Seiten, auch von entschieden liberaler, z. B. in der "Nation", in der "Preußischen Lehrerzeitung", in der "protestantischen Kirchenzeitung" u. a. offen anerkannt worden. Nur RUDOLF von GNEIST, gegen den die erste der beiden Abhandlungen speziell gerichtet war, hat neuerdings (in der Abhandlung "Die gesetzmäßige Volksschule in Preußen", Seite 3, Anm. 1) erklärt, daß er zwar daraus einige Berichtigungen über die historischen Hergänge gern entnommen, eine Replik aber für unnötig gehalten habe, da ich mir  "lediglich  von einem theologischen Standpunkt aus die bestehenden Gesetze zurechtlege und gerade durch meine unjuristischen Deduktionen es anschaulich mache, wie in den Schuldezernaten Theologen und Juristen durch selbstgeschaffene vieldeutige Worte vom gesetzmäßigen Boden sich immer weiter entfernt haben". Dem "berühmten Staatsrechtslehre" von Berlin hierauf diejenige Antwort zu geben, die seine Erklärung eigentlich verdiente, ist hier nicht der rechte Ort, auch darf ich annehmen, daß für alle, die mich oder mein Buch nur einigermaßen kennen, die Angriffsmethode des genannten Hernn ohnehin durchsichtig genug ist. Bloß ein charakteristisches Beispiel dafür, welche Art von Lektüre derselbe an meinem Buch verübt hat, glaube ich doch hinzufügen zu sollen. In Anm. 9, Seite 67 seiner oben zitierten jüngsten Abhandlung, teilt er zunächst meine Begriffsbestimmung der konfessionellen Schule (unter Seitenangabe) und dann im unmittelbaren Anschluß daran eine Bemerkung aus einem ganz andern Abschnitt ( ohne  Seitenangabe) mit. Der zuletzt zitierte Satz nun (er steht Seite 40 meiner Schrift) gehört in Wirklichkeit zur Auslegung und Motivierung gewisser Bestimmungen des  Preußischen Landrechts  und  zwar aus den Verhältnissen der damaligen Zeit heraus.  Das iwr aber nicht nur von GNEIST übersehen, sondern er wandelt sogar ganz ungeniert das am Schluß des zitierten Satzes stehende Imperfektum "erschienenen" in das Präsens "erscheinen" um und bringt es fertig, sich gegen meine Behauptung auf die Schulstatistik von - 1891 ! zu berufen.
    3) Ganz unter denselben Gesichtspunkten muß auch das "jus divinum" der katholischen Kirche betrachtet werden. Ja, vielleicht tritt die Richtigkeit der im Text vertretenen Überzeugung gerade an der katholischen Unterscheidung von "jus divinum" und "jus humanum" besonders klar heraus. Daß diese Unterscheidung für das Verständnis des katholischen Kirchenrechts, namentlich für die Lehre von der Verfassung und von den Rechtsquellen, aber in weiterer Folge auch für alle möglichen anderen Gebiete, z. B. für das Eherecht und für die Stellung der Kirche dem Staat gegenüber, von hervorragendster Bedeutung ist, kann selbst für die Gegenwart gar keinem Zweifel unterliegen. Aber ebenso zweifelsohne wird jeder gewissenhafte  protestantische  Kirchenrechtslehrer das "jus divinum" nicht schlechtweg als ein von Gott der Kirche gesetztes Recht definieren, sondern vielmehr als das Recht, das die Recht anerkennende Kirche  als  von Gott gesetzt anerkennt. Prinzipiell dürfte dies sogar ein gläubiger Katholik nicht bestreiten; denn daß es ein auf göttlicher Offenbarung beruhendes  Recht  geben könne, ohne daß die Kirche ein solches anerkenne, muß er auch von seinem kirchlichen Standpunkt aus ablehnen. Nur versteht sich für ihn, als bewußten Bekenner des katholischen Glaubens, zugleich ganz von selbst, daß göttliche Offenbarung und kirchliche Anerkennung sich nicht widerstreiten können. Wohl gibt es göttliche Offenbarungen, die die Kirche noch nicht offiziell anerkannt, d. h. noch nicht als Dogma festgestellt hat; und soweit dies noch nicht geschehen, kann auch nicht von einem "jus divinum" die Rede sein. Aber ein Widerspruch zwischen mehreren Dogmen, also auch zwischen mehreren dogmatisch fixierten Rechtssätzen, erscheint dem gläubigen Katholiken schlechtin unmöglich, weil er die Kirche selbst als bei ihren Glaubenssatzungen von Gott in unfehlbarer Weise geleitet ansieht. Ebendarum sieht er auch nicht, was für den Protestanten mehr oder weniger auf der Hand liegt. daß die vermeintliche Unabänderlichkeit des "göttlichen Rechts", wie sie freilich einen integrierenden Bestandteil dieses Begriffs bildet, durch die Logik der Tatsachen, d. h. durch die Geschichte widerlegt und damit die ganze Annahme eines "jus divinum" hinfällig wird. Ebendarum merkt er nicht, daß sich die katholische Theorie von den Rechtsquellen in fortgesetzten Widersprüchen bewegt, indem sie zwar von Haus aus die heilige Schrift und die Tradition als "Quellen des göttlichen Rechts" hinstellt, in der praktischen Durchführung dagegen diese selbst in Wahrheit gar nicht, sondern immer nur die auf sie sich berufende Meinung der Kirche entscheiden läßt. Ebendarum endlich steht der spezifisch katholische Historiker bezüglich einer ganzen Reihe wichtiger Institutionen von vornherein auf einem Standpunkt, der eine wahre, echt wissenschaftliche Geschichtsforschung völlig unmöglich macht. Wie bedeutsam hier die von uns geforderte Scheidung zwischen einem Recht nach der  innerhalb  des betreffenden Kreises  herrschenden  Gemein anschauung  und dem Recht nach seinem  wirklichen Bestand  ist, gerade auch für eine richtige Geschichtsauffassung ist, bedarf wohl keiner weiteren Bemerkung.