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THOMAS DEWAR WELDON
Kritik der politischen Sprache
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Die Illusion der wahren Wesenheiten
Die Illusion der absoluten Wertmaßstäbe
Kritik der klass. politischen Philosophie
"Der Irrtum der Idealisten besteht in der Annahme, die Aufklärung der Menschheit bestünde darin, daß man sie die wahre Bedeutung der Worte "Staat", "Autorität", "Recht" und aller übrigen aufzufinden lehre."

Politik und Philosophie

Während der letzten hundert Jahre haben sich in England und in den Vereinigten Staaten die Methoden und Ziele der berufsmäßig betriebenen Philosophie erheblich gewandelt. Es ist schwierig oder sogar unmöglich, das Wesen und die Ursachen dieser Wandlung zu verstehen, ohne sich mit dem speziellen Themenkreis der Logik und Erkenntnistheorie einigermaßen gründlich befaßt zu haben.

Die Wandlung, die sich ereignet hat, besteht darin, daß die Philosophen sich bewußt wurden, welch außerordentliche Bedeutung der  Sprache zukommt. Sie haben erkannt, daß viele Probleme, die für ihre Vorgänger sich als unlösbar erwiesen hatten, nicht etwa der Rätselhaftigkeit und Unerklärlichkeit der wirklichen Welt entspringen, sondern vielmehr den Eigentümlichkeiten der Sprache, mit der wir diese Welt zu beschreiben versuchen. Daher haben die Philosophen in weitgehendem Maße aufgehört, Fragen wie "Was ist Wahrheit?" oder "Gibt es materielle Dinge?" überhaupt zu stellen; statt dessen fragen sie: "Welche Art von Information wird uns durch die Feststellung zuteil, daß eine Behauptung wahr ist oder daß es materielle Dinge gibt?"

Daß dieser Wandel auch für die  politische Philosophie seine Bedeutung hat, ist unschwer einzusehen. "Philosophie" ist im gewöhnlichen Sprachgebrauch etwa gleichbedeutend mit "Einstellung gegenüber dem Leben" oder sogar "Vorliebe für eine bestimmte Lebensform". Üblicherweise spricht man von der "politischen Philosophie der Russen, Briten, Amerikaner", wenn man nichts weiter bezeichnen will als jenen Typ von politischen Einrichtungen, den die Russen, Briten oder Amerikaner wirklich oder angeblich vorziehen.(1)

Daher gelangt man zu der Annahme, daß es die Aufgabe des berufsmäßigen politischen Philosophen sei, darzutun, daß der eine Typ von politischer Organisation besonders preisenswert sei, die anderen hingegen mangelhaft. Und in der Zeit, in der wir nun einmal leben, läuft dies auf die Forderung hinaus, man möge beweisen, daß die als "Demokratie" bezeichnete politische Philosophie richtig sei und die als "Kommunismus" bezeichnete falsch, oder umgekehrt.

Auf den ersten Blick scheint dies eine recht wichtige Aufgabe zu sein. Die meisten von uns haben das ehrliche Bedürfnis, die Gründe kennenzulernen, aus denen man die Demokratie gegen den Kommunismus unterstützen soll, oder den Kommunismus gegen die Demokratie. Wir wollen in dieser Sache Gewißheit, denn ihretwegen sind schon viele Menschen getötet worden, und in nicht ferner Zukunft werden es vielleicht deren noch viel mehr sein. Es wäre verhängnisvoll, wenn dies geschähe, ohne daß damit irgendein wesentliches Ziel erreicht würde.

Obgleich nun die Frage "Ist die politische Philosophie der Demokratie richtig und die des Kommunismus falsch?" auf den ersten Blick ziemlich einfach beantwortbar scheint, so zeigt doch ein wenig Überlegung, daß sie weit davon entfernt ist. Zunächst muß festgestellt werden, daß sie etwas Ungewöhnliches an sich hat.

Wer auch nur oberflächliche Bekanntschaft mit den Erörterungen über politische Theorie in den Standardwerken gemacht hat - von PLATON und ARISTOTELES über ROUSSEAU und HEGEL bis ins sonstige 19. sowie 20.Jahrhundert (außerhalb der Sowjetunion) - der wird sofort bemerken, daß es sich hier um keine Frage handelt, die schon immer im Vordergrund gestanden wäre. Die Griechen fragten sich, ob die Monarchie, Aristokratie oder Demokratie die beste Regierungsform sei; in Westeuropa fragte man nach den rechten Beziehungen zwischen Staat und Kirche, oder Monarch und Parlament, oder man diskutierte - im 19.Jahrhundert - die Grenzen der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen Bürger. Die Konfrontation von Demokratie und Kommunismus scheint jedoch eine von alledem verschiedene Fragestellung zu präsentieren. Obendrein sieht es so aus, als ob die Antithese falsch wäre. Das Gegenteil von Kommunismus ist Kapitalismus, nicht Demokratie, und das Gegenteil von Demokratie ist Diktatur, nicht Kommunismus.

Sobald diese und ähnliche Fragen auftauchen, wird es klar, daß wir Gefahr laufen, uns in einem Labyrinth historischer Detailuntersuchungen und Streitigkeiten über Wortbedeutungen zu verlieren. Daher liegt die Versuchung nahe, all dies zu vermeiden und die Klärung der Situation dadurch zu probieren, daß wir zunächst unsere spezielle Frage nach dem Wesen des Kommunismus und der Demokratie zugunsten einer allgemeineren Frage nach dem Wesen des Staates als solchem aufgeben.

Wenn wir sagen können, was die richtige, dem Wesen des Staates wie des Einzelnen angemessene Beziehung zwischen diesen beiden ist, dann können wir fragen, ob oder inwieweit die Struktur beliebiger staatlicher Institutionen in der  Wirklichkeit  der von uns aufgestellten theoretischen Bedingung entspricht. Liegt keine solche Entsprechung vor, dann haben wir einen ausreichenden Grund, um eine solche Staatsform zu verurteilen, und zwar auch dann, wenn nachgewiesen werden kann, daß mit ihrer Hilfe militärische, ökonomische oder soziale Vorteile erzielbar sind. Auf diese Weise würden wir sozusagen ein Standardmaß besitzen, welches wir an demokratische und kommunistische Einrichtungen - und speziell an die Einrichtungen der USA und der Sowjetunion - anlegen könnten; und nach vollzogener Prüfung könnten wir schlüssig erklären, welche der beiden Staatsformen dem Idealmaß näherkommt.

Seit PLATON haben die meisten philosophischen Berühmtheiten, die über Politik schrieben, in diesem Vorgang das eigentliche, von ihnen zu behandelnde Problem gesehen. Sie haben es für gewiß gehalten, daß die Frage "Was ist die rechte Beziehung zwischen Staat und Einzelnem?" ihren guten Sinn habe, daß es sich lohne, nach einer Antwort zu suchen, und daß ihnen die Methode, mittels derer diese Antwort aufgespürt werden muß, zumindest grundsätzlich bekannt sei. Diese Gewißheit ist - bei aller sonstigen Verschiedenheit ihrer Definitionen sowie auch ihrer Hypothesen über das menschliche Seelenleben - den idealistischen, demokratischen und marxistischen Theoretikern gemeinsam. Ich glaube, daß sie alle gleichermaßen irren, und ein großer Teil dieses Buches ist dem Nachweis gewidmet, daß jene Methode der politischen Philosophie falsch ist - sowohl im allgemeinen wie auch innerhalb der rivalisierenden politischen Doktrinen, zu denen sie Anlaß gegeben hat.

Im wesentlichen ist der Irrtum hier, wie in anderen Zweigen der Philosophie, daraus entstanden, daß man die  Eigentümlichkeiten der Sprache  nicht beachtet hat. Man ist in dem primitiven und ganz allgemein keiner Nachprüfung für wert erachteten Glauben befangen gewesen, daß Worte - insbesondere Worte, für die gewöhnlich in politischen Erörterungen vorkommen, wie "Staat", "Staatsbürger", "Recht" und "Freiheit" - eine absolute, ihnen schlechthin zukommende Bedeutung besitzen, welche der politische Philosoph herausfinden und erläutern muß.

Unsere Schwierigkeiten rühren, dieser Meinung zufolge, bloß daher, daß wirdas wahre Wesen des Staates nicht begreifen. Begriffen wir es, so würden wir sogleich erkennen, daß bloß der kommunistische, oder faschistische, oder demokratische Staat der wahre Staat ist, alles andere dagegen bloße Imitation.(2) SOKRATES, mit dem die westliche Philosophie beginnt, nahm an, daß "Gerechtigkeit", "Mut", "Mäßigung" und auch "Staat" die Namen von Dingen sind, und er machte sich daran, die Dinge, die diesen Namen tragen, zu ergründen.

Dieser Irrtum hat große Verwirrung angerichtet, aber ist sehr begreiflich. Viele Schwierigkeiten mußten überwunden werden, ehe die Menschen in mehr oder minder friedlicher Gemeinschaft leben und ehe solche Gemeinschaften ohne verderbenbringende Konflikte nebeneinander bestehen konnten. Man bedurfte daher des Trostes - und man bedarf seiner immer noch -, daß alle diese Schwierigkeiten verschwänden, sobald das eigentliche Wesen der Gemeinschaft begriffen würde. Von da ist es nicht mehr weit zu der Annahme, die Aufklärung der Menschheit bestünde darin, daß man sie die wahre Bedeutung der Worte "Staat", "Autorität", "Recht" und aller übrigen aufzufinden lehre. Um mit der Logik nicht in Konflikt zu geraten, erklärt man hierbei oft, daß nicht die Worte, sondern die dahinterstehenden Begriffe oder Ideen das Objekt einer solchen Untersuchung seien, aber diese angebliche Unterscheidung zwischen Worten und Begriffen ist hier für uns unwichtig.

Daß die Suche nach der wahren Wortbedeutung zweckvoll sei, wurde häufig selbst von jenen Denkern bezweifelt, die sich an ihr beteiligten. Seit dem Sophisten THRASYMACHUS, dessen politische Ansichten im ersten Buch von PLATONs "Staat" dargestellt und zugleich wohl persifliert werden, gibt es eine unablässige positivistische Opposition, die behauptet, daß die Suche nach der eigentlichen Bedeutung von "Gerechtigkeit" oder ähnlichen Worten unnütz sei. Vielmehr handle es sich hier um eine Methode, die bei der Lösung von Problemen der politischen Praxis keinerlei Hilfe darbiete. Für solche Lösungen bedürfe man einer exakten Beschreibung dessen, was sich in menschlichen Gemeinschaften tatsächlich ereignet hat oder (was sich daraus erschließen läßt) zu ereignen pflegt. Es sei sinnlos danach zu fragen, was geschehen  sollte,  oder auch, was geschehen  würde,  wenn irgendwelche erdachten Idealbedingungen verwirklicht wären. Erörterungen dieser Art seien bloßes Spiel mit Worten und reine Zeitverschwendung.

Diese Ansicht ist weder so absurd noch so gefährlich, wie es sich in der grobschlächtigen Wiedergabe von seiten ihrer Gegner ausnimmt. Sie ist eher unvollständig als von Grund auf verworren oder irrig. Einerseits ist es richtig, daß Diskussionen über die wahre Bedeutung von Worten der politischen Sphäre häufig nichts weiter als ein Spiel mit diesen Worten sind; sie befassen sich häufig bloß mit Gewohnheiten und Konventionen im Bereich der Sprache und vermitteln daher keine Information über Tatsachen. Andererseits wäre es falsch, wenn man glaubte, daß Worte, die ein Werturteil ausdrücken - "gut", "sollen", "verbrecherisch", "böse" usw. - im politischen Vokabular nichts zu suchen hätten. In erster Annäherung ist es zwar unbedenklich, wenn man sagt, daß diese Worte bloß die politischen Vorurteile des Sprechers repräsentieren, aber es wäre irreführend, wenn man daraus die Behauptung ableiten wollte, daß diese Vorurteile grundlos seien. Vielmehr könnte es für sie gute Gründe geben, deren klare Darstellung jedoch die Fähigkeiten des Sprechers übersteigt oder die ihm überhaupt unbekannt sind.


Worte und ihre Bedeutung

Im Mittelpunkt steht die von allen klassischen Theoretikern für selbstverständlich gehaltene Annahme, daß zwischen den Worten und ihren Bedeutungen das gleiche Verhältnis besteht wie zwischen Kindern und ihren Eltern. Wenn Klein-Willi im frühen Lebensalter in einer Telefonzelle deponiert wird, so weiß vielleicht niemand, wer seine Eltern sind, aber es steht außer Zweifel, daß er welche gehabt hat, und es ist möglich, Nachforschungen einzuleiten, um deren Identität herauszufinden. Dies mag ganz oder teilweise mißlingen; Indizien mögen fehlen, oder die Detektive mögen nicht schlau genug sein, um sie aufzuspüren oder ihre Beweiskraft zu erkennen. Aber jedenfalls handelt es sich hier um eine Untersuchung, die uns geläufig ist. Wir dürfen daher vernünftigerweise annehmen, daß wir - wenn Worte, insbesondere Hauptwörter, eine von ihnen gesonderte Bedeutung besitzen - diese mit Ausdauer und einiger Intelligenz in der Regel ausfindig machen können.

Wie aber gelangen wir zu der Annahme, daß Worte eine von ihnen gesonderte Bedeutung haben? Um hierauf Antwort zu geben, müßten wir einen ausgedehnten völkerkundlichen Exkurs unternehmen. Denn diese Annahme findet sich keineswegs bloß bei den Griechen, sonder sie ist überaus weit verbreitet. Bekanntlich besteht auf früher Kulturstufe die Neigung, den Namen magische Bedeutung beizumessen. Wenn man den wahren Namen einer Person ausfindig machte, gewann man Gewalt über diese; auf Erden und im Himmel galten verschiedene Namen: Lohengrin und andere Heroen durften ihren Namen nicht enthüllen; der wahre Name einer Gottheit durfte nicht ausgesprochen werden, es sei denn von Priestern im Rahmen des Gottesdienstes. Bei solcher Geisteshaltung - und die frühe griechische Philosophie war mit religiöser Mystik sehr eng verknüpft - ist es eine natürliche Sache, nach dem wahren Namen einer Person oder Sache zu forschen, und dieser Prozess der Nachforschung läßt sich unschwer umkehren; man mag seinen Namen oder Titel kennen, nicht aber die dazugehörige Person.

Was immer der psychologische Ursprung dieser Art von Glauben gewesen sein mag - es ist nunmehr klar, daß es ein Irrglaube war. Zugegebenermaßen handelt es sich um einen nützlichen Ausgangspunkt des Denkens; denn solcherart wurde man auf die Bedeutung der Sprache als Studienobjekt gewiesen und gelangte zu den Anfängen der logischen Analyse. Die Gefahr bestand darin, daß man unbemerkt zu einer weiteren Annahme gelangte, daß die Analyse von Worten und logischen Figuren ohne weiteres Informationen über Tatsachen liefern könnte. Das Denken wurde für fähig gehalten, ohne jede Beobachtung der von der Wirklichkeit gebotenen Vergleichsdaten die wahre Bedeutung der Worte herauszufinden, und dieser Denkprozess sollte auf undefinierbare Weise das Wesen der hinter den Worten steckenden Dinge und ihr Verhältnis zueinander aufhellen. Daß diese Denkmethode auch in der politischen Theorie angewandt wird, ist leider nur zu offenkundig. Man glaubt, daß man davon ausgehen muß, die wahre Bedeutung von "Gerechtigkeit", "Freiheit", "Autorität" und ähnlichen Worten zu erforschen und daß man dann, sobald die wahre Bedeutung entdeckt sei, beurteilen könne, ob der Kommunist preisenswert oder verdammenswert sei.

Derartige Untersuchungen bleiben unfruchtbar, weil Worte keine Bedeutung im gewünschten Sinn besitzen; sie haben bloß  Gebrauchsweisen.  Hinter "Gerechtigkeit", "Freiheit" steckt nichts Göttliches oder Magisches; es handelt sich bloß um Bestandteile des sprachlichen Apparates zur Beschreibung und Kritik bestimmter Typen von menschlichem Verhalten. Diese Worte sind nicht die Namen von Ideen oder Archetypen, die in einer ehrenhaften Handlung oder in einem unerschrockenen Leserbrief an die Zeitung ihre mehr oder minder vollkommene Widerspiegelung finden; sie sind die Namen von gar nichts.

Ihre Bedeutung kennen, heißt wissen, wie man sie richtig gebraucht, d.h. so, daß man allgemein verstanden wird, sei es in einem Alltagsgespräch oder in einer fachlichen Diskussion; hinter ihnen verbirgt sich nichts, was sich nur entdecken ließe, wenn man spezielle philosophische Weihen empfangen hat. Dies ist eine sehr dogmatische Feststellung; ich werde im folgenden einiges unternehmen, um sie zu erläutern und zu erhärten, doch wer das Gefühl hat (und er hätte es mit Recht), daß hierüber mehr zu sagen wäre, der muß sich nähere Auskünfte aus Werken über die Logik holen.

Das gründliche Mißverständnis in Bezug auf die Bedeutung von Worten hat eine ganze Legion von weiteren Mißverständnissen zum Gefolge, welche insgesamt der größeren Teil dessen ausmachen, was man als "Metaphysik" bezeichnet. Ihrer drei treten in politischen Diskussionen mit besonderer Hartnäckigkeit auf und müssen daher hier erörtert werden. Man kann sie wie folgt bezeichnen:
LITERATUR - Thomas D. Weldon, Kritik der politischen Sprache, Neuwied 1962
    Anmerkungen:
  1. Das Wort "Philosophie" hat im Englischen eine viel allgemeinere Bedeutung als im Deutschen. Es bezeichnet nicht selten einfach die Theorie oder gedankliche Abstraktion im Gegensatz zum praktischen Leben. Diese Weite des Bedeutungsfeldes muß hier beachtet werden, weil in der deutschen Übersetzung der Ausdruck "Philosophie" auch dort beibehalten wurde, wo er eigentlich durch "Theorie" u.ä. wiederzugeben gewesen wäre; wovon jedoch abgesehen wurde, da der Wechsel des Ausdrucks die Einheit der Gedankenführung des Autors zerstört hätte.
  2. Vgl. L.ROUGIER: Le mystiques politiques, Paris 1935