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FRANZ EULENBURG
Naturgesetze und soziale Gesetze
[Logische Untersuchungen]
[4/4]

"Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß uns etwa das Objekt des Psychischen unmittelbar gegeben wäre. Es ist uns nie ein fremdes, sondern stets nur unser eigenes Erlebnis, nie ein fremder, sondern nur mein individueller Lebenszusammenhang gegeben. Es ist also erst ein Objektivationsprozeß notwendig, um aus dem unmittelbaren Erlebnis herauszukommen."

"Erkenntnis bedeutet immer einen Zusammenhang, eine Ordnung in der Mannigfaltigkeit, um wirklich Wissenschaft, d. h. geordnetes Wissen zu erlangen."

"Es ist übrigens auffallend, daß der logische Prozeß der Rechtsbegriffe bisher so wenig untersucht ist und die Logiker so wenig interessiert."

"Ein so ausgesprochen soziales Gebilde wie die Stadt läßt sich nacheinander geographisch, rechtswissenschaftlich, ökonomisch, künstlerisch erfassen. Es sind verschiedene Seiten desselben Gegenstandes, die sich für uns in verschiedenen Begriffsreihen darstellen."

"Das Generelle kann nur das Ergebnis des logischen Prozesses der Vergleichung sein. Wir nennen dieses Generelle Typus, wenn es sich um ein Objekt (Person, Sache) oder ein Gebilde (Markt, Schule, Verfassung), Gesetzmäßigkeit, wenn es sich um einen Prozeß, um ein Geschehnis handelt."

"Das Staatsrecht abstrahiert von den einzelnen Individuen und ihren Gemeinschaften gänzlich und betrachtet einen rein abstrakten Begriff als ihr Substrat. Der Begriff der Stadt als juristischer Person abstrahiert nicht minder von den einzelnen Einwohnern, indem man sich diese einfach wegdenkt."

"Es ist auffallend, daß selbst hervorragende Methodologen dies immer wieder übersehen und meinen, sie hätten es im sozialen Geschehen oder in der Geschichte irgendwie mit einer Wirklichkeit als solcher zu tun."


I. Rechtfertigung und Möglichkeit
sozialer Gesetze überhaupt


a) Notwendigkeit ihrer Annahme?

1. Wenn wir bestimmen wollen, welches denn die "Wirklichkeit" ist, die von den Naturgesetzen erfaßt wird, so können wir zum Kriterium nicht wieder das Anwendungsgebiet selbst nehmen. Wir dürfen also nicht sagen: überall dort, wo allgemeine Gesetze möglich sind, haben wir es mit "Natur" zu tun. Das bedeutet ja ein Drehen im Kreis und eine Heterogonie [Entstehung von Neuem - wp] der Begriffe. Wir wollen gerade wissen, wo diese Naturgesetze möglich sind, welches ihre eigentlichen Objekte ausmacht. Der Ausdruck "Natur" hat hier offensichtlich eine doppelte Bedeutung angenommen. Das, was angeblich nur eine "Methode", nämlich die Bestimmung allgemeiner Gesetze überhaupt, bedeuten soll, wird in Wirklichkeit doch bald wieder als Gegenstand und Objektives, als die Natur gefaßt. Der Sprachgebrauch ist nun einmal so mächtig nach der gegenständlichen Seite entwickelt, daß wir von ihm nicht wieder loskommen. Die erstere Fassung ist aber auch aus sachlichen Gründen zu verwerfen. Für uns bedeutet "Natur" vielmehr einen Gegenstand kollektiver Art, nicht etwa eine Methode (1). Es müssen demnach ganz spezifische Objekte bzw. Eigenschaften der Dinge sein, die wir gedanklich unter Naturgesetzen fassen können. Wir wollen sie einstweilen als "Naturgegenstände" bezeichnen. Das Charakteristikum dieser ist das Funktionieren aus ihrer eigenen Wesenheit, ist das Fehlen menschlicher Eingriffe und Beziehungen. Wir verstehen so unter "Natur" die Mannigfaltigkeit der Dinge, Vorgänge, Eigenschaften, kurz all der Denkgegenstände, die durch das Fehlen spezifisch menschlicher Eingriffe und Beziehungen gekennzeichnet sind, und die kraft ihrer eigenen Wesenheit funktionieren. Zu ihr gehört in nicht gerade geringem Ausmaß der Mensch als Einzelwesen, sowohl in physiologischer wie anthropologischer wie in psychologischer Hinsicht. "Gesetz" im allgemeinen war der Ausdruck für regelmäßig wiederkehrende Beziehungen zwischen mehreren Erscheinungen. Damit ist dann auch der Gegenstand, auf den sich die Naturgesetze erstrecken können, selbst zunächst eindeutig bestimmt.

Man hat nun die Gesamtheit der Wissenschaften, die der Lehre von der Natur und den Naturgegenständen gegenüberstehen, verschieden charakterisiert. Aus dem bloß formalen Setzen eines kontradiktorischen Gegensatzes folgt noch keine positive Begriffsbestimmung; es gilt vielmehr, die eigenen gemeinsamen Merkmale zu bestimmen, die den neuen Begriff konstituieren (2). Man hat sie je nach diesem charakteristischen Merkmal als Geisteswissenschaften oder als Geschichte oder als Kulturwissenschaft bezeichnen wollen. Die Forderungen, die man an eine Einteilung stellen muß, sind: daß sie logisch zulässig, daß sie sachlich richtig, und daß sie endlich zweckmäßig (fruchtbar) ist. Es ist an einem anderen Ort gezeigt worden, daß alle drei Einteilungen nach dieser Hinsicht nicht ausreichend sind. Die Charakterisierung als Kulturwissenschaft, die durch ihre Beziehung auf Werte - statt auf Begriffe wie bei den Naturwissenschaften - gekennzeichnet werden soll, ist dabei nicht haltbar. Sie verwechselt in elementarer Weise das psychologische Forschungsmotiv, das sich bei den Naturwissenschaften genauso auf pragmatische "Werte" bezieht (3), mit den logischen Grundlagen der Wissenschaften. Die Einteilung scheitert damit an ihrer logischen Unzulässigkeit. Ebensowenig kann aber die Aufzeigung des "Individuellen" im Gegensatz zu der des Generellen einen sachlichen Einteilungsgrund in Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaft (Geschichte) abgeben: sie macht in unzulässiger Weise zwei kontradiktorische Gegensätze, die gewiß in jeder Wissenschaft vorhanden sind, zum Realgrund einer Klassifikation. Sie erweist sich damit als sachlich unrichtig. Aber auch die Bezeichnung als Geisteswissenschaften, die vor allem auf die psychologische Fundamentierung das Gewicht legt, ist nicht ausreichend. Einmal würden darin die nichtpsychischen, die äußeren und materiellen Elemente, die von den geistigen gar nicht zu trennen sind, keinen Platz finden, und erst auf einem Umweg wieder hereingebracht werden können. Sodann aber wird in der Psychologie der Individuen eine wesentliche Bedingung alles menschlichen Geschehens übersehen. Der Aufbau der Geisteswissenschaften auf die innere Erfahrung ("Intellektualität der inneren Wahrnehmung") gleichsam aus sich heraus erweist sich nicht als möglich. Gerade der "Lebenszusammenhang des Individuums" ergibt das Wesentliche dieser Wissenschaften vom Menschen (4) nicht. Diese Einteilung muß darum als unzweckmäßig ebenfalls abgelehnt werden.

Es ist vielmehr das Kennzeichen menschlichen Geschehens, daß uns der fremde Mensch niemals als Individuum an und für sich, sondern stets im Zusammenhang mit anderen Exemplaren der Gattung gegeben ist. Eben dieser Zusammenhang ist es, der die Gesellschaft ausmacht. Wir haben damit das neuhinzukommende, gemeinsame Merkmal getroffen, das die anderen Klassifikationen regelmäßig außer acht lassen. Die gemeinsame Eigenschaft ist also: gesellschaftlicher Natur zu sein. Aus dieser elementaren Tatsache sind die Konsequenzen für die Einteilung der realen Wissenschaften zu gewinnen. Der Einzelne ist ja nur eine Abstraktion, aber keine Wirklichkeit. Auch die Geschichte hat es nur mit Menschen in der Gesellschaftung zu tun. Die Wissenschaften vom Menschen, soweit sie ihn nicht als anthropologisches oder biologisches Einzelwesen betreffen, können darum nur als Sozialwissenschaften im weiteren Sinne charakterisiert werden. Dieses Merkmal erfüllt die logischen Bedingungen der Begriffsbildung.

Es ist damit zugleich ein Dreifaches ausgedrückt. Einmal dieses, daß auch der "Einzelne" stets als ein Produkt der Gesellschaft betrachtet wird. Nicht nur der Inhalt des Einzelbewußtseins ist durch die Gesellschaft geschaffen, sondern auch die Art, des Empfindens, Fühlens und Wollens ist in und durch die Gesellschaft umgewandelt worden. Nicht das geistige Leben der fremden Seele ansich ist sonach das Apriori dieser Wissenschaften; jenes existiert ja stets nur für den analytischen Psychologen als vorwissenschaftliches Erlebnis isoliert für sich. Sondern das Leben in der Gesellschaft ist die Grundlage der Geistes- wie auch der Kulturwissenschaften, mag man sie nun systematisch oder historisch betrachten. Sodann aber kommt erst durch jene Charakterisierung die Wechselwirkung allen menschlichen Geschehens und aller menschlicher Einrichtungen zur Geltung. Es wird damit der einheitliche Gesamtzusammenhang ausgedrückt, der sich für den überlegenden Verstand und damit für die Wissenschaft aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ergibt. Diese Einheit wurzelt nicht darin, daß sich in der Einzelseele eine Vielheit von Betätigungen treffen, ein "Lebenszusammenhang" geschaffen ist. Sondern die Einzelbetätigungen werden überhaupt erst durch die gesellschaftlichen Umstände und gerade durch das Zusammensein der Individuen miteinander verbunden. Es ist die Korrelation aller menschlichen Geschehnisse, die darin zu einem unzweideutigen Ausdruck gelangt, daß wir sie als "soziale" kennzeichnen. Endlich aber scheint die Gesellschaft bzw. deren Zustände und Änderungen als die spezifische Ursache, die den menschlichen Beziehungen ihren Stempel aufdrückt. Die Sterblichkeit ansich ist eine Naturerscheinung, bedingt aus dem Wesen menschlicher Organismen als solchen. Aber die Sterblichkeit nach Altersklassen und Volksteilen ist eine soziale Erscheinung und unterliegt den Bedingungen, die gerade durch die Gesellschaft spezifisch und differenzierend verändert sind. Das Kunstwerk ist gewiß eine Schöpfung des Einzelnen; aber Form und Inhalt, Verständnis der Mit- und Nachwelt und Wirken auf andere sind gesellschaftlicher Art. Sie sind nur zu behandeln und zu verstehen innerhalb der Sozialwissenschaften. Man drückt das auch so aus, daß "die Gesellschaft" den (ideellen) Träger alles menschlichen Geschehens darstellt.

2. Eine gegenständlich orientierte Logik wird demnach den Gegensatz von Natur- und Sozialwissenschaften aufstellen. Die beiden Gruppen stehen in einem konträren, nicht in einem kontradiktorischen Gegensatz. "Gesellschaft" ist eine Wirklichkeit für sich. Sie umfaßt als Oberbegriff die einzelnen Teilgebiete sozialen, d. h. gemeinsamen Wirkens und bezeichnet damit den einheitlichen Zusammenhang menschlichen Geschehens überhaupt: mag dieser selbst als Realeinheit, mag er als "transzendentale Einheit der Apperzeption" betrachtet werden. Die "Gesellschaft" bildet sonach die Einheit in der Mannigfaltigkeit menschlicher Erscheinungen wie die "Natur" für die außermenschlichen. Das ist der letzte Grund für die Einteilung der Wissenschaften.

Von Naturgesetzen also dort zu sprechen, wo wir es mit spezifisch gesellschaftlichen Äußerungen der Menschen zu tun haben, wo es sich um Geschichte und Kunst, Wirtschaft und Recht, geistiges Leben und Religion, Sitte und Sprache handelt, ist von vornherein nicht angängig. Der Ausdruck verlöre hier ganz seinen Sinn. Der Gesetzesbegriff nimmt ja von der menschlichen Gesellschaft seinen Ursprung und ist erst in einem übertragenen Sinn auf die Naturgegenstände angewendet worden. Auch der Gesetzesbegriff ist gegenständlich orientiert, soweit sein Inhalt in Betracht kommt und es sich nicht bloß um eine formelle Bestimmung handelt. Der Gegensatz von den Menschen als Objekt der Naturwissenschaften, die den Naturgesetzen unterworfen sind, sind eben die Menschen in der Vergesellschaftung (5). Ob es für sie nun spezifisch soziale Gesetze, d. h. regelmäßig wiederkehrende Beziehungen zwischen sozialen Erscheinungen gibt, dies kann offenbar ansich noch gar nicht ausgemacht werden. Wenn es sie aber wirklich geben sollte, so können sie ihre Provenienz offenbar nicht schon aus jenen Naturgesetzen ableiten. Sie hätten vielmehr ihr Recht und ihre Möglichkeit aus sich selbst zu erweisen. Es muß erst gezeigt werden, daß in der Gesellschaft ansich allgemeine Urteile über eine Klasse von Erscheinungen möglich und wirklich sind. Es wäre sehr wohl denkbar, daß die Menschen als biologisch-physiologische Einzelwesen einem gesetzmäßigen Verhalten unterliegen. Ihr soziales Verhalten könnte trotzdem ganz unregelmäßig verlaufen. Das ist durchaus nicht als unwahrscheinlich zu betrachten.

Denn einmal könnte ja im gesellschaftlichen Dasein der Zufall eine solche Rolle spielen, daß hier die Aufstellung von Regelmäßigkeiten und gar Gesetzen ganz ausgeschlossen erscheinen müßte. Nicht der absolute Zufall, also etwa als kausalloses Geschehen, kann verständigerweise damit gemeint sein, sondern das Zusammentreffen zweier isolierter Reihen, die zwar jede ihrer Ursache in sich, aber nicht wieder miteinander haben. Wir würden sie als "relativen Zufall" bezeichnen, weil sie "zufällig zu irgendwelchen bestimmten Umständen" sind (6). Und es sieht tatsächlich für das naive, vorwissenschaftliche Denken so aus, als wenn nur der Zufall in der Gesellschaft regiert. Als wenn hier ausschließlich individuelle, einzelne, zufällige Beziehungen von Mensch zu Mensch ausschlaggebend sind und es folglich auch für die Wissenschaft auf deren Erkenntnis ankommt. Sodann aber schiebt sich ja beim menschlichen Geschehen und menschlichen Wirken der "freie Wille", die zweckbewußte Entschließung des Einzelnen dazwischen; dieser wirkt seinerseits auf den ganzen sozialen Prozeß umgestaltend ein. Dadurch könnte wiederum die Gesetzmäßigkeit aufgehoben erscheinen, da dieser Willensentschluß etwas ganz Unberechenbares, Unrationales ist. Es sind das offenbar zwei Einwände, die gar nicht apriori von der Hand zu weisen sind (7). Jedenfalls, und hierin ist den Gegnern unbedingt Recht zu geben, folgt aus den Untersuchungen über die Naturgesetze noch gar nichts weiter für das soziale Geschehen. Die Frage nach der Möglichkeit sozialer Gesetze bleibt durchaus offen.

Die Gesamtheit nun der Erscheinungen, die das soziale Leben der Menschen ausmachen und die sich äußern in Politik und Kunst, Religion und Wirtschaft, Sitte und Sprache, Recht und Krieg, kann uns in doppelter Weise entgegentreten und wissenschaftlich behandelt werden. Einmal in ihrem Nebeneinander als Zusammenhang, sodann in ihrem Nacheinander als Entwicklung. Erstere nennen wir "systematische Sozialwissenschaften", letztere historische Wissenschaften vom Menschen. Es ist an anderer Stelle gezeigt worden (8) und wird noch darauf zurückzukommensein, daß Geschichte als Wissenschaft vom Menschen nur möglich ist durch eine Beziehung auf soziale Begriffe. Ohne diese Beziehung wäre sie gegenstandslos und ohne wirklichen Inhalt, eine bloße Form der Betrachtung. Logisch bedarf auch die "Geschichte" der gegenständlichen Begriffsbildung; sie wird zwar meist nur stillschweigend als gegeben angenommen, ist aber doch darum nicht minder vorhanden. Beide Gruppen von Wissenschaften haben ansich wohl dieselben qualitativ abgesteckten Gebiete menschlicher Betätigung und menschlichen Seins zu behandeln. Aber einmal tun sie es doch in verschiedener Anordnung und Auswahl des Stoffes - der systematisch-klassifikatorischen und der historisch-genetischen. Sodann ist aber auch die Methode der Betrachtung wie die Beschaffung des Materials selbst wesentlich verschieden. Wir können das auch so ausdrücken: jedes soziale Stoffgebiet kann einer doppelten logischen Systematik und Betrachtungsweise unterworfen werden, die einfachen Kategorien unseres Verstandes entspricht. Systematische Sozialwissenschaften und Geschichte sind in gewissem Sinn zwar gegenständlich geeint, aber doch methodologisch getrennt, mit gleichen Begriffen aber verschiedenen Prinzipien und darum verschiedenen Zielen. Aus Gegenstand und Prinzipien ergeben sich dann die speziellen Aufgaben. Wir haben es sonach mit Korrelationserscheinungen zu tun, die gegenseitig voneinander abhängen. Es wird in einem anderen Zusammenhang darauf zurückzukommen sein (9). Wir wollen den äußeren Ausdruck vereinfachen, indem wir das Wort "systematisch" fallen lassen und unterscheiden fortan Sozialwissenschaften und historische Wissenschaften als gleichberechtigte Disziplinen vom sozialen Leben der Menschen.

3. Es fragt sich also: ob das soziale Geschehen wirklich Seiten aufweist, die wir als "gesetzmäßig" betrachten können? Aus taktischen Gründen erörterten wir die Frage der Gesetze zunächst innerhalb der systematischen Sozialwissenschaften und scheiden die der historischen Gesetze noch aus. Es empfiehlt sich dieses Vorgehen aus dem Grund der Vereinfachung in der Problemstellung. Möglicherweise braucht das, was für die eine Betrachtungweise recht und erlaubt ist, für die andere noch gar nicht zuzutreffen. Was eventuell für die systematischen Sozialwissenschaften gefunden ist, muß noch nicht präjudizierlich für die historischen gelten. Diese Meinung ist ja tatsächlich sehr verbreitet (10). Es wird sich zwar die Trennung nicht immer ganz durchführen lassen und zuweilen auch Beziehungen auf Geschichte stattfinden: aber im Prinzip können wir jene doch für sich behandeln. Woher - so ergibt sich jetzt die Fragestellung - kommen die Sozialwissenschaften überhaupt dazu, Gesetze aufzustellen und nach Regelmäßigkeiten zu fahnden? Wir gebrauchen einstweilen den Ausdruck "Gesetz" nur in einem ganz losen Sinn als allgemeinen Ausdruck für die regelmäßige Wiederkehr sozialer Erscheinungen und gehen erst nachher zu einem strengeren Sprachgebrauch über, wenn wir die Erscheinungsformen selbst genauer prüfen. Es empfiehlt sich bei den folgenden Überlegungen, die Fragen der praktischen Geltung noch vor denen der Erkenntnis zu behandeln (11).

Der letzte Grund für die Annahme sozialer Gesetze ist in unserer praktischen Orientierung über die Welt, in unserem aktiven Verhalten zu anderen Menschen und Dingen zu suchen. Unser ganzes persönliches Wirken in allen seinen Sphären ist auf eine nähere oder fernere Zukunft gerichtet. Diese Voraussicht ist aber nur dann möglich, wenn ein ähnliches oder gleichmäßiges Vorkommen des bisherigen Geschehens als wahrscheinlich auch für jene Zukunft zu erwarten steht. Die Bedingung für die Möglichkeit einer solchen Voraussicht und damit zugleich die Bedingung für die Möglichkeit sozialen Wirkens überhaupt ist also im Bestehen eines gleichmäßigen Ablaufs gegeben. Dieser braucht uns durchaus nicht zu Bewußtsein zu gelangen, und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle geschieht es wirklich nicht. Aber dann wird dieser gleichförmige Ablauf des sozialen Geschehens in jedem einzelnen Fall stillschweigend vorausgesetzt. Ein solches Existentialurteil liegt unserem Handeln logisch immer zugrunde. Ob wirklich ein soziales Geschehen so gleichmäßig verläuft, ist nicht so entscheidend für uns wie die Annahme, d. h. die uneingestandene Annahme, daß es gleichmäßig verläuft: daß Zufall und freier Wille im Gesamtgeschehen des sozialen Prozesses eine verschwindende Rolle spielen. Diese Annahme ist das Entscheidende für unser persönliches Wirken überhaupt. Wir wären gar nicht imstande, Entscheidungen irgendwelcher Art zu treffen, ohne die Voraussetzung des Vorhandenseins einer solchen Regelmäßigkeit in allen Beziehungen. Nehmen wir einige Beispiele.

Die Aufstellung eines etatmäßigen Voranschlags in einem Staat, einer Gemeinde, einer Aktiengesellschaft, hat zur unausgesprochenen Voraussetzung, daß möglichst die Verhältnisse des kommenden Jahres denen des vorangegangenen Jahres ähneln, und nur Änderungen nach einer ganz bestimmten Richtung erfahren: daß etwa ein Erntesausfall und Steuerergebnisse, Eisenbahnbenutzung und Geburtenzahl, individueller Geschmack und Sterblichkeit, Willensentschließungen und Naturereignisse, Sitten und Gesetzesänderungen annähernd ähnlich bleiben und gleichmäßig ablaufen werden. Das Erstaunliche ist im Grunde nicht der Umstand, daß hierbei Irrtümer vorkommen, daß manche Vorausberechnung nicht stimmt, sondern daß sich die Erwartung ziemlich sicher erfüllt. Ein Staatsmann, der nicht mit den Gleichmäßigkeiten des gesellschaftlichen Geschehens sicher rechnen würde, könnte keinen Schritt unternehmen. Das ganze kaufmännische und gewerbliche Leben jeder Art hat nicht weniger das Bestehen gesetzmäßiger Zusammenhänge auf dem kulturellen und geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Gebiet zur Voraussetzung: so etwa bei der Preisbildung oder der Nachfragekurve, der Produktivität oder der Gestaltung des Arbeitsmarktes. Schon das Schaffen eines Handwerkers "auf Vorrat" war auf dieser Annahme gegründet. Die Leitung einer Bank gar hat aus bestimmten Regelmäßigkeiten den Wirtschaftsverlauf vorauszusehen. Es würde ja überhaupt für die Praktiker gar keine "Erfahrung" geben, wenn nicht die regelmäßige Wiederkehr einmal gemachter Beobachtungen mit Recht vorausgesetzt werden könnte. Wenn nicht eine Ähnlichkeit des Geschehens in der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse vorhanden wäre. Nur auf dieser Ähnlichkeit und Gleichmäßigkeit des sozialen Geschehens beruth dabei auch die Stellung des Einzelnen. Relative Stabilität der Zustände und die Stetigkeit in ihren Änderungen sind die Grundvoraussetzungen. Ohne den Glauben an diese Gleichförmigkeit würde praktisches Handeln in keiner Weise möglich sein. Nicht um das Verhältnis von spezieller Ursache und spezieller Wirkung handelt es sich, sondern überhaupt um gleichmäßig wiederkehrende Beziehungen bestimmter Art. Die Kenntnis sozialer Verhältnisse heißt Kenntnis ihres gesetzmäßigen Verhaltens, mag es der Staatsmann oder Feldherr, der Kaufmann oder Landwirt, der Nationalökonomi oder Philosoph sein, der sie erlangt. Das Genie auf jedem Gebiet äußerst sich darin, daß es unbewußt auch die Summe dieser Regeln in sich hat. Vor allem die annähernde Stabilität der demographischen Zustände und die Regelmäßigkeit ihrer Änderungen sind die Vorbedingungen nicht nur für Gesellschaft und Wirtschaft schlechthin, sondern auch für unser persönlichstes Verhalten im sozialen Leben. Unsere moderne Wirtschaft und unsere moderne Kultur sind ganz spezifisch auf der Voraussetzung aufgebaut, daß Zufall und freier Wille sich doch nur innerhalb der Grenze der wahrscheinlichen Abweichung betätigt. Auch die Künstlergelehrten und Philosophieprofessoren machen davon keine Ausnahme: auch ihr Sein ist in einen sozialen Kosmos eingestellt.

Das ganze soziale Geschehen in allen seinen Betätigungen, wie es in Wirtschaft und Recht, Staatsfinanzen und Schulwesen, in Weltverkehr und Berufsleben, im künstlerischen Sichausleben und Politik sich darstellt, ist möglich, weil soziale Gesetze und Regelmäßigkeiten vorhanden sind. Und zwar nicht nur diese oder jene Seite des sozialen Lebens, sondern alle werden ganz gleichmäßig betroffen. Der Bau eines Krankenhauses, die Berufsvorbereitung auf die Juristenlaufbahn, die Ausgabe von Aktien, die Vorlesung eines Universitätsprofessors, die Etablierung eines Kaufmannes wie der Konzert eines Künstlers wären die aussichtslosesten Unternehmungen, würden gar keinen Erfolg haben können, wenn sich nicht auch die Gesellschaft als ein Kosmos mit seiner eigentümlichen Ordnung und eigentümlichen Gesetzmäßigkeit darstellen würde. Damit eine Vorlesung an einer Universität möglich und wirklich wird, damit sie vorher in einem Verzeichnis angekündigt werden kann, sind etwa die folgenden Voraussetzungen zu erfüllen: es muß die Geburten- und Absterbe-Ordnung in den letzten 20 Jahren zumindest eine ganz bestimmte und gleichmäßige gewesen sein, es muß die absolvierung der Gymnasien, die Wahl bestimmter Berufe, die besondere Fähigkeit der Schüler zum Studium, das Bestehen von Rechtsvorschriften, muß die Sitte des Belegens wie der Rechtszwang der Prüfungen, das Funktionieren der Verkehrseinrichtungen u. a. in ganz bestimmter regelmäßiger Weise stattgefunden haben. Sonst ist selbst jener einfache soziale Vorgang gar nicht möglich. Die Meinung, all diese Beziehungen eines Tages auch wirklich berechnen und damit leiten zu können, liegt der Idee nach durchaus nicht außerhalb des Bereichs menschlicher Möglichkeiten; tatsächlich wird diese Vorausberechnung der Regelmäßigkeiten intuitiv oder rational beständig von uns vorweggenommen (12). Das ganze moderne Versicherungswesen ist nur durchführbar durch eine Vorausberechnung des wahrscheinlichen Eintretens bestimmter Ereignisse, mögen es Berufskrankheiten oder Diebstähle, Unfälle, Individualität oder Arbeitslosigkeit sein - alles Beziehungen, die durchaus sozial bedingt sind und in den Rahmen sozialen Wirkens und sozialer Voraussicht gehören. Die Betätigungen der Menschen erhalten ihre Verwirklichung überhaupt erst unter der Annahme, es gäbe eine Gesetzmäßigkeit des Gesellschaftslebens und eine bestimmte Ordnung dieser Mannigfaltigkeit. Und zwar ist es mitnichten etwa eine äußere autoritative Regelung durch Rechtsgesetze, was die Möglichkeit sozialen Handelns und Wirkens gewährt. Sondern es ist ine, zunächst unübersehbar erscheinende Mannigfaltigkeit gesetzmäßiger Beziehungen aller Art, wodurch jede einzelne Voraussicht gewährleistet wird. Eine Gesellschaft, die nur durch formale äußere Rechtssatzungen zusammengehalten wäre, würde nicht eine Stunde bestehen können. Bringen wir dies alles auf einen kurzen Ausdruck, so müssen wir sagen: es ist die Ordnung in der Mannigfaltigkeit menschlicher Erscheinungen, ohne die eine Anpassung und Voraussetzung unserer persönlichen und praktischen Betätigungen gar nicht vollziehbar ist.

Mit anderen Worten: Gesellschaft ist nur möglich durch das Bestehen einer bestimmten relativ festen Ordnung und deren ganz bestimmten Änderungen (13), d. h. durch die Gültigkeit sozialer Gesetze. Sie sind das logische Apriori für das Zusammenleben und das Wirken der Menschen. Erst auf der Grundlage dieser Bedingungen ist das Handeln des Individuums und eine Persönlichkeit selbst denkbar. Es ist der Begriff der objektiven Möglichkeit, der damit festgestellt wird. Wir verstehen darungen die allgemeinen Bedingungen, durch die ein Erfolg überhaupt garantiert wird. Die Spielraumsmöglichkeit für den "freien Willen" des Individuums wie für den "Zufall" ist eben bedingt durch das Vorhandensein einer eher mehr als weniger strengen sozialen Ordnung, die sich in Gesetzmäßigkeiten und typischen Wiederholungen zeigt (14). Das Eintreten jedes individuellen Ereignisses und jedes individuellen Geschehens überhaupt ist, was hier nur angedeutet werden kann, in zweifacher Weise bedingt: einmal durch die allgemeinen Bedingungen des Systems, zu dem es gehört, d. h. durch den Spielraum, sodann durch die partiellen Bedingungen des einzelnen Falles. Ersteres stellt die objektive Möglichkeit, letzteres die spezielle Ursache dar. Für die beschreibenden Wissenschaften ist die Betrachtung beider unerläßlich.

Wenn sonach eine allgemeine Regelmäßigkeit eines sozialen Geschehens das Apriori unseres praktischen Handelns wir unserer Kenntnis von den sozialen Dingen überhaupt ist: so bleibt es das unvermeidbare Geschäft sozialer Wissenschaft, diese Verhältnisse zu erkunden und zu erforschen. Die Wissenschaften tun nur das, was das Leben selbst tagtäglich vornimmt. Sie führen in systematischer, theoretischer und allgemeingültiger Weise durch, was die vorwissenschaftliche und praktische Erfahrung unzählige Male empirisch und unvollkommen aber doch vollzogen hat.

Gesellschaft ist sonach das Zusammensein der Menschen, soweit es gesetzmäßig bestimmt ist. Über die Art und den Charakter dieser Gesetzmäßigkeit selbst wird damit aber noch nichts ausgesagt, außer daß sie überhaupt vorhanden ist.

4. Folglich ist für die Sozialwissenschaften ein Postulat ihrer theoretischen Vernunft, Gesetze sozialer Art als wirksam anzunehmen: nur dann ist sie imstande, die Tatsachen und Zusammenhänge im sozialen LEbens selbst zu begreifen. Es ist für sie eine Denknotwendigkeit schlechthin. Wenn die Sozialwissenschaften sich auf sich selbst besinnen, d. h. ihre Prinzipien aufstellen, so können sie gar nicht anders vorgehen, als daß sie die Gesetze des Beharrens und die Gesetze der Veränderung untersuchen. Auch wenn wir nur sagen wollen, wie es eigentlich ist, müssen wir sie darstellen. Gesellschaftswissenschaft ist nur möglich unter der Voraussetzung von sozialen Gesetzen - darüber kommen wir nicht hinweg. Damit ist nun keineswegs gesagt, daß wir nichts anderes zu tun hätten als gerade dieses eine. Keineswegs wird der ganze Aufbau vielgestaltiger Disziplinen logisch schon dadurch bestimmt; das ist eine ganz andere Frage, ob der Inhalt der Wissenschaften damit erschöpft ist. Aber für die soziale Erkenntnis wie für die soziale Praxis sind soziale Gesetze denknotwendig. Um eine moderne Wendung sinngemäß anzuwenden, können wir sagen: die gleichmäßige Wiederkehr der Erscheinungen ist für soziales Wirken und für die Individuen das Gegebene; für die Sozialwissenschaften ist sie mithin das Aufgegebene, das zu erklärende und zu lösende Problem. Es kann immer nur das "aufgegeben" sein, was vorher "gegeben" ist.

Es sind mit anderen Worten die eigenen Bedürfnisse der Wissenschaft und diese allein, die dazu führen, überhaupt von sozialen Gesetzen zu sprechen und diese zu suchen. Ihre Kraft schöpft sie dauern aus der Notwendigkeit, gedanklich das auszuführen, was die Erfahrung des Lebens in einfacher Weise beständig selbst vornimmt. Zu meinen, daß etwa eine "Wirklichkeitswissenschaft" davon Abstand nehmen könnte und nur die individuellen Beziehungen zu beschreiben braucht, ist logisch nicht denkbar. Die soziale Wirklichkeit selbst stellt einen Kosmos dar, der für uns allein als gesetzmäßiger zu erfassen ist. Die Einzeldinge "erleben" wir wohl, aber erkennen wir nicht. Denn Erkenntnis bedeutet immer einen Zusammenhang, eine Ordnung in der Mannigfaltigkeit, um wirklich Wissenschaft, d. h. geordnetes Wissen zu erlangen. Es ist also durchaus nicht etwas Zufälliges und Willkürliches, etwas von außen Hereingetragenes, was die soziale Wissenschaft unternimmt, indem sie Gesetzmäßigkeiten konstatiert und soziale Gesetze aufstellt. Es ist keine fremde Analogiebildung, die uns immer von Neuem dazu führt, sondern die eigene Nötigung der Wissenschaft selbst.
    Auch wenn Naturwissenschaft gar nicht bestünde, es Naturgesetze überhaupt nie gäbe: auch dann würden wir doch von uns aus dazu kommen, die gleichmäßige Wiederkehr sozialer Erscheinungen in die Prämissen einer Erkenntnis von den sozialen Dingen aufzunehmen.
Der Begriff des Gesetzes ist ja ursprünglich gar kein naturwissenschaftlicher, sondern ein menschlich sozialer.

Daß lange diese Denknotwendigkeit sich der Prüfung entzog und sie immer noch so oft verkannt wird, hat mehrfache Gründe. Einmal liegt es an dem jungen und noch unfertigen Charakter der Wissenschaft, die so stark mit unmittelbar praktischen Problemen beschäftigt ist; das Interesse an den Forderungen des Tages führt leicht von theoretischen Erwägungen ab. Darum wurden die Voraussetzungen der Sozialwissenschaften bislang sehr unvollkommen untersucht. Sodann spielte die scheinbar widersprechende, elementare Tatsache des naiven Selbstbewußtseins mit herein, das uns stets nur die eigenen Motive und Entschließungen als individuelle und einmalige zeigt, aber niemals den Zusammenhang im Ganzen aufzuweisen vermag. Nicht zum Wenigsten endlich kommen gewisse ethische Anschauungen in Betracht. Sie hängen in Wirklichkeit mit diesen rein logischen Fragen gar nicht zusammen; trotzdem aber drohen sie immer wieder die wissenschaftliche Arbeit zu durchbrechen. Es braucht auch nicht verschwiegen zu werden, daß von mancher Seite sehr vorschnell hier mit fremden Analogien gearbeitet wurde, die den einfachen Selbstzusammenhang verdunkelten. Aber der Fortschritt der Erkenntnis wird sich mit innerer Folgerichtigkeit ganz nach dieser Richtung bewegen - unabhängig davon, ob man den Sozialwissenschaften das nomothetische oder idiographische [winban1894] Etikett aufklebt.

Leben, Erfahrung Wirken in der Gemeinschaft, "Kultur" im letzten Sinn ist nur möglich unter der Voraussetzung, daß soziale Gesetzmäßigkeiten bestehen. Der Inhalt jener Annahmen selbst ist veränderlich. Er richtet sich nach dem Weltbild, das eine Zeit besitzt, nach dem Maß der Erfahrung, die sie sich zu eigen gemacht hat, nach der Ordnung der Begriffe, mit denen sie die Vielheit zusammenzufassen sucht. Aber erst weil eine solche Gesetzmäßigkeit des sozialen Kosmos überhaupt als vorhanden angenommen wird, darum wird soziale Erfahrung wirklich. "Alles praktische Interesse, alle Bestimmung unserer Stellung in der Welt, alle Beurteilung anderer Menschen" ruht gerade auf dieser Voraussetzung und nur auf ihr: es würde sonst ein ganz aussichtsloses Unternehmen sein (15). Die Wiederholung gleicher Erscheinungen in einer bestimmten Zeit ist folglich die Voraussetzung nicht nur unserer jeweiligen "Erfahrung", sondern überhaupt unserer Erkenntnis vom menschlichen Handeln und Geschehen. Wir können sagen: die Annahme sozialer Gesetze ist eine Denknotwendigkeit unserer überschauenden Vernunft, wie es die Voraussetzung unserer praktischen Betätigung ist.

Wenn also gezeigt wurde, daß soziales Geschehen und Gesellschaft selbst nur möglich ist durch das Vorhandensein sozialer Gesetzmäßigkeit, so fragt sich nun: wie sind denn diese sozialen Gesetze selbst möglich? Denn wenn sie notwendig sind, so müssen sie auch möglich sein. Die quaestio juris führt zur quaestio facti.


b) Von den Denkmitteln in den
Sozialwissenschaften

1. Wir müssen einige allgemeine Bemerkungen vorausschicken, um uns über die des sozialwissenschaftlichen Denkens zu verständigen. Wir beginnen mit der Begriffsbildung.

Die Sozialwissenschaften im weiteren Sinn suchen notwendig ihre "Wirklichkeit" in einem System von Begriffen zu erfassen. Ohne deren Bildung würde jene für uns überhaupt nicht erkennbar sein. Reine Anschauung ohne Begriffe wäre auch hier blind. Es geschieht diese Begriffsbildung nun in der Weise, daß immer eine Reihe von Objekten und Gebilden, von Vorgängen, Prozessen und Betätigungen verwandter Art zum Zweck der Erkenntnis zunächst durch eine gemeinsame Bezeichnung vom Übrigen herausgehoben und abgegrenzt und dadurch als Gattung (Klasse) zusammengefaßt werden. Wir nehmen sonach eine generelle Klassifikation der sozialen Erscheinungen vor, indem wir die relevanten Merkmale zu einem eigenen Oberbegriff verbinden (16). Am meisten ausgeprägt ist diese Begriffsbildung auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, die ja durch ihr Alter und durch die glänzende formale Schulung der Römer ein altes Erbteil besitzt. Sodann aber haben es auch die Wirtschaftswissenschaften zu einer ausgedehnten Begriffsbildung gebracht. In anderen Sozialwissenschaften geht ihre Ausgestaltung langsamer und weniger präzise vor. Aber sie geschieht ebenfalls in analoger Weise, wie hier nicht auszuführen ist. Es ist die "Trennung" der zusammengesetzten Tatsachen, mit der schon das gemeine Denken überall operiert, um eine Orientierung in der Welt zu ermöglichen. Es mag beiläufig erwähnt werden, daß es kein Zufall ist, wenn vor allem die Wissenschaften, die mit einer unmittelbaren Anwendung im praktischen Leben zu tun haben, Recht und Wirtschaft, am Stärksten ihre Begriffe ausgebildet haben. Es ist für sie ein unmittelbares Lebensbedürfnis über eindeutige Bezeichnungen zu verfügen.

Wir haben es sonach in den Sozialwissenschaften stets mit isolierten Klassen gewisser Erscheinungen von bestimmtem Umfang und bestimmtem Inhalt zu tun, die durch jene wesentlichen Unterscheidungsmerkmale charakterisiert sind. Wir zerlegen das Ganze des Geschehens in Teilinhalte und behandeln notwendig jeden von ihnen für sich. Diese Klassen stellen qualitativ verschiedenartige, wenn auch in sich einheitliche (homogene) Gebiete sozialer Betätigungen dar. Logisch erscheinen die einzelnen Gattungen und Klassen immer getrennt und allein durch den gemeinsamen Oberbegriff "gesellschaftlicher Erscheinungen" zusammengehalten. Sitte und Kunst, Wirtschaft und Politik, Recht und Religion, Sprache und Bevölkerung sind solche qualitativ verschiedene Gebiete, die eine, bzw. mehrere isolierte, homogene Reihen mit eigenen Begriffen und eigenen Merkalen umfassen. Für uns stellt sich demnach die Gesamtheit aller sozialen Lebensäußerungen immer so dar, daß wir es stets mit einzelnen dieser durch wesentliche Gattungsmerkmale charakterisierten homogenen Klassen zu tun haben. Wir bilden stets Gattungsbegriffe für bestimmte soziale Betätigungen und betrachten dann stets diese, durch sie gebildeten isolierten Reihen für sich. So braucht der Rechtshistoriker die Rechtsbegriffe so gut wie der Wirtschaftshistoriker die Wirtschafts-, der Sprachhistoriker der Sprach-, der Kunsthistoriker der Kunstbegriffe bedarf. Und wir haben es entsprechend mit Klassen von Wirtschaftsreihen, Sprachreihen, Kunstreihen usw. zu tun.

Die Gesamtheit dieser begrifflich abgesteckten sozialen Gebiete und die Verbindung ihrer einzelnen Reihen bildet gerade das, was wir die Gesellschaft nennen. Eine Klassifikation jener sozialen Gebiete und ihrer verschiedenen qualitativen Gattungsmerkmale soll hier nicht unternommen werden, so notwendig sie auch erscheint (17); ebensowenig die Frage der Über- und Unterordnung einzelner von ihnen oder ihre gegenseitige Abhängigkeit. Dieser ganze Prozeß der Begriffsbildung ist nur ein Mittel, um der "Wirklichkeit" und der gegebenen Mannigfaltigkeit Herr zu werden; als Ganzes wird sie nicht unmittelbar erfaßlich. Über die Art, wie von uns die einzelnen Merkmale dieser verschiedenen Betätigungsgebiete bestimmt werden und welche Merkmale die einzelnen sozialen Gebiete konstituieren, ist hier nicht zu handeln; es gehört in die Lehre von den Urteilen und von der Induktion. Die Begriffe, mit denen es die Sozialwissenschaften zu tun hat, sind freilich in besonders hohem Maß der Veränderung unterworfen. Sie vermannigfachen und differenzieren sich beständig, so daß eine frühere Zeit unter demselben Wort bzw. Begriff oft erheblich einfachere, integralere Vorstellungen mit einem weit kleineren Inhalt verstand als eine spätere (18). Die Differenzierung des begrifflichen Materials bildet hier wie überall ein ganz wesentliches Moment wissenschaftlichen Fortschritts und damit einer besseren Orientierung in der Welt.

Es ist diese begriffliche Isolierung in qualitativ verschiedene soziale Gebiete nun freilich nicht dahin zu verstehen, als wenn zwischen diesen isolierten Reihen nicht wieder Beziehungen und Abhängigkeiten näherer oder entfernterer Art bestünden. Als wenn so die realen Vorgänge, die ja nur für die Erkenntnis in diese isolierten Reihen gefaßt werden, ganz unabhängig voneinander wären. Als wenn z. B. zwischen Recht und Kunst oder Religion und Wirtschaft nicht wieder Beziehungen beständen, die ihrerseits zu erfassen sind. Unsere begriffliche Trennung bedeutet gewiß nicht eine reale Abgeschlossenheit. Die Gesellschaftswissenschaft stellt sich gerade die Aufgabe, diese näheren Beziehungen herzustellen und die isolierten Reihen miteinander zu verbinden. Das war ja der Ausgangspunkt gewesen, weswegen wir das soziale Moment als das gemeinsame Charakteristikum betonten. Die Erkenntnis dieses generellen Gesamtzusammenhangs macht ein wesentliches Stück der Gesellschaftslehre aus. Aber zum Zweck wissenschaftlicher Erkenntnis kann man wirklich nicht anders vorgehen, als daß man qualitativ verschiedene, aber durch bestimmte Gattungsmerkmale herausgehobene isolierte und homogene Klassen absondert. Wir beschreiben damit nur das geübte logische Verfahren selbst, ohne unsererseits etwa vorzuschreiben, was geschehen soll. Wir bewegen uns durchwegs auf den Bahnen einer "natürlichen Dialektik". Sie wurde in der vorwissenschaftlichen Praxis immer gehandhabt und entspricht dem natürlichen Prozeß aller Begriffsbildung. Die Frage ist aber für uns unabhängig davon, ob denn hinter diesen begrifflich getrennten Gebieten eine letzte Einheit besteht: ob diese etwa nur eine begriffliche Zusammenfassung heterogener Einzelinhalte darstellt, wie etwa die "Seele" auch nur die Gesamtheit psychischer Vorgänge bedeutet oder ob eine reale substantielle Gesellschaft besteht und welche Vorstellungen wir uns von ihr machen. Diese metasoziale und metahistorische Seite kann für unsere nächsten Entscheidungen noch ganz dahingestellt bleiben (19).

2. Aus der Art der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung folgt sofort zweierlei: Es kann zunächst keine solche Allgemeingesetze geben, deren Inhalt etwa auf alle und jede Klasse von Erscheinungen anwendbar wäre (20). Es ist das nicht möglich, weil das soziale Geschehen selbst für uns sich nicht als eine reale Einheit darstellt, sondern nur als ein Neben- und Nacheinander verschiedenartiger Vorgänge. Es kann nur Partialgesetze innerhalb jedes Teilsystems (Gebietes) sozialen bzw. geschichtlichen Lebens geben. Es können also nur Wirtschaftsgesetze, ebenso Kunst- und Sprachgesetze, Gesetze der Politik und der Religion nebeneinander bestehen. Jedes dieser Teilsysteme hat, wie wir sahen, seine eigene Begriffsbildung, indem es gewisse Eigenschaften von menschlichen Handlungen und Vorgängen, sowie gewisse Objekte und Verhältnisse für sich betrachtet und aus der Gesamtheit menschlichen Geschehens als relevant heraushebt (d. h. isoliert). Um ein Beispiel zu geben: ein so ausgesprochen soziales Gebilde wie die Stadt [Bielefeld - wp] läßt sich nacheinander geographisch, rechtswissenschaftlich, ökonomisch, künstlerisch erfassen. Es sind verschiedene Seiten desselben Gegenstandes, die sich für uns in verschiedenen Begriffsreihen darstellen. Und wenn wir bezüglich der Städtebildung oder Stadtentwicklung zu gesetzmäßigen Aufstellungen gelangen, so gehören diese immer nur einer jener begrifflich getrennten sozialen Gebiete an. Es handelt sich also stets um soziale Gesetze nur innerhalb jener Teilsysteme, um soziale Partialgesetze. Von etwas anderem kann überhaupt nicht die Rede sein.

Das Vorhandensein solcher Partialgesetze leugnen erscheint darum als ein wenig aussichtsvolles Unternehmen, weil tagtäglich von ihnen Gebrauch gemacht wird. Das, was man "Erfahrung" auf irgendeinem Gebiet nennt, ist überhaupt niemals ein einzelnes Erlebnis oder eine einzelne Beobachtung, oder eine bestimmte Überlieferung als solche. "Erfahrung" wird die äußere oder innere Wahrnehmung erst durch einen langen logischen Prozeß: durch den Vergleich mehrerer Erlebnisse, durch ein Fortlassen des Zufälligen und ein Differenzieren ähnlicher Momente, durch ein stärkeres Betonen des Wesentlichen, d. h. des überall wiederkehrenden Gleichen. Jede "Erfahrung" ist also ein Abstraktionsprozeß ziemlich verwickelter Art. Auch die "Regeln", die aus der "praktischen Erfahrung" des Landwirts und Kaufmanns, des Feldherrn und des Staatsmanns, des Künstlers wie des "gesunden Menschenverstandes" entnommen sind, beruhen auf logischen Abstraktionsprozessen. Demnach gibt es also nicht allgemeine soziale Gesetze schlechthin, die sich überall auf jedem Gebiet finden, die für Religion und Wirtschaft, Kunst und Sprache usw. gleichmäßig gelten. Wohl aber kann es für jedes dieser Teilgebiete, die wir oben charakterisiert haben, spezielle soziale Gesetze geben. Ihre Art ist folglich der genau entsprechende Ausdruck der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt.

3. Nun erhebt sich allerdings sofort ein gewichtiger Einwand. Aus jener Art der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung folgt eine nicht geringe Schwierigkeit des methodologischen Vorgehens, eine gewisse logische Antinomie. Die sozialen Gesetze können nur aus einem gegebenen Komplex von Begebenheiten abgeleitet werden, d. h. es ist nicht möglich, etwa die Bedingungen für einzelne Reihen willkürlich zu gestalten. Allerdings experimentiert das Leben gleichsam selbst. Die Geschichte macht Versuche und zeigt dieselben Vorgänge in verschiedenen Umgebungsbestandteilen und unter variablen Bedingungen. Und es ist sicher, daß wir aus dem gleichen und einem ähnlichen Ausfall einzelner Geschehnisse oder durch die Abweichungen bei ähnlichen Vorgängen überhaupt auf die Natur solcher Zusammenhänge aufmerksam geworden sind. Es gibt außerdem eine Art von Experimenten durch Abstraktion im Gedanken, indem man die Wirkungsweise eines Umstands unter verschiedenen Bedingungen erforscht. Eine solche Art des Experimentierens nehmen wir immer dann vor, wenn wir einzelne isolierte Reihen miteinander verbinden, um ein Kausalitätsverhältnis festzustellen ("experimentierende Kausalitätsforschung"). Die Erprobung der Politiker, Feldherren, Künstler, Praktiker mit ihren "Erfahrungen" sind verwandter Art. Aus der absichtlichen oder spontanen Variation der Umstände machen sie ihre Schlüsse.

Aber gerade hierin zeigt sich das eigentümliche Gesicht der Sozialwissenschaft, daß sie zwar immer nur begrifflich isolierte Klassen von Erscheinungen betrachten kann, daß aber die Isolation in Wirklichkeit ein künstliche, nie eine reale ist. Es besteht im Gegenteil stets eine gegenseitige Verquickung mehrerer Reihen in demselben Ereignis. Darum ist es z. B. so schwierig, die Wirkung eines einzelnen Elements oder einer einzelnen Maßnahme, etwa die Wirkung eines Zolls oder einer hygienischen Einrichtung, ohne Weiteres zu verfolgen. Es ändert sich stets nicht nur gerade dieses eine Moment, sondern auch die anderen Faktoren. Es scheint mithin nichts auszumachen, welcher Anteil auf das eine, gerade herausgegriffene Glied, welcher auf die Kollateralen [Mitbetroffenen - wp] dabei entfällt.

Die einzelnen von uns begrifflich isolierten Reihen stehen untereinander in einem beständigen und durchgreifenden Konnex. Die Wirkung, die von der einen Klasse etwa der wirtschaftlichen oder religiösen oder rechtlichen Reihe ausgeht, erstreckt sich weit über diese Klasse hinaus. Das ist eben die Eigenart der Gesellschaft. Wir können dann wohl die Pluralität der Wirkungen eines bestimmten Ursachenkomplexes auf verschiedene Reihen darstellen. Aber wir müssen dabei zugleich bedenken, daß auch eine gegenseitige Filtration der Ursachen stattfindet. Und doch sollen andererseits die sozialen Gesetze, wie wir ausgeführt haben, sich stets nur auf ein isoliertes Gebiet beziehen. Die Folge dieser Unadäquatheit der sozialen "Wirklichkeit" und der Mittel, sie begrifflich zu fassen, ist für die Gesellschaft darum so groß, weil uns ja unmittelbar stets nur jener Gesamtkomplex als eine verbundene Einheit gegeben ist. Wegen des Zusammenseins aller sozialen Erscheinungen hat aber die Änderung eines Elements oder Bestandteils des Komplexes stets auch Änderungen anderer Elemente oder Bestandteile im Gefolge. Jede soziale Erscheinung wird mehr oder weniger durch jeden anderen Teil der Umstände derselben Gesellschaft beeinflußt (21). Und doch: wenn soziale Gesetze möglich sein sollen, muß man imstande sein, den Zusammenhang und die Wiederkehr gerade innerhalb solcher isolierter Reihen zu betrachten. Sonst kann es jene Gesetze selbst gar nicht geben. Wie sind also die Schwierigkeiten dieser Antinomie zu heben, damit soziale Gesetze wirklich werden? Die Entscheidung darüber muß offenbar allen anderen Erwägungen vorausgehen.

4. Es scheint eine selbstverständliche Bemerkung, daß aus einem einzelnen sozialen Geschehen noch keine "Erfahrung" irgendwelcher Art abzuleiten ist. Der Zusammenhang, den das Gesetz aufdeckt, die Wiederkehr gleichartiger Erscheinungen, die wir als gesetzmäßig bezeichnen, ergibt sich erst aus der Methode der Vergleichung. Ob eine reine und vollständige Bestimmung des Einzelnen und Individuellen ohne das Vorhandensein des Generellen überhaupt denkbar ist, soll uns hier nicht beschäftigen. Nur die Bedingungen für die Erkenntnis des Gemeinsamen, Typischen, des Gesetzmäßigen gilt es darzulegen. Da ist es eben unzweifelhaft, daß aus der Untersuchung des individuellen komplexen Falles und des einzelnen Prozesses sich noch nichts Gemeinsames ergibt. Wer also von vornherein sein Augenmerk nur auf diese Daten beschränkt, kann sich nicht wundern, daß er keine Gesetzmäßigkeiten findet und den kollektiven Wald vor lauter individuellen Bäumen nicht sieht. Der Grund ist: nur durch die Vergleichung verwandter Geschehnisse läßt sich ersehen, ob die Variation der Umstände allein genügt, um schon eine Änderung herbeizuführen oder ob auch unter variablen Umständen sich ein Komplex von Erscheinungen (Ursachen) stark genug zeigt, um bestimmte Folgen auszulösen. Die Absicht, das Gemeinsame und das Abweichende herauszufinden, wird erst durch die Methode der Vergleichung und der Differenzierung erreicht.

Die Lautgesetze ergeben sich nicht aus einer Darstellung des einmaligen Zustandes einer Sprache oder eines Dialekts in einer bestimmten Zeit: die ist immer eigenartig und individuell, wie der einzelne Zweig dieser Gaisblattlaube oder die einzelne Gebirgsformation des Gorner-Grates es ist. Sondern erst aus der Vergleichung von zwei Sprachdurchschnitten zu zwei verschiedenen Zeiten kommen wir dazu, Gleichmäßigkeiten zu finden (22). Ebenso ist z. B. die regelmäßige Aufeinanderfolge der Verfassungsformen, die ARISTOTELES in seiner Politik glaubt gefunden zu haben (3), aus der vergleichenden Betrachtung ähnlicher Fälle abstrahiert. Denn selbst wenn der einzelne Fall schon einen Typus darstellen sollte, so ist doch zumindest zur Erkenntnis davon, daß es ein Typus ist, wiederum eine generalisierende Betrachtung, das Vergleichen eines verschiedenartigen Geschehens nötig. Wir können aus dem einzelnen Vorgang der Preisgestaltung an der Börse durch eine Analyse der Elemente gewiß die Preisgesetze ableiten. Aber um zu wissen, daß dies überhaupt der typische Vorgang ist, müssen wir andere Vorgänge hinreichend kennen. Erst aus der Vergleichung mehrerer Fälle ist zu ersehen, welcher von den Begleitumständen zufällig, welcher notwendig dazu gehört.

Daher ist in der Sozialwissenschaft die Methode der Vergleichung die Bedingung für die Möglichkeit sozialer Gesetze. Darum gehen die Rechts-, die Sprach-, die Wirtschafts- und Religionswissenschaft implizit vergleichend vor, wenn sie die Wiederkehr ähnlicher Geschehnisse konstatieren. Das Generelle kann nur das Ergebnis des logischen Prozesses der Vergleichung sein. Wir nennen dieses Generelle Typus, wenn es sich um ein Objekt (Person, Sache) oder ein Gebilde (Markt, Schule, Verfassung), Gesetzmäßigkeit, wenn es sich um einen Prozeß, um ein Geschehnis handelt. (24) Die gemeinsamen Merkmale eines sozialen Vorkommens werden herausgehoben und zu einem Typus oder zur Bildung eines Gesetzes verdichtet. Der Vorgang ist also logisch genau derselbe wie bei der Bildung allgemeiner sozialer Begriffe überhaupt. Es ist vorher gezeigt worden, daß keine Wissenschaft, auch nicht die vom Individuellen und Singulären dieser Typenbildung entbehren kann.

Die Vergleichung kann nun entsprechend unseren Kategorien doppelter Art sein. Einmal geschieht sie in der Zeit, indem man wie bei der Sprache dieselben Elemente zu zwei verschiedenen Zeitpunkten miteinander vergleicht. Oder sie geschieht im Raum, indem man analoge Vorgänge gegenüberstellt. Eventuell können beide Momente miteinander verbunden werden. Die Möglichkeit des Vergleichens ist dabei eine ganz allgemeine.
    Eine Grenze der Vergleichsmethodik und damit eine Grenze für die Möglichkeit von Gesetzmäßigkeiten gibt es im ganzen Bereich der Sozialwissenschaften nicht.
Die Logik ist aber unabhängig davon, ob der einzelne Forscher sich auf die Beschreibung des einzelnen Falles beschränkt; auch unabhängig davon, ob die sozialen Gesetze historisch immer wirklich auf diese Weise gefunden sind, noch weniger, ob die Wissenschaft sich ihres Vorgehens bewußt geworden ist. Die historia fiendi [Entstehungsgeschichte - wp] interessiert und nicht, sondern die ratio essendi [Grund der Existenz - wp]. Und da ist eben die Methode der Vergleichung bzw. Differenzierung im Bereich der Sozialwissenschaften das eine Denkmittel.

5. Die Möglichkeit sozialer Partialgesetze beruth aber weiter auf dem Kunstmittel der Abstraktion, d. h. der Trennung bestimmter Merkmale aus dem Zusammenhang, mit dem sie verbunden erscheinen. Darüber noch einige Worte. Erst dann ist nämlich erwiesen, daß wir die Aufstellung von Gesetzen mit Erfolg unternehmen, wenn gezeigt werden kann, daß die Sozialwissenschaft sich auch ohndies der abstrahierenden Methode mit innerer Notwendigkeit bedient. Das sollte ja ein Unterschied der Wissenschaften sein, daß die eine Art es mit dem Begriff, dem Gesetz, die andere es mit der "Wirklichkeit" zu tun hat. Aber diese reine Wirklichkeit besteht für gar keine Wissenschaft, auch nicht für die Geschichte, wie naive Menschen wohl denken. Die systematischen Sozialwissenschaften im weiteren Sinne bedienen sich nun beständig der Abstraktion (25). Das Staatsrecht abstrahiert z. B. von den einzelnen Individuen und ihren Gemeinschaften gänzlich und betrachtet einen rein abstrakten Begriff als ihr Substrat. Der Begriff der Stadt [wie Bielefeld - wp] als juristischer Person abstrahiert nicht minder von den einzelnen Einwohnern, indem man sich diese einfach wegdenkt. Das Maß, wie weit man jedesmal abstrahiert, ist verschieden. Wir haben schon daran erinnert, daß man die Stadt geographisch, statistisch, juristisch, ökonomisch, sozial, ästhetisch usw. betrachten kann. Bei jeder dieser Begriffsbildungen wird immer eine neue und spezifische Abstraktion, d. h. eine Trennung des Irrelevanten vom Relevanten vorgenommen. Erst durch diese Abstraktion kann die Einheit in der Vielheit erkannt und als eine von der letzteren verschiedene gesetzt werden. Es ist nicht nötig zu sagen, daß auch die Geschichtswissenschaft gar nicht anders vorgehen kann, als beständig einen solchen Abstraktionsprozeß vorzunehmen. Was wir also bei der Gewinnung der sozialen Gesetze tun, ist nur die spezielle Anwendung dieses selbstverständlichen Kunstgriffs sozialwissenschaftlicher Darstellung überhaupt. Es gibt so wenig eine religiöse Betätigung der Menschen ansich, wie es eine wirtschaftliche oder künstlerische gibt. Es gib, um dies gleich vorwegzunehmen, auch kein Seelenleben, das sich losgelöst von seinem Objekt (Umgebungsbestandteil) zeigen könnte. Vielmehr ist auch das psychische Gebiet in "Wirklichkeit" stets verbunden mit physiologischen oder objektiven Tatbeständen. Es gibt objektiv gar keine fremde Seele für sich, sondern stets nur eine "Seele für andere". Nur wir zerfällen diese menschliche Einheit, die Wirklichkeit der Gesellschaft in lauter Teilinhalte; nicht aus Laune und Willkür, sondern aus der Notwendigkeit des Verstandes.

Wir isolieren also zuerst die Erscheinung zum Zweck der Erkenntnis vom Zusammenhang gerade auch dann, wenn wir geschichtliche Reihen aufstellen. Schon die Quellen, aus denen wir die Kenntnis der einzelnen Gebiete schöpfen, sind ja ganz verschiedener Provenienz. Die politischen Quellen anders als die religiösen, die technischen anders als die wirtschaftlichen, die sprachlichen anders als die künstlerischen. Sie treten uns schon getrennt entgegen, obwohl der Gegenstand ansich immer mehrere dieser Eigenschaften verbinden kann. Nicht minder aber abstrahieren wir auch in jedem Fall von den Zufälligkeiten und von Unwesentlichem. Beim religiösen Verhalten sehen wir ab vom wirtschaftlichen, politischen, sprachlichen; wir sehen ab vom Alter, der Abstammung, dem Äußeren, der Generation u. a. Wir abstrahieren unbewußt bei allem sozialen Geschehen und Urteilen. Wir sehen bei jedem Ereignis und jeder Person mit Absicht ab von allen möglichen Umgebungsbestandteilen. Wir tun es in der Biographie sogar im höchsten Grad, daß wir abstrahieren und isolieren. Die Herausschälung des Individuums und seines Seelenlebens aus seiner Umgebung ist ja die stärkste Isolation, die wir vornehmen können. Es ist auffallend, daß selbst hervorragende Methodologen dies immer wieder übersehen (26) und meinen, sie hätten es im sozialen Geschehen oder in der Geschichte irgendwie mit einer "Wirklichkeit als solcher" zu tun.

Also diese beiden Methoden der Isolation und Abstraktion wenden wir bewußt oder unbewußt immer wieder mit logischer Notwendigkeit auf die sozialen Phänomene auch in der Geschichte an. Das Recht und die Notwendigkeit des abstrahierenden Vorgehens, das unmittelbar aus der Begriffsbildung folgt, kann nicht gut bestritten werden, da Praxis wie Wissenschaft es beständig benutzen. Wenn die sozialen Gesetze von der Methode der Abstraktion im besonderen Maß Gebrauch machen und sie auf isolierte Reihen anwenden: so tun wir auch hier nur etwas ganz Selbstverständliches und bleiben im Rahmen einer natürlichen Dialektik.

6. Es ist somit gezeigt, daß die Auffindung sozialer Gesetzmäßigkeiten in besonderem Maß sich der Methoden bedient, die überhaupt das Rückgrat der sozialen Wissenschaften darstellen. Die Auffindung des Generellen, Typischen, Gesetzmäßigen wird gewiß nur möglich durch die Kunstmittel der Vergleichung wie der isolierenden Abstraktion. Aber eben diese Methoden sind für sie selbst notwendige. Wenn die systematischen Sozialwissenschaften die Denkmittel der Vergleichung und der Differenzierung, der Isolierung und Abstraktion besonders ausgebildet haben, so tun sie nichts Wesensfremdes, sondern etwas, was in der Praxis des Lebens stets unbewußt geübt wurde. Diese Denkmittel sind unerläßlich zur Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit überhaupt. Auf diese Weise löst sich nun jene Antinomie, die zwischen der Komplexität sozialer Erscheinungen auf der einen und der Darstellung spezieller Gesetze in bestimmten Klassen auf der anderen Seite zu bestehen scheint. Nur weil wir stets mit fertigen, anderwärts vorgebildeten Kategorien an die sozialen Erscheinungen herantreten, sind wir uns des methodischen Weges nicht mehr bewußt. Das darf uns aber nicht hindern, seine eigentliche Bedeutung zu untersuchen. Die Methoden der sozialen Gesetze liegen also ganz im Rahmen unseres sonstigen methodologischen Vorgehens.

Nun ist allerdings gegen diese ganze Deduktion eine Bemerkung gemacht worden, auf die zumindest hingewiesen werden soll. - Man soll sich nämlich durch eine direkt intuitive Erkenntnis, durch ein unmittelbares Erlebnis und Erfassen, gerade in den Geisteswissenschaften des Gegenstandes bemächtigen können. Es ist die Anschauung, die neuerdings vor allem von künstlerisch empfindenden Gelehrten und künstlerischen Metaphysikern betont wird. Die Intuition, die "Einfühlung" nicht nur als Methode der Metaphysik (BERGSON), sondern auch als das Spezifische des historischen (DILTHEY) und sozialen Erkennens (SOMBART) wird gerade in einen Gegensatz gestellt zu den begrifflichen Krücken und Hilfsmitteln, mit denen die Naturwissenschaften hantieren müssen (27). Soweit hierbei das Moment der Phantasie und der Anschauung in Betracht kommt, wird später darüber gehandelt werden. Es wird sich zeigen, daß tatsächlich ohne beide Sozialwissenschaft nicht auskommen kann, so wenig wie übrigens die Naturwissenschaft. Für uns ist eine andere Erwägung am Platz. Die "intuitive Erkenntnis" bedarf ihrerseits bestimmter Kategorien und Hilfsmittel. Sie bedarf es schon darum, weil sie anderen Menschen mitteilbar sein soll, weil sie sich der Sprache, der Symbole, der Ausdrucksmittel bedient. Reine Anschauung aber ohne Begriffe sind blind: sie kommt gar nicht zum deutlichen Bewußtsein, geschweige denn zum Ausdruck und zur Mitteilung. Reine "Anschauung" gibt gar keine Erkenntnis, schafft kein Wissen. Und wenn sich die Intuition meist der Bilder und Gleichnisse, der nur andeutenden Hinweise bedient, so setzt sie doch voraus, daß zumindest diese analogen Symbole und Bilder genau so gedeutet werden, wie sie es voraussetzt. Selbst eine nur andeutende symbolische Redeweise will doch letztlich etwas plausibel und eindrücklich machen, will etwas beweisen und als richtig und notwendig hinstellen. Das aber ist wiederum ein begrifflich logischer Prozeß. Die intuitive Methode der Geisteswissenschaft hat es ja leicht; sie setzt die ganze begriffliche Arbeit einfach voraus, aber sie ersetzt diese nicht. -

Wir haben die Hilfsmittel betrachtet, die in den Wissenschaften vom sozialen Leben sich ausgebildet haben, um deren "Wirklichkeit" zu erfassen, soweit sie sich in den Gesetzen ausdrückt. Wenn dies aber die logischen Bedingungen sind, unter denen soziale Gesetze überhaupt als möglich erscheinen, so fragt es sich nunmehr: wie werden sie denn wirklich, wie steht es eigentlich mit der regelmäßigen Wiederkehr sozialer Beziehungen?
LITERATUR Franz Eulenburg, Naturgesetze und soziale Gesetze, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 32, Tübingen 1911
    Anmerkungen
    1) "Natur" ist ein Denkgegenstand, nicht etwa ein Begriff; über diesen Unterschied vgl. Lipps, Theorie der Kollektivgegenstände, 1902, Seite 5. Nur in der Mathematik fallen Begriff und Denkgegenstand zusammen.
    2) Wie ausdrücklich betont werden soll, stehen die folgenden Auseinandersetzungen grundsätzlich in einem Gegensatz zur sogenannten "kulturwissenschaftlichen Logik"; sie wollen mit dieser nichts gemein haben und verschmähen darum auch deren Terminologie. Es ist natürlich ein Mißverständnis zu meinen, daß sich aus dem logischen Setzen des kontradiktorischen Gegensatzes bereits eine sachliche Verschiedenheit der Wissenschaften ergeben könnte. Reale Wissenschaften müssen nach den Gegenständen, aber nicht nach logischen Kategorien eingeteilt werden, da letztere rein formal und darum inhaltsleer sind.
    3) Nämlich auf die technischen Werte und die Lebenswerte. Technische Werte (Macht und Können) ist die oberste "Beziehung" der physikalisch-chemischen wie der astronomischen Wissenschaften, Lebenswerte (Kraft und Gesundheit) die oberste "Beziehung" der gesamten biologischen und medizinischen Wissenschaften. Beides sind auch "Kulturwerte" im eminentesten Sinn und haben tatsächlich den mächtigsten Ansporn für die Entfaltung der Wissenschaften gegeben. In Münsterbergs "System der Werte" finden sich jene beiden Klassen überhaupt nicht: Macht und Leben fehlen trotz Schopenhauer und Nietzsche unter den Werten! Das ist kein Zufall. Denn in Wirklichkeit schiebt sich bei jenen kulturwissenschaftlichen Logikern ein Werturteil in die Wertbeziehung hinein. Sie verstehen nämlich durchweg unter "Werten" ganz bestimmte idealistische Werte des Geistes, auf die sich die Kulturwissenschaften beziehen sollen. Es ist letztenendes der metaphysische Gegensatz Materialismus und Idealismus, der uns hier in anderer Form begegnet. Jene Logiker wollen ja zugleich auch einen Neuidealismus begründen. Ihre Einteilung ist nicht auf ein Seinsurteil über Wertbeziehungen, sondern implizit auf ein Werturteil gegründet. Das bedeutet aber eine metabasis eis allo genos [unzulässiger Sprung auf eine andere logische Ebene - wp]. Der Ursprung dieser Anschauung geht übrigen aus Sigwart zurück, der ja auch die ganze Logik auf die Ethik aufbaut; vgl. Sigwart, Logik II, Seite 723f.
    4) Beiläufig sei bemerkt, daß es ein Irrtum ist, zu glauben, daß uns etwa das Objekt des Psychischen unmittelbar gegeben wäre. Es ist uns nie ein fremdes, sondern stets nur unser eigenes "Erlebnis", nie ein fremder, sondern nur mein individueller "Lebenszusammenhang" gegeben. Es ist also erst ein Objektivationsprozeß notwendig, um aus dem unmittelbaren "Erlebnis" herauszukommen. Darüber später mehr.
    5) Die Geburt ist zunächst ein physiologischer Akt; aber durch das Zusammenleben der Menschen und die Institution Ehe gewinnt sie eine soziale Bedeutung und gehört insofern in die Sozialwissenschaften. Auch die Sprache erwächst erst aus dem Mitteilungsbedürfnis Gleichstehender, setzt also Gesellschaft voraus; vgl. Wundt, Völkerpsychologie I, Seite 3f; Delbrück, Einleitung in das Sprachstudium, Seite 45.
    6) vgl. Windelband, Lehre vom Zufall, 1870; von Kries, Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, 1888, Seite 11.
    7) Gelegentlich der "Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte" wollen wir auf diese Einwände noch näher eingehen, da sie vor allem auch von historischer Seite erhoben werden.
    8) Vorläufig in "Neuere Geschichtsphilosophie III" (siehe dieses "Archiv", Bd. XXIX, Seite 545f) gegen Gottl. - "Geschichte" ist zunächst nur ein formales Anordnungsprinzip, das ebenso auf Naturgegenstände (Sonnensystem, Lebewesen, Gesteine, Rassen) wie auf soziale angewandt werden kann. Diese "Geschichte im weiteren Sinne" hat gar keinen einheitlichen Gegenstand, sondern bildet einen Bestandteil aller Wissenschaften. Die "historischen Wissenschaften im engeren (eigentlichen) Sinn" haben es mit den sozialen Betätigungen der Menschen zu tun und in diesen ihren eigentlichen Gegenstand. Dies auch gegen Dittrich; vgl. "Neuere Geschichtsphilosophie", dieses Archiv, Bd. XXIX, Seite 570f.
    9) Eine Klassifikation ist hier nicht beabsichtigt. Wundt teilt die Geisteswissenschaften abgesehen von der Psychologie in Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften. Zu ersteren gehören Philologie, Geschichte in eigentlichen Sinn, Sprachwissenschaft, Mythologie und Ethologie, zu letzteren Soziologie, Ethnologie, Bevölkerungslehre, Staatswissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaft. Es fehlen in dieser Anordnung also Kunst, Religion und Politik. Doch hat Wundt im Ganzen den Unterschied von historischer und systematischer Geisteswissenschaft richtig gefaßt, wenn auch über die Anordnung große Bedenken vorliegen.
    10) Dieser Meinung scheint z. B. Max Weber zu sein; wir kommen darauf eingehend zurück. Vorläufig nur eine Zitat aus Friedrich Harms (nach Koigen im "Archiv für systematische Philosophie", Bd. XIV, 1908, Seite 562: "Wenn es nicht Kräfte der Dinge gebe, welche nach Gesetzen wirken, die individuelles und persönliches Leben in sich umfassen und daher in unendlichen Modifikationen zur Wirklichkeit kommen, würde es keine Geschichte geben, deren Möglichkeit dadurch bedingt ist, daß es eine solche Gesetzmäßigkeit des Geschehens gibt."
    11) Der Beweis könnte auch rein vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis geführt werden. Aber der eingeschlagene Weg wurde darum gewählt, weil im Bereich der sozialen Wissenschaften eine Einigung über jene noch nicht erzielt ist.
    12) Letzteres ist bezüglich der Krisenvoraussicht aus bestimmten Symptomen z. B. sehr gut ausgeführt bei Rießer, "Die deutschen Banken", 1910, Seite 16f.
    13) Daß auch diese Änderungen bestimmte sind, soll hier nicht näher erörtert werden. Gute Bemerkungen darüber bei Vierkandt, Stetigkeit und Kulturwandel.
    14) Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und des Spielraums siehe die Abhandlung von Kries, Seite 14 - dem der Verfasser mannigfache Anregung verdankt. Sie scheint mir mit zum Wichtigsten zu gehören, was für unser Gebiet an methodologischen Gedanken bisher hervorgebracht ist. - "Wie ein gesichertes Handeln auf die Natur die Naturgesetzmäßigkeit oder zumindest eine gewisse Regelmäßigkeit im Naturlauf zur Voraussetzung hat, so wird soziales Wirken nur dadurch möglich, daß eine gewisse Gesetzmäßigkeit das willkürliche Handeln der Einzelnen reguliert." Paulsen, Ethik in der "Kultur der Gegenwart", Seite 292.
    15) Diese Auffassung ist also gerade das Gegenteil der Georg Simmels, dessen Interesse ganz auf das Individuelle gerichtet ist, der im Individuellen das Merkmal sozialen Daseins und praktischen Verhaltens erblickt. Er sagt (Über soziale Differenzierung, Seite 19; vgl. Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen, Seite 171, der ihm beipflichtet): "Die gemeinsame Grundlage, auf der sich alles Individuelle erst erhebt, ist etwas Selbstverständliches und kann deshalb keine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, die vielmehr ganze (?) von den individuellen Unterschieden verbraucht wird; alles praktische Interesse, alle Bestimmung unserer Stellung in der Welt, alle Beurteilung anderer Menschen ruht auf diesen Unterschieden zwischen Mensch und Mensch, während der gemeinsame Boden, auf dem all das vorgeht, ein konstanter Faktor ist, den unser Bewußtsein vernachlässigen darf, weil er jeden der allein wichtigen Unterschiede in der gleichen Weise berührt." Es handelt sich um zwei Probleme: 1. um die quaestio facti, ob wirklich das praktische Interesse auf das Individuelle gerichtet ist und von der gemeinsamen Grundlage absehen kann? Der Text hat wohl genugsam erwiesen, daß das Gegenteil allein richtig ist. Das Allgemeine, das ja keineswegs identisch ist mit dem absolut Gleichen, spielt beständig in jeder Beziehung von Mensch zu Mensch hinein und ist die Grundlage auch des individuellsten Handelns. Wer dieses Allgemeine übersehen wollte, kommt gar nicht zu einer "praktischen Erfahrung"; 2. sodann handelt es sich um eine quaestio juris, ob man nämlich auch nur theoretisch überhaupt vom Gemeinsamen absehen kann, mit dem das Individuelle doch immer zusammen auftritt und von dem es nur eine Modifikation bestimmter Art darstellt. Das ist nicht möglich; es würde einfach besagen, sich um die Hauptsache nicht zu kümmern, sondern nur die akzidentiellen [zufälligen - wp] Modifikationen, das Nebensächlich zu beachten. Der angeblich "konstante Faktor" ist doch in Wirklichkeit unter verschiedenen Bedingungen von verschiedener Wirksamkeit; vor allem ist er aber selbst der beständigen Änderung unterworfen - also schon darum keineswegs zu vernachlässigen. Übrigens ist es doch ein seltsames Verfahren, nur die Modifikationen der Erscheinungen zu betrachten und nicht die allgemeinen Bedingungen ihres Eintretens. Der letzte Grund ist freilich auch hier, daß Simmels Sozialphilosophie ganz ethisch fundiert ist. Es gilt ihm die "Freiheit des Geistes", die "freie, sich selbst gehörende Persönlichkeit" vor Naturalismus und Historismus zu retten". (Die Probleme der Geschichtsphilosophie, Seite VIII). Es ist das Credo all seiner Untersuchungen.
    16) Auf die Art sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung ist hier nicht im Ganzen einzugehen, da es in die Logik gehört. Man unterscheidet auch Ding- und Relationsbegriffe; Spann trennt Wesens- und Funktionsbegriffe, wobei erstere auf die isoliert gedachten sozialen Einzelerscheinungen, letztere auf das Zusammenwirken sozialer Leistungen im Ganzen gerichtet ist. Vgl. Othmar Spann, Der logische Aufbau der Nationalökonomie (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1908, Seite 4f). Wir werden die Ausdrücke Objekt (Gebilde) und Vorgang (Geschehnis) öfters dafür gebrauchen. Es ist übrigens auffallend, daß der logische Prozeß der Rechtsbegriffe bisher so wenig untersucht ist und die Logiker so wenig interessiert.
    17) Damit deckt sich im Prinzip Spann, "Wirtschaft und Gesellschaft", ein Buch, das mir erst nach Abschluß dieser Untersuchungen zu Gesicht kam. Er nennt Seite 6 diese Teilinhalte "Objektivationssystem" und versteht darunter "Systeme gleichartiger d. h. auf dasselbe Ziel gerichteter Handlungen der Individuen und der Verhältnisse, die sich dabei ergeben."
    18) Dies hat in feiner Weise Kistiakowski, "Gesellschaft und Einzelwesen" ausgeführt.
    19) Die Erörterungen über den Gesellschaftsbegriff sind doch recht unfruchtbar: sie gehören an das Ende einer Untersuchung, nicht an den Anfang. Darum erscheint mir der Ertrag der Spannschen Untersuchung, der sich wesentlich mit dieser formalen Begriffsfrage abgibt, nicht sehr ertragreich.
    20) In Logik Mills muß es besonders unglücklich erscheinen, daß er für die Methoden der Gesellschaftswissenschaften immer die naturwissenschaftlichen Ausdrücke anwendet. So spricht er von der "chemical or experimental method" der "geometrical or abstract, physical or concrete deductive method" und gebraucht überall die Analogien aus der Natur statt aus der Logik selbst. Wir haben darum in diesem Teil unserer Untersuchung jeden Hinweis und jede Analogie, ja sogar jedes Bild, das aus den Naturwissenschaften entnommen ist, mit Absicht vermieden.
    21) Dieses Moment hat Mill, System der Logik, VI. Buch, Kapitel 7, Seite 518 mit Recht hervorgehoben.
    22) Vgl. Delbrück, Das Wesen der Lautgesetze, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 1, Seite 304.
    23) Indem er die Zahl der Regierenden zum charakteristischen Unterscheidungsmerkmal für jede von ihnen nimmt.
    24) Wie bemerkt deckt sich damit die Unterscheidung von Ding- und Relationsbegriff, von Wesens- und Funktionsbegriff (vgl. Anm. 16).
    25) Übrigens gilt dasselbe von der Kunst; vgl. das Wort Max Liebermanns "Zeichnen ist Auslassen", das allgemein von jeder Kunstübung gilt (zitiert bei Corinth, Das Erlernen der Malerei, Seite 84). - Auch etwa bei der Schilderung zweier Gegner sehen wir von ihrem Alter, ihrer Generationenzugehörigkeit und anderem ab: abstrahieren also auf das Stärkste.
    26) So neuerdings wieder Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, Seite 118 gegen den Verfasser. Bernheim meint, daß die Geschichte nicht abstrahieren darf! Sie tut es beständig. Es wird darauf zurückzukommen sein. 27) Werner Sombart, Das Lebenswerk von Karl Marx, Seite 41; dazu dieses Archiv, Neuere Geschichtsphilosophie II (Bd. XXVII), Seite 803f.