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WILHELM WUNDT
Über die Einteilung der Wissenschaften
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"Wenn Zahl und Größe Eigenschaften der Körper sind, was sind dann die sogenannten geistigen Eigenschaften anderes als ebenfalls solche Eigenschaften gewisser Körper? Es genügte die Berufung auf die tatsächliche Erfahrung, also die Vertretung eines wissenschaftlichen Standpunktes, der die Tatsachen lediglich so gelten ließ, wie sie unmittelbar in der Erfahrung gegeben sind. Da nun hier zwar die Körper Gegenstände unmittelbarer Wahrnehmung sind, nicht aber die Geister, welche vielmehr immer nur zu gewissen Erscheinungen, die wir an Körpern wahrnehmen, vorausgesetzt werden, so ist offenbar von diesem Standpunkt aus die Koordination einer Körper- und einer Geisterwelt bestreitbar, und damit fällt zugleich das ganze Gebäude der auf diese Unterscheidung gerichteten Klassifikationen. Es ist Auguste Comtes System, welches diese Auffassung, die innerer Folgerichtigkeit aus den in seiner positiven Philosophie entwickelten Anschauungen hervorgeht, zur Geltung gebracht hat. Die notwendige Konsequenz dieses Schrittes war es aber, daß das Prinzip der  einfachen Gliederungen  überhaupt verlassen und an die Stelle derselben das Prinzip der  einfachen Stufenfolge  gesetzt wurde. Waren es nicht mehr die Gegenstände, die man als Objekte verschiedener Wissenschaft gelten ließ, so konnten als solche nur noch die  Eigenschaften  der allen Wissenschaften gemeinsamen Gegenstände übrig bleiben."

I. Zur Geschichte der
Klassifikationsversuche

Wenn der Wert eines Werkes nicht nach den Ansprüchen, die es erhebt, sondern nach der Wahrheit und Fruchtbarkeit seiner Gedanken geschätzt werden muß, so wird kein Einsichtiger zweifeln, aß nicht das "Novum organon" sondern die Schrift "De dignitate et augmentis scientiarum" das bedeutendste unter den Werken BACONs genannt werden muß. Nur Philosophen, die mit den wirklichen Methoden der Naturforschung und ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht bekannt sind, oder Naturforscher, die BACON niemals gelesen haben, können heute noch an die Fabel glauben, daß BACON der Schöpfer der naturwissenschaftlichen Methode sei. Daß das neue Organon neben vielem Unrichtigen auch einige richtige Gedanken enthält, wird ja niemand bestreiten. Mit seiner Bekämpfung der aristotelischen Syllogistik und mit seinem energischen Hinweis auf Erfahrung und Experiment gibt es dem in der wissenschaftlichen Arbeit der großen Naturforscher der gleichen Zeit herrschenden Geist einen beredten Ausdruck. Aber nicht minder gewiß ist es, daß die von BACON gelehrte Methode im ganzen genommen völlig verfehlt ist, und daß sie in der wirklichen Forschung weder jemals befolgt wurde, noch befolgt werden kann. In der Tat hat über diesen Punkt bei den Naturforschern, die mit BACONs Werk sich beschäftigt, von WILLIAM HARVEY an bis auf JUSTUS LIEBIG, niemals ein Zweifel bestanden. Wenn dasselben überhaupt einen Einfluß auf die Folgezeit ausübte, so war es nicht die naturwissenschaftliche Induktion, sondern die Theorie, welche die Logiker vom Wesen der Induktion bildeten, an der dieser Einfluß zu spüren ist. Gedanken in das Prokrustesbett einer Methode zu zwängen, die ihnen völlig inadäquat ist, mag zwar eine anerkennenswerte Übung des Scharfsinns verraten, aber zur Aufklärung der Sache kann dieses Verfahren niemals dienlich sein.

Dagegen wird das Werk über die Würde und den Fortschritt der Wissenschaften immer eines der staunenswertesten Denkmäler der Literatur bewundern, mit welchem hier der Geist des Autors das Reich der zukünftigen Wissenschaften überschaut, um in klaren Umrissen den Plan für Forschungsgebiete zu entwerfen, zu denen in seiner eigenen Zeit noch nicht einmal die dürftigsten Anfänge zu finden waren. Die Regeln, die er für die Behandlung der Geschichte überhaupt aufstellt, die Aufgaben, die er insbesondere eine künftigen Geschichte der Wissenschaften und Künste vorzeichnet, haben noch heute von ihrer treffenden Wahrheit nichts verloren. Die ungeheuren Erfolge der technischen Anwendungen physikalischer Forschung sieht er mit einer Bestimmtheit voraus, die uns die Mangelhaftigkeit seiner eigenen Experimente vergessen läßt. In einer Zeit, die noch immer von den fruchtlosen Streitigkeiten der Anhänger eines GALEN und PARACELSUS über das Wesen der Krankheit erfüllt ist, weiß er die Wichtigkeit einer anatomischen Untersuchung der kranken Organe und einer experimentellen Prüfung der Arzneimittel beinahe so treffend wie ein Vertreter der wissenschaftlichen Medizin des neunzehnten Jahrhunderts zu würdigen.

Aber trotz der eifrigen Bekämpfung aristotelischer und scholastischer Lehren trägt BACON auch hier die Fesseln überlieferter Anschauungen. Seine Einteilung der Wissenschaften geht auf die nämlichen Voraussetzungen zurück, welche die alten Philosophen ihrer Gliederung der Philosophie zugrunde legten. Wenn die Platoniker dereinst in die drei Gebiete der Dialektik, Physik und Ethik die ganze Philosophie schieden, so waren es sichtlich die drei platonischen Geistesvermögen, die in dieser Einteilung nachwirkten: die Dialektik beruhte ihnen auf der alleinigen Betätigung der Vernunft, die Physik gründete sich zunächst auf die sinnliche Wahrnehmung, die Ethik aber bezog sich auf das Begehren und das aus ihm entspringende Wollen und Handeln. ARISTOTELES behielt die Dreiteilung bei, aber er veränderte ihre Bedeutung, indem er die Grenzen und die Aufgaben der einzelnen Gebiete zum Teil anders bestimmte. So vereinigte er die Dialektik und die Physik zum Gesamtbegriff der  theoretischen  Wissenschaften, den er wieder in die  Analytik  (Logik) oder die Lehre von den Denkbestimmungen des Seienden, in die  Metaphysik,  die Wissenschaft vom Wesen des Seienden, und in die  Physik,  die Lehre vom Seienden in der Natur, trennte. Diesen theoretischen Wissenschaften stellte er die  Ethik  und  Politik  als die  praktischen  gegenüber, indem er ihren wesentlichen Charakter in ihrer Beziehung auf das menschliche Handeln erblickte. Vom Handeln unterschied er aber außerdem das  Erzeugen,  wie es in der Kunst und Technik zur Anwendung gelangt. Diesem entsprach nach ihm eine dritte Gruppe, die der  poetischen  Wissenschaften (1). Sichtlich geht ARISTOTELES bei dieser Klassifikation auf ein Prinzip zurück, das wohl stillschweigend auch schon der platonischen Dreiteilung zugrunde lag, nämlich auf den  Zweck dem teils die wissenschaftliche Forschung selbst, teils aber der Gegenstand, auf den sie sich bezieht, dienen kann.

In doppelter Beziehung dürften diese Traditionen der antiken Philosophie auf die BACONsche Einteilung herübergewirkt haben. Erstens legt auch er die Gliederung nach den Geistesvermögen als das nächste Einteilungsprinzip zugrunde, indem er sich dabei ebenfalls einer Dreiteilung bedient. Zweitens räumt er den  technischen  Disziplinen, den poetischen im Sinne des ARISTOTELES, eine Stelle, und zwar vermöge seiner großen Hochschätzung des Nutzens eine sehr bevorzugte Stelle im System der Wissenschaften ein. Im einzelnen trennt sich aber freilich die BACONsche Einteilung sehr erheblich von ihren antiken Vorbildern. Sie stellt sich in der Tat schon insofern eine ganz andere Aufgabe, als bei ihr auf die sorgsame Unterscheidung der Einzelgebiete der Hauptwert gelegt wird, gegen welche die zwar geforderte, aber doch nicht näher ausgeführte Vereinigung in einer "ersten Philosophie" völlig zurücktritt. Ganz im Gegensatz hierzu hatten diese allgemeinsten Gebiete, die Dialektik bei PLATO, Die Metaphysik bei ARISTOTELES, die größte Bedeutung für sich in Anspruch genommen. Dadurch ist das gegenseitige Verhältnis dieser Systeme ein solches geworden, daß in unseren Augen bei den alten Philosophen nur Klassifikationen der Philosophie, nicht der Einzelwissenschaften vorliegen, während umgekehrt BACON die Einzelwissenschaften klassifiziert und die Philosophie so gut wie ganz aus dem Spiel läßt. Freilich erscheint dies nur so, wenn wir beide System im Licht heutiger Anschauungen miteinander vergleichen. Im Geist ihrer Urheber enthielt die platonische und die aristotelische Einteilung ebenso gut wie die BACONsche die  ganze  Wissenschaft. Zu dieser allgemeinen Veränderung des Standpunktes, die durch die selbständige Entwicklung der Einzelwissenschaften bedingt ist, kommt nun aber noch bei BACON eine veränderte Auffassung über das Verhältnis der technischen zu den theoretischen Gebieten. Dem ARISTOTELES war das Poetische dem Theoretischen und Praktischen keineswegs vollkommen ebenbürtig. Die Prinzipien schienen ihm hier minder sicher, die Ausführungen in höherem Grad dem Zufall preisgegeben. Für BACON gewinnt die reine Wissenschaft erst dann ihren Wert, wenn sie imstande ist zu nützlichen Anwendungen zu führen. Daraus entspringt für ihn die Forderung, überall wo es möglich ist eine theoretische und eine technische Disziplin einander zu koordinieren, eine Forderung die ihn zwar gelegentlich zu Unterscheidung führt, welche sich in der zukünftigen Entwicklung der Wissenschaft nicht bewährt haben, ihn aber doch auch in den Stand gesetzt hat eine Menge richtiger Vorausblicke zu tun. Für die gesamte Einteilung entspringt aus dieser Auffassung die wichtige Veränderung, daß die technischen Gebiete trotz er größeren Wichtigkeit, die ihnen BACON beilegt, doch nicht mehr eine Hauptklasse für sich bilden, sondern erst in den unteren Einteilungen des Systems auftreten. Damit müssen natürlich auch die Geisteskräfte, welche der Haupteinteilung zur Grundlage dienen, andere werden: sie sind nur noch den theoretischen Geistestätigkeiten zu entnehmen. So betrachtet dann BACON Gedächtnis, Phantasie und Vernunft als die drei Geistesvermögen, nach denen die gesamte menschliche Wissenschaft in die drei großen Gebiete der Geschichte, der Poesie und der Philosophie sich gliedern soll. Die letztere bedeutet aber nicht die Philosophie in unserem Sinne, sondern sie umfaßt die Gesamtheit der auf die Natur und den Menschen sich beziehenden Einzelwissenschaften, wie denn noch heute der Begriff der "Natural Philosophy" in diesem abweichenden Sinn sich in England erhalten hat. (2)

Die BACONsche Einteilung galt über ein Jahrhundert lang als ein kaum zu übertreffendes Vorbild. D'ALEMBERT urteilte von ihr in seinem berühmten "Discours préliminaire" zur Enzyklopädie sie entspreche ebenso sehr dem systematischen wie den genealogischen Bedürfnis. Freilich meinte auch er schon, an BACONs Einteilungen und Untereinteilungen seien, trotz seines erfolgreichen Kampfes gegen die Scholastik, noch immer die Einflüsse der Schulen zu spüren. Demgemäß verbesserte er im "Systéme figuré des cvonnaissances humaines", welches er seinem Discours beigab, da und dort die BACONsche Klassifikation. Aber die Einteilung nach den drei Geistesvermögen ließ er bestehen. Die einzige Änderung, die er bei der Ordnung dieser Hauptgebiete vornahm, bestand darin, daß er nicht bloß die Poesie, sondern die Kunst überhaupt der Phantasie zuteilte. Er erhielt so, indem er auch die Reihenfolge zweckmäßig veränderte, Geschichte, Philosophie und Kunst als die drei Hauptabteilungen. In gewissem Sinne lag in dieser Erweiterung der dritten Kategorie ein Rückgang auf die poetischen Wissenschaften des ARISTOTELES. Aber der französische Philosoph teilte durchaus mit BACON den einseitig intellektualistischen und utilitaristischen Standpunkt. Nicht als Kunst schlechthin, sondern als "Art des signes et de l'imitation" läßt er jenen dritten großen Zweig der "connaissances humaines" gelten. Die Naturlaute und die natürlichen Bewegungen, die Buchstaben, Silben und Wörter, Sprache, Schrift, Orthographie, Paläographie usw. finden daher hier ebenso gut ihre Stellen wie Poesie, Malerei und Skulptur. Die Kunst überhaupt definiert d'ALEMBERT als das System von Zeichen und Bildern, durch welches wir teils unsere Gedanken ausdrücken (art symbolique), teils die Vorstellungen schöner Gegenstände, die wir der Natur oder der Sprache entnehmen, mitteilen (art imitatif).

Die Mängel dieser wie der BACONschen Klassifikation sind unschwer zu erkennen. Sie sind mehrfach, am treffendsten wohl von DUGALD STEWART in seiner Vorrede zu den Supplementbänden der "Encyclopedia Britannica" hervorgehoben worden. (3) Unhaltbar ist der namentlich von d'ALEMBERT erhobene Anspruch, daß dieses nach den menschlichen Geisteskräften entworfene System zugleich den menschlichen Geisteskräften entworfene System zugleich den Stammbaum des menschlichen Wissens darstelle, denn es gibt keine Disziplin, welche auf die ausschließliche Betätigung eines jener Geistesvermögen allein sich zurückführen ließe. Überdies ist die Einteilung der menschlichen Geisteskräfte selbst eine rohe und ungenügende. Die für den Charakter einzelner Wissenschaften Vorzugsweise maßgebenden Funktionen der Abstraktion und der Generalisation haben in ihr gar keine Stelle gefunden. Durch die Trennung der historischen von den philosophischen Disziplinen werden zusammengehörige Gebiete, wie die Naturgeschichte und die Naturlehre, geschieden, und dagegen völlig verschiedene, wie die Naturgeschichte und die politische Geschichte, einander nahe gerückt. Unhaltbar ist ferner die Koordination der Künste und Wissenschaften, welche auf einer einseitig intellektuellen Beurteilung des Wertes der ersteren beruth. Offenbar ist es endlich der schwerste Fehler dieser Systeme, daß sie ihren Einteilungsgrund außerhalb der Wissenschaften selbst wählen, da, auch wenn es wahr wäre, daß je eine der drei angenommenen Geisteskräfte in bestimmten Gebieten vorzugsweise zur Anwendung komme, daraus für die innere Natur der betreffenden Gebiete doch nur sehr dürftige Aufschlüsse gewonnen werden könnten. Das Verhältnis ist hier kaum ein anderes, als wenn ein Botaniker die Pflanzen nach ihren Standorten klassifizieren wollte.

Entschieden überlegen einem solchen nur scheinbar genetischen Verfahren ist daher das von JOHN LOCKE vorgeschlagene System, welches forderte, daß die Wissenschaften nach den  Zwecken  unterschieden werden, die bei der Betrachtung der Gegenstände zur Anwendung kommen. Der hier in den Vordergrund gerückte Gesichtspunkt, daß die wissenschaftliche Forschung auf verschiedene Zwecke ausgehen kann, wird in der Tat im allgemeinen nicht bestritten werden können; auch war, wie oben bemerkt, schon die aristotelische Einteilung von demselben ausgegangen. Übrigens hält LOCKE an der herkömmlichen Dreiteilung fest, indem er eine  Dreiheit  von Zwecken statuiert. Der erste besteht ihm in der theoretischen Erkenntnis der Gegenstände, der zweite im Guten und Nützlichen, auf welches das menschliche Handeln gerichtet ist, der dritte in der Erfindung geeigneter Zeichen und in deren angemessener Verwendung durch den Verstand. So erhält er eine Einteilung, die merkwürdigerweise nahezu mit der alten platonischen zusammenfällt. Denn die jenen drei Zwecken entsprechenden Gebiete sind die  Physik,  die  Ethik  und die  Logik Freilich aber hat sich die Reihenfolge, welche der relativen  Wertschätzung  dieser drei Gebiete entspricht, völlig umgekehrt: die Logik, die hier an die Stelle der Dialektik getreten ist, weit entfernt die Grundlage der beiden anderen Gebiete zu bilden, wird echt nominalistisch lediglich als eine Semiotik, eine Lehre von den Begriffszeichen und ihrer Benutzung aufgefaßt; sie hat also den anderen Wissenschaften gegenüber lediglich einen auxiliären [unterstützenden - wp] Wert (4). Gleichwohl weist diese Übereinstimmung der Einteilungsglieder auf übereinstimmende Motive hin. In der Tat wird wohl bei der platonischen Einteilung selbst schon ebenso der Gedanke an den Zweck wie an den Ursprung der einzelnen Teile des wissenschaftlichen Denkens gewaltet haben. Pflegen doch diese beiden Vorstellungen ursprünglich nahe miteinander verbunden zu sein, da man stets geneigt ist, die verschiedenen zweckmäßigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes auf verschiedene Geisteskräfte zurückzuführen. So sind ja auch die drei BACONschen Geistesvermögen sicherlich mehr eine nachträgliche Erklärung zu den vorhandenen Zwecken der historischen Darstellung, der poetischen Versinnlichung und der Erklärung der Erscheinungen, als daß umgekehrt wirklich diese drei Gebiete geistiger Beschäftigung erst aus jenen drei Vermögen deduziert wären. Beide Einteilungsprinzipien sind also in ihren tatsächlichen Elementen kaum voneinander verschieden. Ihr Unterschied liegt nur darin, daß LOCKE als vorsichtiger Empiriker das BACONsche Prinzip seiner hypothetischen Voraussetzungen entkleidet und es auf die tatsächliche Grundlage zurückgeführt hat, deren sich ihr Urheber selbst nicht deutlich bewußt geworden war. Durch diese Beseitigung einer unhaltbaren Voraussetzung wird aber zugleich die Wahl der Zwecke eine freiere, und darum ist zweifellos, abgesehen von allen Einteilungsgründen, die Einteilung LOCKEs eine Verbesserung der BACONschen. Doch ist sie nicht ins einzelne durchgeführt; sie entbehrt also hierin einer unerläßlichen Kontrolle ihrer Brauchbarkeit. Auch bleibt bei ihr der Übelstand, daß die drei Zweckgebiete nicht in einem klaren Verhältnis zueinander stehen. Das menschliche Handeln bildet doch schließlich ebenfalls nur einen Teil der Erscheinungswelt, und des sind keine zureichenden Gründe dafür beigebracht, warum es nicht im selben Sinne wie die Objekte der "Physik" und im Zusammenhang mit ihnen zu untersuchen sei. Vollends die Logik bildet ein notwendiges Hilfsmittel für jede andere Art wissenschaftlicher Betrachtung, und es ist darum mindestens logisch nicht gerechtfertigt, die Logik selbst den besonderen Anwendungen, die sie auf verschiedene Objekte finden kann, zu koordinieren. Dieser Mangel ist freilich unvermeidlich, sobald man die Unterscheidung allgemeiner oder philosophischer Disziplinen von den Einzelwissenschaften prinzipiell ausschließt. Dann muß die Logik entweder ganz aus dem System herausfallen, wie das bei BACON der Fall gewesen war, der auch noch die Mathematik dieses Schicksal hatte teilen lassen; oder sie muß in eine derartige unpassende Koordination gebracht werden, wie bei LOCKE oder auch bei d'ALEMBERT, der sie unter den "Sciences des rapports pratiques" neben die Moral und die  Medizin  stellt, weil Logik und Moral in ähnlicher Weise Regeln aufstellen sollen für das richtige Verhalten der Seele, wie die Medizin solche für das richtige Verhalten des Körpers.

Man hat längst mit Recht erkannt, daß alle diese Einteilungen, mögen sie nun auf die als Bedingungen vorausgesetzten Geisteskräfte oder auf die Zwecke der Wissenschaften zurückgehen, an einem und demselben Grundfehler leiden, an dem Fehler nämlich, daß ihr Einteilungsgrund nicht dem Gegenstand entnommen ist, sondern außerhalb dessen liegt. Indem man von diesem richtigen Gedanken ausging, ist nun eine dritte Reihe von Klassifikationsversuchen den vorigen erfolgreich an die Seite beigetreten, Versuche, die unmittelbar nach den  Gegenständen selbst  die Wissenschaften zu gliedern bemüht sind. Es könnte merkwürdig erscheinen, daß dieses Prinzip, welches eigentlich das nächstliegende ist, so spät zur Geltung gelangte. Aber die Erklärung hierfür wird man wohl darin finden dürfen, daß den bestehenden Wissenschaften gegenüber eine solche Einteilung nach den Objekten von vornherein nicht ohne Zwang durchzuführen war. Gibt es doch einerseits ganze Wissenschaften, wie Mathematik und Logik, die sich nur dem schwer gegenständlichen Gesichtspunkt unterordnen lassen, da ihre Begriffe auf die verschiedensten Objekte gehen können; und gibt es doch andererseits Gegenstände, die in den verschiedensten Wissenschaften zur Untersuchung kommen: so vor allem der  Mensch,  auf den sich der größte Teil der Wissenschaften bezieht. In der Tat ist daher eine Einteilung nach Gegenständen nur dadurch einigermaßen möglich geworden, daß man künstlich den Menschen wieder in mehrere Objekte trennte, die dann aber doch nicht sowohl wirkliche Gegenstände als verschiedene Lebensäußerungen, also unter verschiedene Begriffe geordnete Tatsachen sind.

Unzweifelhaft waren es die großen Leistungen auf dem Gebiet der  naturgeschichtlichen  Klassifikation, die Arbeiten eines LINNÉ, JUSSIEU, de CANDOLLE, die hier anregend gewirkt haben. Äußerlich tritt dieser Einfluß schon darin hervor, daß nun die alte auf die drei platonischen Geistesvermögen zurückführende Dreiteilung durch eine  Zweiteilung  ersetzt wird. Sie entspringt unmittelbar aus der Verallgemeinerung der in der Naturgeschichte nahegelegten Scheidungen der Körper in unorganische und organische, der Organismen in Pflanzen und Tiere usw. Hierdurch erklärt es sich zugleich, daß diese Systeme die in der Hauptgliederung gewählte Zweiteilung konsequent auch bei allen Untergliederungen einzuhalten bemüht sind. Zwei Klassifikationsversuche aus dem Anfang unseres Jahrhunderts gehören hierher, beide eingehender durchgeführt als alle früheren Systeme, und beide von hervorragenden, durch selten umfassende Kenntnisse ausgezeichneten Männern herrührend. Es sind dies die Systeme JEREMIAS BENTHAMs, des Juristen und Sozialphilosophen, und ANDRÉ-MARIE AMPÉRE, des berühmten Physikers. (5)

Beide Systeme gehen aus von der Unterscheidung des Körperlichen und Geistigen. BENTHAM zerfällt danach das ganze Reich der Wissenschaften in Somatologie und Pneumatologie, AMPÉRE in Kosmologie und Noologie. Im weiteren Fortgang trennen sie sich dann, indem BENTHAM zum Teil sehr eigentümlichen Ideen folgt, während AMPÉRE, obgleich er die Neigung neue und meist sehr verwickelte Namen zu bilden mit jenem gemein hat, sich doch im ganzen mehr an die bestehenden Gliederungen anschließt. Der Gesichtspunkt, nach welchem BENTHAM die Somatologie scheidet, beruht nämlich darauf, daß er die Mathematik als Posologie oder science pososcopique, d. h. als reine Quantitätswissenschaft, den Naturwissenschaften gegenüberstellt, die überall zugleich die Qualität der Erscheinungen berücksichtigen und darum unter dem Gesamtnamen Poisomatologie (sciences poioscopiques) zusammengefaßt werden. Die Mathematik trennt er in Geometrie und Arithmologie, deren charakteristischen Unterschied der darin erblickt, daß die erstere sich mit der Form der Gegenstände beschäftige, die letztere aber, die er wieder in Arithmetik und Algebra scheidet, von dieser Form abstrahiere. Für die Gliederung der Naturwissenschaften tritt dann ein neuer Gesichtspunkt ein: sie werden in solche getrennt, welche die von selbst in der Natur vorkommenden Körper und Erscheinungen betrachten, und in solche, die es mit den Werken des Menschen zu tun haben. Die ersteren faßt er unter dem Gesamtnamen der Physiurgie, die letzteren unter dem der Anthropurgie zusammen. Zur Physiurgie gehören also Astronomie, Physik, Biologie, Botanik, Zoologie, für die übrigens BENTHAM ebenfalls durchgehend selbsterfundene Namen einführt; zur Anthropurgie rechnet er die Dynamik, Chemie und Technologie. Bei der zweiten Hauptgruppe der Wissenschaften, der pneumatologischen, unterscheidet er solche Gebiete, die sich mit den intellektuellen Tatsachen beschäftigen, und solche, die sich auf andere Geistestätigkeiten beziehen. Die ersteren haben es wieder entweder mit der Vergangenheit oder Gegenwart zu tun: mit der Vergangenheit die Geschichte in ihren verschiedenen Verzweigungen, mit der Gegenwart eine ziemlich bunt zusammengewürfelte Gruppe von Disziplinen, wie die Logik, Grammatik, Rhetorik, Pantomimik, Orthoepie, Orthographie usw. Die der Noologie gegenüberstehenden Gebiete, für die BENTHAM den seltsamen Kollektivnamen der Anoopneumatologie bildet, sollen sicht entweder mit dem Willen oder nicht mit dem Willen beschäftigen: das erstere die Ethik, Politik, Jurisprudenz usw.; ohne Beziehung auf den Willen ist die Ästhetik und neben ihre eine Anzahl technischer Künste, die entweder Vergnügen hervorzubringen oder die Ursachen unseres Mißvergnügens zu entfernen suchen.

Über die Mängel dieses mit großer Sorgfalt ausgeführten Systems braucht kaum noch ein Wort verloren zu werden. Es ist verfehlt in seinen Einteilungsgründen, die nirgends folgerichtig festgehalten werden, sondern zwischen den verschiedensten Gesichtspunkten hin und her springen. So wird man z. B. den charakteristischen Unterschied der Dynamik und der Chemie von den übrigen Naturwissenschaften sicherlich nicht darin erblicken können, daß jene sich lediglich mit Erscheinungen beschäftigen, die nur von Menschen willkürlich hervorgebracht sind, was teils nicht richtig ist, teils mit demselben Recht auch auf die übrigen experimentellen Wissenschaften angewandt werden könnte, da sie alle darauf ausgehen, die Erscheinungen nach willkürlich gesetzten Bedingungen hervorzubringen. Das System ist ferner darin verfehlt, daß es planlos das Wichtige und das Wertlose, eigentliche Wissenschaften und technische Hilfsmittel und Anwendungen, darunter solche von höchst äußerlicher und untergeordneter Bedeutung untereinander mengt. Was sollen Orthographie, Alphabetik, Orthoepie und dgl. in einem System der Wissenschaften? Hierin wirkt sichtlich das Vorbild BACONs nach, den seine einseitige Hervorkehrung der praktischen Nützlichkeit schon zu ähnlichen Fehlern verführt hatte. Auch er hatte nicht bloß eine Hieroglyphik und Alphabetik in seinem System aufgezählt, sondern sogar eine Ars cosmetica, athletica und voluntaria der  Medizin  koordiniert. (6)

Auch die Einteilung AMPÉREs ist nicht vor diesem Verhängnis, Wichtiges und völlig Nebensächliches nebeneinander zu ordnen, bewahrt geblieben. Führt doch die Aufgabe, die sich diese Autoren von BACON bis auf AMPÉRE herab stellen, die Gesamtheit der Wissenschaften und  Künste  in diesem System unterzubringen, beinahe unvermeidlich auf diese Bahn. Der infolgedessen sich aufdrängenden Fülle einzelner Disziplinen gegenüber weiß sich AMPÉRE nur dadurch zu helfen, daß er die einzelnen Gebiete schließlich ohne ein besonderes ordnendes Prinzip nebeneinander stellt. Der Mangel eines wirklichen Einteilungsgrundes wird aber, wie so oft in ähnlichen Fällen, durch die äußere Symmetrie ersetzt, vermöge deren dieses System die anfänglich gewählte Zweiteilung bis ins Einzelnste festhält. Demgemäß zerfällt zunächst die Kosmologie und die Noologie jede in je zwei Hauptteile, die erstere in die mathematisch-physikalischen und die medizinisch-physiologischen, die letztere in den philosophischen und die ethnologisch-politischen Wissenschaften. Die weitere Teilung in Mathematik und Physik, in Physiologie und Medizin usw. ist hierin schon angdeutet. Durch fortgesetzte Subdivisionen dieser Art gewinnt auf solche Weise AMPÉRE 84 dem Gebiet der Kosmologie und 84 dem der Noologie angehörende Einzeldisziplinen. Daß es bei einer Klassifikation, die für jedes jener Hauptgebiete, die doch so verschiedene Bedingungen darbieten und daher auch nach ganz abweichenden Gesichtspunkten gegliedert werden, genau gleich viele letzte Zweige enthält, nicht ohne Zwang abgehen kann, ist an und für sich einleuchtend. Man braucht in der Tat nur einzelne der einander koordinierten Wissenschaften letzter Ordnung anzuführen, um sofort zu erkennen, daß es nach diesem Prinzip oder vielmehr bei diesem Mangel eines jeden Prinzips nicht schwer fallen würde, die Anzahl der Zweige auf der einen oder andern Seite beliebig zu vermehren oder zu vermindern. So z. B. wenn "Sémiographie, Diagnostique" und "Thérapeutique spéciale, Physiologie médicale" als Teile der Nosologie, Nomographie, Jurisprudence, Législation comparée, Theorie des lois als solche der Nomologie aufgeführt werden. Merkwürdig ist es übrigens, daß der Jurist BENTHAM und der Physiker AMPÉRE beide in gleich einseitiger Weise die Stellung der Mathematik beurteilen. Bei beiden zählt sie nämlich zu den Naturwissenschaften. Zum Teil mag daran das gewählte Prinzip der Zweiteilung die Schuld tragen. War dies einmal vorausgesetzt, so lag es natürlich am nächsten, die Mathematik zu dem Gebiet zu ziehen, auf welchem sie die nächstliegenden Anwendungen zuläßt. Der tiefere Grund dieser Auffassung liegt aber doch in der diesen Männern eigenen empiristischen Ansicht vom Charakter der Mathematik, nach welcher sich dieselbe lediglich mit bestimmten abstrakt betrachteten Eigenschaften der Körper beschäftigt und also keinen prinzipiellen Unterschie von anderen Disziplin der Naturwissenschaft darbietet, welche andere Eigenschaften der Körper als die von Größe und Zahl in Betracht ziehen.

Von diesem Gesichtspunkt aus wurde nun aber auch alsbald ein Schritt nahe gelegt, der die Voraussetzung selbst, auf welche jene an die naturgeschichtlichen Systeme anlehnenden Klassifikationen aufgebaut waren, wieder aufhob. Wenn Zahl und Größe Eigenschaften der Körper sind, was sind dann die sogenannten geistigen Eigenschaften anderes als ebenfalls solche Eigenschaften gewisser Körper? Es bedurfte nicht einmal der ausdrücklichen Zustimmung zur materialistischen Weltansicht, um diese Frage vollkommen gerechtfertigt zu finden. Es genügte die Berufung auf die tatsächliche Erfahrung, also die Vertretung eines wissenschaftlichen Standpunktes, der die Tatsachen lediglich so gelten ließ, wie sie unmittelbar in der Erfahrung gegeben sind. Da nun hier zwar die Körper Gegenstände unmittelbarer Wahrnehmung sind, nicht aber die Geister, welche vielmehr immer nur zu gewissen Erscheinungen, die wir an Körpern wahrnehmen, vorausgesetzt werden, so ist offenbar von diesem Standpunkt aus die Koordination einer Körper- und einer Geisterwelt bestreitbar, und damit fällt zugleich das ganze Gebäude der auf diese Unterscheidung gerichteten Klassifikationen. Es ist AUGUST COMTEs System, welches diese Auffassung, die innerer Folgerichtigkeit aus den in seiner positiven Philosophie entwickelten Anschauungen hervorgeht, zur Geltung gebracht hat. Die notwendige Konsequenz dieses Schrittes war es aber, daß das Prinzip der  einfachen Gliederungen  überhaupt verlassen und an die Stelle derselben das Prinzip der  einfachen Stufenfolge  gesetzt wurde. Waren es nicht mehr die Gegenstände, die man als Objekte verschiedener Wissenschaft gelten ließ, so konnten als solche nur noch die  Eigenschaften  der allen Wissenschaften gemeinsamen Gegenstände übrig bleiben. Da nun hierbei keine Eigenschaft vor der anderen prinzipiell den Vorrang behaupten darf, so blieb nur eine Koordination aller Hauptgebiete der Wissenschaft übrig. Die Reihenfolge ihrer Ordnung aber konnte nur noch von der Einfachheit der Eigenschaften der Körper, mit denen sie sich beschäftigen, abhängig gemacht werden, bzw. von dem Umstand, ob eine gegebene Eigenschaft die Kenntnis gewisser anderer Eigenschaften vorausgesetzt oder nicht. Selbstverständlich mußte dann diejenige Disziplin stets vorausgehen, welche sich mit den einfacheren und unabhängiger zu begreifenden Eigenschaften beschäftigt.

Der wesentliche Grundgedanke des COMTEschen Systems besteht somit darin, daß es die Wissenschaften in eine Reihenfolge zu bringen sucht, die sich lediglich auf das Verhältnis der  Abhängigkeit  gründet, in welchem dieselben zueinander stehen. Dieser Gesichtspunkt führt zunächst eine vorteilhafte Vereinfachung mit sich. Eine Reihenfolge der angegebenen Art wird sich von vornherein nur zwischen den  theoretischen  Wissenschaften herstellen lassen, da die Abhängigkeit der praktischen von den theoretischen Disziplinen nicht auf der Bedingtheit bestimmter Erkenntnisse durch andere, sondern auf der allgemeinen Bedingtheit unseres Handelns durch unser Erkennen beruth. Mit Recht beschränkt sich daher COMTE auf eine Klassifikation der eigentlichen Wissenschaften und verzichtet auf das bei der Fülle und dem verschiedenen Wert der praktischen Gebiete undurchführbare Programm einer logischen Systematisierung aller möglichen menschlichen Künste und Fertigkeiten, wie ein solches die bisherigen Systeme im Anschluß an BACON versucht hatten. Der menschliche Geist, meint er, hat eine ihn vollauf beschäftigende Aufgabe, wenn er sich auf die Betrachtung der theoretischen Wissenschaften beschränkt; auch ist das Wissen zunächst sich selbst Zweck, und die wichtigsten praktischen Anwendungen leiten sich von Theorien ab, welche aus rein wissenschaftlichen Zwecken hervorgegangen waren und oft Jahrhunderte lang weiter geführt wurden, ohne daß ein praktisches Resultat sich ergeben hätte. Mit dieser ersten verbindet nun aber COMTE noch die weitere Vereinfachung, daß er in seinem System überhaupt nur die  allgemeinen  Wissenschaften in Betracht zieht und die speziellen Zweige, in welche dieselben sich wieder großenteils unter dem Einfluß praktischer Bedürfnisse der Arbeitsteilung geschieden haben, unerörtert läßt. So bleiben ihm schließlich nur die sechs großen Gebiete der Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie übrig. (7)

Das wesentliche dieser Einteilung, wodurch sie sic hvon allen vorangegangenen Versuchen, abgesehen von ihrer äußeren Einfachheit, unterscheidet, ist die Voraussetzung, daß die hier angegebene Reihenfolge dem Verhältnis der Abhängigkeit und gleichzeitig der allgemeinen historischen Entwicklung der einzelnen Wissensgebiete entsprechen soll. Die Mathematik soll also die Grundlage aller anderen Disziplinen und demgemäß zugleich früher ausgebildet sein als diese. Innerhalb der Mathematik ist die Analysis wieder der vorangehende Teil. Ihr folgt die Geometrie, dieser die Mechanik. Die beiden letzteren besitzen nach COMTE bereits den Charakter von Naturwissenschaften, da sich die Geometrie mit den räumlichen Eigenschaften der Körper beschäftigt, während die Mechanik noch die Untersuchung ihrer Bewegungen hinzufügt. Nur die Analysis soll demnach, als eine erweiterte Logik, die Bedeutung eines allgemeinen Hilfsmittels des Denkens haben; Geometrie und Mechanik dagegen seien schon an einem bestimmten Erfahrungsinhalt gebunden, wenngleich derselbe in ihnen noch in sehr abstrakter Weise betrachtet werde. Da aber Zahlen und Größen ebensogut als abstrakte Eigenschaften der Dinge betrachtet werden können, wie Raum und Bewegung, so ist offenbar der Urheber der positiven Philosophie hier nicht ganz konsequent; und in der Tat ist seine Anschauung in diesem Sinne von andern, wie z. B. von JOHN STUART MILL, berichtigt worden. Auf die Mathematik folgt dann bei COMTE die Astronomie, welche sich teils mit der geometrischen Verteilung der Weltkörper, teils mit der Anwendung der Gesetze der Mechanik auf dieselben beschäftigt, also auf unmittelbaren Anwendungen dieser beiden konkreteren Teile der Mathematik beruth und durch sie wieder die Hilfe der abstrakten Analysis voraussetzt. Der Astronomie schließt sich die Physik an, welche speziell die irdischen Vorgänge vom mechanischen Gesichtspunkt aus betrachtet, worauf dann die Chemie diese Vorgänge mit Rücksicht auf die Zusammensetzung der Körper und ihre Veränderungen untersucht. Naturgemäß kommt dann die Biologie an die Reihe, die lediglich die Bedeutung einer Physik und Chemie der organischen Körper besitzt. Als letzter Teil des Systems bleibt endlich die Soziologie übrig, die es mit den Wechselbeziehungen einer Mehrheit organischer Körper, wie solche in der menschlichen Gesellschaft stattfinden, zu tun hat.

COMTE selbst hat schon zugegeben, daß kleine Ausnahmen in Bezug auf die hier statuierten Abhängigkeitsbeziehungen vorkämen. So seien einzelne Zweige der Physik, wie die Optik, für die wissenschaftliche Darstellung der Astronomie unentbehrlich. Aber dies seien doch nur Ausnahmen, und deshalb sei namentlich für die wissenschaftliche  Erziehung  an der Forderung festzuhalten, daß jede Disziplin die ihr vorausgehenden, nicht aber die ihr nachfolgenden voraussetze. "Man darf", sagt COMTE, "das Studium einer Wissenschaft nicht beginnen, ehe man sich durch die Erlernung der ihr nach meiner Formel vorausgehenden Wissenschaften dazu vorbereitet hat". Der Astronom muß Mathematik, der Physiker Mathematik und Astronomie, der Chemiker außer beiden auch die Physik sich angeeignet haben usw. Daß die COMTEsche Formel, wenn man diesen praktischen Maßstab der Abhängigkeit der einzelnen Disziplinen voneinander an sie anlegt, falsch ist, wird heute kein Unbefangener mehr bestreiten. Wenn COMTE die Physik der Astronomie nachfolgen läßt, deshalb weil die Erde ein einzelner Stern ist und die Physik mit irdischen Erscheinungen experimentiert, so war das schon zu COMTEs Zeiten eine einseitige Auffassung; in unserem Zeitalter astrophysischer Forschungen ist sie auch der Sache nach unrichtig. Die Physik untersucht die Erscheinungen der Schwere, Wärme, des Lichtes und der Elektrizität nicht deshalb zumeist an irdischen Erscheinungen und Objekten, weil sie sich grundsätzlich auf die Erforschung der Erde beschränkt, sondern nur deshalb weil ihr jene Erscheinungen in ihren irdischen Formen am zugänglichsten sind. Ihr eigentliches Ziel besteht aber in der Erkenntnis jener Erscheinungen überhaupt, ganz abgesehen von den Orten ihres Vorkommens. In Bezug auf die Astronomie und Physik würde also, wenn eine lineare Reihenfolge herstellbar wäre, die Ordnung umzukehren sein. Aber eine solche Reihenfolge ist überhaupt unmöglich. Schon die Geometrie ist nicht schlechthin abhängig von der Analysis, ebensowenig wie die Analysis unabhängig von der Geometrie. Auf die Zahlentheorie und Funktionentheorie sind geometrische Betrachtungen von maßgebendem Einfluß gewesen, während umgekehrt die synthetische Geometrie unabhängig von der Analysis behandelt werden kann. Ebenso ist es zwar richtig, daß die Chemie vielfach physikalische Vorkenntnisse voraussetzt; doch ist nicht minder gewiß, daß einigen Teilen der Physik, besonders der Wärme- und Elektrizitätslehre, durch die chemische Seite der Erscheinungen wichtige Gesichtspunkte zugeführt werden. Daß die Physiologie in wesentlichen Stücken als eine Physik und Chemie der Organismen betrachtet werden darf, ist ja unbestritten, ebenso daß sie deshalb eine gewisse Vertrautheit mit mathematischen Hilfsmitteln voraussetzt. Aber die Kenntnis der Astronomie mag für den Physiologen vom Standpunkt der allgemeinen Bildung aus wünschenswert sein, gewiß ist sie für ihn keine unerläßliches Hilfsmittel, ebensowenig wie sie ein solches eigentlich für den Physiker und Chemiker ist. Und wer möchte heute noch bestreiten, daß gewisse Seiten des physiologischen Arbeitsgebietes auf das engste mit psychologischen Problemen zusammenhängen, so daß an diesem Punkt auch die Psychologie mit in jenen Kreis vielseitigster Wechselbeziehungen hereingezogen wird, in dem sich die Naturwissenschaften untereinander befinden? Doch mögen immerhin, abgesehen von diesen falschen Voraussetzungen über ihre Anordnung, in COMTEs System die Hauptgebiete der Naturwissenschaften zu ihrem Recht gekommen sine, den vorhandenen Geisteswissenschaften gegenüber befindet sich dasselbe lediglich auf einem negierenden Standpunkt. Anstelle der tatsächlichen Arbeitsteilung, wie sie sich hier ebenso gut wie dort aus den inneren Bedingungen der Gegenstände heraus entwickelt hat, soll eine einzige Zukunftswissenschaft, die  Soziologie,  treten, welche vom Bestand der bisherigen historischen und systematischen Disziplinen nur das wenige aufnehmen soll, was in die Voraussetzungen des positiven Systems paßt. Die künftigen Soziologen sollen dann aber Naturforscher höchsten Ranges sein, geschult in Mathematik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, - denn alle diese Kenntnisse sollen für den Soziolgen unerläßlich sein. So wird hier COMTE der allerersten Forderung, daß das System die  vorhandenen  Objekte, nicht beliebig erdachte zu klassifizieren hat. Freilich, da er das Existenzrecht der  Psychologie  bestreitet, oder vielmehr an ihre Stelle nicht geringeres als die Scheinwissenschaft der Phrenologie [Zwerchfell-Lehre - wp] setzen möchte, so fehlt es ihm überhaupt an der Grundlage, auf der eine angemessene Würdigung der Geisteswissenschaften möglich wäre. Ebenso bringt es sein philosophischer Standpunkt mit sich, daß für ihn philosophische Wissenschaften außerhalb der Hauptgebiete der einzelnen Wissenschaften nicht existieren. Die Metaphysik gehört so gut wie die Theologie einem verschwundenen Zeitalter an; das Vorhandensein allgemeiner Erkenntnisprobleme, die nicht in irgendeienr der Einzelwissenschaften erledigt werden können, ignoriert er. Nach seiner Auffassung ist aber dieses System schon deshalb, weil es sich auf die Einteilung der  allgemeineren  Gebiete beschränkt, zugleich ein System der  Philosophie.  Denn Philosophie ist nach COMTE nichts anderes als eine enzyklopädische Übersicht der allgemeinen Resultate der Einzelwissenschaften.

Abgesehen von allen Mängeln im einzelnen wird COMTEs Einteilung von zwei Anschauungen beherrscht, auf die er den größten Wert legt, von denen aber gleichwohl die eine nur halb wahr, die andere völlig falsch ist. Erstens sollen alle Wissenschaften in  abstrakte  und  konkrete  zerfallen, wobei sie zugleich eine kontinuierliche Stufenfolge bilden, indem jede abstrakter sie als die ihr nachfolgende, konkreter aber als die vorausgehende. Zweitens sollen alle Wissenschaften eine  Hierarchie mit linearer Anordnung  bilden, da jede von den vorangegangenen abhängig, von den nachfolgenden aber unabhängig sei. Die erst dieser Unterscheidungen kommt nun in jeder Wissenschaft, abgesehen von ihrer Beziehung zu anderen, in Anwendung, da sie sich zunächst mit einem konkreten Stoff beschäftigt, bei dessen Bearbeitung sie sich des Hilfsmittels der Abstraktion bedient. Der einzelne Naturvorgang, z. B. das Fallen eines Steins, die Erwärmung eines Körpers unter dem Einfluß äußerer Wärmestrahlen oder der Reibung, ist gerade so konkret wie eine einzelne Pflanze oder ein einzelnes Tier; auch bleiben der botanische und der zoologische Systematiker ebensowenig beim konkreten Objekt stehen, wie der Physiker bei der konkreten Erscheinung, vielmehr bildet jener aus den einzelnen Objekten abstrakte Klassen- und Gattungsbegriffe, dieser vereinigt verwandte Einzelerscheinungen zu allgemeinen Gesetzen. Zu behaupten, der Begriff "Wirbeltier" sei konkreter als die Begriffe Wärme oder Elektrizität, ist vollkommen willkürlich. Beiderlei Begriffe beruhen auf Abstraktionen verschiedener Art: je mehr diese qualitativ differieren, umso weniger können sie aber quantitativ miteinander verglichen werden. Ebenso muß in diesen verschiedenen Fällen überall schon bei der Einzeluntersuchung eine Abstraktion geübt werden: der Anatom, der das Nervensystem eines Tieres schildert, abstrahiert dabei von der sonstigen Organisation; der Physiker, der die Wärmeleitung in einem Stab untersucht, vernachlässigt dessen weitere physikalische Eigenschaften. Bei dieser Unerläßlichkeit des Abstraktionsverfahrens zu jeder Art wissenschaftlicher Forschung und Begriffsbildung ist es völlig unmöglich, dem  Grad  der Abstraktion einen sicheren Maßstab für die Gliederung der einzelnen Gebiete zu entnehmen.

HERBERT SPENCER hat gegen COMTE bemerkt, es sei von demselben in diesem Fall der Gegensatz des Abstrakten und Konkreten mit dem des  Allgemeinen  und  Besonderen  verwechselt worden. Die Physik sei eine allgemeinere, aber keine abstraktere Wissenschaft als die Biologie, weil die physikalischen Erscheinungen verbreiteter seien als die Lebenserscheinungen. Doch wollte man die COMTEsche Stufenleiter in diesem Sinne verbessern, so würde der Gesichtspunkt der Einteilung immer noch ein bestreitbarer bleiben. Denn man kann mit Recht bezweifeln, ob z. B. die Doppelbrechung in Kristallen, die ein Objekt physikalischer Forschung bildet, allgemeiner zu nennen sei als irgendeine Tierspezies oder als der Begriff der Wirbeltierklasse. Wenn also wirklich die meisten physikalischen Erscheinungen die verbreiteteren sind, so kann dies nur ein begleitender Umstand, nicht der die Unterscheidung der Gebiete bestimmende Einteilungsgrund sein. Der wahre Gegensatz, der sich hinter diesen verfehlten Unterscheidungen des Abstrakten und Konkreten, des Allgemeinen und Besonderen verbirgt, ist vielmehr der des  Naturvorgangs  und des  Naturgegenstandes.  Man kann zugeben, daß bei der Untersuchung der Naturvorgänge das Abstraktionsverfahren früher und bedeutungsvoller in die Untersuchung eingreift als bei der Erforschung der Naturgegenstände. Aber dieser Unterschied ist nicht von so entscheidender Art, daß er zur Wahl eines Einteilungsgrundes sich eignet. Auch ist er nur den Naturwissenschaften entnommen; auf die Geisteswissenschaften ist er von COMTE nur mittels der Fiktion seiner "Soziologie" übertragen worden, die er in unmittelbare Abhängigkeit von der Physik und Biologie bringt.  Ein  Gebiet allerdings gibt es, welches, wie anerkannt werden muß, sowohl in Bezug auf den Umfang wie auf die Form der Abstraktion eine eigentümliche Stellung einnimmt, und ohne Zweifel ist es dieses Beispiel, welches hier auf die Auffassung der übrigen Wissenschaften verwirrend eingewirkt hat. Dieses Gebiet ist die  Mathematik.  Freilich hat COMTE selbst gerade hier die wahren Grenzen verwischt, indem er die Geometrie und Mechanik zu den Naturwissenschaften stellte und so zwischen diesen mathematischen Disziplinen und der Astronomie, Physik usw. nur einen gradweisen Unterschied anerkannte. In Wahrheit beruth aber der Unterscheid der mathematischen und der empirischen Wissenschaften überall darauf, daß sich jene nicht auf die Gegenstände und Vorgänge der Natur selbst, sondern auf die  formalen Abstraktionen  beziehen, zu denen ein beliebiger Erfahrungsinhalt Anlaß geben kann. Nicht in der Tatsache der Abstraktion oder auch nur im Grad derselben, sondern in ihrem  formalen  Charakter besteht daher die wesentliche Eigentümlichkeit der Mathematik. Dieser Charakter ist aber der Geometrie ebenso eigen wie der Arithmetik, wogegen die Mechanik allerdings nur insoweit hierher zu rechnen ist, als sie den Bewegungsbegriff ohne Rücksicht auf die physikalischen Eigenschaften der bewegten Körper, also ebenfalls lediglich in Bezug auf seine formalen Eigenschaften, betrachtet. Die Mechanik der unter der Berücksichtigung der speziellen Naturkräfte und der physikalischen Eigenschaften der Körper untersuchten Bewegungen bildet dagegen einen integrierenden Bestandteil der Physik. Der Umstand, daß hier die praktische Trennung der Lehrdisziplinen nicht überall mit der logischen Scheidung zusammentrifft, und daß also die abstrakte und die konkrete Mechanik zumeist in der Darstellung miteinander verbunden werden, kann natürlich an diesem prinzipiellen Verhältnis nichts ändern.

Mit der irrigen Vorstellung, daß die Gliederung der Wissenschaften auf einer Stufenleiter in sich gleichartiger Abstraktionen beruhe, hängt die andere von der Hierarchie derselben und von ihrer linearen Anordnung unmittelbar zusammen. Sie setzt aber außerdem eine Abhängigkeit des  Inhaltes  voraus, welche teils in der hier angenommenen Weise nicht existiert, teils wirklich in einer Form vorhanden ist, die jenem Gedanken vollständig widerstreitet. Wir haben oben schon an einigen Beispielen die tatsächlichen Widersprüche gegen diese Behauptung dargetan. In Wahrheit befinden sich die Wissenschaften nicht in einem einseitigen, sondern in einem vielseitigen Verband, der unter Umständen jede zu einem Hilfsmittel der andern machen kann. Können Physik und Chemie der Hilfe der Mathematik nicht entraten, so sieht sich diese hinwiederum überall bei der Auffindeung neuer Probleme auf die Anregungen angewiesen, die sie diesen Erfahrungswissenschaften entnimmt. Es kann sich also stets nur um das größere oder geringere Maß solcher Abhängigkeit handeln, und sobald dieses festgestellt ist, wird dann natürlich besonders im Unterricht diejenige Disziplin vorausgehen, welche relativ unabhängiger ist. Gleichwohl wird auch unter dieser Voraussetzung eine Art hin- und hergehender Bewegung in den meisten Fällen gerade infolge jener Wechselbeziehungen zweckmäßiger sein als die strenge Reihenfolge, und es wird daher auch dieses System tatsächlich allgemein eingehalten. So dient eine gewisse mathematische Vorbereitung dem Studium der Experimentalphysik, dieses dagegen ist für den Übergang zur höheren Mathematik, namentlich zu denjenigen Gebieten derselben, die ihre Anregung durch physikalische Probleme erhalten haben, unerläßlich. Mögen aber auch die Wechselbeziehungen zwischen den Disziplinen sogar unerwartet solche zwischen bisher fern liegenden Gebieten sich gestalten, immer werden doch gewisse Gruppen von Wissenschaften übrig bleiben, deren einzelne Glieder einander unverhältnismäßig viel näher stehen, so daß dagegen die Beziehungen zu andern verschwinden. Solche Gruppen bilden z. B. innerhalb der Naturwissenschaften die physikalisch-chemischen, sowie die systematisch-naturgeschichtlichen Gebiete, innerhalb der Geisteswissenschaften einerseits die historischen Disziplinen, andererseits die Jurisprudenz und Nationalökonomie. Von diesen Gruppen stehen sich dann einzelne selbstverständlich wieder näher. Namentlich sind die einzelnen Gruppen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften zumeist enger verbunden. So können der Jurist und der Theologe die historischen Studien nicht entbehren, während Mathematik und Physik für sie nur insoweit in Betracht kommen, als für die höhere Bildung eine gewisse allgemeine Orientierung auch über entferntere Gebiete wünschenswert ist.

In manchen Punkten, namentlich in Bezug auf die lineare Anordnung der Wissenschaften mit COMTE nicht einverstanden, jedoch im Geiste COMTEs suchte HERBERT SPENCER dessen System zu verbessern, indem er den Unterschied des Abstrakten und Konkreten beibehielt, aber genauer zu bestimmen bemüht war. Abstrakt, meint SPENCER, können nur solche Erkenntnisse genannt werden, die sich überhaupt nicht auf die Gegenstände selbst, sondern lediglich auf deren Relationen der Koexistenz und Aufeinanderfolge beziehen, also in letzter Instanz auf den  Raum  und die  Zeit.  Nur die reine Mathematik, Geometrie und Arithmetik, hat es aber mit diesen abstrakten Relationen zu tun. Demnach gibt es nur  eine  im eigentlichen Sinne abstrakte Wissenschaft, die Mathematik. Eine zweite Reihe von Erkenntnissen soll sich dann auf die Relationen der konkreten in Raum und Zeit befindlichen Dinge beziehen: zur Erklärung dieser Relationen sind Kräfte erforderlich, die nach bestimmten Gesetzen wirken. Die zweite Gruppe, die der abstrakt-konkreten Wissenschaften, umfaßt daher die Disziplinen, welche sich mit den allgemeinen Naturkräften beschäftigen, die Mechanik, die Physik und die Chemie.  Konkrete  Erkenntnisse endlich sind solche, die sich auf  einzelne  Gegenstände beziehen. Zu den konkreten Wissenschaften gehören daher alle diejenigen, welche es nicht mit den Naturgegenständen überhaupt in ihren Wechselbeziehungen, sondern mit ganz bestimmten einzelnen Naturgegenständen oder mit bestimmten Gruppen von solchen zu tun haben. In diese Klasse fallen demnach alle in den vorigen nicht enthaltenen Gebiete: so die Astronomie, Geologie, Biologie, wobei SPENCER als spezielle Teile der letzteren auch die Psychologie und Soziologie betrachtet. (8)

Daß diese Klassifikation gegenüber der COMTEschen eine Verbesserung ist, wird man nicht bestreiten. Abgesehen von der richtigeren Stellung, welche hier einzelne Disziplinen, wie die Astronomie, die Mechanik, erhalten, besteht der wesentliche Fortschritt darin, daß den verschiedenartigen Wechselwirkungen ihre Bedeutung eingeräumt wird, wenn dies auch allzusehr nach der Schablone geschiet, die sich SPENCER für die Gewinnung seiner drei Gruppen ausersehen hat. Es sollen nämlich stets eine abstrakte, eine abstrakt-konkrete und eine konkrete Wissenschaft einander koordiniert sein. Die abstrakten dienen den beiden anderen als Hilfsmittel, empfangen aber ihrerseits von diesen den Stoff ihrer Untersuchungen. Ebenso soll die zweite Klasse der dritten als Hilfsmittel dienen und dagegen von ihr das Material entnehmen. Schon für das Verhältnis der Mathematik zu den Naturwissenschaften, das hier offenbar zum Vorbild diente, ist dieses Schema nur halb zutreffend, weil dabei die Tatsache nicht zum Ausdruck kommt, daß die mathematische Spekulation nicht notwendig an die ihr durch die empirischen Gegenstände und ihre Relationen dargebotenen Begriffsbildungen gebunden bleibt, sondern nach dem Permanenzprinzip von ihnen aus zu neuen Begriffsbildungen fortschreitet, von denen man doch nur sagen kann, daß die erste Anregung zu denselben, nicht aber daß ihr Stoff in den konkreten Objekten und ihren Beziehungen gegeben sei. Auf die Wechselwirkung der von SPENCER sogenannten abstrakt-konkreten und der konkreten Wissenschaften kann aber dieses Verhältnis nur höchst gezwungen angewandt werden, wie denn überhaupt die Unterscheidung dieser Klassen vielfach eine willkürliche ist. Physiologie und Psychologie haben nach dem ganzen Charakter ihrer Untersuchungen sicherlich mit der Physik und Chemie eine viel nähere Verwandtschaft als mit der systematischen Naturgeschichte. Der Gesichtspunkt, daß die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigen, nur an einzelnen Gegenständen zur Beobachtung kommen, ist hier ein ganz und gar nebensächlicher; ebenso der andere, ob die betreffenden Vorgänge an vielen oder an wenig Gegenständen, oder ob sie nur an bestimmten Klassen von Gegenständen untersucht werden können. Würden doch nach diesem Gesichtspunkt zahlreiche physikalische Erscheinungen, wie die Doppelbrechung des Lichts, der Magnetismus usw., mindestens mit gleichem Recht wie die physiologischen oder die psychologischen Prozesse dem konkreten Gebiet zuzurechnen sein.

Man wird nicht verkennen, daß in SPENCERs Klassifikation die alte Unterscheidung  erklärender  und  beschreibender  Naturwissenschaften noch einigermaßen nachwirkt. Mit Recht hat er diese in Wahrheit völlig unzutreffende Unterscheidung verlassen, da keine Wissenschaft der Beschreibung entraten kann, ebenso aber jede in der Erklärung ihrer Objekte ihre letzte Aufgabe sieht. Aber indem er an die Stelle dieser Unterscheidung die andere zwischen den  Objekten  und den  Relationen der Objekte  setzt, um die ersteren den konkreten, die letzteren den abstrakt-konkreten und den abstrakten Wissenschaften zuzuteilen, hat auch er einen nicht zutreffenden Einteilungsgrund gewählt. Der wahre Unterschied, der sich hinter allen diesen umgestaltenden Ausdrücken verbirgt, ist wieder der des  Vorgangs  und des  Gegenstandes.  Dieser Unterschied ist es, der in der Tat den systematischen Naturwissenschaften, die in der genealogischen Ordnung bestimmter Arten von Naturgegenständen ihre Aufgabe erblicken, ein gewisses Recht der Selbständigkeit verleiht. Nach diesem Gesichtspunkt werden manche Gebiete, wie die Astronomie, die Biologie, ja schon die Chemie, in einen systematischen und in einen die Theorie der Prozesse behandelngen Teil zu trennen sein; nicht aber kann, wie es von SPENCER geschieht, ein derartiges Gebiet ohne weiteres entweder ganz der einen oder anderen Gruppe zugeteilt werden, also z. B. den abstrakt-konkreten Wissenschaften die Chemie, den konkreten die Astronomie, während man doch billig zweifeln kann, ob die Chemie nicht sehr viel mehrt an konkretem Tatbestand enthält als die Astronomie. Ganz unzulässig ist es schließlich, wenn diese den Naturwissenschaften entlehnte Unterscheidung auf die Mathematik übertragen wird. So wenig wie es von der Chemie richtig ist, daß sie es bloß mit Relationen, und von der Astronomie, daß sie es bloß mit Objekten zu tun habe, ebensowenig kann die Mathematik als eine Wissenschaft der reinen Relationen bezeichnet werden. Vielmehr beziehen sich ihre Begriffe ebensowohl auf Gegenstände, wie auf Verhältnisse von Gegenständen. Ein Dreieck z. B. ist ein gegenständlicher Begriff, während eine arithmetische Operation, eine analytische oder geometrische Funktion eine Relation enthält, die freilich, wie jede Relation, Gegenstandsbegriffe voraussetzt. Nun sind allerdings die Gegenstände, mit denen sich die Mathematik beschäftigt, nicht die unmittelbaren empirischen Gegenstände; aber auch die Relationen, die sie untersucht, beziehen sich nicht auf die empirischen Gegenstände selbst, sondern auf abstrakte Begriffe, die nicht einmal immer als logische Schemata für die empirischen Begriffe betrachtet werden können. Auch diese Auffassung verkennt also völlig den wesentlichen Charakter aller mathematischen Begriffsbildung. Sie sucht den tief greifenden Unterschied zwischen dem mathematischen und dem physikalischen Gebiet aus einem bloßen  Gradunterschied der Abstraktion  abzuleiten, während in Wahrheit alle mathematischen Begriffe auf einer  qualitativ  verschiedenen Abstraktionsform beruhen.

Wie in diesem Punkt SPENCER sichtlich noch die Einseitigkeit des COMTEschen Positivismus und Naturalismus erkennen läßt, so verrät sich der letztere nicht weniger an der Stellung, die er den Geisteswissenschaften anweist, oder auch nicht anweist; denn eine Menge der hier bestehenden Disziplinen, die eine lange Geschichte hinter sich haben, sind in SPENCERs System nicht unterzubringen. Die Psychologie betrachtet er als einen Teil der Biologie und scheidet sie wieder in einen allgemeinen und in einen speziellen Teil, von denen der letztere abermals in zwei Teile zerfällt, in einen solchen, der sich mit dem einzelnen Wesen beschäftigt, die Individualpsychologie, und in einen andern, der die Gesellschaft zu seinem Objekt hat, die Soziologie, Was nun aus der Gesamtheit der Geisteswissenschaften in SPENCERs Soziologie keinen Platz findet, das wird überhaupt nicht als Wissenschaft anerkannt. An all dem sind die Spuren der COMTEschen Hierarchie noch deutlich zu sehen. Ist auch SPENCER umsichtig genug, der Psychologie ihre eigenen Aufgaben zu wahren, so kann doch die selbständige Stellung derselben als der Grundlage der Geisteswissenschaften ebensowenig wie die tatsächliche Bedeutung dieser letzteren zu einem gebührenden Ausdruck kommen, solange die Psychologie lediglich als ein Teil der Physiologie angesehen und außerhalb der so konstruierten Psychologie überhaupt keine Geisteswissenschaften anerkannt wird. Immer wieder vergessen diese Systematik, da wo ihre eigenen Zukunftsprogramme für die Entwicklung der Wissenschaft in Frage kommen, daß die nächste Aufgabe darin besteht, die  vorhandenen  Wissenschaften in eine systematische Ordnung zu bringen. Übrigens stimmt SPENCER nicht bloß in Bezug auf die Bedeutung, die er einer zukünftigen Soziologie beilegt, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses der Philosophie zu den Einzelwissenschaften mit COMTE überein. Die Philosophie findet auch in seinem System deshalb keine Stelle, weil sie lediglich den prinzipiellen Teil der Einzelwissenschaften umfaßt, so daß, ähnlich wie bei COMTE, die Einteilung der Einzelwissenschaften zugleich eine Einteilung der Philosophie ist. Dennoch hat sich in diesem Punkt bei SPENCER die Einseitigkeit des COMTEschen Positivismus ermäßigt, da er in seinen "first principles" selbst eine Untersuchung der allen Wissenschaften gemeinsamen Prinzipien vornimmt, daher auch in diesem Werk, welches die sonstigen Aufgaben einer Erkenntnistheorie und einer Metaphysik in sich vereinigt, die Grundgedanken seines eigenen philosophischen Systems sämtlich zu finden sind.

In einem vollen Gegensatz z uden bisher besprochenen, fast überall auf das BACONsche Vorbild zurückgehenden Einteilungen stehen desjenigen Klassifikationen, welche aus den Systemen der  neueren spekulativen Philosophie  hervorgegangen sind. Während dort die Philosophie in den Einzelwissenschaften aufgeht oder doch ihnen gegenüber nicht zu einer selbständigen Geltung gelangt, werden umgekehrt hier die Einzelwissenschaften durch die Philosophie absorbiert. Übrigens sind im letzteren Fall die Einteilungen keineswegs neu. Nur die Grundlagen sind allerdings neu, auf denen frühere Einteilungen wiederkehren. In der Tat ist es unschwer zu erkennen, daß alle enzyklopädischen Gliederungen neuerer philosophischer Systeme entweder auf die aristotelische oder auf die platonische Unterscheidung zurückkommen. Indem man die "poietischen" Wissenschaften des ARISTOTELES, als der reinen Wissenschaft nicht homogen, wegließ, kam man zu der einfachen Gegenüberstellung einer  theoretischen  und  praktischen  Philosophie. In diesem Sinne schied FICHTE seine Wissenschaftslehre, und an ihn schließt sich in dieser Beziehung HERBART an. Die Einzelwissenschaften reihen sich dann von selbst entweder dem einen oder dem anderen dieser Hauptgebiete der Philosophie an. Auf die platonische Dreiteilung geht HEGELs System zurück. Der Dialektik entspricht bei HEGEL die Logik, der Physik die Naturphilosophie, der Ethik die Geistesphilosophie. Die wesentliche Veränderung liegt in der Erweiterung des letzteren Begriffs. Eine Zwischenstellung zwischen beiden Einteilungen nimmt SCHELLING mit seinen zwischen einer Zwei- und Dreiteilung schwankenden Versuchen ein, wie er es denn tatsächlich gewesen ist, der die Entstehung der Gedanken vorbereitet hat, aus denen HEGELs System hervorging. In HEGELs Enzyklopädie ist unter allen Ausführungen dieser Philosophen am meisten das zu finden, was einer Klassifikation der Gesamtheit der Wissenschaften ähnlich sieht. Viele der einzelnen Begriffsglieder entsprechen unmittelbar bestimmten Wissenschaftsgebieten: so wenn die ganze Naturphilosophie in Mechanik, Physik und Organik, die Mechanik wieder in mathematische Mechanik, endliche Mechanik und Astronomie geschieden wird, usw. Doch kommt die tatsächliche Bedeutung vieler Einzelwissenschaften nicht zu ihrem Recht, und der Zwang des dialektischen Prozesses läßt eine sachgemäße Gliederung selten aufkommen. Da überdies die Begriffentwicklung, nicht aber eine Klassifikation die eigentliche Absicht des Systems ist, so ist es unvermeidlich, daß Glieder auftreten, die durch kein besonderes Wissenschaftsgebiet repräsentiert sind. Alle einzelnen Fehler dieser Enzyklopädie hängen aber mit dem Grundirrtum zusammen, daß dieses System das Ganze des menschlichen Wissens mittels einer von der Erfahrung unabhängigen Begriffentwicklung glaubt gewinnen zu können.

LITERATUR - Wilhelm Wundt, Über die Einteilung der Wissenschaften, Philosophische Studien, Bd. 5, Leipzig 1889
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu ARISTOTELES, Metaphysik, Lib. IV, Kap. If; Physik, Lib I, I. Nikomachische Ethik, Lib. IV, Kap. 4
    2) ARISTOTELES, De Dignitate et augment Scientarium, Lib. II, Kap. I
    3) DUGALD STEWART, Collected Works I edited by WILLIAM HAMILTON, Seite 1f
    4) JOHN LOCKE, Essay concerning human understanding IV, Kap. 21
    5) BENTHAM, Essai sur la nomenclature et la classification des principales branches d'art et de science. Ouvrage extrait du Chrestomathia de Jérémie Bentham par Georges Bentham. Oeuvres de J. Bentham. Bruxelles 1829. Teil III, Seite 303. A. M. AMPÉRE, Essai sur la philosophie des sciences ou exposition analytique d'une classification naturelle de toutes les connaissances humaines, Paris 1834
    6) ARISTOTELES, De augm. Scientarum, Lib. IV, Kap. II
    7) AUGUSTE COMTE, Cours de philosophie positive I, Lektion II
    8) HERBERT SPENCER, The genesis of science, Essays, Vol. I, Nr. 3. The classification of the sciences, Essays Vol. III, Nr. 1