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FRANZ EULENBURG
Naturgesetze und soziale Gesetze
[Logische Untersuchungen]
[3/4]

"Der große Vorteil, den die mathematische Formulierung mit sich bringt, weswegen auf sie Gewicht gelegt werden muß: Wir befreien uns durch sie von der Zufälligkeit der Form und der Umgebung des Naturgegenstandes. Vom zufälligen Raum und der zufälligen Zeit wird abstrahiert, um eben die reinen Bedingungen herauszuarbeiten und auf rein quantitative Verhältnisse zurückzuführen. Es ist die Herstellung der idealen Bedingungen, die die mathematische Formulierung fordert und dann ihrerseits auch gewährleistet. Daher ist es zu begreifen, daß die ältesten und fortgeschrittensten Teile der Naturwissenschaft auf eine mathematische Formulierung hinauslaufen."

"Die Gesetzesbildung entspricht durchaus der natürlichen Dialektik bei der Formung allgemeiner induktiver Sätze und Urteile. Die Klassenbildung, die wir beständig vornehmen, um der Vielheit der Erscheinungen Herr zu werden, ist eine Form, die Gesetzesbildung eine andere. Klasse und Gesetz sind darum nur zwei Seiten desselben Vorgangs, um die wesentlichen von den unwesentlichen Merkmalen zu sondern."

"Man hat die Naturgesetze eingeteilt in erklärende (kausale) und beschreibende (empirische) und damit andeuten wollen, daß hier eine verschiedene Aufgabe vorliegt. Andererseits hat man das Wort Kirchhoffs so oft wiederholt, daß es die Aufgabe der Naturwissenschaft ist, die Phänomene vollständig und in einfachster Weise zu beschreiben. Darum hat man - im Gegensatz zu jener Forderung des erklärenden Charakters der Naturgesetze - ihnen nur die Fähigkeit zugesprochen, die Erscheinungen beschreiben zu können."


III. Von den konstitutiven Merkmalen
naturwissenschaftlicher Gesetze


a) Allgemeine und spezielle Gesetze

Es haben noch einige wichtige Erörterungen ihre genauere Erledigung zu fidnen, die bisher nur gestreift sind (71). Das eine betrifft die Frage, auf welche Klasse von Erscheinungen (Eigenschaften, Vorgänge, Zustände) sich denn die einzelnen Naturgesetze erstrecken. Gesetze waren zu charakterisieren als Gattungsbegriffe. Das heißt sie beziehen sich immer auf bestimmte Klassen von Eigenschaften, die wir durch den Prozeß der Isolation und Abstraktion aus einem Komplex von Erscheinungen so oder so gewonnen haben. Diese Eigenschaften (Qualitäten) gehören nun getrennten Gebieten (Teilsystemen) an, unter denen wir qualitativ-verwandte Naturvorgänge zusammenfassen. Die physikalischen oder biologischen, chemischen oder metereologischen Erscheinungen bilden z. B. solche getrennte, in sich geschlossene, qualitative Gebiete. Auch innerhalb jener geschlossenen Teilsystem trennen wir wieder. So zerfällt die Physik in eine Reihe von Untergebieten, die äußerlich durch bestimmte Merkmale verbunden sind. Diese Trennung in einzelne Gebiete und damit die Zuordnung auch der Gesetze zu einzelnen von ihnen, entspringt unserer eigenen abstrahierenden Denktätigkeit. Im Grunde gehört ja jeder Vorgang allen Teilen der Physik an und nur wir nehmen die Trennung künstlich und begrifflich an ihnen vor. Das gilt sogar von den Vorgängen der Mechanik. Ansich tritt auch jeder mechanische Vorgang niemals rein auf, sondern ist mit gewissen thermischen, elektrischen, magnetischen, chemischen, physiologischen Vorgängen verbunden, von denen wir eben abstrahieren (72). Die Gesetze beziehen sich also zunächst nur auf die Erscheinungen innerhalb eines solchen qualitativen Gebietes. Es sind mit anderen Worten immer Spezialgesetze. Sie haben es stets mit ganz bestimmten einzelnen Eigenschaften der Körper oder mit den Beziehungen zwischen mehreren bestimmten Eigenschaften zu tun. Gerade auch die Überführung der einzelnen Energieformen ineinander, wie es die moderne (qualitative) Energetik anstrebt, hat ja nur dann einen Sinn, wenn es sich zunächst um verschiedene Gattungen von Eigenschaften handelt, die getrennt gedacht werden.

Allerdings haben jene Gattungen, denen die Gesetze zugehören, selbst einen sehr verschiedenen Umfang. Es gibt solche, deren Umfang nur klein ist (etwa die akustischen oder ozeanographischen), andere, deren Umfang weiter reicht (wie die thermischen oder elektrischen). Aber das berührt die Tatsache selbst nicht, wonach wir es zunächst mit solchen Spezialgesetzen zu tun haben, deren Geltungsbereich ein ganz begrenzter ist. Wie weit aber jene Spezialgesetze auf andere Klassen von Erscheinungen anwendbar sind und dort Gültigkeit haben, das muß offenbar erst geprüft, kann aber von vornherein gar nicht ausgemacht werden. Vom GAY-LUSSAC'schen Gesetz in der Mineralogie, den Fallgesetzen in der Chemie, dem Gravitationsgesetz in der Biologie, dem Gesetz der multiplen Proportionen in der Elektronentheorie zu sprechen, hat ja keinen Sinn, weil es sich dabei um Aussagen über verschiedene Gattungen von Eigenschaften handelt, die einstweilen keinem gemeinsamen Oberbegriff untergeordnet werden können. Nicht nur die einzelnen Teilsysteme besitzen ihre spezifischen Gesetze, sondern auch innerhalb jedes Partialsystems gibt es wieder Klassen von Eigenschaften, die Naturgesetze suae speciei [ihrer Art nach - wp] haben. Sie sind einstweilen nicht reduzierbar, sondern bestehen vorläufig nebeneinander (73). Auch unter der Annahme der qualitativen Energetik würde man die mechanischen, optischen, akustischen, thermischen, chemischen, magnetischen Energieformen unterscheiden und für jede von ihnen spezielle Gesetze aufzustellen haben. Allerdings breitet nun die logische Abgrenzung und Zuteilung der verschiedenen Gebiete (d. h. der verschiedenen Energieformen bzw. der verschiedenen qualitativen Gattungsmerkmale) nicht geringe Schwierigkeiten und zeigt die relative Unfertigkeit sogar in den Grundlagen der exakten Wissenschaften (74).

Ein Versuch, diese verschiedenen Spezialgesetze zu klassifizieren, sie eventuell gegeneinander unter- und zuzuordnen ist bisher nicht unternommen worden. Daraus könnten engere Verwandtschaften unter gewissen Gesetzen aufgezeigt, die Zugehörigkeit einzelner von ihnen (wie etwa der Brechungsgesetze) zu mehreren Klassen von Erscheinungen nachgewiesen werden. Es würde sich dann vielleicht herausstellen, wieviel Grund- und Elementargesetze, wieviel abgeleitete und sekundäre wirklich vorhanden sind, und welcher nähere Zusammenhang denn zwischen den Naturgesetzen besteht - eine logische Arbeit, die hier nur angedeutet werden soll.

Dazu im Ganzen noch einige prinzipielle Erörterungen.

1. Die Gattungsbegriffe, um die es sich bei den Naturgesetzen handelt, sind niemals abgeschlossen, sondern werden immer neu gebildet. Einmal gelangen überhaupt neue Eigenschaften in den Gesichtskreis der Untersuchung (etwa die radioaktiven Erscheinungen). Sodann aber können zwischen mehreren Gattungen wiederum einige Merkmale gemeinsam herausgegriffen und einem neuen Gattungsbegriff subsumiert werden. Das gilt etwa von den Begriffen der physikalischen Chemie oder der Biochemie oder der experimentellen Geologie, andererseits aber z. B. von den Strahlungsgesetzen, die für optische, akustische, thermische und elektrische Erscheinungen gemeinsam gebildet werden oder für die große Klasse der reversiblen [umkehrbaren - wp] Prozesse. Besonders deutlich tritt dies beim Prozeß des Potentials hervor, der ursprünglich für ein begrenzteres Gebiet aufgestellt war und sich dann auf so verschiedene Dinge, wie Druck, Temperatur, elektromotorische Kraft ausdehnte. Hier entstehen überall wiederum neue Gattungsbegriffe spezifischer Art, die gewisse Merkmale der einen und gewisse der anderen haben. - Umgekehrt sind aber auch gewisse Gattungen von Eigenschaften anderen untergeordnet: die akustischen Erscheinungen geben z. B. keine besonderen Naturgesetze, sondern gehören zu denen der elastischen Schwingungen. Schon darum würde also jene Klassifikation, von der wir oben sprachen, immer nur einen ganz provisorischen Charakter tragen können. Die Fassung der Klassen ist selbst etwas Veränderliches und Wandelbares. Die Zahl der speziellen Gesetze ist darum eine ganz unbegrenzte und ändert sich beständig.

2. Nun sind jedoch unter den Gattungen selbst verschiedene Grade zu unterscheiden: solche mit allgemeinerem und solche mit speziellerem Inhalt. Es gibt auch unter den Naturgesetzen welche, die offenbar den Anspruch allgemeinsten Inhalts und damit größten Umfangs erheben, d. h. die Gesetze der klassischen Mechanik. Der Grund ist ein doppelter. Einmal hat man immer mehr Beziehungen zwischen den Bewegungen der Körper und den anderen physischen Eigenschaften der Körper kennengelernt (75). So liegt es nahe per analogiam zu schließen, daß die mechanischen Gesetze tatsächlich die allgemeinsten sind. Dieser Anspruch wird zwar neuerdings von den elektromagnetischen strittig gemacht (76). Diese wären demnach als die allgemeinen zu betrachten. Logisch würde aber darin keine prinzipielle Änderung vorhanden sein, ob es diese oder jene Klasse von Gesetzen sind, die jenen allgemeinsten Charakter tragen. Denn es ist in beiden Fällen derselbe Vorgang. Er entspricht der Bildung des summum genus in der formalen Logik (77). Und es wären nur die Gesetze der Mechanik durch die der Elektrodynamik zu ersetzen, ohne daß sich die Auffassung prinzipiell ändert.

Der zweite Grund ist der, daß die mechanischen Gesetze ja nur Beziehungen zwischen apriorischen Anschauungsformen enthalten. Mithin wäre die Mechanik - ebenso übrigens auch die Elektrodynamik - tatsächlich eine reine Naturwissenschaft im Sinne KANTs. Sie könnte damit allen anderen eben wegen ihres formalen Charakters als Grundlage dienen. Das ist der Gedanke von HEINRICH HERTZ' Aufstellungen in seinen Prinzipien der Mechanik (78). Die mechanischen Gesetze müssen dann freilich die allgemeinsten sein: sie hätten nur mit den Begriffen von Zeit, Raum und Masse und außerdem mit den logischen Kategorien zu tun. Diese Gesetze allgemeinen Inhalts haben natürlich einen größeren Umfang und betreffen die verschiedenen Gattungen von Naturerscheinungen gleichmäßig: zumindest soweit sie sich auf ein materielles System beziehen.

Aber ob nun jener induktive oder dieser deduktive Beweis für die umfassende Bedeutung der mechanischen Gesetze versucht wird, die Behauptung, daß es tatsächlich oberste Naturgesetze mit allgemeinsten Begriffen gibt, widerspricht unserer obigen These, wonach die Naturgesetze es mit Klassen von speziellen Eigenschaften zu tun hätten, in keiner Weise. Sie bestätigt im Gegenteil den Satz, daß die Naturgesetze spezielle sind. Denn auch dies folgt ohne weiteres. Je allgemeiner die Gesetze sind, umso inhaltsleerer sind sie offenbar; das ergibt sich aus dem Inhalt der mechanischen Gesetze ohne weiteres (79). Die allgemeinen Gesetze der Mechanik bzw. Elektrodynamik erfordern darum gerade die Ergänzung durch die Spezialgesetze der einzelnen Teilgebiete. Jene erhalten überhaupt nur dadurch die Möglichkeit der Anwendung, daß diese speziellen Gesetze bestehen. Sodann gelten aber jene allgemeinen Gesetze nur von einem System materieller Körper. Schon die chemischen Erscheinungen lassen sich nicht mehr den physikalischen oder mechanischen Gesetzen unterordnen. Einige von ihnen greifen wohl noch über die chemischen Vorgänge hinweg, aber im allgemeinen geschieht es doch nicht. Und ebenso gehorchen die Vorgänge des organischen Lebens eigenartigen Gesetzen. Also auch jene obersten Naturgesetze würden doch nur den Anspruch auf relative Allgemeinheit erheben können, aber neben sich immer noch qualitativ andere dulden müssen.

Eine Zwischenbemerkung, die uns auf unseren Ausgang zurückführt, sei noch gestattet. Wenn KANT der Naturwissenschaft die Aufgabe zuschreibt "die Natur nach allgemeinen Gesetzen zu begreifen", so kann das für uns eine doppelte Bedeutung haben. Entweder bezieht es sich auf die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze in jenem Sinn, von dem wir oben gesprochen haben. Es ist kaum anzunehmen, daß dies noch besonders hätte betont werden sollen, da es als selbstverständlich galt. Oder es bezieht sich auf die allgemeinen Naturgesetze überhaupt, das sind eben die mechanischen. Letzteres ist wirklich der Fall, da KANTs Interesse vor allem auf die klassische Mechanik GALILEIs und NEWTONs ausgeht und er seine "metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften" dieser analytische Mechanik gewidmet hat. Die mechanischen Gesetze der reinen Bewegungslehre sind für ihn aber a priori erkennbar und darum allgemein (80). Damit kann nur gemeint sein, daß letztenendes die "Natur" auf mechanische Gesetze zurückgeführt werden muß. Denn einstweilen haben wir es noch mit lauter Spezialgesetzen zu tun, die nebeneinander bestehen, ohne schon von jenen einfachsten Fällen ableitbar zu sein. Es bleibt höchstenfalls ein Ideal, das zu erstreben ist. - Weil die mechanischen Gesetze es mit den allgemeinsten Eigenschaften zu tun haben, rechtfertigt sich nun aber der immer von neuem unternommene Versuch, nach Analogie von ihnen die übrigen Gesetze einzurichten und ihnen unterzuordnen. Aber es berechtigt noch nicht, dieses Ziel und diesen Versuch schon für die Lösung und für eine vollzogene Tatsache anzusehen. Es ist ja richtig, daß die Physik es mit Bewegungserscheinungen zu tun hat und insofern mechanisch ist. Dann bestehen jedoch für jede einzelne Bewegungsart spezielle Gesetze, und diese lassen sich einstweilen nicht aufeinander reduzieren. Schon für die chemischen Erscheinungen versagt das mechanische Bild. Das organische Geschehen auf anorganische Gesetze zurückzuführen scheitert einstweilen ebenso an der Kompliziertheit der Komponenten. Es handelt sich also um eine Analogiebildung, bei der die Mechanik nur Musterbilder gibt, nach denen man auch die anderen Erscheinungen faßt (81). Die Vorstellungen sind darum nur als Bild einer Analogie anzusehen, das gewiß begründet ist, aber noch keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann (82).

3. Schließlich noch diese Bemerkung: Für jedes der qualitativen Teilsysteme, für die die speziellen Gesetze gelten, sind die Bestimmungselemente vorläufig letzte, nicht weiter reduzierbare. Sie werden stets als einfache Komponenten angenommen. Zumindest operieren die Gesetze immer so, als ob es letzte Elemente sind: so die Zelle für die Physiologie, bestimmte Organe (LAMARCKsches Gesetz) für die Biologie, das Wasser und deren Strömungen für die Ozeanographie usw. Ansich handelt es sich zwar bei den Bestimmungsstücken und Konstanten jedes Systems um komplexe Erscheinungen: es sind die Resultanten vieler Einzelwirkungen. Aber für die speziellen Naturgesetze gelten sie immer als elementare Einheiten. Sonst müßte offenbar in jedem Fall immer bis auf die letzten gedachten Bestände, Atome bzw. Energie- oder Ätherschwingungen zurückgegangen werden. Zur Hypothese für die Theorie und zur Naturerklärung ist das wohl nötig. Aber die Naturgesetze selbst bedürfen ihrer noch noch. Sie nehmen vielmehr die Bestimmungsstücke ebenso wie die Konstanten gerade für ihr Gebiet als gegeben an. Es wird in vielen Fällen allerdings die Variationsmöglichkeit und Zusammengesetztheit der jeweiligen "Elemente" besonders hervorgehoben werden müssen, um Abweichungen verständlich zu machen. Es ist dies das besondere Problem der logischen Gleichheit (Gleichheit der Elemente, der Bedingungen, der Faktoren) auf das hier hingewiesen werden mag.
    "Ein Weiß z. B., das aus Violett und Gelb zusammengesetzt wird, wirkt außerordentlich stark auf gewöhnliche lichtempfindliche Platten und macht sich in Photographien als ein sehr helles Licht bemerkbar, während ein Weiß aus scharlachrot und blaugrün nur eine schwache Wirkung hat." (83)
Die Elemente im Sinn des jeweiligen Systems von Eigenschaften sind eben relativer Art und gelten für jedes Gebiet besonders. Aber immer sind diese Komponenten, für die das spezielle Naturgesetz gilt, ihrerseits wieder durch andere Naturgesetze eindeutig gegeben und festgelegt.

Das Vorhandensein eines bestimmten Zustandes (Anfangslage) und einer bestimmten Konfiguration des Systems, an dem sich das Naturgesetz überhaupt bewähren kann, setzt eben das Bestehen von Bedingungen und Bestimmungselementen voraus. Und diese müssen dann ihrerseits durch andere Formeln, d. h. andere Naturgesetze, gegeben werden. Nicht anders steht es natürlich mit den Konstanten. Auch eine allgemeine Weltformel, wie etwa die von LAPLACE, bedürfte des Vorhandenseins von Spezialgesetzen, also von sehr vielen Differentialgleichungen, um ihre Anwendbarkeit überhaupt erst zu ermöglichen. Ebenso braucht das Energiegesetz für die begrenzte Endlichkeit wiederum das Vorhandensein von Spezialformeln, um in Kraft treten und die Mannigfaltigkeit begreifen, d. h. begrifflich zusammenfassen zu können (84). Ansich müßten sonst solche letzten Formeln ganz leer sein. Die Reduktion mithin aller Spezialgesetze auf ein oder selbst mehrere allgemeine Grundgesetze bleibt eine nie zu erfüllende Forderung. Denn in dem Moment, wo sie verwirklicht werden könnte, würde wieder das Bestehen anderer Naturgesetze und anderer Differentialgleichungen nötig werden. Erst dadurch aber könnten jene letzten Gesetze selbst ihren Inhalt und ihre Bedeutung erhalten.

Wir werden also abschließend sagen: es gehört zu den konstitutiven Merkmalen der Naturgesetze, daß sie sich auf ganz bestimmte Gattungen von Erscheinungen beziehen, daß sie spezielle Naturgesetze sind. Diese können von geringerem oder größerem Umfang, geringerer oder größerer Allgemeinheit sein. Aber der Anspruch, die allgemeinsten Naturgesetze darzustellen, der vor allem den Gesetzen der Mechanik (bzw. der Elektrodynamik) zugesprochen wird, ist doch nur erfüllbar durch das gleichzeitige Bestehen eben jener anderen speziellen Gesetze.


b) Zur Frage der Exaktheit
der Naturgesetze

Wir hatten weiter oben als "exakt" die genaue Angabe der Bedingungen bezeichnet, unter denen das Naturgesetz gilt. Wir fanden, daß dieser letzte Sinn des Wortes nur bei den abstrakten Gesetzen erster Ordnung zutrifft. Gewöhlich aber versteht man in den Naturwissenschaften unter "exakt" die Messung und quantitative Feststellung (85). So beginnt NEWTON seine "philosophiae naturalis principia mathematica" mit den Worten: "missis formis substantialibus et qualitatibus occultis phaenomena naturae ad leges mathematicas revocare" [Die Lehre von den substantiellen Formen und den verborgenen Eigenschaften der Dinge wird immer mehr ersetzt durch mathematische Gesetze. - wp]. Beide Anschauungen decken sich jedoch miteinander. Das bedarf noch der näheren Ausführung, da manches Mißverständnis darüber besteht. In den Sozialwissenschaften wird das Wort "exakt" oft recht mißbräuchlich angewendet.

Ansich ist natürlich jede quantitative Feststellung und Exaktheit nur eine vorläufige und angenäherte, da von absoluter Gewißheit und Evidenz in Erfahrungsdaten keine Rede sein kann. Die Auffindung noch unbekannter Elemente in der atmosphärischen Luft, die bis dahin gar nicht bemerkt waren, ist dafür aus der neueren Zeit sehr charakteristisch. Die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt immer wieder von Neuem, daß die folgende Generation feiner und genauer arbeiten kann als die vorangehende und einen Grad an Exaktheit anstrebt, der vordem nicht bestanden hat. Die Exaktheit ist also immer nur relativer Art. Sie ist nur als ein Idealfall zu betrachten. Bevor wir aber die Frage entscheiden, ob alle Naturgesetze einer solchen relativen Exaktheit zugänglich sind, bedarf es noch der Beseitigung eines Mißverständnisses, das gerade von philosophischer Seite nahe liegt.

1. Ein bekannter Satz KANTs besagt (86), daß in jeder Naturwissenschaft soviel an echter Wissenschaft vorhanden ist, als Mathematik in ihr steckt. Das darf nun nicht so verstanden werden, als könne etwa schon die mathematische Formulierung eine Entscheidung über die zugrunde liegende Anschauung oder eine eindeutige Lösung geben. Das ist nicht der Fall. Die mathematische Formulierung läßt durchaus eine mehrdeutige Auffassung zu. Dieselbe Differentialgleichung kann sowohl eine Aussage über die Fernwirkung als auch über die unmittelbare Nahewirkung geben. Sowohl die Lehre von der diskreten Verteilung der Massen wie die der kontinuierlichen Erfüllbarkeit des Raumes kann durch die Potentialtheorie befriedigt werden. Atomistik und Kontinuum sind für die mathematische Entwicklung ganz gleich berechtigt. Gerade weil sie eine formale Wissenschaft ist, gibt also die Mathematik in diesen Dingen keine reale Entscheidung. Und es würde mißverständlich sein, aus KANTs Worten etwa eine reale Evidenz [momend] für die mathematisch formulierten Naturgesetze zu folgern (siehe unten IIId). Der große Vorteil, den die mathematische Formulierung mit sich bringt, weswegen auf sie Gewicht gelegt werden muß, liegt nach einer ganz anderen Seite. Wir befreien uns durch sie von der Zufälligkeit der Form und der Umgebung des Naturgegenstandes. Vom zufälligen Raum und der zufälligen Zeit wird abstrahiert, um eben die reinen Bedingungen herauszuarbeiten und auf rein quantitative Verhältnisse zurückzuführen (87). Es ist die Herstellung der idealen Bedingungen, die die mathematische Formulierung fordert und dann ihrerseits auch gewährleistet. Daher ist es zu begreifen, daß die ältesten und fortgeschrittensten Teile der Naturwissenschaft auf eine mathematische Formulierung hinauslaufen. Dieser Vorteil ist so groß, daß man allerdings sagen darf, zur Vollendung der Naturgesetze bedarf es der Mathematik, weil erst dann die Bedingungen für ihr Inkraftreten gänzlich erfüllt sind. Die Anwendung der Mathematik ist dabei eigentlich nur die Folge anderwärts gegebener strenger Bedingungen. Das Exakte liegt bereits in diesen selbst.Daher unsere obige Formulierung, die diesen Sachverhalt zum Ausdruck brachte.

2. Nach den früheren Auseinandersetzungen wird es immer oder doch meist gelingen in den Naturgesetzen erster Ordnung ein solches Maß von Genauigkeit zu erlangen, daß hier das mathematische Kalkül tatsächlich Platz greifen kann. Denn wir vermögen dort die Elemente des Geschehens so eindeutig zu bestimmen, daß sich kein unbekanntes Agens [handelndes Prinzip - wp] einschleichen kann. Diese Forderung wird sich ganz ideal im allgemeinen nur bei den kleinsten Teilchen erfüllen lassen. Daher nehmen die Gesetze hier die Formen von Differentialgleichungen an, indem sie sich auf die gesetzmäßigen Zusammenhänge eben der kleinsten jeweiligen Elemente beziehen. Es sind dann wirklich Elementargesetze. Dabei ist es nach früheren Darlegungen keineswegs nötig, daß diese jeweiligen Elemente ansich schon einfache sind - ich erinnere nur an die GULDBERG-WAAG'sche Formulierung des Inversionsgesetzes. Die Auflösung der Qualitäten in quantitative Größen gilt für die als einfach angenommenen, qualitativ-verschiedenen Komponenten selbst. In all diesen Fällen führt die Exaktheit der Bedingungen auch zur mathematischen Formulierung. Naturgesetze und Differentialgleichungen decken sich miteinander.

Bei sehr vielen anderen Gesetzen, vor allem der Physiologie oder Pflanzenbiologie, der Mineralogie oder Meteorologie ist dies aber nicht möglich. Wir können zwar auch hier wenigstens bis zu einem gewissen Grad isolierend und abstrahierend vorgehen. Aber meist läßt die Vergangenheit eines Zustandes Spuren im Strukturzusammenhang des Systems oder der Organismen zurück. Sie sind zwar nicht unmittelbar wahrnehmbar, verhindern aber eben wegen der mangelhaften Isolation und Abstraktion eine exakte Feststellung. Dann wird zwar auch hier ein Funktionalzusammenhang anzunehmen sein, da wir Änderungsbeziehungen gesetzmäßiger Art wahrnehmen. Trotzdem ist aber weder der exakte zahlenmäßige Ausdruck, noch die allgemeine mathematische Formulierung wegen der Komplexität der Elemente möglich (88). Die Isolationselemente liegen nicht rein vor, mithin kann auch der ideale Fall der Differentialgleichung gar nicht erfüllt werden. - Das gilt z. B. von der Wellenbewegung der Ozeane, wo die Bewegungselemente zu mannigfaltig sind, um eine solche Formulierung zuzulassen (89). Als weiteres Beispiel mag das TALBOT'sche Gesetz des Heliotropismus [der Sonne zugewandt - wp] angeführt werden - eines der wenigen Gesetze der Pflanzenphysiologie, die zumindest teilweise der exakten Messung zugänglich sind. Auch dieses Gesetz liegt zunächst innerhalb ganz bestimmter angebbarer Grenzen (90). Wenn aber die Pflanzen vorher einer bestimmten Wirkung ausgesetzt waren, so hat sich für uns unmerkbar der Strukturzusammenhang der Pflanzen modifiziert. Das TALBOT'sche Gesetz gilt nun nicht mehr, sondern es treten andere Gesetze ein, die uns noch unbekannt sind. Ebenso sind zwar die allgemeinen Gesetze des Stoffwechsels und der Assimilation aufzeigbar; aber es war bis jetzt unmöglich die Abstraktion so weit vorzunehmen, daß wir es mit konstanten Bedingungen zu tun hätten. Weder können wir eine allgemeine Formel aufstellen, noch die quantitative Messung im einzelnen streng durchführen, obwohl ein deutlicher Funktionalzusammenhang besteht. - Das erste LAMARCK'sche Gesetz vom Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe enthält ja direkt einen Hinweis auf ein proportionales Wachstum nach der Dauer dieses Gebrauches (91). Und doch würde es nicht möglich sein, die mathematische Formel zu geben, obwohl ein deutlicher Funktionalzusammenhang, ein kausales Naturgesetz, nach altem Sprachgebrauch besteht. - Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien ist streng durch Messung bisher erst für wenige Gebiete nachgewiesen, trotzdem wir seine Allgemeingültigkeit annehmen. Nicht anders steht es etwa mit der Feststellung des Einflusses psychischer Änderung auf die Blutzirkulation (92). Man begnügt sich mit dem Nachweis, der sich auch objektiv graphisch darstellen läßt, daß gewisse Muskelgruppen sich ausdehnen oder zusammenziehen, weil ein Blutstrom zu- oder abnimmt. Und so in zahlreichen Fällen der organischen Naturwissenschaften. Im allgemeinen wird man sagen, daß bei den Lebewesen der Parameter des Apparates zu groß und zu kompliziert ist, als daß wir die einzelnen Erscheinungen schon genau messen könnten. In all diesen Fällen besteht zwar ein nachweisbarer Funktionalzusammenhang. Aber das ausgezeichnete Glied zu berechnen ist nicht möglich. Die Isolation und Abstraktion läßt sich nicht durchführen und infolgedessen auch nicht die reine Größenrechnung. Es sind also im allgemeinen die von uns sogenannten "komplexen Gesetze", die abstrakten Gesetze zweiter Ordnung, bei denen eine exakte Messung wie eine mathematische Formulierung auf Schwierigkeiten stößt.

3. Aber auch das Umgekehrte ist sehr wohl möglich und darf uns nicht in die Irre führen. Es können nämlich quantitative Feststellungen erfolgen, ohne daß von mehr als von äußeren Regelmäßigkeiten gesprochen werden darf, die noch keine Naturgesetze sind. Wir wollen sie zum Unterschied die "zahlenmäßigen Konstatierungen" nennen. Es ist strikt zu betonen, daß sie noch nicht unmittelbar der Ausdruck für eine Exaktheit im eigentlichen Sinn sind. Sie können wohl dazu führen, brauchen es aber nicht. Die quantitative Feststellung als solche genügt also noch nicht, um die Bedingung der Exaktheit zu erfüllen. Es fehlt dazu noch jene Allgemeingültigkeit, die zum Wesen der naturwissenschaftlichen Gesetze gehört. Die Temperatur der Fieberkurven in der Medizin, die Isothermen und Isobaren in der Metereologie würden nur dann als Ausdruck eines Naturgesetzes gelten, wenn sie eine allgemeine abstrakte Formel zulassen würden. Sonst gibt es genaue zahlenmäßige Konstatierungen ohne größere Bedeutung. Eben dahin wird die Anwendung der Variationsrechnung oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Organismen gehören. So wird z. B. die Feststellung der Wärme mit zunehmender Tiefe auf gewisse zahlenmäßige Ergebnisse führen, die auf einer Superposition gleich gerichteter Wirkungen beruhen, ohne daß wir schon mit einem eigentlichen Naturgesetz, d. h. mit einer konstanten Beziehung zu tun hätten (93). Ebenso kann die Variationsstatistik die individuellen Differenzen oder die korrelativen Erscheinungen, zahlenmäßig aufzeigen, ohne doch schon mehr als einen Hinweis auf die Möglichkeit des näheren Zusammenhangs zu geben, ohne also selbst schon ein Naturgesetz darzustellen (94). Die Naturgesetze verlangen eben die allgemeine Formel, auf die sich die Vorgänge zurückbringen lassen. Quantitative Messung als solche genügt dafür noch nicht. Vor allem ist diese doppelte Bedeutung der Exaktheit für die folgenden Betrachtungen wichtig - einmal als bloß zahlenmäßige, wenn auch genaue Konstatierung überhaupt, sodann als allgemeiner mathematischer Ausdruck (Form der Gleichung), auseinanderzuhalten, um keiner Verwechslung zu unterliegen.

Die Naturgesetze streben wohl nach der exakten Formulierung. Aber einmal widerstrebt dem ein großer Teil der zu komplizierten Bedingungen des Naturgeschehens überhaupt (95). Sodann müssen weite Gebiete der beschreibenden Naturwissenschaften sich dauernd mit dem Aufweis von funtionalen Zusammenhängen begnügen, ohne die Aufstellung einer Gleichung selbst zu gestatten. Freilich mag es möglich sein, den Kreis dieser letzteren Naturgesetze ständig zu erweitern wie dies auch die Aufgabe der naturwissenschaftlichen Theorie in allen ihren Teilen bleibt. - Sonach werden wir allerdings für einen Teil der Naturgesetz die Exaktheit der mathematischen Formulierung in Anspruch nehmen können: vor allem für die reinen und abstrakten, wo die strenge Genauigkeit der Bedingungen erfüllt ist. Aber dies gilt bei weitem nicht für alle. Zu den konstitutiven Merkmalen des Begriffs gehört sie also noch nicht, wenn man sie auch zu erreichen trachtet (96.)


IV.Von Sinn und Bedeutung
der Naturgesetze.

Es bleibt noch die Frage nach der Tragweite der Naturgesetze zu erörtern. Sie ist unabhängig von der Entscheidung darüber, ob wir sie schon als die letzte Aufgabe einer Lehre von der Natur betrachten (KANT, HELMHOLTZ) oder sie nur als Mittel für die Naturorientierung ansehen (HUMBOLDT, MACH). Unbeeinflußt also davon, ob die Naturgesetze Ziel oder Mittel der Forschung sind, bleibt die Anerkennung ihre nächste Bedeutung. Diese Frage unterscheidet sich aber auch von jener anderen nach der Genesis der Begriffe oder nach den Motiven verschiedenster Art, die zu ihrer Aufstellung geführt haben. Denn ihre Kompetenz ist ganz unabhängig von der Art und Weise, wie sie gefunden sind, aus welchen Motiven der einzelne Mensch wie die vergangenen Generationen im Ganzen dazu gekommen sind, sich überhaupt mit ihnen abzugeben. Nicht die historia fiendi [Geschichte der Produktion - wp], sondern die ratio essendi [Wesen des Verstandes - wp] gilt es noch zu bestimmen. Es scheint nun eine vierfache Möglichkeit vorzuliegen, wie man den Begriff des Naturgesetzes deuten kann.

1. Logische Deutung Die Bildung der Naturgesetze erfolgt durchaus in der Art der allgemeinen Begriffsbildung. Die Naturwissenschaften, weit entfernt eine eigene Logik zu besitzen, sind nur der Spezialfall des logischen Prozesses überhaupt, der des Syllogismuswie der Induktion gleichermaßen bedarf. Wir "begreifen" die Naturerscheinungen durch die Gesetze heißt: wir fassen sie in allgemeine Begriffe zusammen. Sie sind dasselbe für eine Reihe von Naturvorgängen,wie die allgemeinen Gattungsbegriffe für eine Orientierung in der Welt überhaupt. Sie entsprechen insofern durchaus den naiven "Regeln", die ehedem der Landmann und der Laie aus ihren Erfahrungen ableiteten. Der Prozeß ist beidemale derselbe. Das will ofenbar jenes oft zitierte Wort von HELMHOLTZ besagen (97): "das Gesetz der Erscheinungen finden, heißt sie begreifen". Es ist die Subsumtion [Unterordnung - wp] vieler Einzelbeobachtungen aus einer Klasse von Erscheinungen unter einen obersten Begriff. Auch gerade die künstliche Abstraktion, die die Naturwissenschaft wenn irgend möglich mit Absicht vornimmt, entspricht nur dem logischen Vorgehen bei der Begriffsbildung überhaupt. Man denke vor allem an die weit ältere juristische Begriffsbildung, wo ebenfalls die "wesenlichen Merkmale den Begriff konstituieren. Wie dann auch überhaupt das wissenschaftliche Schließen sich jedenfalls weit mehr am juristischen (und grammatischen) als am naturwissenschaftlichen Denken geschult und entwickelt hat. Die Kasuistik [Falllehre - wp] primitiver Rechtsvorschriften ist eine sehr große.

Die Gesetzesbildung entspricht folglich durchaus der natürlichen Dialektik bei der Formung allgemeiner induktiver Sätze und Urteile. Die Klassenbildung, die wir beständig vornehmen, um der Vielheit der Erscheinungen Herr zu werden, ist eine Form, die Gesetzesbildung eine andere. Klasse und Gesetz sind darum nur zwei Seiten desselben Vorgangs, um die wesentlichen von den unwesentlichen Merkmalen zu sondern. Daß auch der Induktionsschluß einen Syllogismus, wenn auch einen versteckten darstellt, daß die Begriffsbildung in sich schon eine Aussage enthält und erst im Urteil ihre volle Bedeutung erlangt: das braucht hier nicht besonders ausgeführt zu werden, weil es doch nur die Anwendung der Logik auf einen Spezialfall darstellt. Auch dies ergibt sich daraus, daß die allgemeinen Gesetze (die also die allgemeinsten Eigenschaften betreffen) dem summum genus der Logik entsprechen (98). Es ist aber hervorzuheben, daß die Begriffsbildung nie eine abgeschlossene sein kann. Nicht nur die Fragestellung ändert sich und mit ihr notwendig die Begriffe, sondern auch bei der Bildung dieser selbst sind wir nicht frei von Willkür und keineswegs sicher, immer die richtige oder endgültige Wahl getroffen zu haben (99). Dadurch kommen beständige Korrekturen und Modifikationen im Einzelnen vor. Darüber ist in diesem Zusammenhang nicht besonders zu handeln. Die Gesetze sind darum auch so wenig etwas Abgeschlossenes, wie die Begriffe, die ihnen zugrunde liegen. Wir bleiben rein im Logischen, wenn wir die Begreiflichkeit der Welt als eine der Aufgaben der Naturgesetze betrachten.

Aber zugleich ergibt sich daraus eine Folgerung für die Auffassung aller Naturwissenschaft überhaupt. Die Naturgesetze sind nicht unabhängig von dem Gegenstand zu denken, den sie begreifen wollen. Sie würden überhaupt ihren Sinn verlieren, wenn es nicht für sie eine irgendwie geartete Mannigfaltigkeit gibt (100) von der sie eben abstrahieren - mag diese nun eine ideelle oder eine reale sein. Auch wer die Wirklichkeit nur als eine phänomenologische Gegebenheit betrachtet und eine extramentale Welt nicht anerkennt, wer also nur eine immanente Wirklichkeit der Sinnesempfindungen annimmt: auch für den ist doch eben diese Vielheit der Eindrücke, Erlebnisse, Empfindungen, dieses Samsara [Scheinwelt - wp], das schlechthin Seiende. Und die Gesetze sind auch für ihn nur der abgekürzte Ausdruck zu einer bestimmten Orientierung. Auch für ihn bleibt zumindest das logische Verhältnis dasselbe: die Abstraktion von einem Gegebenen, Mannigfaltigen, Konkreten. Denn das Abstrakte verlangt eben das Konkrete als sein Korrelat.

Die Meinung also, daß es eine Gesetzeswissenschaft als solche gibt, verwechselt das Mittel mit dem Zweck; vergißt, daß eine Abstraktion nur Sinn und Anwendung, nur Ausdruck dort sein kann, wo ein Konretes, Anschauliches von vornherein besteht und mit gegeben ist. So wenig wie ein Begriff ohne Anschaulichkeit, so wenig kann ein Gesetz ohne Wirklichkeit gedacht werden. Das Naturgesetz setzt das Nichtgesetzte bereits voraus: sonst kann es sich gar nicht realisieren. Mag also die Auffindung von Naturgesetzen immerhin das vornehmste Geschäft der Naturwissenschaften ausmachen, von einer irgendwie gegebenen Wirklichkeit als dem schlechthin zu Begreifenden müssen auch sie ausgehen. Diese "Wirklichkeit" ist immer Ausgangs- und Endpunkt der Naturgesetze, die sie zu begreien und zu beherrschen trachten. Form und Inhalt, Begriff und Anschauung, Abstraktion und Konkretum, Gesetz und Wirklichkeit bedingen einander. Eben weil das Gesetz immer eine Abstraktion von Etwas ist, kann es auch für die Naturwissenschaften nicht nur allgemeine Gesetze geben. Sie müßten ja sonst ganz gegenstandslos bleiben. Es gibt keine Abstraktion ohne die Voraussetzung dessen, wovon sie abstrahiert. Oder sie bleibt eben eine rein formale und symbolische. Eine Scheidung von Gesetzes- und Wirklichkeitswissenschaft (nomothetisch und ideographische) ist nicht nur sachlich unrichtig, sondern vor allem auch logisch falsch (101). Sie hat gar kein principium divisionis [Kriterium zur Unterscheidung - wp]: Setzt das einemal die Methode und das Mittel des Erkennens, das andere Mal das Objekt der Forschung zum Ausgangspunkt. Sie muß dadurch natürlich die Absicht einer logischen Teilung verfehlen. Es gibt gar keine Gesetzeswissenschaft als solche, ebensowenig wie es eine Wirklichkeitswissenschaft als solche geben kann. Gerade aus der logischen Bedeutung der Naturgesetze folgt auch das, was sie nicht sein können - ein Einteilungsprinzip der Wissenschaften.

2. Anders ist die psychologische Seite der Naturgesetze zu betrachten. Sie ist besonders in der neueren Zeit dahin interpretiert worden, daß das Naturgesetz eine ökonomische Aufgabe erfüllt: die Reduktion vieler Erfahrungen auf einen kurzen Ausdruck. Sie wären danach ein Erzeugnis unseres psychologischen Bedürfnisses. Wir wollen uns in der Natur gleichsam mit möglichst geringen geistigen Unkosten zurechtfinden, um den Vorgängen nicht fremd und verwirrt gegenüberzustehen. Das ist der Standpunkt der Ökonomik (102).
    "Unsere Naturgesetze bestehen aus einer Reihe für die Anwendung bereit liegender, für den Gebrauch zweckmäßig gewählter Lehrsätze. Die Naturwissenschaft kann als eine Art Instrumentensammlung zur gedanklichen Ergänzung irgendwelcher teilweise vorliegender Tatsachen oder zur möglichsten Einschränkung unserer Erwartung in künftig sich darbietenden Fällen aufgefaßt werden."
Damit verbindet sich dann die Forderung der Einfachheit der Naturgesetze, um eben überall leicht eine Anwendung zu finden. Das Prinzip der Ökonomisierung ist zweifellos auch für die Gesetze selbst wichtig. Es führt dazu, sie auf eine möglichst geringe Anzahl zu reduzieren. Dem entspringt jedenfalls auch der Versuch nach einer Vereinheitlichung, die einzelnen den mechanischen analog zu gestalten. Damit versucht man gerade, die anderen auf wenige Elementar- und Grundgesetze zurückzuführen. Natürlich bezieht sich das Ökonomieprinzip nicht etwa auf die physischen Vorgänge als solche, sondern nur auf unsere Orientierung über die (103).

Es wird nun aber festzuhalten sein, daß über den logischen Wert und die erkenntnistheoretische Tragweite der Naturgesetze noch nichts gesagt ist, wenn wir sie als "ökonomisch" ansehen. Gewiß sind die Gesetze auch als ökonomische Mittel zu betrachten, nicht anders wie die Begriffe selbst letztlich solche sind. Und sie stellen nach dieser Hinsicht zweifellos sogar ein stärkstes ökonomisches Mittel dar. Aber die Frage nach dem Zustandekommen, der logischen Geltung und Tragweite der Naturgesetze wird von dieser psychologischen Deutung gar nicht berührt. Wie werden denn eben jene "Lehrsätze", die freilich nach ihrer Auffindung "bereit liegen" und neue Erfahrungen ersparen können, bestimmt und welches ist ihr Kriterium? Das ist ja die entscheidende Frage. Sind die Gesetze nur subjektive Vorschriften für die Erwartungen des Beobachtenden? Oder sind nicht vielmehr eben diese "Vorschriften und Einschränkungen der Erwartung" erst wieder die Folgerung aus dem Umstand, daß die Gesetze auch sonst einen logischen Charakter an sich haben und auf logische Weise gefunden sind? Wenn bei der Auswahl verschiedener Lehrsätze nur die Zweckmäßigkeit maßgebend ist, so wäre ei objektives Kriterium für die Prüfung der einzelnen Gesetze ja gar nicht möglich. Auch mit der allgemeinen Anerkennung müßte es sehr zweifelhaft stehen, weil über Zweckmäßigkeit gestritten werden kann und diese selbst sich nach den jeweiligen Zeitbedürfnissen ändert.

Das Gesetz ist allerdings die Schaffung unseres Denkens und insofern nur möglich durch die Mittel dieses Denkens selbst. Die Formen der Gesetze werden also von uns selbst der Natur vorgeschrieben. Damit ist schon gegeben, daß diese Form eine ökonomische ist, weil der Verstand selbst so verfährt. Auch die Änderungen in den sprachlichen Ausdrücken und diese selbst vollziehen sich ja ebenfalls nach dem Prinzip der Kraftersparnis (104). Schon jede Nominaldefinition ist eine solche abkürzende, ökonomische Bezeichnung. Insofern also das Denken selbst ökonomisch verfährt, sich in der Sprache der Lautzeichen bedient, allgemeine Begriffe als Abkürzungen und Symbole vieler Einzelerfahrungen schafft: insofern müssen auch die Gesetze diesen ökonomischen Charakter an sich tragen. Und es ist jedenfalls diese psychologische Seite zu betonen, umd dadurch ihre Aufstellung aus der allgemeinen Natur des Menschen und als psychologisch wünschenswert zu begründen. Denn wie AVENARIUS ganz richtig sagt (105):
    "Das Suchen nach Gesetzen stellt genau dasselbe Streben zu begreifen dar, wie das Streben in Begriffen zu denken, und hat wie dieses seine Wurzeln im Prinzip des kleinsten Kraftmaßes."
Weil die Gesetze die angegebenen logischen Eigenschaften besitzen, darum können wir sie dann auch in einem ökonomischen Sinn verwerten. Aber Sinn und Bedeutung der Naturgesetze erschöpft sich nicht in dieser psychologischen Seite, wie man wohl meint. Sie kann nur zur Empfehlung und psychologischen Rechtfertigung dienen, indem sie die subjektive Seite des Verfahrens treffend kennzeichnet. In der Genesis des Begriffs und für die Verbesserung der einzelnen Formen mag dieses Motiv keine Rolle gespielt haben. (106)

3. Zu dieser subjektiv psychologischen Seite des Gesetzesbegriffs kommt freilich noch eine praktische hinzu. Das Gesetz ist zugleich ein heuristisches Prinzip [die Kunst zu wahrscheinlichen Aussagen zu kommen - wp] künftiger Erfahrungen. Es besagt noch nicht so sehr, daß es ein konstitutives Prinzip unseres Erkennens enthalten muß, als vielmehr eine regulative Idee unseres Verhaltens. Es nimmt seine Kraft und sein Recht aus der Bewährung, mit der es die Probleme erschließt und aus den Erfolgen, mit denen es die Anwendung gestattet. Es gibt die Möglichkeit neuer Erfahrungen und die Möglichkeit ihrer technischen Ausnutzung. Selbst, wenn die Naturgesetze ausschließlich assertorische [supersichere - wp] Urteile enthalten, selbst wenn eine beständige Korrektur durch Kritik und Prüfung, durch Ausweitung und Umstoßung sie nicht zum Abschluß kommen läßt, das scheinbar sicherste von ihnen eines Tages beseitigt werden kann: so leisten sie doch in der Zwischenzeit diesen Dienst, als Regeln der Forschung und der praktischen Bewährung zu dienen. Einmal gewonnen, bilden sie so heuristische Prinzipien, nach denen sich unsere Erfahrung sicher richten kann und zwar sowohl die theoretische wie auch die praktische Erfahrung. Diese Seite der Naturgesetze ist hier nicht weiter auszuführen. Sie rechtfertigt aber in besonderem Maße auch das Befolgen und Aufsuchen jener äußeren Regelmäßigkeit, die noch keine allgemeinen Naturgesetze selbst sind, sondern nur einen fernen Hinweis darauf enthalten. Denn gerade sie verhelfen oft zu einem praktischen Verhalten gegenüber äußeren Einflüssen, und geben einen Anreiz, dem tieferen funktionalen Zusammenhang nachzuspüren.

4. Es bleibt aber schließlich noch die erkenntnistheoretische Seite der Naturgesetze zu betrachten. Sie setzt am Begriff des "Erklärens" ein. Haben sie die Aufgabe oder auch nur die Möglichkeit, die Naturvorgänge zu "erklären"? Man hat einerseits die Naturgesetze eingeteilt in erklärende (kausale) und beschreibende (empirische) und damit andeuten wollen, daß hier eine verschiedene Aufgabe vorliegt. Andererseits hat man das Wort KIRCHHOFFs so oft wiederholt (107), daß es die Aufgabe der Naturwissenschaft ist, die Phänomene vollständig und in einfachster Weise zu beschreiben. Darum hat man - im Gegensatz zu jener Forderung des erklärenden Charakters der Naturgesetze - ihnen nur die Fähigkeit zugesprochen, die Erscheinungen beschreiben zu können.

Zunächst ist ein deutlicher Unterschied in der logischen Tätigkeit vorhanden zwischen der Aufzählung von Merkmalen, der Schilderung der äußeren Formen der Körper, dem Hervorheben lokaler und individueller Abweichungen einerseits und der Tätigkeit der Aufstellung von Naturgesetzen andererseits. Schon das Ziel ist äußerlich ein anderes. Diese Aufzählung einzelner Merkmale, das Verweilen bei den singulären Verschiedenheiten, die Darlegung des Mannigfaltigen, die systematische Vorführung den Klassifikation der Körper in der Ruhe und ihrer Veränderungen: das bezeichnen wir als Beschreiben. Und das bleibt als Tätigkeit vor allem in den beschreibenden Naturwissenschaften, der Morphologie und Ökologie der Lebewesen, der Geologie und Mineralogie, der Geographie und Botanik, wie nicht geringer Teile der Astronomie u. a. Hier kann überall das Aufsuchen von Gesetzen gar nicht die Absicht sein. Aber auch manche Teile der eigentlichen exakten, d. h. der experimentellen Wissenschaften bedienen sich auf weiten Strecken der Beschreibung. Das gilt vor allem von der Chemie, doch aber auch von großen Teilen der Physik, soweit sie nicht rein theoretischen Inhalts ist. - Unter "Erklären" aber verstehen wir die Zurückführung eines speziellen Falles auf einen allgemeineren Satz. Indem die Naturgesetze gerade dies vermögen und ihrer Natur nach solche allgemeinen Begriffe erstreben, um eben die Vielheit der Erscheinungen in der Synthesis der Einheit zusammenzufassen, leisten sie diesen Dienst der Erklärung (108). Sie begreifen die Naturerscheinungen, fassen sie in Allgemeinbegriffe und erklären damit den einzelnen Fall wie die Mannigfaltigkeit. Nichts anderes kann "erklären" bedeuten. Wenn wir die physiologischen Vorgänge auf physikalisch-chemische Gesetze zurückführen könnten, würden wir sie für erklärt halten (wir können es bekanntlich noch nicht!). Andererseits aber finden auch die konkreten Naturwissenschaften die Erklärung für die geschilderte Wirklichkeit erst durch die in der abstrakten Wissenschaft gefundenen Naturgesetze. Denn die Darstellung des Konkreten bedarf zu ihrem Korrelat durchaus der Begriffe; die Aufzeigung des Seienden und des Wie verlangt die Erklärung und das Warum. Und das gerade erfüllen wiederum die abstrakten Naturgesetze. Sie sind dann ausschließlich Mittel der erklärenden Beschreibung.

Dreierlei Mißverständnisse, die zu erörtern sind, scheinen sich aber mit diesem Geschäft des Erklärens zu verbinden. Einmal jenes, als ob wir mit dem "Erklären" gleichsam das "Innere der Natur" erschließen könnten, als wenn sich aus dem gesetzten Wesen logisch und psychologisch auch ihr Verhalten eindeutig ergeben würde. Als wenn Erklären also etwa die Selbstbewegung des Begriffs aus sich heraus bedeutet. Das vermag das naturgesetzliche Erklären nun freilich ganz und gar nicht. Wir werden später zu erörtern haben, ob denn dieses "unmittelbare Verstehen" in den Geisteswissenschaften Platz greifen kann. Wie weit hier etwa ein aus dem Wesen der Persönlichkeit resultierendes Geschehen uns schon sein inneres Wesen zu enthüllen vermag? Ob dort - mit den Mitteln der Wissenschaft versteht sich - ein "unmittelbares" Erlebnis zu finden ist und ob wir dieses Verstehen gleichsam aus sich selbst heraus dann "Erklären" nennen können (109)? Wie weit es ein solches unmittelbares Verstehen für die Wissenschaft überhaupt gibt, mag also noch dahingestellt bleiben. Das Erklären durch die Naturgesetze kann jedenfalls nichts anderes bedeuten als die Zurückführung des Einzelfalls auf einen allgemeinen, auf eine Regel. Diese Aufgabe leisten gerade die Naturgesetze, indem sie eine Summe von Einzelfällen auf die einfachste Weise zusammenfassen und beschreiben. Das wird allerdings immer ein äußerer Vorgang und ein äußerliches Aufzeigen bleiben müssen. Aber es genügt. "Ins Innere der Natur dringt" freilich dieses Erklären nicht.

Sodann verstand man wohl "Erklärung" lange in dem Sinn, daß wir durch das Gesetz die Ursache oder die Kraft, die die Wirkung herbeiführte, auffinden. Erklären würde dann im Nachweis des unmittelbaren Agens des Geschehens bestehen. Man "erklärt" dann nicht nur den Schlaf durch die vis dormitiva [Schlafkraft - wp], sondern auch die Anziehung durch die Gravitationskraft, den Lebensprozeß durch die Lebenskraft. Diese, wie oben gezeigt, irrige Auffassung war es wohl vor allem, die öfters zur Abkehr von der erklärenden Auffassung der Naturgesetze führte. Man bezeichnete darum jene Vorstellung wohl als mystisch oder fetischistisch oder animistisch (110). Aber mit dem Aufgeben einer solchen, zur materiellen und substantiellen Deutung der "Erklärung" ist doch diese selbst noch nicht aufgegeben. Die Vorstellung, als wenn das Naturgesetz uns auf Kräfte als letzte causae moventes [Beweggründe - wp] führt, haben wir fallengelassen. Sie gehört auch gar nicht zum Begriff des Erklärens in unserem Sinn (111). Aber darum bleibt doch das Erklären selbst bestehen. Denn auch dieses ist wichtig zu bemerken: das Gesetz läßt bezüglich der eigentlichen Deutung der Naturphänomrnr, d. h. der Anschauungen über die Konstitution der Materie wie über das System der Grundbegriffe und das bewegliche Reale, die verschiedensten Möglichkeiten zu. Die Naturgesetze selbst sind bezüglich der Gesamtauffassung mehrdeutig und indifferent. Das Gravitationsgesetz gilt sowohl bei der Annahme diskreter Massenteilchen, wie bei der eines Kontinuums. Auch das also "erklären" freilich die Naturgesetze nicht, weil es jenseits ihrer Kompetenz liegt. Denn es eignet gar nicht dem Begriff des Erklärens selbst, sondern ist eine metaphysische bzw. naturphilosophische Aufgabe (112). Das Gesetz kann ja die Theorie in keiner Weise ersetzen. Es ist immer nur ein Mittel für die theoretische Analyse und die auf ihr beruhenden Hypothesen. Erst diese geben den inneren Zusammenhang und das Verständnis der Erscheinungen. Die Naturgesetze sind vielmehr die erstrebten Invarianten, die bei jedem System der Natur gelten können, mag dieses selbst auch nur einen relativ zeitlichen Wert besitzen.

Endlich aber gibt es, wie wir oben gezeigt haben, wirklich Naturgesetze von größerer Allgemeinheit. Das Bestreben geht nun immer dahin, wie jeden Spezialfall auf eine allgemeine Regel oder auf ein allgemeines Gesetz überhaupt, so auch jedes spezielle Gesetz wieder auf ein solches von noch größerer Allgemeinheit zurückzuführen. Damit würde dann im Grunde das frühere Gesetz überflüssig gemacht werden. Das meinen wir wohl, wenn wir sagen, die KEPLER'schen Gesetz erhielten ihre Erklärung erst durch NEWTONs Gravitationsgesetz. Das ist richtig insofern das letztere KEPLER'schen Gesetze bereits als einen Spezialfall in sich begreift. Aber dann "erklären" auch diese letzteren gleichsam auf einer früheren Stufe des Erkennens schon die Naturerscheinungen und erfüllen damit ihrerseits die erkenntnistheoretische Aufgabe. "Erklären" ist ja selbst nur ein relativer Begriff. Es ist ein endloser Prozeß, der immer nur zu einem vorläufigen Abschluß führt.

Wir halten also daran fest, daß die Naturgesetze wirklich die Aufgabe haben, die Erscheinungen zu "erklären". Aber wir können nicht zugeben, daß unter ihnen ein prinzipieller Unterschied bezüglich der verschiedenen Arten vorhanden ist. Die Naturgesetze, insoweit sie einen Funktionalzusammenhang aufweisen und nicht nur äußere Regelmäßigkeiten darstellen, erklären in verschiedenem Grad und mit verschiedenen Erfolg: aber sie tun es insgesamt. Diese Erklärungen sind ihrer Natur nach immer nur vorläufige. Die Antworten der Wissenschaft vermögen ja überhaupt niemals endgültige zu sein. Denn es kann für jede einzelne Wissenschaft stets nur eine vorletzte Erkenntnis der Dinge geben. Die letzte zu finden wird das unvollendbare Geschäft der "Wissenschaft von den letzten Dingen", der Philosophie, bleiben, ohne die auch die Einzelwissenschaft nicht bestehen kann.
LITERATUR Franz Eulenburg, Naturgesetze und soziale Gesetze, Archiv für Sozialwissenschaft und Politik, Bd. 31, Tübingen 1910
    Anmerkungen
    71) Dabei haben wir die Frage der Naturgesetze überhaupt zu erörtern, nicht etwa nur die einzelnen Gebiete, wie das der Physik, das freilich bisher am besten theoretisch ausgebaut ist.
    72) MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 1904, Seite 540: "In dem Maße, wie mit den mechanischen Vorgängen auch thermische, magnetische und elektrische Änderungen verbunden sind und in dem Maße als sie hervortreten, werden die Bewegungsvorgänge modifiziert."
    73) So sind z. B. schon die allgemeinen Gesetze der kinetischen Gastheorie auf die radioaktiven Substanzen nicht anwendbar. Vgl. PLANCK, Acht Vorlesungen über theoretische Physik, 1910, Seite 68.
    74) Die Frage der Abgrenzung der Energieformen bildet tatsächlich nicht geringe logische und erkenntnis-sachliche Schwierigkeiten; die Einteilung der Lehrbücher geht teilweise von den Sinnen, teilweise von anderen Momenten aus. Die Fachleute sind sich dieser Schwierigkeiten auch bewußt. So teilt Höfler (Zur gegenwärtigen Naturphilosophie, 1906, Seite 70) ein: I. Mechanik, II. Wärme, III. Schall, Licht, IV. Astronomische, metereologische und chemische Erscheinungen: ein Einteilungsgrund fehlt also! Darüber handelt klar wie immer EDUARD von HARTMANN, Weltanschauung der modernen Physik, Seite 76f. - Wie wenigstens für die theoretische Physik die von PLANCK (Vorlesungen Seite 19-20) vorgeschlagene rein formale und darum logisch gewiß einwandfreie Einteilung in die "Physik der reversiblen und die der irreversiblen Prozesse" durchführbar ist, kann erst der Erfolg lehren. Sein Bestreben ist, von den Sinneseindrücken möglichst zu abstrahieren.
    75) Vgl. HELMHOLTZ, Einleitung zu den Vorlesungen über theoretische Physik, Seite 41. - - MAXWELL, Substanz und Bewegung (Matter and motion), Übersetzung von FLEISCHL (1881), Seite 140.
    76) Das heißt: an die Stelle der Physik der Materie wird die Physik des Äthers gesetzt; vgl. PLANCK, Vorlesungen, Seite 8-9; VOLKMANN, Grundzüge, Seite 97f. - Anders versteht ROUX, a. a. O., Seite 3 unter dem "philosophischen Begriff der Mechanik" kausal bedingtes Geschehen überhaupt. Entwicklungsmechanik ist dann die Lehre von den Ursachen alles gestaltenden Geschehens.
    77) Darüber JEVONS, Leitfaden, Seite 103; MILL, System I, 7. Kapitel. - Über das entsprechende "Streben nach möglichst allgemeiner Fassung der physikalischen Gesetzmäßigkeiten", siehe PLANCK, Seite 109.
    78) HEINRICH HERTZ, Prinzipien der Mechanik 1894, Seite 54: "Die vorgetragenen Aussagen sind Urteile a priori im Sinne KANTs. Sie beruhen auf den Gesetzen der inneren Anschauung und der Formen der eigenen Logik des Aussagenden." Übrigens bedürfen auch die elektrodynamischen Gesetze keiner anderen Annahmen.
    79) Das allgemeine Kausalgesetz hat dann gar keinen speziellen Inhalt mehr; vgl. HÖFLER, Zur gegenwärtigen Naturphilosophie, Seite 84.
    80) KANT, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, hg. von ALOIS HÖFLER, 1900, Seite 4, sagt: "Eine rationale Naturlehre ... verdient den Namen eine Naturwissenschaft nur dann, wenn die Naturgesetze, die in ihr zugrunde liegen, a priori erkannt werden, nicht bloße Erfahrungsgesetze sind." Das kann aber ausschließlich von der Kinematik (Phoronomie, reine Bewegungslehre) gelten, die einen Zweig der Mathematik darstellt und eine deduktive, aprioristische Wissenschaft von apoktischem Gewißheit ist - zumindest so weit wie die Mathematik es selbst ist. - Der Kant-Ausgabe von HÖFLER (Schriften der Philosophischen Gesellschaft zu Wien IIIa und b, 1900) ist ein sehr ausführlicher Anhang beigegeben: HÖFLER, Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik, der KANT mit den modernen Anschauungen in lehrreicher Weise konfrontiert.
    81) MACH leugnet darum auch direkt, daß wir es nötig haben, alle Naturvorgänge auf mechanisch zurückzuführen: MACH, Mechanik, 1904, Seite 544f; MACH, Wärmelehre, Seite 317. Besonders auch das Verhältnis physikalischer und chemischer Vorgänge führt ihn (Seite 354-361) dazu, die Unmöglichkeit dieser Reduktion zu betonen. Aber das Streben nach Vereinheitlichung und Vereinfachung, also gerade ein ökonomisches Prinzip, scheint mir doch übermächtig zu sein; und ihm verdanken die Naturwissenschaften zweifellos die größten theoretischen Fortschritte.- Übrigens sei ausdrücklich betont, daß die Versuche, die qualitativen Verschiedenheiten der Energie auf die Mechanik zurückzuführen, die logische Frage der Gesetze noch gar nicht berühren.
    82) Möglicherweise stellt freilich das Energieprinzip eine Anschauung dar, bei der ohne mechanische Analogie und ohne das Moment der Bewegung die Veränderungen der Körper dargestellt werden können. Das Identitätsprinzip ist eben die logische Wurzel des Energieprinzips. Doch führt die Verfolgung dieses Gedankens über unsere Aufgabe hinaus; vgl. NATORP, Logische Grundlagen der exakten Wissenschaften, Seite 383/4.
    83) HELMHOLTZ, Einleitung a. a. O., Seite 40. - Das Problem der naturwissenschaftlichen Gleichheit verdient überhaupt eine besondere Untersuchung.
    84) Über die "Hypothese der elementaren Unordnung" als Vorbedingung für die Existenz der Entropie nicht nur, sondern auch der ganzen Physik, und damit das Vorhandensein bestimmter Gleichungen, verbreitet sich PLANCK, Vorlesungen, a. a. O., Seite 50.
    85) "Auf Messungen, mehr oder weniger exakt ausgeführt, beruhen alle Begriffe der Physik und jede physikalische Definition, jeder physikalisch Satz besitzt umso unmittelbarere Bedeutung, je näher er mit einem Messungsergebnis in Zusammenhang gebracht werden kann." (PLANCK, Vorlesungen, Seite 3).
    86) KANT, Metaphysische Anfangsgründe, Seite 6. Im Anschluß an KANTs Wort nennt NATORP (Logische Grundlagen etc., Seite 1) "exakt jede Wissenschaft, welche oder soweit sie am Charakter der Mathematik teilhaben". Unsere Auseinandersetzungen haben gezeigt, daß die Anwendung der Mathematik logisch gesprochen erst eine "Konnotation" der strengen Bedingungen darstellt und die Exaktheit bereits in der vollen Durchführung der Isolation und Abstraktion steckt.
    87) Sehr klar HELMHOLTZ, Einleitung, a. a. O., Seite 22: "Um von der Form unabhängig zu werden, müssen wir uns bestreben, Ausdrücke zu gewinnen, in denen die Form, in welcher die Körper auftreten, nicht mehr vorkommt, die also gegeben sind durch die allgemeinen Raumverhältnisse, ohne daß wir auf eine bestimmte Form Rücksicht zu nehmen brauchen." - Daß sich die Mathematik in realen Entscheidungen indifferent verhält, hebt mit Recht VOLKMANN, Grundzüge, a. a. O., Seite 262 hervor, wenn er auch keinen Grund angibt.
    88) Hierüber zutreffend auch NEUMANN, a. a. O., Seite 417-18.
    89) Vgl. SCHOTT, Physische Meereskunde, Seite 144f.
    90) NATHANSON und PRINGSHEIM, Über die Summation intermittierender Lichtreize (Jahrbücher für wissenschaftliche Botanik, Bd. 45, 1908, Seite 137 bis 190). Das TALBOTsche Gesetz besagt, daß die Reaktion einer Pflanze auf Lichtreize proportional der Intensität der Lichtquelle und der Intermission des Lichtreizes ist. Das Gesetz gilt nur innerhalb bestimmter Werte; über die Ursachen dafür siehe die Auseinandersetzungen der beiden Autoren Seite 173f.
    91) LAMARCK, Philosophische Zoologie (übersetzt von HEINRICH SCHMIDT), Seite 73: Erstes Gesetz: "Bei jedem Tier, das den Höhepunkt seiner Entwicklung noch nicht überschritten hat, stärkt der häufigere und dauernde Gebrauch eines Organs dasselbe allmählich, entwickelt, vergrößert und kräftigt es proportional der Dauer dieses Gebrauchs; der konstante Nichtgebrauch eines Organs macht dasselbe unmerklich schwächer, verschlechtert, vermindert fortschreitend seine Fähigkeit und läßt es schließlich verschwinden." Dazu DARWIN, Entstehung der Arten, 1. Kapitel, Seite 35f, 5. Kapitel, Seite 184f.
    92) Vgl. ERNST WEBER, Der Einfluß psychischer Vorgänge auf den Körper 1910 - ein Buch das ganz der Methode der Messung körperlicher Begleiterscheinungen der psychischen Vorgänge gewidmet ist, also "exakt" arbeitet, auch zahlreiche Kurven bringt, aber kaum zu zahlenmäßigen Feststellungen gelangt.
    93) VOLKMANN, Grundzüge, Seite 158-162.
    94) DUNCKER, Die Methode der Variationsstatistik, Archiv für Entwicklungsmechanik, Bd. VIII, 1899, Seite 112f.
    95) Mit Recht sagt MACH, Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, Seite 272: "Wenn die Physik scheinbar soviel mehr leistet als andere Wissenschaften, so müssen wir bedenken, daß sie auch weitaus einfachere Formen vorfindet."
    96) Die beiden Abschnitte c und d über "Simultanitat und Sukzession" bzw. "Die Notwendigkeitsrelation", die zum Verständnis des Ganzen weniger notwendig sind, fallen hier fort. Sie werden in den "Vorfragen der Sozialphilosophie", von denen diese Artikel einen Abschnitt darstellen, mit behandelt werden.
    97) HELMHOLTZ, Vorträge und Reden I, Seite 375; ferner HELMHOLTZ, Handbuch der physiologischen Optik: "Naturgesetze sind nichts anderes als Gattungsbegriffe für die Veränderungen in der Natur."
    98) JEVONS, Leitfaden der Logik, Seite 103
    99) Dieses Moment wird mit Recht von EDUARD von HARTMANN betont (Die Weltanschauung der modernen Physik, Seite 211/12).
    100) Oder zumindest zugleich mitgedacht wird!
    101) Etwas anderes ist natürlich die Anerkennung formaler Wissenschaften (wie Mathematik und Logik) als solcher im Gegensatz zu den Realwissenschaften. Hier haben wir es aber ausschließlich mit letzteren zu tun.
    102) Dieser Standpunkt wird vor allem von MACH, Erkenntnis und Irrtum, Seite 454; MACH, Analyse der Empfindungen (1903) Seite 241; und am ausführlichsten MACH, Wärmelehre Seite 365f und 371f betont. - Der Gedanke selbst stammt bekanntlich von AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes.
    103) Vgl. auch PETZOLDT, Maxima Minima und Ökonomie, 1891, Seite 50f.
    104) Der Gedanke ist für die Sprache zuerst vom Amerikaner WHITNEY 1877 ausgesprochen worden: "the principles of economy as a phonetic force" [Die Prinzipien der Ökonomie als eine phonetische Macht - wp]; vgl. DELBRÜCK, Einleitung in das Sprachstudium, 1893, Seite 126; die Schrift von AVENARIUS erschien fast gleichzeitig (1876) und jedenfalls unabhängig davon. - KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe A, Seite 127: "der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor".
    105) AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt etc., (zweite Ausgabe 1903), Seite 27.
    106) Wie sehr das Einheitsbedürfnis die Physiker dazu geführt hat, eine Einheitlichkeit und Gleichartigkeit der physikalischen Prozesse anzunehmen und wie sehr dieser Gedanke die naturwissenschaftlichen Anschauungen beherrscht, zeigt HAAS, Die Entwicklungsgeschichte des Satzes von der Erhaltung der Kraft, 1909, Seite 35-46.
    107) KIRCHHOFF, Vorlesungen über Mechanik. Übrigens steht das Wort ganz isoliert und man darf keine zuweit gehenden Schlußfolgerungen daraus ziehen. Es ist eine ganze Literatur über das Wort entstanden.
    108) Richtig handelt darüber PAUL COSSMANN, Elemente der empirischen Teleologie, 1899, Seite 3f: "Es sind nur verschiedene Ausdrücke für denselben Gedanken, wenn wir die Aufgabe der Erfahrungswissenschaften (genauer: wenigstens eines gewissen Teiles von ihnen!) dahin bestimmen: daß sie die Erkenntnis notwendiger Zusammenhänge oder von Naturgesetzen anstreben oder daß sie die Natur erklären wollen."
    109) Es wird sich zeigen, daß "Verstehen" nur bedeutet: dem "Verstand anpassen". Natürlich ist es ein Mißverständnis, als wenn wir die Abhängigkeit der Bewegungen vom "Willen" irgendwie verstünden und als wenn die uns unmittelbar bewußt wären. Sie ist uns wohl geläufiger, aber verschafft durchaus nicht mehr Einsicht als irgenein anderer Zusammenhang.
    110) MACH tut das mit Vorliebe; ähnlich auch PETZOLDT, das Weltproblem vom Standpunkt des relativistischen Positivismus aus, 1906: im Prinzip gänzlich zu Unrecht und mißverständlich.
    111) Vgl. noch JEVONs, Leitfaden der Logik, Seite 251. - ROUX, Archiv für Entwicklungsmechanik I, Seite 15 hält zwar noch durchaus am Begriff der "spezifischen Ursache" fest, die durch die Gesetze erkannt werden sol. Aber bei der sehr vorsichtigen und kritischen Art scheint mir doch mehr eine Abweichung des Wortes als der Sache von der hier vertretenen Auffassung vorhanden zu sein.
    112) Eine Auseinandersetzung darüber gibt EDUARD von HARTMANN, Die Weltanschauung der modernen Physik, Seite 162-209; eine andere OSTWALD, Naturphilosophie.