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Die Philosophie Guyaus [ 2 / 5 ]
II. Guyaus Religionsphilosophie
Die Zerstörung der geoffenbarten Religion und des kategorischen Imperativs bezeichnet GUYAU einmal als die beiden Hauptaufgaben seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Der Lösung der ersten dieser beiden Aufgaben ist sein Hauptwerk gewidmet, die "Irreligion de l'avenier". Die positive Religion wird untergehen. Sie ist nicht der köstlichste Schatz der Menschheit. Ihre wahren unvergänglichen Besitztümer sind vielmehr die Moral, die Wissenschaft und die Kunst. Nach dem ersten Verkünder des Evangeliums der Liebe wird die Menschheit immer ihre Jahrhunderte zählen. Aber die Religion des dritten Jahrtausends nach Christi wird die Wissenschaft sein. Gibt es eine höhere Form der Andacht als die wissenschaftliche Erforschung des Universums? Die Religion, in ihrer ursprünglichen Gestalt selbst eine keimende Wissenschaft, ist nur ein Durchgangsstadium in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, ein Traum, der in der Stunde des Erwachens ihr Herz umfing. Sie schüttelt ihn ab, um ihr schweres Tagwerk zu beginnen, die Entschleierung des Alls. Wird sie es jemals vollenden? Wir wissen es nicht. - Das ist der Sinn des Buches. 1. - Die "Irreligion de l'avenir" ist GUYAUs Hauptwerk. Es erschien ein Jahr vor seinem Tod (1887). (34) GUYAU hätte vielleicht besser getan, dem Buch den umfassenderen Titel "Die Weltanschauung der Zukunft" zu geben. Aus mancherlei Gründen! Einmal bringt er, die Nähe des Todes ahnend, in diesem Buch wie in einem Vermächtnis an die Nachwelt vieles unter, was im Grunde nur wenig mit Religion zu tun hat und was der Menschheit mitzuteilen ihm doch innig am Herzen lag. Das Buch enthält außer seiner Religionsphilosophie seine metaphysischen Träumereien, seinen moralischen Idealismus, seine Sozialpolitik, einen Teil seiner Pädagogik, kurz die Summe aller Hoffnungen und Entwürfe, die dieser reiche, außerordentlich vielseitige Geist für die Zukunft der Menschheit hegte, nicht zuletzt sein persönliches Leid und seine Sehnsucht nach der Unsterblichkeit, die sich am Ende des Buches in ergreifenden Tönen ausspricht. Das Buch beginnt mit dem ersten Zucken des Gedankens im primitiven Gehirn und endet mit dem Traum von einer universellen, interstellaren Gesellschaft in ferner Zukunft. Man könnte es eine "Geschichte der Weltanschauung der Menschheit" nennen. Alle übrigen Schriften GUYAUs erscheinen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet nur als eine Ergänzung zu seinem Hauptwerk. Noch aus einem anderen Grund ist der Titel des Buches nicht glücklich gewählt. Was GUYAU "Irreligion der Zukunft" nennt, ist im Grunde die höchste, reinste und edelste Religion, die man sich nur denken kann, wenn man dieses Wort überhaupt noch beibehalten will für eine Zeit, wo es keine positive Religion mehr geben wird. Seien wir uns doch an dieser Stelle klar darüber, was GUYAU als Weltanschauung der Zukunft gelten läßt. Der negative Ausdruck "Irreligion" gibt zu irrigen Deutungen Anlaß. Die positive Religion besteht nach GUYAU aus drei Elementen, dem Mythos, d. h. dem unwissenschaftlichen Versuch zur Erklärung unbegreiflicher Naturphänomene, zweitens aus einem System von Dogmen, d. h. "phantasiemäßigen Glaubensdingen", die als absolute Wahrheiten gelten wollen, und schließlich drittens dem Kultus, einem System von Riten, denen eine wunderbare Einwirkung auf den Gang der Dinge zugeschrieben wird (35). Diese drei Elemente: Mythos, Dogma und Kultus sind nach GUYAU die charakteristischen Merkmale, durch die sich die Religion von der Philosophie (Metaphysik und Moral) unterscheidet. Und diese drei Elemente sind hinfällig und vergänglich. Die Religion der Zukunft lehnt sie ab und wird damit zur Irreligion oder Areligion, nämlich zur "Verneinung jedes Dogmas, aller traditionellen und übernatürlichen Autorität, jeder Offenbarung, jeglichen Wunders, jedes Mythos und Ritus, der als Pflicht auftritt." (36) Die positive Religion ist für den Philosophen - und der Mensch der Zukunft wird der Philosoph sein - "nur eine Anhäufung organisierter und in ein System gebrachter abergläubischer Ideen", sie ist ein Produkt ihrer Zeit, nur für eine bestimmte Epoche von Bedeutung. Dies hatte GUYAU schon an anderer Stelle ausgesprochen (37). "Die religiöse Gemeinschaft, diese ausschließlich durch die Gemeinsamkeit abergläubischer Vorstellungen zusammengehaltene Gemeinschaft, ist eine soziale Form der Vorzeit, die im Verschwinden begriffen ist und die unmöglich ein Ideal für uns sein kann." (38) Was ist aber nun GUYAUs "Irreligion der Zukunft" ihrem positiven Gehalt nach? Das ist die schwierige Frage, über die sich GUYAU selbst nicht völlig klar geworden zu sein scheint. Zieht man nämlich Mythos, Dogma und Kultus, nach GUYAU die charakteristischen Merkmal der Religion, von dieser ab, was bleibt dann übrig? Die "natürliche Religion" antwortet GUYAU, "etwas gewissermaßen Bastardartiges", das sich in die metaphysischen Hypothesen auflösen läßt (39). Diese "natürliche Religion", die also die Irreligion der Zukunft ausmachen wird, äußert sich in den Formen einer "religiösen Anomie", d. h. einer "religiösen Unabhängigkeit", einer "Vielheit der Glaubensanschauungen"; kurz: eines "religiösen Individualismus". (40) Möge es doch eines Tages keine Orthodoxie mehr geben im Sinne eines allgemeinen Glaubens, der die Geister bindet, ruft GUYAU aus. "Möchte doch der Glaube eine ganz persönliche Errungenschaft, möchte doch die Heterodoxie die wahre und universelle Religion werden." (41) Jeder schaffe sich sein eigenes Gesetz, seinen individuellen Glauben.
GUYAU verwahrt sich ausdrücklich dagegen, daß man diese seine Irreligion etwa mit Antireligion, mit Unfrömmigkeit oder gar Verachtung der metaphysischen und moralischen Grundlagen der Religion verwechselt. (48) Er bringt allem, was an den Religionen wahrhaft ehrwürdig ist, eine hohe Pietät entgegen, wie sie von einem Denker seines Schlages nicht anders zu erwarten ist. Gehässige Intoleranz, Fanatismus jeder Art, selbst jener edle Fanatismus der Überzeugung, liegt ihm vollständig fern. "Vergiß nie, daß du in diesem Vorurteil, in jenem Irrtum einen Weggenossen der Menschheit seit vielleicht 10 000 Jahren vor dir hast." (49) Er hat das Leben der Menschheit gleichsam mitgelebt. Auf ihn hat sie sich gestützt, wenn ihre Pfade rauh waren. "Tritt uns denn nicht in jedem menschlichen Gedanken etwas Brüderliches entgegen?" Die Religionen haben das Verdienst, "den menschlichen Geist über eine ganze Reihe von Vorstufen der Wissenschaft, Metaphysik und Moral geleitet zu haben." Sie haben eine wertvolle Vorarbeit geleistet. Aber der Nützlichkeitswert der Religionen erlischt, sobald ihr Zweck uns vorwärts zu bringen, erreicht ist. (50) 2. GUYAU gibt seinem Hauptwerk den ergänzenden Untertitel: Soziologische Studie. Damit führt er einen völlig neuen Gesichtspunkt in die Religionswissenschaft ein. Hierin besteht nach FOUILLÉE (51) die Originalität des Buches. Die Religion ist sozialen Ursprungs. Aus dem Zusammenleben der Menschheit ist sie geboren. Der Mensch ordnet der irdischen Gesellschaft eine höhere, mächtigere, universelle, kosmische Gesellschaft über und stellt soziale Beziehungen zwischen beiden her. "Damit dehnt sich die Soziabilität, die ein anerkannt menschlicher Wesenszug ist, bis zu den Sternen aus." (52) Die Soziabilität, ein von FOUILLÉE geschaffener Begriff (53), ist also nach GUYAU die Basis des religiösen Gefühls. Zugleich ist die Religion "universeller Soziomorphismus". Sie ist ex analogia societas humanae [in Analogie zur menschlichen Gesellschaft - wp] entstanden. Das soziale Leben ist das Modell, unter dem sich die Menschheit jene übernatürliche Gesellschaft vorstellt. Die Gottheit ist anthropomorphen, die Götterwelt soziomorphen Ursprungs. So gelangt GUYAU zu seiner Definition der Religion. "Religion ist eine in phantasievolle und symbolische Form gekleidete physische, metaphysische und moralische, auf Analogie mit der menschlichen Gesellschaft gestützte Erklärung der Dinge. Sie ist, noch kürker, eine soziologische Welterklärung in mythischer Form" (54). Die Definition des religiösen Gefühls als "lebendiges Bewußtsein unserer absoluten Abhängigkeit", sie sie SCHLEIERMACHER und nach ihm DAVID FRIEDRICH STRAUSS, LOTZE, PFLEIDERER, RÉVILLE und andere mehr oder weniger verändert vorgetragen haben, hält GUYAU zwar ansich für unvollständig, nimmt sie aber als ergänzendes Moment in die seinige mit auf. Das religiöse Gefühl ist ihm tatsächlich ein "Gefühl der Abhängigkeit von Willensmächten", die der primitive Mensch ins Universum projiziert, und zwar einer sozialen Abhängigkeit, die noch dazu auf Gegenseitigkeit beruth, da die Götter sich vom Menschen beeinflussen lassen. Man hat GUYAU die Bedeutung genialer Individuen für die Bildung der Religionen entgegengehalten. RENOUVIER u. a. haben erklärt, die großen Religionen seien zumeist individualistischen Ursprungs. Der Einwurf trifft GUYAU nicht. Er betont beides, den Einfluß großer Männer und das soziale Milieu. Der soziologische Gesichtspunkt ist aber naturgemäß in erster Linie für die Entstehung der Religionen in den primitiven Gesellschaften maßgebend. Lange bevor die großen Religionsstifter auftraten, ZOROASTER, BUDDHA, CHRISTUS, MOHAMMED, war ein tiefes, soziales Bedürfnis der religionsbildende Faktor, "die Sehnsucht nach Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe". Die Welt ist uns zu eng, der Himmel zu einsam. Wir suchen ein Herz in Himmelsfernen, das mit uns fühlt, eine große Seele über der Welt, der wir uns anschließen können. Fehlt uns der himmlische, uns immer nahe Freund, dann befällt uns ein Gefühl des Verwaistseins. "Wir bedürfen eines von Liebe und Zärtlichkeit gemischten täglichen Brotes. Wer es aus keiner geliebten Hand empfangen kann, der fordert es von seinem Gott, seinem Ideal, seinem Traumbild. Er gibt seiner Liebe ein erdichtetes Ziel und ersinnt ein in der Unendlichkeit schlagendes Herz." (55) GUYAU sucht schließlich einen systematischen, wenn auch rein äußerlichen Zusammenhang zwischen seiner Religionsphilosophie, Ethik und Ästhetik herzustellen, und zwar aufgrund des ziemlich vieldeutigen Prinzips des Lebens. Das ästhetische Gefühl erwacht, "wenn das Leben zum Bewußtsein seiner selbst, seiner Intensität und inneren Harmonie gelangt ist". Das moralische Gefühl "entsteht in dem zum Bewußtsein seiner praktischen Fruchtbarkeit und stärksten, nach innen und außen wirkenden Kraft gelangten Leben". Das religiöse Gefühl endlich erwacht, wenn sich dieses Bewußtsein der Soziabilität und die Allheit der Wesen, auch die möglichen und gedachten, in seinen Kreis zieht. "In der Idee des Lebens selber und seiner verschiedenen Manifestationen erblicken wir die Einheit von Ästhetik, Moral und Religion." (56). GUYAU behandelt im ersten Teil der "Irreligion" die Entstehung der Religion bei den primitiven Gesellschaften, im zweiten die Auflösung der Religion in der heutigen Gesellschaft und im driten und letzten den "religiösen Individualismus" der Zukunft. Wir wollen seinem Gedankengang in Kürze folgen. In drei Hauptstadien hat sich GUYAU das religiöse Gefühl aus dem Dunkel des primitiven Bewußtseins emporgearbeitet. GUYAU unterscheidet diese drei Stadien als religiöse Physik, religiöse Metaphysik und religiöse Moral und stellt als Fundamentalsatz hin: die Religion ist Soziologie im Sinne einer physischen, metaphysischen und moralischen Erklärung der Dinge. 1. - Die religiöse Physik. - Die Urreligion ist eine keimende Wissenschaft. Rein physische Probleme beunruhigen die primitive Intelligenz. Paraphysik, Physik des Naheliegenden, möchte GUYAU diese Urreligion nennen. Später wird die Religion Metaphysik sein, die Wissenschaft vom Jenseits (57). GUYAU führt die Untersuchung in einer Polemik gegen die Hauptvertreter einer idealistischen Auffassung vom Ursprung der Religion, während er selbst (in diesem Punkt) sich zum Positivismus des COMTE bekennt. Nach MAX MÜLLER ist die Idee des Unendlichen das Primäre, und die Götter sind nichts als die Personifizierung dieser Idee, die den Wilden überall umschauert. Der verdiente Philologe sucht den von den Positivisten bloßgestellten rationalen Charakter der Religion zu rehabilitieren. GUYAU wird das nicht zugeben. Schon 1879 hat er die Unendlichkeitstheorie des Engländers widerlegt (58). Dem ungeübten Geist erscheint nur das Endliche. Erst später erreichen die Metaphysiker die Gestade des Ozeans der Unendlichkeit. Die Unendlichkeit ist eine Entdeckung für sie (59). Den Indern fehlte das Wort und der Begriff. Dem Wilden erscheint der Horizont physisch begrenzt. Noch weniger vermag GUYAU EDUARD von HARTMANN zuzustimmen, nach welchem die pantheistische und monistische Vorstellung des Alleinen der Ausgangspunkt der Religion gewesen sein soll. Zuviel für die primitive Intelligenz, diese Einheitsphilosophie! Dergleichen Abstraktionen sind eine später Frucht verfeinerter Kultur. Eine dritte idealistische Theorie, die GUYAU der Ablehnung für wert erachtet, ist der Mystizismus eines RENAN, wonach ein geheimnisvoller, "religiöser Instinkt" den Urmenschen vor der Gottheit in die Knie geworfen haben soll. "Unachtsam lebte er dahin. Plötzlich entsteht eine Stille in ihm. - Lebe ich wirklich! Was bedeutet die Welt? - - O Vater!" Und er kniet nieder und betet an. (60) Schön gesagt! Aber das sind Mythen. So empfindet der Religionshistoriker RENAN, nicht der primitive Mensch. An der Geburtsstätte der Religion herrscht nicht der religiöse Instinkt, nicht dieses gefühlsmäßige, meditative Wesen. Wie roh ist noch dieser Glaube, wie robust! Für SPENCER endlich sind die Götter nichs als idealisierte Helden. Aus dem Totenkult ist die Religion erwachsen (61). Man wird es nicht glauben. Etwas so Zusammengesetztes wie die Religion läßt sich nicht auf so einfache Prinzipien zurückführen. Diese Formulierung ist zu eng. Gegenüber den angeführten idealistischen Theorien bekennt sich GUYAU mit voller Überzeugung wieder zur positivistischen Religionstheorie eines COMTE, dem der Fetischismus oder Naturismus, d. h. die Anbetung der Naturkräfte, als die Urreligion gilt. Weder SPENCER nach MAX MÜLLER erkennen dem Fetischismus Primitivität zu. Nach SPENCER ist er späteren Ursprungs. Der Spiritismus, der Totenkult, geht ihm voraus. Aber für GUYAU überwiegt hier die Autorität seines Landsmanns. COMTE versteht unter Fetischismus die ursprüngliche Neigung des Wilden, den Dingen der Außenwelt ein Leben analog dem menschlichen zuzuschreiben. Und so auch GUYAU. Die Idee des Lebens ist das beherrschende Prinzip seiner Philosophie. Der Urmensch lebt in der Vorstellung, daß "nichts absolut oder endgültig leblos sein kann, daß alles Leben hat -, folglich Absicht und Willen bekundet." (62) Die Quelle der Religion ist hiernach keine geheimnisvolle Intuition der übersinnlichen Wahrheit, wie jene Idealisten meinen. "Aus mißverstandener Erfahrung, aus irrigem Vorgehen des menschlichen Intellekts" erklärt sich die Urreligion. Sie ist nichts als eine unrichtige Auslegung der gewöhnlichsten Naturphänomene (63). Der Begriff Fetischismus deckt sich aber doch nicht ganz mit jener ältesten Religionsform, wie GUYAU sie sich denkt. Er setzt die Vorstellung von Geistern voraus. Dem Geisterglauben liegt aber schon eine rudimentäre Metaphysik zugrunde, von der GUYAU in seiner religiösen Paraphysik nichts wissen will. Nicht Geister ahnt der Wilde in der Natur. Nur der Wille tritt ihm entgegen. Siehe diesen Felsblock! Gestern rollte er vom Berg herunter. Oberhalb der Hütte des Wilden machte er Halt. Drohend steht er nun da. Der Wilde umgeht ihn argwöhnisch. Schließlich kniet er nieder und betet zu ihm. Was vermutet er hinter diesem Felsblock? Das Unendliche, würde MAX MÜLLER sagen, ein Stück des All, EDUARD von HARTMANN. Den Geist eines grollenden Ahnen, meint SPENCER, und RENAN glaubt im Verhalten des Wilden einen geheimnisvollen religiösen Instinkt zu erkennen. Nichts von alledem, erwidert GUYAU. "Noch schläft er, sagt sich der Wilde, doch gestern war er wach. Gestern hätte er mich töten können, aber er hat es nicht gewollt." (64). Einen guten oder bösen Willen sieht der Wilde im drohenden Felsblock, nichts weiter. Und so überall. "Die Natur ist den Urvölkern ein lebenerfülltes Ganzes, in dessen Erscheinungen sie Willensäußerungen erkennen." (65) Alles ist Wille. Panthelismus (telo) nennt GUYAU seine Urreligion. Dieser Panthelismus des GUYAU wäre vielleicht anfechtbar, wenn, wie SPENCER meint, die primitive Intelligenz "belebt" und "unbelebt" auseinanderzuhalten vermöchte. Sie vermag es nicht. Weder dem hochentwickelten Tier noch dem Urmenschen liegt die Unterscheidung von leblosen und belebten Gegenständen nahe. Der Hund bellt den Sonnenschirm an, den der Wind bewegt, die Seifenblase. Er hält sie für lebendig. Die Peitsche des Herrn, die ihm Schmerz bereitet, gilt ihm als lebendiges Wesen. Der Löwe, den der Schuß verfehlte, springt zuerst gegen den Felsen, an dem die Kugel aufklatschte. Dieser Wilde küßt das Gewehr des weißen Mannes, er bekränzt es und betet es an. Schlägt das Kind nicht den Stuhl, an dem es sich stieß? "Die Begriffe belebt und unbelebt kennen primitive Intelligenzen nicht." (66) Weit näher liegt ihnen eine andere Gliederung der Umwelt. Die Dinge sind ihnen entweder gleichgültig oder interessant, d. h. nutzbringend oder schädlich. Ist diese Pflanze eßbar oder nicht? Droht mir von diesem Gegenstand Gefahr oder nicht? So lautet die Fragestellung. "Uninteressierte Spekulation ist Tieren wie Wilden völlig fremd." (67) Das Rind weidet ruhig weiter, wenn der Zug vorübersaust. Das Rebhuhn am Bahndamm hebt kaum den Kopf. Sollten diese Tiere begriffen haben, daß der Zug ein unbelebter Mechanismus ist? Kaum! Sie wissen, daß ihnen keine Gefahr droht. Man erinnert sich, daß auch der moderne Mensch bei ungewisser Beleuchtung das Leblose belebt. Es bedarf nicht der stieren Phantasie eines SHAKESPEARschen Königsmörders, um in der Nacht die tote Natur schaudern zu hören. In der Nacht sind wir alle Panthelisten. Da wird der Fels zum Giganten, die Eiche zum aufgetürmten Riesen. Die Birken neigen sich im Mondschein vor dem Dichter. - Dieses Schauspiel im Wald! Das Seufzen des Windes in den Zweigen, das wie eine Stimme klingt! Welch intensives, schweigendes Leben im Wipfel des Baumes! Ein heiliges Bangen umfaßt uns. Der Wald, die Naturlebt. Und alles umher ist Wille. Das ist die Stimmung, die die Religion gebar, wie das Staunen des PLATO die Philosophie. Die religiöse Paraphysik, die GUYAU an den Anfang der Religionen stellt, ist nicht nur Panthelismus, sie ist auch schon Soziomorphismus. Wort und Begriff ist ebenfalls von GUYAU neugebildet. Nicht nur, daß der Mensch seine Umgebung anthropomorphisiert, indem er die Natur mit menschlichen Willensregungen ausstattet, er soziomorphisiert sie auch, indem er die sozialen Beziehungen von Freundschaft und Feindschaft, in denen er lebt, auf die von ihm in die Natur projizierten Willensmächte überträgt. (68) Die Ausdehnung des sozialen Lebens über die menschliche Gesellschaft hinaus ist nach GUYAU das Prinzip aller Religionen. Ex analogia societatis humanae bildet sich der Mensch über der Gesellschaft, in der er lebt, eine zweite mächtigere und erhabenere, mit der er gesellig verkehrt, wie mit seinesgleichen, mit der ihn menschlich soziale Gefühle, Furcht, Ehrfurcht, Dankbarkeit, diese eigentlich religiösen Gefühle, verbinden. Durch Opferspenden, gute Werke, Willfährigkeit wird er jene mächtigen Wesen huldvoll stimmen. So entsteht der primitive Kult. Er ist nichts als eine "Übertragung der Umgangsart von Menschen auf den geistigen Umgang mit den Göttern." (69) Doch gilt dies von einem bereits fortgeschrittenen sozialen Zustand. Die Entstehung der Religion ist kein Theatereffekt. Es liegt GUYAU viel daran, diesen Nachweis (gegen RENAN) zu erbringen. Keine metaphysischen Begriffe und Gefühle in jener Urzeit! "Die Religion ruht ganz auf positiver und natürlicher Basis, sie ist mythische und soziomorphe Physik." (70) Sie ist ein Gewebe von falschen wissenschaftlichen Induktionen, erster noch mißglückter Ansätze zur wissenschaftlichen Aufhellung des Weltbildes. Religion ist keimende Wissenschaft. 2. Die religiöse Metaphysik. - Verfolgt man mit GUYAU weiterhin das Entstehen der Religion, so gelangt man zur Ausdehnung des paraphysischen Irrtums über die Naturgrenze hinaus zum System, das Himmel und Erde beherrscht, d. h. zur Metaphysik. Die Götter entweichen ins Übersinnliche, der Himmel trennt sich von der Erde. Diese noch primitive Metaphysik ist keine hypothetische Weiterentwicklung der Wahrheit wie die unsrige, sondern eine "illegitime Verneinung der Wissenschaft." Das rudimentär wissenschaftliche Element, das sich in den mythischen Deutungsversuchen der religiösen Physik aussprach, geht verloren. Zunächst bildet sich der Animismus. Körper und das ihnen innewohnende Lebensprinzip hatte der Urmensch nicht getrennt. In diesem Sinne war er Monist. Er wird zum Dualisten, wenn der Geisterglaube entsteht, die Vorstellung von der Seele als einem selbständigen Einzelwesen. Das atmet in uns, das entweicht im letzten Seufzer aus der Brust des Sterbenden, das wandelt hinter uns als Schatten und schwebt nach Elysium, wenn wir nicht mehr sind. Das unternimmt Reisen in ferne Länder, während wir schlafen. Das kehrt zu uns zurück, wenn wir aus einer Ohnmacht erwachen. Alle Völker haben ihren Polydämonismus gehabt. Er folgt unmittelbar aus dem Fetischismus. Der Weg vom Animismus zum Theismus ist nicht weit. Vom Geist zur Gottheit ist nur ein Schritt. Ein unbestimmtes Furchtgefühl, dann das Gefühl der Abhängigkeit formen die Gottheit. GUYAU behandelt ausführlich die beiden Hauptelemente des Theismus, den Vorsehungsglauben mit dem von ihm unzertrennbaren Wunder- und Gebetsglauben und den Schöpfungsglauben. Der Wilde begegnet einer Schlange. Kurz darauf glückt ihm eine Unternehmung. Wie leicht wird aus dem "post hoc" [danach - wp] ein "propter hoc" [deswegen - wp]! Es ist kein Zweifel, die Schlange ist eine Gottheit. Sie kennt mein Schicksal und leitet es. Möge sie mir wohlwollen. So entsteht der Glaube an die göttliche Vorsehung. Sein "liebstes Kind" ist das Wunder. Der Wilde erlebt es täglich. Er sieht überhaupt nur Wunder, d. h. die erstaunlichen Vorgänge in der Natur. Die anderen sieht er nicht. Beschränkt sich später das göttliche Eingreifen auf wenige Fälle, so zeigt sich hierin ein Fortschritt auf intellektuellem Gebiet. GUYAU kritisiert das Wunder ausführlich. Er sucht es wissenschaftlich zu erklären. Das Erscheinen des Auferstandenen z. B. durch Massenhalluzination, temporäre Heilungen hysterischer Fälle durch suggestive hypnotische Kraft, wie sie Jesus zweifellos besessen hat. Die Umstehenden staunen. Alles übrige vollbringt die Legende. Die Stätte aller Wunder, die nicht der Psychiatrie anheimfallen, ist das Gemüt. Auch der Gebetswahn ruht auf dem Vorsehungsglauben. Wir meinen, im Gebet unser Schicksal lenken zu können. Welches Glück, einen Augenblick um das rollende Rad der Welt zu summen! Lerne dir aber selbst helfen und dein Glaube wird untergehen. Je mehr Initiative auf Seiten des Menschen, desto entbehrlicher die Gottheit. Die Maschine ist die eigentliche Ursache der großen Götterdämmerung der Neuzeit. Aber der Wild bedarf noch der Nähe der Gottheit. Er ist abhängig von ihr, er will ihren Schritt in der Dunkelheit neben sich hören. Erst die Wissenschaft hat das menschliche Gemüt von der göttlichen Vormundschaft befreit. Den Schöpfungsglauben stellt GUYAU als das wichtigste metaphysische Element der Religion neben den Vorsehungsglauben. Er zeigt, wie sich der Dualismus von Gott und Welt mit der Zeit verfeinert hat. Bei den Griechen ist Gott nur der Ordner der Welt. Aus vorhandenem Urstoff formt er das All. Später wird Gott zum Schöpfer ex nihilo [aus dem Nichts - wp], und damit erst zum eigentlichen Schöpfer. GUYAU glaubt, die empirisch erworbene Vorstellung der providentiellen Macht sei das primäre, die Schöpfermacht Gottes das sekundäre. Umgekehrt, werden unsere Theologen erwidern. Sei es drum! Die Idee des Gottschöpfers wird im Vordergrund aller großen Religionen stehen. Nur die indischen sind frei von diesem plumpen Anthropomorphismus. Der Brahmanismus und Buddhismus neigen zum Monismus. Im Abendland siegt die Idee der immanenten Gottheit erst spät (1677) über die Transzendenz Gottes in Bezug auf die Welt. GUYAUs Interpretation der Entstehung der Religionen ist das vollendete Widerspiel der von MAX MÜLLER, EDUARD von HARTMANN und anderen Autoritäten befürworteten Reihenfolge der Entwicklungsformen der Religion. GUYAU läßt die Reihe: Monismus, Monotheismus, Polytheismus, Polydämonismus (oder Animismus), Fetischismus mit dem letzten Glied beginnen und mit dem Monismus enden. Der Unterschied liegt auf der Hand. Der Hegelianer EDUARD von HARTMANN konstruiert mittels metaphysischer Abstraktionen eine Aufeinanderfolge, in der der Fortschritt rein dialektischer aber nicht historischer Natur ist. Der Positivist GUYAU entgeht der Gefahr des Schematisierens und seine Beweisführung ist überzeugen. Man beachte z. B., wie fein der psychologische und metaphysische Fortschritt vom konkreten Fetischismus zum dualistischen Animismus, in dem der Keim zu allen spiritualistischen Metaphysiken liegt, aufgedeckt ist. 3. Die religiöse Moral. - GUYAU ist in erster Linie Moralist. Religion in ihrer höchsten Form ist ihm Moralismus. Daher gelten ihm die religiöse Physik und Metaphysik nur als Vorstufen im Bildungsprozeß der Religionen. Erst in der religiösen Moral entfalten sie für ihn die Hauptprobleme. GUYAU zeigt, wie die Entwicklung der Gottesidee der sozialen Entwicklung parallel geht. Ein neuer Dualismus tut sich auf. Die bösen Götter trennen sich von den guten, und die guten siegen. Gott wird das Prinzip des Guten, die "Personifikation des Sittengesetzes und der moralischen Sanktion" (72). Anfangs ist dieser Gott noch sittenlos und blutdürstig wie der Heidengott. Jehova ist der Gott der Rache. Im weiteren Verlauf werden Güte und Gerechtigkeit immer mehr die moralischen Tugenden Gottes. Gott offenbart sich schließlich "als lebendes Gesetz des Weltalls, der universellen Gesellschaft". Hier der Triumpf des GUYAUschen Soziomorphismus. Seit KANT suchen wir Gott im Gewissen. Religion und Moral fließen ineinander und Gott wird das Symbol der Moral. Auf dem Boden dieser Anschauung steht GUYAU, der Moralist. Die religiöse Moral personifiziert in Gott das Gesetz und mit ihm die Sanktionsidee. GUYAU hat diese Idee in der "Esquisse d'une morale sans obligation nie sanction" einer scharfen Kritik unterzogen (73). Hier stellt er sie ganz als soziomorphe Schöpfung hin, als Ausdehnung der sozialen Beziehungen auf die Beziehungen zu den Göttern. Das irdische Regiment wird zum Modell des himmlischen. Gott straft und belohnt wie ein irdischer Machthaber. Der Mensch sucht die Sanktion der Gottheit für sein Tun, und die göttliche Sanktion vermischt sich mit der moralischen. Die Sanktionsidee steht für GUYAU so sehr im Zentrum der religiösen Moral, daß ihm die Unsterblichkeitsidee nur als deren "sehr komplexe Dedukton" (74) gilt. Im Diesseits wird das Gute nicht immer belohnt. Ein Jenseits, in dem der Ausgleich erfolgt, muß als Ergänzug hinzutreten. Ein unwiderleglicher Beweis für die soziomorphe Herkunft der Religion ist für GUYAU der Kultus. Eine soziologische Beziehung, der Wechsel von Dienst und Gegendienst bei den Menschen, ist das Modell aller Kulte. Gib, und du wirst empfangen. Aber ein Ochse vermag mehr als ein Ei. Der Kult war anfangs ein Handel zwischen Gott und Mensch. Später wird das Tauschgeschäft symbolischen Charakter annehmen. Aber gibt es nicht auch heute noch manchen, der zwölf Paternoster [Vater unser - wp] für wirksamer hält als ein stummes Schluchzen in der Tiefe des Herzens! Veräußerlich sich der Kultus mit der Zeit zum Ritus, d. h. zum sorgsam geregelten Komplex von Vorschriften, deren Ausübung ein besonders ausgebildetes Priestertum erfordert, so sinkt er in GUYAUs Augen auf das Niveau des Zauberer- und Magiertums herab, und behält höchstens noch einen ästhetischen Wert. Aber der Kult kann sich auch verinnerlichen. Dann wird er zur Mystik. Die Liebe zu Gott ist die höchste Form des Kults. Wir stehen in inniger, vertrauter Zwiesprache mit der Gottheit. Keine Beschwörungsformel, nur die geistige Liebesspende. Kein Kniebeugen, nur ein stummes Neigen der Seele vor Gott. GUYAU verfolgt seinen soziologischen Grundgedanken bis hinaus zum "Amor dei intellectualis" des großen Mystikers SPINOZA. Er sieht in ihm die höchste Verfeinerung eines ursprünglich plumpen Soziomorphismus, den höchsten Grad der Vervollkommnung der Religion in sozialer und moralischer Hinsicht. Denn im "Amor dei intellectualis" umfaßte die caritas, die barmherzige Liebe, die ganze Schöpfung. Hier wird Gott die mystische Realisierung der alles umfassenden Gemeinschaft. Die Soziabilität ist der Grundzug des menschlichen Charakters. Der Mensch muß stets etwas lieben. "Wer auf Erden nicht genug liebt oder geliebt wird, der sucht den Himmel. Das ist ein Gesetz wie das Parallelogramm der Kräfte." Allen Enterbten, allen Einsamen, allen Leidenden wird dieser veredelte, innerliche Kult ein Zufluchtsort. "In der Tiefe unseres Herzens glüht beständig ein Kern Weihrauch, dessen Duft wir zu Gott emporschicken, wenn wir ihn irdischen Göttern nicht mehr weihen können." (75) Der religiöse Mystizismus ist nach GUYAU nichts als eine Entgleisung des Liebesgefühls. Die vom natürlichen Weg abgetriebene Liebe führt zur Mystik. Keine Religion begünstigt diese Entgleisung mehr als das Christentum. "Was in der christlichen Literatur als wirklich neues Moment auftrat, war das erste volle Anschlagen der echten, warmen Liebesnote." Was sind die Niedlichkeiten des TIBULL gegen die tiefe Glut des heiligen AUGUSTINUS! Nirgends ist die Gottesidee anthropomorpher gefaßt, ohne dabei entwürdigt zu sein, als im Christusglauben. Gott steigt als blonder, lächelnder Jüngling zur Erde. "Aus dem Dunkel schimmmern zwei gemarterte Arme, ein Herz bricht für die Menschheit." Ecce homo! Wer an das tief religiöse Empfinden des Dichters GUYAU nicht glauben will, der lese den Schluß des ersten Teils der Irreligion. Auch in der Tiefe seines Herzens glüht beständig ein Kern Weihrauch. Selig sind die Aufrichtigen, die ihre Würde als denkende Wesen nicht herabsetzen lassen wollen. Selig seid ihr Menschen mit einem wahren, wissenschaftlichen und philosophischen Geist,
Die menschliche Intelligenz schreitet vorwärts. Sie muß vorwärts. Überall weicht heute der starre Dogmenglaube einer freieren Auffassung. Absoluter Wortglaube ist fast zur moralischen Unmöglichkeit geworden. Nur durch Kompromisse halten sich die Buchstabenreligionen aufrecht. Aber es ist wunderlich zu sehen, wie zivilisierte Nationen die Stimme der göttlichen Offenbarung bei alten, noch halb barbarischen Völkern suchen. Was für eine Gedankenlosigkeit. Der Protestantismus dokumentiert in GUYAUs Augen dieses Stadium einer freieren Auffassung des Dogmenglaubens. Der französische Freidenker hat ein Ohr für die Wucht der lutherischen Hammerschläge an den Toren der mittelalterlichen Kirche. Er erkennt die ungeheure Bedeutung der Reformation für den Fortschritt des Denkens. Glaubensfreiheit für die Welt! Der religiöse Individualismus, dem GUYAU zustrebt, liegt in derselben Linie. Aber der Protestantismus ist auf halbem Weg stehengeblieben. Er ist inkonsequent. Warum die Wunder von Lourdes leugnen, wenn man an die des Evangeliums glaubt? Oder an den Teufel, wie LUTHER? Entweder alles oder nichts! Auch der Protestantismus ist ein Dogmenglaube, wiewohl er viele heidnische Gebräuche, z. B. die Messe, diesen "entwürdigenden Aberglauben" abgestreift hat (80). Aber die Gottmenschheit Christi, das Wunder des Sühnopfers, Erbsünde und Gnadenwahl erkennt der orthodoxe Protestant durchaus an. Den Freidenker GUYAU, der außerhalb aller positiven Religionen erzogen worden ist, setzen Protestantismus und Katholizismus in gleicher Weise in Erstaunen. Heute befindet sich der dogmatische Glaube in voller Auflösung, deren Gründe GUYAU aufzählt. Da sind zunächst die Wissenschaften. Sie interpretieren das All besser als die biblischen Phantasien, sie zerstören die alten abergläubischen Vorstellungen. FRANKLINs Blitzableiter hat mehr Aberglauben vernichtet als die lebhafteste Propaganda. Die Volksschule, eine Errungenschaft der deutschen Reformation, ist eine mächtige Waffe gegen den dogmatischen Glauben, ebenso die Vervollkommnung des Verkehrs. Die Ideen kreisen lebhafter. Wir brauchen nicht mehr zu reisen, um unseren Horizont zu wechseln. Handel und Industrie gewöhnen das Individuum, auf die eigene Intelligenz zu bauen. Sie erziehen zum selbständigen Nachdenken. Arbeiten heißt heute beten. Das Versicherungswesen, diese modernste aller Schöpfungen, untergräbt den Vorsehungswahn. Es paßt sich allen Zufällen des menschlichen Lebens an, breitet gleichsam ein Rettungsnetz unter uns aus, und macht die Gnade Gottes immer entbehrlicher. Wir haben seit dem Mittelalter mächtige Schritte nach vorwärts getan. GUYAU verzeichnet sie sorgsam und mit Befriedigung. Die höchste Errungenschaft ist und bleibt ihm aber die Erziehung des individuellen Gewissens durch den Protestantismus. Das ist die entscheidende Tat der modernen Menschheit. Hier gewahrt er einen ersten Abschluß in der religiösen Entwicklung. Während die katholische Kirche in der Beichte noch Absolutionsscheine auf das Jenseits austeilt, wird das protestantische Gewissen sein eigener Beichtiger und Richter. Hier liegen die Anfänge des religiösen Individualismus, den GUYAU verkünden wird. 2. Der symbolische und moralische Glaube. Eine bemerkenswerte Phase in diesem unaufhaltsamen Verfall des Dogmenglaubens bildet für GUYAU der symbolische und moralische Glaube, wie er am deutlichsten im liberalen Protestantismus Deutschlands, Englands und der Vereinigten Staaten zutrage tritt. Die Dogmen werden nur noch symbolisch gedeutet, der Glaube an die Wahrheit des Wortes Gottes zum Symbol verflüchtigt. Christus vor allem verliert seine göttliche Aureole [Lichtkranz - wp] und wird ein edler Mensch, die Bibel ein Buch unter Büchern. Jede symbolische Interpretation des Wortes Gottes gilt als erlaubt. Ein moralischer Symbolismus im kantischen Sinn, ein Glaube an die Pflicht, tritt in Deutschland an die Stelle des Buchstabenglaubens. Die Hegelianer STRAUSS und EDUARD von HARTMANN machen aus der Religion eine symbolische Moral. In Frankreich sind es RENOUVIER und RENAN, die die Religion zur idealistischen Moral umformen, in England COLERIDGE und HAMILTON, ebenfalls im Anschluß an KANT. Nach MILL wird die Religion der Zukunft eine "erhabene Moral" sein, eine "Religion der Menschheit" im Sinne COMTEs und der Positivisten. Der Moralist GUYAU verfolgt alle diese Versuche mit leidenschaftlichem Interesse. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Buch "Literatur und Dogma" von MATTHEW ARNOLD, das in den 80er Jahren in England Aufsehen erregte. ARNOLD erhebt ebenfalls Gott zum Symbol, zur "volkstümlichen Personifikation des Menschheitsideals, kurz der Sittlichkeit" (81). "Es gibt nur ein Mittel, Gott ins Herz der Menschen zurückzurufen, nämlich ihn zum Symbol der Moralität machen," sagt ARNOLD. ARNOLD löst die letzten Dogmen in Symbole auf. Er träumt von einer Wiedergeburt der Religion. Ihr Inhalt wird das moralische Gesetz sein, ihre Form der religiöse Symbolismus. So wird sie die Massen bezaubern. So wird sie unüberwindlich sein. GUYAU gibt den Inhalt des begeisterten Buches fast vollständig wieder. Man glaubt bisweilen ihne selbst zu hören. Der Symbolist und der Intellektualist ringen in ihm, aber der letztere siegt. Wozu dieses Liebkosen erkalteter Jllusionen? Die Entwicklung geht unaufhaltsam der zukünftigen Irreligion entgegen. Aber wir wissen ja, was GUYAU unter Irreligion versteht. Den Inhalt der ARNOLDschen Zukunftsreligion, die Moralität, möchte er nie vermissen. Nur ihre Hülle soll sie abstreifen. Wir bedürfen der Legende, des Symbols nicht mehr. "Wir sehen die Wahrheit lieber völlig nackt, als in bunten Gewändern. Sie bekleiden, heißt sie herabwürdigen" (82). Die Moral ist für GUYAU der Kern aller Religionen. Die Religion diente der Moral nur als Hülle. Sie hütete ihre Entwicklung im zarten Kindesalter. Längst ist die Knospe aufgebrochen. Wozu noch die Hülle aufbewahren? Wozu unsere modernen Anschauungen im Mythos verzerren? Wozu immer wieder auf die Geistesstufe primitiver Völker hinuntersteigen? Und wenn schon, warum dann nicht ebensogut die Formeln für den Symbolismus bei den Indern suchen? Der Buddhismus ist die "zum Schlüssel des Rätsels der Welt erhobene Moralität." Aber dieser ganze Symbolismus hat ja gar keinen Wert. Er stellte das Äußerste dar, was dem Glauben möglich war, ohne mit dem Dogma zu brechen. Und auch dieses letzte Scheindasein des Dogmenglaubens ist dem Untergang geweiht. Es ist das Verdienst des Protestantismus, daß er die individuelle Initiative anstelle der generellen Autorität gesetzt hat. Verantwortung vor dem persönlichen Gewissen, das war der große Gedanke Doktor MARTIN LUTHERs. Darum weg mit allen Dogmen und allen Symbolen, weg mit allem was sich dem Gewissen als fertige Wahrheit aufdrängen möchte. Der Glaube ist nach HERAKLIT eine iera nosos [heilige Krankheit - wp]. Für uns hat diese Krankheit nichts Heiliges mehr. Wir möchen von allen Krankheiten geheilt sein, auch von dieser letzten. 3. Die Auflösung der religiösen Moral. - GUYAU ist wieder bei seinem Lieblingsthema angelangt, der Moral. Er sieht sich einer besonderen religiösen Moral gegenübergestellt, die nach Abzug aller Dogmen und Symbole übrigbleiben wird. Und diese besondere religiöse, auf die Liebe zu Gott gegründete Moral deckt sich nicht mit dem moralischen Ideal, das GUYAU vorschwebt. Die religiöse Moral wird alle theologischen Elemete abstreifen müssen, um den kristallklaren Moralismus eines GUYAU befriedigen zu können. Daher wird die letzte Phase im Auflösungsprozeß der Religion die Auflösung der Religion die Auflösung der religiösen Moral sein. Für KANT ist die Achtung das eigentliche moralische Gefühl, für GUYAU die Liebe. Im Buddhismus und Christentum, so erklärt er, ist die Liebe das höchste Prinzip der Ethik. Wahre Liebe schließt aber die Achtung in sich. Sie ist ein noch reizenderes Gefühl als die Achtung und - sie läßt sich fordern, trotz KANT. Aber die Liebe, wie sie das Christentum lehrt, hat für GUYAU einen schweren Mangel. Sie ist Liebe zum Menschen jedoch nur auf dem Umweg über die Liebe zu Gott. GUYAUs Prinzip der Moral aber ist Menschenliebe um des Menschen willen und nicht um Gottes willen. Man könnte ihm einwenden, beides ist wohl im Grunde ein und dasselbe. Er wird es nicht zugeben. Das ist z. B. die Furcht des Alten Bundes, die als Motiv der Nächstenliebe ein fremdes Element hineinbringt in die hohe, reine Liebesmoral, wie sie GUYAU verkündet. Diese Furcht vor dem göttlichen Strafgericht, die Furcht vor einer nicht im Gewissen allein ruhenden Sanktion, ist unmoralisch und irrational, wie er in der "Esquisse d'une morale" nachzuweisen sich bemüht. Der moderne Geist wird diese Furcht, dieses unethische, theologische Moment, aus der Moral mehr und mehr ausschalten. Da ist ferner das Motiv der Rache. Vergelte Böses mit Gutem! Sammle feurige Kohlen aufs Haupt deines Feindes! Unter scheinbarer Verzeihung, welch eine raffinierte Rache, die Gott anheimgestellt wird! Mit christlicher Liebe wird dem Nächsten das Höllenfeuer geschürt! Welch tiefe Unmoral! Ein "Ton unauslöschlicher Barbarei", der hier in das Evangelium der Liebe hineinklingt! (83) Das Christentum wollte die universelle Liebe begründen. Das ist ein hohes Verdienst. Indem es aber diese Liebe in Gott verkörperte, hat es sie wieder herabgesetzt. Denn Gott erscheint als Despot, der nach Gunst und Laune die Gnade verteilt. Einige Wesen sind von der universellen Liebe ausgenommen, einige sind verdammt. Die göttliche Barmherzigkeit wird also zur Verneinung wahrer Barmherzigkeit und Brüderlichkeit. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! - - Was für ein harter, bitterer Klang in diesem Wort! Wir entsinnen uns, wie jener Träumende die Hand des Engels von der seinigen löst und wieder zur Ehre zurückkehrt. Er will dort sein, wo seine Brüder leiden. Ein weiterer Mangel der religiösen Moral liegt für GUYAU darin, daß sie diese Liebe zeitweilig den Menschen entwendet und allein dem Himmel gewidmet hat. Im Mittelalter bestand geradezu eine Rivalität zwischen der Liebe zu Gott und der Menschenliebe. Der mittelalterliche Geist gebar den Mystizismus und die Askese, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben. PASCAL glaubte, sich vor Gott schuldig zu machen, wenn er Menschen liebte. Dem Mystiker galt jede irdische, jede nicht Gott geweihte Liebe als Energievergeudung. Daher das Zölibat! Welch ein Heer von Büßern und Heiligen, das da durch die Jahrhunderte pilgert! Welch glühende Liebesflamme, die nutzlos zum Himmel verlodert! Welch inbrünstige Kraft der Hingabe, die den Kindern der Erde entzogen wurde! Auch das Asketentum, die Ergänzung des Mystizismus ist ein Raub an der Menschheit. Der Asket denkt nur an sich und sein Seelenheil. Askese ist reinster Egoismus, mithin das völligste Gegenteil von GUYAUs Ideal. Der moderne Geist zersetzt allen Mystizismus, alles Asketentum, alle unreinen Elemente der religiösen Moral. Was aber wird aus dem Gebet, dieser Grundlage des von der religiösen Moral geforderten Ritus, der Zwiesprache mit Gott? Alles Plappern der Heiden und Christen ist schon vom religiösen Standpunkt aus verwerflich. Aber auch die egoistische Bitte steht auf einem niedrigen Niveau. Für sich selbst bitten ist moralisch völlig wertlos. Das Gebet ist nur groß, wenn es "der uneigennützige Aufschwung einer Seele ist, die dem Nächsten zu dienen hofft." "Deine Gebete werden immer länger, Großmutter!" - "Auch die Reihe derer, für die ich bete, wird es, mein Kind." (84). Dieser Liebeszug des Gebets wird in der Tat seine unvergleichliche moralische Schönheit behalten, wenn einmal alle abergläubischen Vorstellungen, die sich an das Gebet knüpfen, zugrunde gegangen sein werden. Als seelischer Liebesakt, meint GUYAU, ist es vielleicht heute schon nicht ganz unfruchtbar. Aber das Gebet der Zukunft wird die Tat sein, die Tat der Nächstenliebe. Die moralische Tat ist "das uneigennützigste, heiligste, das menschlichste und göttlichste Gebet." Die Liebe auf die reale Welt zu konzentrieren, die Herzen innig miteinander zu verbinden, so daß sie an sich selbst Genüge finden, die Menschheit durch Liebe veredeln, alle ihre Gefühlskräfte vom Himmel auf die Erde lenken, das ist das hohe Ziel der GUYAUschen Liebesmoral. Von einer "Religion der Familie" träumt dieser innige Geist, von einem "neuen Kult der Laren [römische Hausgeister - wp]". In seiner Mitte steht "der liebende, denkende, arbeitende, sich den Seinen widmende Mensch". Diese Religion der Familie, der ein intellektuelles Erstarken der Frau zugrunde liegt, wird zum Eckstein der "sozialen Religion" der Zukunft. Die religiöse Moral wird sich in das Reinste auflösen, was es auf der Welt gibt, in die Liebe zum sittlichen Ideal! und die zukünftige Gesellschaft wird nicht mehr den Menschen in Gott lieben, sondern den Gott im Menschen.
GUYAU fügt seiner Schilderung der Auflösung der Religion in der heutigen Gesellschaft noch vier weitere, an interessanten Abschweifungen sehr reiche Kapitel soziologischen Inhalts hinzu, in denen er folgende Themata behandelt: Religion und Irreligion im Volk, beim Kind, bei der Frau, endlich: Religion und Fruchtbarkeit. Wir übergehen diese Kapitel. Er widerlegt in ihnen den Satz, das Volk, die Frau und das Kind könnten vermöge ihrer philosophischen Unfähigkeit die Religion nicht entbehren. Nur einige beachtenswerte Sätze, zu denen GUYAU gelangt, sei uns erlaubt, aus der Fülle der Gedanken herauszugreifen. Das religiöse Gefühl ist dem Menschen nicht angeboren, wie TAINE und RENAN behaupten. Religion ist "keine Schöpfung des menschlichen von innen heraus" (86), sondern von außen durch Auge und Ohr eingedrungen. Taubstumme sind frei von religiösen Vorstellungen. Die Fortdauer der Religion ist also nicht verbürgt. Der Fortfall der Religion wird keine Leere im Volk zurücklassen. Religion kann nicht zerstört werden, "sie sinkt ganz von selbst erlöschend in sich zusammen", sobald sie sich überlebt hat, und bedarf dann keines Ersatzes. (87) Die Moralität des Volkes wird nicht mit der Religion zugrunde gehen. Die Religion war nie die Schirmherrin der Moralität der Völker, wie die Kriminalstatistik beweist. Katholische Länder zeitigen die meisten Verbrecher. Die Kirche, heißt es, schütze das Eigentum gegen den Ansturm des Sozialismus. Ist Gott zu Hort der Kapitalisten herabgesunken? Arbeit allein moralisiert die Gesellschaft, und "die Liebe zu geistiger und körperlicher Arbeit ist nicht an die Religion geknüpft." Der Protestantismus ist keine notwendige Übergangsstufe von der Religion zum Freidenkertum. Die seit 1843 in Gang befindliche Bewegung, Frankreich zu protestantisieren, lehnt GUYAU ab, so viel Verlockendes für ihn der Protestantismus auch hat (bessere Volksbildung, damit verbundene Überlegenheit der protestantischen Völker im Handel und Industrie). Das Freidenkertum fördert die Völker noch weit mehr und das irreligiöse Frankreich soll direkt zu ihm übergehen, was ja inzwischen geschehen ist. - Eine angeborene intellektuelle Minderwertigkeit der Frau ist nicht erwiesen. Nur hat die wissenschaftliche Ausbildung der Frau stets hinter der des Mannes zurückgestanden. Erziehung und Vererbung können aber wieder vernichten, was sie hervorgebracht haben. GUYAU will also nicht zugeben, daß die geistige Anlage der Frau die Entwicklung von Religion und Aberglauben dauernd begünstigen muß. Die Frau urteilt mit dem Intellekt des Mannes. Wenn die Männer nicht mehr religiös sind, werden auch die Frauen aufhören zu glauben. Tiefere Gründe für die Neigung des Weibes zu religiösem Aberglauben liegen in ihrem Gefühlsleben. GUYAU erhofft jedoch von der wachsenden Tätigkeit der Frau in allen möglichen Berufszweigen eine Verminderung ihres religiösen Sinnes. - Nicht die notorische Irreligiosität der Franzosen ist, wie man behauptet hat, die Ursache des Rückgangs der Geburtenziffer in Frankreich. Dieser kommt vielmehr ausschließlich auf Rechnung des Malthusianismus (Zweikindersystem). (88) 1. Der religiöse Individualismus. - GUYAUs Ideal ist: Befreitsein der Menschheit von aller positiven Religion. (89) Die religiöse Anomie wird anstelle des Dogmenglaubens treten, ein religiöser Individualismus ist alles, was von den einst so blühenden Religionen übrigbleiben wird. GUYAU vergleicht den Glauben mit einem fertigen Nest, in dessen warmes, süßes Dunkel sich unser Denken duckte vor den beängstigenden Rätseln des Lebens und der Welt. Es wird eine Zeit kommen, wo sich ein jeder sein Nest selbst bauen muß. (90) Die stetig wachsende Differenzierung der Religionen und Sekten ist für GUYAU ein Beweis, daß wir uns dem religiösen Individualismus unaufhaltsam nähern. An eine schließliche Einigung aller bestehenden Religionen zu einem wirklichen Katholizismus kann er nicht glauben, auch nicht an das Hervorgehen einer neuen Religion aus dem gärenden Chaos unserer Zeit. Dieser Frage widmet er seine besondere Aufmerksamkeit. Das moderne Milieu ist zur Bildung neuer Religionen völlig ungeeignet. Apostel, Messiasgestalten können heute nicht mehr gedeihen, "eine hohe Berufsklasse, die ausstirbt." (91) In unserem Polizeistaat ist jede Legendenbildung ausgeschlossen. Wir sind überall von Realitäten umlauert, das soziale Auge ruht beständig auf uns. Die Tagespresse würde die sich bildende Aureole des Propheten rasch zerstören, die geschichtliche Betrachtung bemächtigt sich unmittelbar der genialen Persönlichkeit. Und weiter: die neue Religion müßte der Menschheit auch etwas durchaus Neues bieten. Der Buddhismus brachte das Nirvana, das Christentum eine völlig neue Sittenlehre und eine überwältigende metaphysische Idee, die Idee der Auferstehung und der Unsterblichkeit. Buddhismus und Christentum, in diesen beiden Religionen hat die menschliche Einbildungskraft für alle Zeiten ihre Meisterwerke geschaffen. Sie enthalten das Erhabenste, zu dem sich das religiöse Denken bisher erhoben hat, die Moral der Nächstenliebe, den Altruismus. Über diese beiden Großtaten hinaus hat die religiöse Metaphysik kaum noch etwas Höheres zu bieten. Alle Versuche zur Neuschöpfung von Religionen, wie z. B. das Mormonentum in Amerika, der Brahmanismus in Indien, sind dann auch nichts weiter als dürftige Wiederholungen ohne alle Originalität. Der Säkularismus in England, eine rein atheistische, utilitaristische Religion mit dem Ritus der anglikanischen Kirche, hat zu lächerlichen Ergebnissen geführt. Der Menschheitskult der Comtisten in Frankreich ist eine armselige Erneuerung des primitivsten Fetischismus. Diese tatenlose Selbstbeweihräucherung des "Großen Wesens", der Menschheit, die doch nur ein Punkt ist im All, reizt GUYAU zum Lachen. Er gedenkt des Hindu, der, in die Betrachtung seines eigenen Nabels versunken, das heilige Wort "Om" murmelt. All diese fetischistischen Kulte, alle Riten und religiösen Gebräuche werden absterben. Fort mit allen Priestern und alternden Gottheiten! Kein einziges aller dieser von unzivilisierten Völkern ersonnenen Wesen kann dem modernen Menschen Genüge leisten. Hinter seinem Gedankenflug verdämmert bereits die Sphäre der Götter. (92) Sichtbare Realitäten, keine poetischen Schöpfungen, Götter aus Fleisch und Blut, die mit uns leben und leiden, wollen wir haben. Wir wollen den Himmel in Menschenseelen finden. "Lebendiges kennen, heißt es lieben!" (93) Kunst, Wissenschaft, Moralität, die metaphysische Hypothese, das sind die Ideale, die uns bleiben. Und ein jeder schaffe sich seinen Glauben. So auch RENAN, mit dem sich GUYAU eines Tages über den religiösen Individualismus der Zukunft unterhielt. (94) Früher war die Religion das alleinige Betätigungsfeld des Intellekts. Heute ist es die Wissenschaft. Sie strahlt im Schmuck einer ihr eigentümlichen, aus Wahrheit geborenen Schönheit. Deckt sich diese religiöse Anomie der Zukunft mit dem Skeptizismus? Die Stellungnahme GUYAUs in dieser Frage ist hochinteressant. Der Spekulant, der in ihm schlummert, der ehemalige Schüler PLATOs, der auch die "Gottheiten von Samothrake" studiert hat, bricht aus der Hülle des Positivisten und Evolutionisten hervor. Den echten Zweifel freilich möchte GUYAU nie und nirgends vermissen. Der Zweifel der griechischen Skeptiker, die zetetikoi, Sucher, nannten, ist ein "hoch über dem alten Glauben stehendes, modernes Gefühl" (95). Ja, der Zweifel gilt ihm als der "religiöseste Akt, den menschliches Denken jemals ausgeführt" hat. Jenes "Bewußtsein, daß unser Denken weder das absolute ist, noch das Absolute direkt oder indirekt erfassen kann", möchte er geradezu eine Evolution des religiösen Gefühls nennen (96). Wer zweifelt, errichtet dem "unbekannten Gott" einen Altar. Zweifeln ist unsere Pflicht. Zweifel ist Anerkennung unserer Unwissenheit, ist Demut des Denkens. Ehrlicher, mutiger Zweifel bis an den Rand des Grabes ist eins der sittlich tiefsten Gefühle in uns. - Aber man täusche sich nicht. Die immer bewegliche Spekulation geht über den Zweifel hinaus. Wirklich starke Geister sind nie Skeptiker gewesen. "Das wahre Genie ist spekulativ." (97) "Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich ist; er würde sonst nicht forschen." Dies ist ein Wort GOETHEs (98), das GUYAU zitiert. Und so wünscht er dann, daß der Geist des Positivismus "nicht allzu üppig" wuchern möge wie z. B. in Amerika. "Die wahre Zukunft der Menschheit liegt in den spekulativen Geistern." (99) Das ist klar und deutlich! Und diese "freie metaphysische und wissenschaftliche Spekulation", der GUYAU selbst den letzten Teil der "Irreligion" widmet (100), zieht GUYAU gerade aus dem Verschwinden der Religion ihre Kraft. Der Untergang des Dogmenglaubens wird also keine Steigerung des Skeptizismus zur Folge haben. Die religiöse Anomie der Zukunft begünstigt nicht das Gedeihen der Skepsis. Das ist das Schlußglied in GUYAUs Gedankengang. Wie so oft kleidet sich ihm auch hier der Sinn des Ganzen in ein Bild. Er vergleicht den religiösen Glauben mit dem verworrenen Meteorspuk, der in klaren Herbstnächten über den dunklen Himmel gleitet. Der Spuk rauscht vorüber und die Fixsterne strahlen wieder in ihrer ewigen Klarheit. Die Probleme der metaphysischen Spekulation, das sind die Fixsterne an unserem Himmel.
GUYAUs "Irreligion" darf als ein kulturhistorisches Dokument ersten Ranges gelten. Wir dürfen annehmen, daß GUYAU hier das Glaubensbekenntnis einer ganzen Schicht der modernen Menschheit ausgesprochen hat, jener Menschheit, die sich zu keiner Religion mehr bekennt und deren Gesinnung dennoch tief religiöser Natur ist. Wie sich freilich dieser religiöse Individualismus inmitten der Irreligion oder Areligion, als welche GUYAU die völlig religionslose Weltanschauung der Zukunftsmenschheit kennzeichnet, praktisch gestalten wird, darüber erhalten wir von ihm keine Auskunft. Wenn einmal wirklich alle positiven Religionen zugrunde gegangen sein werden - und darüber dürfte noch manches Jahrhundert hingehen, - dann, heißt es in der Einleitung, wird der Menschheit immer noch die natürliche Religion bleiben. Was versteht GUYAU unter der natürlichen Religion? Wir erfahren es nirgends. Glaubt er doch an ein spezifisch religiöses Gefühl, das nicht mit dem metaphysischen Instinkt zusammenfällt und das den Untergang der positiven Religionen überdauern wird? Das hieße aber so viel wie zugeben, daß das rein soziologische Prinzip der Religion, wie GUYAU es aufstellt, keine erschöpfende Definition der Religion zu liefern imstande ist, sondern einer Ergänzung bedarf, die etwa in der Richt der SCHLEIERMACHERschen Definition, in der "Hingabe an das Unendliche" läge. 2. - Religion und Sozialismus. - GUYAU sucht und findet noch ein letztes Element, das aus der Religion in die Irreligion der Zukunft übergehen wird, nämlich die Idee der Assoziation. GUYAU versteht darunter den Zusammenschluß auf allen Gebieten (ähnlich unseren heutigen Versicherungsgesellschaften), wobei die Ideale des Sozialismus mit denen des Individualismus sich vereinigen müssen, größte Sicherheit der Allgemeinheit, verbunden mit der größten Freiheit des Individuums. Dieser Idee gehört die Zukunft, sagt GUYAU. Mag sein! Doch erscheint es uns zu weit gegangen, wenn GUYAU diese Idee, von der er selbst sagt, daß erst das 19. Jahrhundert sie zu vollem Glanz entfaltet hat, (102) als ausschließliches Produkt des religiösen Geistes anspricht. Sein soziologisches Grundprinzip der Religion mag ihn zu dieser Gewaltmaßregel verleitet haben. Auf intellektuellem, ästhetischem und ethischem Gebiet ergeben sich für GUYAUs weitschauenden Verstand dergleichen freie Zusammenschlüsse, die die Religionen überdauern werden. Die Vereinigung aller geistigen Arbeiter, die auf dem gleichen Gebiet tätig sind, ist nur naturgemäß. Gemeinsame Arbeit, gemeinsames Wissen verbindet. Schon heute besitzt jeder Gelehrte ein internationales Vaterland in den Akademien der Wissenschaft. Diese gelehrten Gesellschaften werden sich mit der Zeit zu einer wahren "Kirche" mit freier Arbeit zusammenschließen. Ihre Aufgabe wird die Popularisierung wissenschaftlicher Ideen sein, so daß dem Volk ein Ersatz für die fehlende Religion geboten wird. - Der Zusammenschluß auf ästhetischem Gebiet wird zu einem Kultus des Kunst- und Naturschönen führen (103). Gemeinsames ästhetisches Erleben und Genießen wirkt veredelnd. In Griechenland waren Kunst und Religion eins. Als Kunstwerke tragen die Religionen Unvergängliches in sich, ihr poetischer Gehalt wir die Dogmatik überdauern. Die Predigt der Zukunft, d. h. der Vortrag, wird Texte aus allen heiligen Büchern zugrunde legen. Die Musik wird in diesem ästhetischen Kultus der Zukunft eine große Rolle spielen. - Am wertvollsten ist für GUYAU naturgemäß der Zusammenschluß auf moralischem Gebiet. "Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet!" Ewig bewunderungswürdiges Gebot! Aber wir wissen, die Liebestätigkeit der Zukunft wird frei sein von allem religiösen Beiwerk. Umso reiner, inniger wird sich ihr Wirken gestalten. "Das Herz schlägt überall in Sympathie, wo es ein anderes Herz, und sei es im niedrigst stehenden Wesen, schlagen fühlt." (104) Auf universeller Sympathie, auf dem Bewußtsein menschlicher Solidarität und Brüderlichkeit, auf dem Gefühl der Einigkeit aller Herzen wird sich der moralische Zusammenschluß vollziehen. Wird sich aber eine von aller Religion unabhängige, den wissenschaftlichen Ideen der Neuzeit angepaßte Morallehre popularisieren lassen? Warum nicht, meint GUYAU? Der Altruismus, die "Idee der Großherzigkeit", diese Grundidee aller Moraltheorien, wird sich sehr wohl der Fassungskraft des niederen Volkes anbequemen. "Volles Leben blüht nur im Leben für andere" (105), Egoismus ist eine innerliche Verkleinerung. Warte nicht auf die Vergeltung im Jenseits. Der wahrhaft sittliche Mensch tut das Gute um des Guten willen. Ist das so schwer zu verstehen?
34) Das Buch ist in Frankreich in 13 starken Auflagen verbreitet, eine Ziffer, die die übrigen Werke GUYAUs nicht erreichten. England und Rußland haben bereits Übersetzungen. In Deutschland ist die "Irreligion" leider fast völlig unbekannt, während doch GUYAUs ästhetische und ethische Schriften mehrfach Beachtung gefunden haben. 35) Irreligion, Einleitung, Seite 9f 36) Irreligion, Seite 9f 37) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 87 38) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 191 39) Irreligion Seite 10 40) Irreligion Seite 11 41) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 197 42) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 197 43) Irreligion, Seite 14 44) Irreligion, Seite 11 45) Irreligion, Seite 10 46) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 78 47) Irreligion, Seite 13 48) Irreligion, Seite 10 - FRANZ STAUDINGER schreibt in seiner Besprechung der "Irreligion" (Philosophische Monatshefte, Bd. 24, Seite 588f): "Wer, durch obigen Titel verleitet, das Werk eines religionsstürmenden Materialisten vermuten wollte, fände sich gründlich enttäuscht. Was Guyau Irreligion, Religionslosigkeit nennt, ist im Grunde gar nicht das, was wir Deutsche mit diesem Namen zu bezeichnen pflegen, es ist vielmehr, was wir Konfessionslosigkeit, Freiheit der persönlichen Überzeugung nennen würden. Der Referent muß bekennen, daß er seit langem kein Buch gelesen hat, welches ihn so in innerster Seele zu ergreifen vermochte. Er fühlte sich freier, reiner, besser in dieser Gesellschaft." 49) Irreligion, Seite 19 50) Irreligion, Seite 15 51) FOUILLÈE, La morale, l'art et la relgion d'aprés Guyau, Seite 128 52) Irreligion, Seite 1 53) FOUILLÈE in der Einleitung zu seinem Buch "La science sociale contemporaine", Paris 1883 54) Irreligion, Seite 2 55) Irreligion, Seite 6 56) Irreligion, Seite 7 57) Irreligion, Seite 74 58) Revue philosophique, Dezemberheft 59) Irreligion, Seite 36. 60) ERNEST RENAN, Dialogues philosophique, Seite 39. 61) SPENCER, Prinzipien der Soziologie, Bd. I. 62) Irreligion, Seite 45 63) Irreligion, Seite 23 64) Irreligion, Seite 51. 65) Irreligion, Seite 52 66) Irreligion, Seite 53 67) Irreligion, Seite 54. 68) Irreligion, Seite 65 69) Irreligion, Seite 70 70) Irreligion, Seite 73 72) Irreligion, Seite 108 73) vgl. Kapitel III weiter unten 74) Irreligion, Seite 111. 75) Irreligion, Seite 123 76) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 193 77) Irreligion, Seite 135. 78) Irreligion, Seite 134 79) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 90 80) Irreligion, Seite 145 81) Irreligion, Seite 160 82) Irreligion, Seite 177 83) Wenn wir nicht mehr die Götter unserer Ahnen anbeten, heißt es in "Sittlichkeit ohne Pflicht" (Seite 78), Jupiter, Jahwe und Jesus, so kommt dies zum Teil daher, daß wir in mancher Beziehung sittlich unter ihnen stehen. Wir sind die Richter unserer Götter, und wenn wir sie leugnen, so tun wir oft weiter nichts, als sie sittlich verurteilen." 84) Irreligion, Seite 202. 85) Sittlichkeit ohne Pflicht, Seite 260 86) Irreligion, Seite 211 87) Irreligion, Seite 215 88) Über GUYAUs Stellung zur religiösen Erziehung vgl. Kapitel III, 6. 89) Irreligion, Seite 253 90) Irreligion, Seite 347 91) Irreligion, Seite 330 92) Irreligion, Seite 345 93) Irreligion, Seite 340. 94) Irreligion, Seite 346 95) Irreligion, Seite 351 96) Irreligion, Seite 354 97) Irreligion, Seite 350 98) Sprüche in Prosa, 907 99) Irreligion, Seite 349 100) Vgl. den Schluß dieser Studie. 101) Irreligion, Seite 350 102) Irreligion, Seite 364 103) Irreligion, Seite 382f 104) Irreligion, Seite 370. 105) Irreligion, Seite 374 106) Irreligion, Seite 377 |