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WILLIAM THIERRY PREYER
Die Entdeckung des Hypnotismus
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"Erst als der angesehene Physiologe Carpenter im Jahre 1853 in der Royal Institution in Manchester sechs Vorlesungen über die Physiologie des Nervensystems mit besonderer Rücksicht auf den Somnambulismus gehalten hatte, in denen er die Richtigkeit der von Braid gefundenen Tatsachen anerkannte, nahmen sich mehrere Ärzte der Sache an. In theoretischer Beziehung hatte die schon 1846 erschienene, noch heute ungemein interessante Schrift Die Macht des Geistes über den Körper Aufsehen erregt. Es wird darin aufgrund schlagender Experimente der große Einfluß der Phantasie auf die Wahrnehmung dargetan."

B r a i d

Wenn eine in theoretischer oder praktischer Beziehung wichtige naturwissenschaftliche Tatsache Gegenstand allgemeinen Interesses auch außerhalb der Fachkreise geworden ist und angezweifelt, entstellt, unterschätzt, überschätzt wird, dann ist es nützlich, zwecks Gewinnung eines richtigen Urteils der Geschichte ihrer Entdeckung nachzugehen. Eine solche historische Untersuchung wird geradezu gefordert durch die Art, wie neuerdings das Problem des Hypnotismus wieder auftauchte. Nur der leider jetzt weit verbreiteten Abneigung gegen das Studium der Geschichte naturwissenschaftlicher, zumal physiologischer Erkenntnisse, ist es zuzuschreiben, daß die Wiederholung öffentlicher Hypnotisierungen in genau eben der Weise wie vor dreißig und vierzig Jahren, sogar Mißhandlungen Hypnotisierter geduldet und ausgedehnte hypnotische Versuche im Laboratorium und Krankenhaus angestellt, sowie daraufhin Entdeckungen als neu veröffentlich werden konnten, die längst bekannt gewesen, aber wieder vergessen worden sind.

Doch nicht um diese letztere Behauptung zu begründen, welche auch die Wahrung der Priorität für den ersten Entdecker hinausliefe, lohnt es sich, den richtigen Sachverhalt darzustellen, sondern darum, weil es lehrreich ist zu erfahren, wie in diesem Falle entdeckt und untersucht wurde. Man erkennt dann leicht, was für eine Fülle von neuen Aufgaben für die praktische Heilkunde, die Seelenlehre, die Physiologie und die gerichtliche Mediin auf diesem Gebiet zutage tritt.

Der wahre Entdecker des Hypnotismus ist der oft genannte, wenig gelesene, viel gepriesene, arg verleumdete englische Arzt JAMES BRAID.

Wer die großen Verdienste dieses Mannes kennt, dem erscheint es ungerecht, daß immer noch keine Biographie von ihm existiert. Fest steht sein Todestag. Er starb am 25. März 1860 plötzlich in seinem Hause in Manchester und zwar - einer mündlichen Mitteilung seines Sohns, des nun auch (am 22. November 1882) verstorbenen praktischen Arztes Dr. JAMES BRAID in Burgess-Hill zufolge - im Alter von ungefähr 65 Jahren.

Er zeichnete sich schon früh als Chirurg aus und erwarb sich namentlich eine ungewöhnliche Geschicklichkeit im Operieren Schielender. Die Sicherheit und seltene Geschwindigkeit seiner Operationen, sowie seine Erfolge in der Behandlung Nervenkranker verschafften ihm eine ausgedehnte Praxis in Manchester, wo er bis an des Ende seines tätigen Lebens in allen Kreisen zahlreiche Verehrer, aber auch viele Gegner und, wie es scheint, nicht die geringste Anerkennung fand.

Seine ersten Schriften behandeln chirurgische Gegenstände, vom Jahre 1841 an aber fast ausschließlich den Hypnotismus und damit Zusammenhängendes. Auch hielt er von dieser Zeit an darüber öffentliche Vorträge in Manchester, Rochdale und Liverpool und versetzte viele von seinen Zuhörern auf deren Wunsch in den hypnotischen Zustand. Er zog sich hierdurch heftige Angriffe zu und schrieb, um sie abzuwehren, 1842 ein fulminantes Pamphlet gegen einen Geistlichen, der behauptet hatte, er beschränke sich bei der neuen Art zu "magnetisieren" auf seine Dienstboten oder eigens gemietete Patientinnen. Die Widerlegung solcher Insinuationen [Unterstellungen - wp] war vollkommen. Er fand jedoch in den vierziger Jahren nur wenige Anhänger unter den Ärzten, obwohl man viel von ihm sprach. Erst als der angesehene Physiologe CARPENTER im Jahre 1853 in der Royal Institution in Manchester sechs Vorlesungen über die Physiologie des Nervensystems mit besonderer Rücksicht auf den Somnambulismus gehalten hatte, in denen er die Richtigkeit der von BRAID gefundenen Tatsachen anerkannte, nahmen sich mehrere Ärzte der Sache an. In theoretischer Beziehung hatte die schon 1846 erschienene, noch heute ungemein interessante Schrift "Die Macht des Geistes über den Körper" Aufsehen erregt. Es wird darin aufgrund schlagender Experimente der große Einfluß der Phantasie auf die Wahrnehmung und die Unhaltbarkeit der REICHENBACHschen Od-Lehre dargetan, sofern sie als Stütze eines tierischen Magnetismus dienen sollte. BRAIDs Hauptwerk ist aber sein  Neurohypnotismus,  welche 1843 erschien und durch die Mehrzahl der späteren Arbeiten nur ergänzt, wenig erweitert und nicht wesentlich modifiziert wird. Denn auch sein 1852 in dritter Auflage erschienenes Buch über "Magie, Hexerei, animalen Magnetismus, Hypnotismus und Elektro-Biologie" bringt sachlich wenig Neues. Dasselbe gilt von der trefflichen Abhandlung über "Elektro-Biologie" (1885). Die 1853 erschienenen Aufsätze über "Hypnotische Therapie" und über die wahre Ursache des Tischrückens und Geisterklopfens, sowie die 1855 publizierten Broschüren über "Die Physiologie der Faszination" und über die "Behandlung gewisser Lähmungen" enthalten viele wichtige Tatsachen über hypnotische Heilerfolge und gute natürliche Erklärungen einiger jetzt als spiritistisch bezeichneten Erscheinungen. Endlich schrieb BRAID - außer mehreren kleineren Mitteilungen in medizinischen Zeitschriften - noch über den Scheintod und den Zustand der Verzückung und Katalepsie indischer Fanatiker (Yogins), die er zum Teil mit Recht für Autohypnotiker erklärt.

Die genannten Werke bilden die Grundlage der folgenden Mitteilungen, welche mit der größten Sorgfalt so abgefaßt sind, daß nicht das Geringste aus späterer Zeit aus den Originalarbeiten BRAIDs herausgelesen wurde, nichts ihm zugeschrieben wird, was nicht durch seine veröffentlichten Schriften beurkundet ist.

Wer die neueste hypnotische Literatur, nicht aber BRAID kennt, wird erstaunt sein, zu erfahren, wieviele Tatsachen dieser geniale Mann entdeckte, die wieder entdeckt worden sind, wie richtig viele seiner Anschauungen waren, welche gleichfalls als neu gegenwärtig wieder selbständig Denkenden sich darboten und was für ein reiches psychologisches und physiologisches Material er seinen Nachfolgern hinterlassen hat. Es ist endlich die Zeit gekommen, ihm die wohlverdiente Anerkennung nicht länger vorzuenthalten und erfreulich, daß auch in England BRAIDs Ansehen wieder steigt. Eine Gesamtausgabe seiner Werke fehlt zwar, aber deutsche Übersetzungen der wichtigeren Schriften sind erschienen. Man ma wie immer über die Glaubwürdigkeit ihres Verfassers urteilen, sie gehören jedenfalls zu den interessantesten Abhandlungen, welche jemals über den Menschen geschrieben worden sind. Einzelne machen einen tiefen Eindruck auf den Leser, dem es um Menschenkenntnis zu tun ist, auch wenn ihr wissenschaftlicher Wert nicht in Anschlag gebracht wird.

Ich kann diesen wissenschaftlichen Wert nicht allen seinen Arbeiten zuerkennen, durchaus nicht alle seine tatsächlichen physiologischen Angaben trotz einer ziemlich umfangreichen eigenen Erfahrung bestätigen und über die (von BRAID als das Wichtigste bezeichnete) Anwendung des Hypnotismus zur Heilung von Krankheiten, sowie über das Gegenteil: seine krankmachende Wirkung, steht das Urteil der praktischen Ärzte noch aus, aber es ist im ganzen so viel bestätigt und so wenig widerlegt worden, daß das Übrige nicht, weil es unwahrscheinlich klingt, als unrichtig unbeachtet bleiben darf.

"Kein selbständig denkender Mann kann gezwungen werden etwas für wahr zu halten: man muß an seinen Verstand appellieren und, was er einwendet, ruhig erwägen," so lautet BRAIDs Motto für seine große Streitschrift 1852.


Was heißt Hypnotismus?

Das Wort Hypnotismus bezeichnet einen nervösen Schlaf, d. h. einen  eigentümlichen Zustand des Nervensystems, welcher künstlich herbeigeführt werden kann durch anhaltendes gespanntes Richten der Aufmerksamkeit, besonders des Blickes, auf einen Gegenstand von nicht aufregender Beschaffenheit. 

Und zwar bedeutet
     hypnotisieren  das Herbeiführen jenes Zustandes,
     dehypnotisieren  das Unterbrechen desselben.
So erklärt BRAID 1838 die von ihm erfundenen und eingeführten Ausdrücke und fügt erläuternd hinzu: "Streng genommen bezeichnet Hypnotismus nicht  einen  Zustand, sondern eine Reihe von Zuständen, die in jeder erdenklichen Weise variieren zwischen einerseits bloßer Träumerei und tiefem Koma, mit völliger Aufhebung des Selbstbewußtseins und der Willenskraft, andererseits einer fast unglaublichen Exaltation [Aufgeregtheit - wp] der Funktionen der einzelnen Sinnesorgane, der intellektuellen Fähigkeiten und der Willenskraft. Die Erscheinungen sind teils geistiger Natur, teils körperlich - willkürlich, unwillkürlich oder gemischt, je nach Stadium des Schlafes." Die völlige Aufhebung des Bewußtseins und Willens ist nicht notwendig mit dem Hypnotismus verbunden. Selbstbewußtsein und Wille schwinden aber völlig in der  tiefen  Hypnose.

Eine genauere Abgrenzung der unter den Begriff des Hypnotismus fallenden Zustände sollte in einem besonderen Werk gegeben werden, das BRAID "Psychophysiologie" nennen wollte. Mit diesem Wort gedachte er die neue Lehre von den wechselseitigen Wirkungen des Geistes und Körpers aufeinander zu bezeichnen. Das Buch ist aber nicht erschienen, wie noch eine andere von dem durch seine Praxis zu sehr in Anspruch genommenen Arzt geplante Schrift, nämlich eine oft angekündigte zweite, völlig umgearbeitet und vermehrte Auflage des Neurohypnotismus, welche aber nicht über den Vorsatz, sie zu schreiben, hinauskam.


Braids erste Entdeckungen

Anfangs war BRAID der Meinung, daß der ganze Mesmerismus oder sogenannte animalische Magnetismus auf Täuschung, heimlichem Einverständnis, erregter Einbildungskraft, Zuneigung, Nachahmung beruhe. Die erste "magnetische" Sitzung, welcher er, dem Wunsch einiger Freunde nachgehend - am 13. November 1841 - beiwohnte, bestärkte ihn in dieser vorgefaßten Meinung. In der zweiten erregte aber  das Unvermögen der Patienten ihre Augen offen zu halten,  seine Aufmerksamkeit. Die Tatsache beschäftigte ihn, und er suchte ihre Ursache aufzufinden. Am folgenden Abend schon gewann er die Überzeugung, sie entdeckt zu haben, sprach aber nicht davon in der Absicht, sie durch eigene Experimente und Beobachtungen zu prüfen.

Nach zwei Tagen experimentierte er in Gegenwart einiger Freunde, um ihnen die Richtigkeit seiner "Theorie" zu beweisen, daß nämlich  das anhaltende aufmerksame Starren  die fragliche Erscheinung zur Folge habe, indem durch dasselbe  die zum Auge gehörigen Nervenzentren mit ihren Annexen gelähmt  würden und so  das Gleichgewicht des Nervensystems gestört  würde.

Zunächst sollte gezeigt werden, daß das Unvermögen, die Augen offen zu halten, durch Lähmung des Hebers des Augenlids zustande komme, der während des langen Starrens ununterbrochen tätig war.

Ein junger Mann war in sitzender Stellung in BRAIDs Zimmer wurde daher ersucht, starr die Mündung einer Weinflasche zu fixieren, welche so hoch und so nah gestellt war, daß es eine beträchtliche Anstrengung der inneren geraden Augenmuskeln und Augenlidheber erforderte, sie stetig anzusehen. Nach drei Minuten senkten sich die Lider, ein Tränenstrom lief über die Wangen, sein Kopf neigte sich, sein Gesicht verzerrte sich etwas, er stöhnte und verfiel sogleich in einen tiefen Schlaf, wobei sich die Atmung verlangsamte, vertiefte und pfeifend wurde, während rechts Arm und Hand leichte krampfhafte Bewegungen machten. Nach vier Minuten wurde daher der Versuch abgebrochen.

Es muß hierbei besonders bemerkt werden, daß der Patient versicherte, sich die größte Mühe gegeben zu haben, seine Augen offen zu halten, also auch nicht zu blinzeln und zu zwinkern.

Die Besorgnis dieses jungen Mannes, nachdem er geweckt worden war, setzte die Gattin BRAIDs in großes Erstaunen. Sie war überrascht, ihn aufgeregt zu sehen, denn sie hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und ihr Gemahl war nicht in seiner Nähe gewesen; er hatte ihn in keiner Weise berührt. Sie erklärte, so leicht werde sie nicht affiziert werden.

Nun wurde sie ersucht, sitzend die Verzierung einer Porzellanschale zu fixieren, welche in derselben Höhe wie die Flasche angebracht war. Nach 2 Minuten veränderterter Gesichtsausdruck; nach 2 ½ Minuten krampfhafter Lidschluß, Verzerrung des Mundes und ein tiefer Seufzer. Sie fiel und stand offenbar im Begriff, in einen hysterischen Paroxysmus [wiederholter Anfall - wp] zu geraten; man weckte sie deshalb in diesem Augenblick. Der Puls war auf 180 in der Minute gestiegen.

Jetzt rief man den Hausdiener, welcher vom Mesmerismus nichts wußte und sagte ihm, seine angespannte Aufmerksamkeit sei erforderlich, um ein chemisches Experiment anzustellen, zwecks Bereitung einer Arznei. Damit vertraut, konnte er keinen Argwohn haben. Er hatte nur unverrückt die Flaschenmündung zu fixieren. Nach 2 ½ Minuten senkten sich seine Augenlider langsam und zwar vibrierend, das Kinn fiel auf die Brust, er seufzte einmal tief auf und war dann in festen Schlaf versunken, dabei geräuschvoll atmend. Alle Anwesenden fingen in diesem Augenblick plötzlich an zu lachen, doch wurde er dadurch nicht geweckt. Nach etwa einer Minute des tiefen Schlafes wurde er aber absichtlich geweckt, wegen seiner Nachlässigkeit gescholten, da er nicht einmal 3 Minuten lang den ihm erteilten Vorschriften Folge leisten könne und fortgeschickt. Bald darauf ward der junge Mann wieder gerufen. Er mußte sich setzen und es wurde ihm wiederum eingeschärft, acht zu geben und nicht einzuschlafen. Er äußerte die Absicht, aber nach 2 ½ Minuten schlossen sich die Augen und dieselben Erscheinungen traten wieder auf.

Auch der erstgeprüfte junge Mann verfiel beim zweiten Versuch, indem er einen anderen Gegenstand anstarrte, in denselben Zustand. Dasselbe geschah, als BRAID ihn wie die Magnetiseure an beiden Daumen hielt und ihn seine Augen ansehen ließ, endlich auch ohne Festhalten der Daumen und ohne alle Berührung allein nach Anstarren der Augen des Operateurs.

Nach diesen überraschenden Erfolgen sprach BRAID seine Überzeugung dahin aus, daß  eine Störung des Gleichgewichts der Zentren im Gehirn und Rückenmark und der Herztätigkeit und Atmung sowie der Muskeltätigkeit vorhanden sei, welche herbeigeführt werde durch anhaltendes Starren und absolute Ruhe, vor allem durch angespannte Aufmerksamkeit; die herabgesetzte Atmung gehe mit jener Anspannung der Aufmerksamkeit zusammen. 

Er erklärte bereits damals - Ende 1841 - bestimmt, daß  alles vom physischen und psychischen Zustand des Patienten abhängt, nicht vom Willen oder dem Streichen des Operateurs,  der durchaus nicht ein magnetisches Fluidum abgebe oder irgene ein mystisches Universal-Fluidum oder -Medium in Bewegung setze.

Doch ist er nicht der erste, welcher behauptete, Berührungen seien zum Hervorrufen der Erscheinungen des Mesmerismus unnötig. Vielmehr teilte er selbst in einem Vortrag mit, daß MESMER die Bäume in FRANKLINs Garten magnetisiert habe, um der akademischen Kommission im Jahre 1784 in Paris zu beweisen, daß die Patienten affiziert werden würden, wenn sie sich unter jene Bäume begäben. Also hielt nicht einmal MESMER den persönlichen unmittelbaren Einfluß, geschweige denn die Berührung für nötig. Aber das magnetische Fluidum hielt er auch dann noch für wesentlich, als die Patienten unter den nicht magnetisierten Bäumen affiziert wurden und sich nicht unter den magnetisierten verändert zeigten, wenn sie nicht  wußten,  welche Bäume mesmerisiert worden waren.

Nichtsdestoweniger hielt BRAID die durch sein Verfahren bewirkten Zustände lange Zeit für identisch mit den durch Mesmerisieren bewirkten. Es schien ihm wahrscheinlich, daß die Fixierung der Aufmerksamkeit und des Blickes gelegentlich während der einförmigen Bewegungen der Magnetiseure eintrete, so daß dieselben manchmal, gewissermaßen zufällig, Erfolg hätten.

Es gibt jedoch so große Unterschiede zwischen dem neuen so hervorgerufenen hypnotischen Zustand, welcher später passend  Braidismus  genannt wurde und den von MESMER hervorgerufenen mannigfaltigen Erscheinungen, daß man beide durchaus voneinander trennen mußte. Namentlich fehlen dem Braidismus eine Anzahl von angeblichen Erscheinungen des Mesmerismus, welche sich trotz vieler Versuche unter keinen Umständen hervorrufen ließen. Dahin gehören
    das Erkennen der Zeiger einer Taschenuhr, welche sich hinter dem Kopf oder auf der Magengrube befindet,

    das Lesen verschlossener Briefe oder Bücher,

    das Wahrnehmen von Dingen in meilenweiter Entfernung,

    das Erkennen und Heilen von Krankheiten seitens unmedizinischer Individuen,

    das Beeinflussen von Patienten in meilenweiter Entfernung, ohne daß dieselben von beabsichtigten Versuchen wissen oder an solche glauben.
Nicht eine von diesen Behauptungen der Mesmeristen hat sich vor wissenschaftlichen Kritikern tatsächlich begründen lassen. Der nüchterne Beobachter BRAID erklärt, er habe trotz vieler Bemühungen niemals einen Anhaltspunkt für die Richtigkeit des sogenannten mesmerischen Hellsehens oder der Clairvoyance [Hellsicht - wp] der Marquis de PUYSÉGUR gewinnen können.

Der Hauptunterschied zwischen seinem Verfahren und dem von MESMER besteht aber darin, daß ersteres ohne den Magnetiseur sehr oft und leicht, letzteres selbst mit demselben verhältnismäßig selten den vorhergesagten Erfolg herbeiführt.

Außerdem verfuhr BRAID im Gegensatz zu den Magnetiseuren mit der größten Kritik, um sich gegen Täuschungen zu sichern. Er ließ die ungläubigsten und skeptischsten Individuen, Fachgenossen und andere Männer der Wissenschaft, alles seine Experimente nach allen Richtungen prüfen. Er bewog einige seiner intelligentesten und angesehensten Freunde, sich selbst den Versuchen zu unterwerfen und teilte dieselben nach zwei Jahren in seinem Buch einem größeren Publikum mit, namentlich seinen Kollegen, den Ärzten, vom Wunsch erfüllt, sie möchten den Gegenstand vorurteilsfrei weiter untersuchen.

Er verwahrt sich dagegen, eine definitive Erklärung aufzustellen, ist willig, seine Ansichten zu ändern, auch in Bezug auf das Hellsehen, sowie er eines besseren belehrt wird, verlangt nur, daß bei der Prüfung seiner Angaben einzig seine Art zu verfahren, wenn seine Resultate erzielt werden sollen, angewendet werde.

Ferner protestiert BRAID gegen die Behandlung aller möglichen Krankheiten mittels seiner Methode, nur bei einigen sei sie geeignet, günstig zu wirken. Er selbst wendete sie nur bei der Minderzahl seiner Patienten an. Ohne Rücksicht auf den vielseitigen Widerspruch teilt er seine eigenen Erfahrungen in schlichter Sprache so mit, wie er sie erlebte, selbst dann, wenn sie für unmöglich oder unglaublich gehalten wurden, weil er sich durch alle Mittel, über die er verfügte, vergewisserte, daß er von seinen Patienten nicht hintergangen worden sei. Diese feste Überzeugung, welche dem Leser in jeder Zeile seiner Schriften entgegentritt, macht dieselben außerordentlich anziehend. Wer aber nur liest und sich erzählen läßt, kann sich kein richtiges Urteil bilden. Man muß selbst die Erscheinungen wahrgenommen haben, um zu begreifen, daß es sich um eine Reihe der wichtigsten physiologischen, psychologischen und medizinischen Tatsachen, nicht um Täuschungen handelt.

Der hypnotische Zustand ist jedoch so schwierig zu untersuchen, er weicht so ab von den gewöhnlichen Zuständen des Körpers und des Geistes, daß nur wer ganz frei von vorgefaßten Meinungen den subtieln Gegenstand prüft, richtige und klare Vorstellungen davon gewinnen kann.


Braids Methode

Man nehme einen glänzenden Gegenstand zwischen Daumen und Zeige- und Mittelfinger der linken Hand, halte ihn acht bis fünfzehn Zoll vor den Augen in einer solchen Höhe, daß die  größtmögliche Anstrengung der Augenmuskeln und Lider  erforderlich wird, wenn der Patient  ruhig und anhaltend das Objekt fixiert.  Er muß auch fortwährend an das Objekt  denken. 

Anfangs wurde den Patienten ein Kork auf die Stirn gebunden und von ihnen angeschaut. Dieses Verfahren erwies sich sehr wirksam bei solchen, welche  mit beiden Augen  ruhig fixieren konnten. Viele aber vermochten nicht mit beiden Augen zugleich ein so nahes Objekt zu fixieren. Solche Patienten wurden nicht hypnotisch, während die Betrachtung des etwas ferneren Gegenstandes, wenn auch nicht so schnell und so intensiv, häufiger hypnotisierend wirkte und daher allgemein adoptiert wurde.

Nur wenige können, wie ich finde, 10 Minuten lang regungslos mit beiden Augen die eigene Nasenspitze fixieren. In einem exquisiten Fall der Art erschien nach Ablauf der ersten Minuten ein ganz runder dunkelgrauer Fleck gerade an der Nasenspitze, das negative Nachbild derselben. Dieses Verfahren der Hindu habe ich überhaupt nicht oft wirksam gefunden. Übrigens kommt sehr wenig auf die Beschaffenheit des Objekts an.

Durch die Konvergenz der Blicklinien tritt nun zunächst eine Verengung der Pupillen ein, bald aber eine Erweiterung derselben. Wenn letztere einen hohen Grad erreicht hat und die Pupillenweite auf und ab schwankt, dann wird häufig Lidschluß eintreten, wenn Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, ausgestreckt und ein wenig voneinander getrennt, vom Objekt gegen die Augen bewegt werden. Der Lidschluß geschieht dann unwillkürlich und zitternd. Ist es nicht der Fall oder bewegt der Patient seine Augen, dann hat er noch einmal anzufangen und es wird ihm zu verstehen gegeben, daß er die Augenlider senken darf, wenn abermals die Finger des Operateurs gegen seine Augen bewegt werden, daß aber  die Augäpfel in derselben Stellung festbleiben müssen  und sich die Aufmerksamkeit mit keiner anderen Vorstellung, als der des über den Augen gehaltenen Gegenstandes befassen darf. Dann schließen sich meistens die Lider. Nach 10 bis 15 Sekunden findet man oft, daß der Patient, wenn man seine Arme oder Beine hebt, geneigt scheint, sie in der Stellung zu halten, in welche sie gebracht worden ist, falls er stark affiziert ist; dann ist hypnotische Katalepsie [Muskelstarre - wp] eingetreten. Das eigentümliche Vibrieren der Lider habe ich nicht jedesmal eintreten gesehen. Es fehlt bekanntlich beim gewöhnlichen Einschlafen; öfters sah ich die Katalepsie fast unmittelbar nach eingetretenem Lidschluß bei solchen, die mehrmals hypnotisiert wurden und "stark affiziert" waren, sich wie auf einen Schlag einstellen.

Läßt man die Patienten einen Gegenstand so lange ansehen, bis die Augen sich unwillkürlich schließen, dann empfinden sie oft einen  Schmerz  in den Augäpfeln und es kann eine leichte Entzündung der Bindehaut eintreten. Um letztere zu vermeiden, wurden daher die Augen mit den Fingern geschlossen nach eingetretener Pupillenerweiterung. In diesem Falle kann der Patient sie auch längere Zeit nachher wieder öffnen. Die Entzündung der Bindehaut verschwindet bald nach der Anwendung kalten Wassers. Der Schmerz im Augapfel und das "Brennen" in seiner Umgebung sind zwar sehr häufig, dauern aber nach Beendigung des Versuchs fort.

In welcher Richtung der Blick fixiert gehalten wird, ist zwar für das Zustandekommen der Hypnose gleichgültig; sie tritt aber am langsamsten ein, wenn man geradeaus starrt, am schnellsten und intensivsten, wenn  mit beiden Augen zugleich nach innen und oben geblickt  wird. Man darf dabei den Kopf nicht rückwärts neigen, wie es bei den von mir beobachteten Individuen anfangs in der Regel geschah, weil dadurch die Anstrengung erheblich geringer wird und es vor allem auf Herbeiführung einer lokalen Ermüdung oder Erschöpfung in kurzer Zeit ankommt.

Die Empfindungen, welche eintreten, wenn man irgendeinem eigenen Körperteil anhaltend seine ganze Aufmerksamkeit zuwendet, sind nicht mit denen der Hypnose zu velwechsern. Aber die Konzentration der Aufmerksamkeit allein ist, und zwar auch bei  Blinden,  imstande, Hypnose herbeizuführen, worauf BRAID mit Recht großes Gewicht legte. Die Aufmerksamkeit muß nur bei geschlossenen Augen auf irgendeinen eingebildeten Gegenstand oder eine Vorstellung anhaltend gerichtet sein.

"Nachdem den schon von vornherein sehr empfänglichen Individuen die Impressionabilität [Beeindruckbarkeit - wp] eingeprägt worden ist, werden sie geneigt, allein schon durch psychische Einwirkung, Glauben und Gewohnheit affiziert zu werden - d. h. sie werden hypnotisch durch irgendeinen sichtbaren Vorgang, von dem sie glauben, er habe den Zweck und das Vermögen, den Effekt hervorzubringen oder sogar, wo gar kein Prozeß vor sich geht, wenn sie sich nur einbilden, in der Ferne geschehe etwas, das sie in den Schlafzustand versetzt. Sie werden dann durch die bloße Kraft dieses geistigen Vorgangs und Glaubens affiziert. Hierin scheint eine große Fehlerquelle zu liegen für viele, die behaupten, sie vermöchten Patienten in der Ferne zu beeinflußen durch den bloßen Willen oder verborgenes Streichen, indem gelegentlich Koinzidenzen von ihnen zu einem positiven Gesetz erhoben werden."

Eine ungewöhnlich lange Dauer oder Wiederholung desselben Eindrucks auf irgendein Sinnesorgan, außer dem Auge, kann nur dann Hypnose hervorrufen, wenn die Patienten schon  vorher  hypnotisiert gewesen sind. Andernfalls tritt nur gewöhnlicher Schlaf ein, wie nach einem Langeweile verursachenden bis zu einer Stunde fortgesetzten Streichen mancher Magnetiseure. Hypnose entsteht nach wenigen Minuten,  im Dunkeln wie bei Tag oder bei Gaslicht, bei verbundenen oder offenen Augen,  wenn nur die Augen unverrückt in fester Stellung bleiben, der Körper völlig ruht und die Aufmerksamkeit durch nichts anderes in Anspruch genommen wird.

Ein partielles Dehypnotisieren, eine plötzliche lokale Änderung, wie Kontraktion ruhender und Entspannung kontrahierter Muskeln, kann schon durch einen Luftzug, der gegen die zu beeinflußenden Teile gerichtet ist, herbeigeführt werden.

Ein starker  Luftzug gegen das Gesicht  aber hebt die Hypnose überhaupt auf, gleichviel von wem er, sei es durch Blasen mittels der Lippen oder mittels eines Blasebalgs, sei es durch eine Handbewegung oder sonst wie mittels unbelebter Objekte hervorgebracht wird. Auch ich habe das Anblasen jedesmal sofort wirksam gefunden, indem es bei tiefster Hypnose Erwachen herbeiführte und das "verdutzte" Gedicht nebst der einmaligen Kopfzuckung zur Folge hatte. Übrigens bewirkt Anblasen schon bei Säuglingen stärkere Reflexe und Abwehrbewegungen, als andere periphere Hautreize von viel größerer Intensität, vielleicht weil die  Zahl  der gleichzeitig erregten Nervenfaser-Enden sehr groß ist.

Händeklatschen,  ein starke  Schlag  mit der Hand auf den Arm oder das Bein, ein  Druck auf die Augenlider oder Reiben  derselben dient ebenfalls zum Dehypnotisieren, welches immer dann schleunigst vorwegzunehmen ist, wenn die Atmung sehr erschwert, das Gesicht stark gerötet, die Muskelsteifheit exzessi, die Herztätigkeit sehr beschleunigt und tumultarisch geworden ist.  Unwissende dürfen daher nicht mit hypnotischen Experimenten sich unterhalten.  BRAID selbst hat jedoch niemals Schwierigkeiten beim Erwecken seiner zahlreichen Patienten gefunden; ich desgleichen nicht ein einziges Mal bei den meinigen.

Bezüglich des partiellen Dehypnotisierens ist noch zu bemerken, daß zwar ein plötzlicher Schlag oder Stoß auf einen gespannten Muskel den steifen Teil dehypnotisiert, aber ein Druck auf die Nase den Geruchssinn nicht wieder herstellt, wenn er nicht sehr sanft und anhaltend ist. Ein Andrücken des Taschentuchs gegen das Ohr hebt die eingetretene Schwerhörigkeit nicht auf und sanfte Reibung der Haut macht diese nicht wieder empfindlich, stellt auch die Beweglichkeit der darunterliegenden steifen Muskeln nicht wieder her - es sei denn das Reiben ein Kitzeln - und dennoch bringt ein einziges Anblasen augenblicklich den ganzen Organismus in einen Zustand gesteigerter Sensibilität und Motilität [Beweglichkeit - wp].

Ebenso wie man nach dem beschriebenen Verfahren andere hypnotisieren und wecken kann, ist es möglich, sich selbst ganz allein zu hypnotisieren und  auf Verlangen  zu dehypnotisieren, z. B. durch die Aufforderung, sich die Augen zu reiben. Jedoch ist kein Fall bekannt geworden von einem Patienten, welcher in tiefer Hypnose befindlich  ohne Assistenz  sich selbst geweckt hätte, es sei denn zufällig, indem z. B. der gegen den Kopf gerichtete Arm starr wird und einen Druck ausübt auf die Kopfhaut.

Durch besondere Versuche wurden von BRAID festgestellt, daß eine Verbindung zweier Patienten durch eine Schnur oder einen Kupferdraht, wenn sie sich nicht sehen können, in keiner Weise es ermöglicht, durch Einwirkungen auf den einen, den anderen zu beeinflußen. Es geht eben nichts über vom Operateur auf den zu hypnotisierenden und nichts von diesem auf einen anderen.

Daß hingegen zwei Individuen sich gegenseitig zu gleicher Zeit hypnotisieren können, erscheint nach dem vorigen nicht auffallend. Ist es doch vorgekommen, daß  der Operateur  durch starres Ansehen der Augen seines Patienten  ohne es zu wissen sich selbst hypnotisierte,  während BRAID im Nebenzimmer sich befand und der Patient wach blieb.

Ähnliches kommt in Krankheiten vor, daß nämlich  der Kranke, ohne es zu wollen und ohne vom Hypnotismus etwas zu wissen, sich hypnotisiert,  indem er starrt. Mir ist nur  ein  derartiger Fall bekannt geworden.

Möglicherweise versetzten sich auch manche religiöse Enthusiasten, wie die Mönche vom Berg Athos und die Säulenheiligen, in den hypnotischen Zustand. Nachgewiesenermaßen ist es der Fal bei den Yogins in Indien.

Der "religiöse Autosomnambulismus" der Hesychasten [antike Gelassenheitsmönche - wp] der Quietisten u. a. Sekten war darum wahrscheinlich ein hypnotischer Zustand, weil er durch völlige Ruhe ("Abtötung" gegen die Außenwelt) und durch Konzentration der Aufmerksamkeit (z. B. Anstarren des Nabels bie den Omphalopsychikern [Nabelbetrachter - wp], wohl auch des an die Nase gehaltenen Zeigefingers bei den Taskodrugiten [die stundenlang den Zeigefinger an die Nase halten - wp] herbeigeführt wurde. Den theologischen Quellen kann ich freilich für diese Vermutung nicht viel Tatsächliches entnehmen. Die Derwische, deren Übungen ich in Ägypten beiwohnte, versetzen sich in ekstatische oder hypnoide Zustände, indem sie unter pendelnden Kopfbewegungen bis zur Besinnungslosigkeit "Allah" rufen. Die Wirkungen solcher Übungen verdienen eine genaue Untersuchung.

LITERATUR - William Thierry Preyer, Die Entdeckung des Hypnotismus, Berlin 1889