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CARL EBERHARD FUCHS
Die Philosophie Victor Cousins

"Das Prinzip, welches der ganzen geistigen Bewegung des 18. Jahrhunderts zugrunde lag, war das Prinzip der freien Subjektivität. Das Selbstbewußtsein sagte sich los von aller Autorität und machte gegen Staat und Kirches seine Freiheit mit derselben Gewaltsamkeit geltend, mit welcher dieselbe von beiden Seiten her unterdrückt worden war."

"Die Tendenz der französischen Aufklärung war, die ganze Welt der hergebrachten Vorstellungen und Institutionen im kirchlichen und politischen Leben zu vernichten und nach ihrer völligen Destruktion nichts übrig zu lassen, als das einfache Natürliche. Nur das Natürliche soll als das Wahre gelten. Dem Glauben stellt sich der natürliche Verstand der positiven Religion eine natürliche Religion gegenüber, die abstrakte Moral der katholischen Kirche wird ersetzt durch eine Moral der natürlichen Triebe und Gefühle, an die Stelle der positiven Rechte treten die natürlichen Menschenrechte. Die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts ist ein vollendeter Naturalismus."


E i n l e i t u n g

Die französische Philosophie vor Victor Cousin

Ein philosophisches System kann nur dann richtig verstanden und nach seiner wahren Bedeutung gewürdigt werden, wenn es im Zusammenhang mit seinen näheren oder entfernteren historischen Voraussetzungen aufgefaßt wird. Dies folgt unmittelbar aus einem richtigen Begriff der Geschichte der Philosophie Dieselbe ist ja nicht eine bloß chronologische Aufeinanderfolge isolierter Erscheinungen, sondern ein nach immanenten Gesetzen sich vollziehende, und bestimmte, innerlich notwendige Entwicklungsformen durchlaufender Prozeß des denkenden Geistes. Wie daher derjenige, welcher die Geschichte der Philosophie im Ganzen oder einen größeren Abschnitt derselben bearbeitet, die Aufgabe hat, dem inneren Zusammenhang nachzugehen, welcher die sukzessiven Systeme untereinander verknüpft, so wird auch eine bloße Monographie sich nicht damit begnügen dürfen, das System, mit welchem sie sich beschäftigt, nur in abstracto und losgerissen von dem Entwicklungskreis, welchem es angehört, zu betrachten; sie wird vielmehr erst dann dasselbe in sein rechtes Licht zu setzen imstande sein, wenn sie zugleich auf diejenige Stelle reflektiert, nach welcher es sich als integrierendes Glieder einer größeren Kette darstellt, wenn sie die Momente bestimmt, durch welche es teils aus der früheren Geschichte resultiert, teils wiederum auf eigene, selbständige Weise in die Bewegung eingreift. Diese Betrachtungsweise gibt den richtigen Maßstab an die Hand für die Beurteilung des betreffenden Systems, welches seinen Wert und seine Bedeutung eben dadurch erhält, daß es die genannte Stellung zur geschichtlichen Entwicklung einnimmt.

Gehörte die COUSINsche Philosophie bereits der Vergangenheit an, so wäre unsere Aufgabe keine andere, als die so eben bezeichnet: Darstellung und Würdigung dieser Philosophie nach dem rein historischen Gesichtspunkt. Die Frage nach dem Wert derselben, für sich betrachtet, käme für uns weniger in Betracht; wir überließen die Antwort hierauf der Geschichte. Je näher sie jedoch der Gegenwart ist, desto mehr nimmt sie zugleich unser kritisches Interesse in Anspruch. Schon ihre Gleichzeitigkeit mit der neueren deutschen Philosophie müßte uns veranlassen, zwischen beiden Vergleiche anzustellen. Noch mehr aber fordert sie selbst durch die Art und Weise, wie sie sich der deutschen Philosophie gegenüber gebärdet, und durch die Prätentionen, mit welchen sie auftritt, die Kritik heraus. es ist ihr nicht genug, sich eine epochemachende Bedeutung für Frankreich zuzuschreiben, sie macht auch Anspruch auf universalhistorische Wichtigkeit; sie wie  die Philosophie ansich,  die absolute Philosophie sein. Frankreich soll sich nicht mehr im Gefolge der philosophischen Bewegung Europas befinden, sondern durch COUSIN an die Spitze derselben gestellt werden und dgl. Wenn eine Philosophie solche Vorzüge besitzt, so verdient sie gewiß eine genauere Prüfung. Je glänzender ihre Verheißungen sind, desto mehr sind wir selbst an der Frage interessiert, ob sie dieselben auch wirklich erfüllt habe. Dies kann nicht mehr auf bloß historischem, sondern muß auf dem Weg einer philosophischen Kritik entschieden werden. - Unser Geschäft bei der Behandlung der COUSINschen Philosophie ist also ein  historisches  und ein  kritisches. 

Die Frage nach dem geschichtlichen Moment der COUSINschen Philosophie weist uns in das achtzehnte Jahrhundert zurück. Soll ihr eine wirkliche Bedeutung für die Fortbildung der französischen Philosophie zukommen, so wird dieselbe vorzugsweise darin bestehen müssen, daß durch sie ein wesentlicher Fortschritt über das letzte bedeutende Stadium der französischen Philosophie hinaus begründet worden sei. Dieses Stadium ist die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts; an sie haben wir also anzuknüpfen.

Ebenso notwendig ist es ferner, die weitere Entwicklung der französischen Philosophie bis zu dem Punkt, an welchem COUSIN eingreift, in den Bereich unserer Untersuchung zu ziehen. Auf der einen Seite schließt er sich unmittelbar an seine Vorgänger an, auf der anderen nimmt er Elemente der schottischen und deutschen Philosophie in sein System auf. Wie verhält sich das Ausländische zum Inländischen? Schließt es sich auf organische Weise an irgendeine Seite der französischen Philosophie an, oder ist es ihr nur von außen aufgedrungen? Diese und ähnliche Fragen, die sich uns aufdrängen werden, lassen sich nur dann zur Entscheidung bringen, wenn wir mit den Vorgängern COUSINs nähere Bekanntschaft gemacht haben werden.


Die Philosophie des 18. Jahrhunderts

Die Philosophie der Aufklärung wird in ihrem eigenen Heimatland auf die einseitigste Weise aufgefaßt. Sie ist recht eigentlich zur wächsernen Nase geworden, welcher man je nach dem besonderen Geschmack und Bedürfnis jede mögliche Form und Richtung gibt. Der Eine nennt sie einen rohen Sensualismus, ein Anderer findet in ihr den sublimsten Idealismus, ein Dritter identifiziert sie mit dem Spinozismus, ein Vierter mit der HEGELschen Philosophie; Andere noch anders. Je unbestimmter und schwankender auf der einen Seite die Begriffe sind, die man sich von derselben bildet, und je größer auf der anderen die Bedeutung ist, welche sie für die richtige Beurteilung der COUSINschen Philosophie hat, desto notwendiger ist es, hier dieselbe nach ihren Hauptmomenten zu fixieren und nach ihrem prinzipiellen Charakter zu bestimmen.

Das Prinzip, welches der ganzen geistigen Bewegung des 18. Jahrhunderts zugrunde lag, war das  Prinzip der freien Subjektivität.  Das Selbstbewußtsein sagte sich los von aller Autorität und machte gegen Staat und Kirches seine Freiheit mit derselben Gewaltsamkeit geltend, mit welcher dieselbe von beiden Seiten her unterdrückt worden war. Aus der BAYLEschen Ironie wurde Ernst; der PASCALsche Skeptizismus schritt zur Selbstgewißheit des Subjekts fort; das  Cogito ergo sum,  welches fast spurlos an den Franzosen vorübergegangen war, erhielt jetzt erst für sie seine Bedeutung. Es war, wie HEGEL über die französische Philosophie treffend bemerkt, der absolute Trieb vorhanden, einen immanenten Kompass in sich zu finden, im menschlichen Geist, und es ist daher eine vollkommen richtige Ansicht von LEROUX, wenn er die Bewegung des 18. Jahrhunderts eine Fortsetzung der Reformation nennt.

Jenes Prinzip der subjektiven Freiheit ist idealisch; es ist das oberste Prinzip aller Philosophie, welche wesentlich nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als Idealismus. Insofern mögen wir denjenigen Recht geben, welche DIDEROT einen Idealisten nennen und ROUSSEAU auf eine gleiche Linie mit FICHTE stellen. (1) Hiermit ist jedoch der Charakter des 18. Jahrhunderts noch sehr ungenau bestimmt. Das Prinzip der freien Subjektivität ist verschiedener Formen fähig. Die ganze neuere Philosophie von BACO an bis auf den neuesten deutschen Idealismus beruth auf demselben. Es frägt sich also, welches die bestimmtere Form sei, unter welcher es in der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts auftrat.

Sie ist der  Empirismus.  Betrachten wir zunächst die negative Seite derselben, und zwar nur, sofern sie die Philosophie am meisten interessiert, die religiöse Aufklärung, so begegnen wir sogleich einer empirischen Anschauungsweise. Die Aufklärung ist verständige Reflexion und hat als solche ein  empirisch  gegebenes Objekt zur Voraussetzung, das positive Christentum. Ohne dieses empirische Substrat wäre sie gar nicht möglich; sie ist schlechthin durch dasselbe bedingt. Dieses Objekt nimmt sie ferner auf, wie es ihr gegeben ist; sie hebt die Widersprüche einzelner Lehren teils unter sich, teils mit einem  bon sens,  dem gesunden Menschenverstand hervor. Dabei ist ihre Tendenz nicht sowohl eine wissenschaftliche, als eine  praktisch-interessierte.  Sie stellt das Christentum unter den Gesichtspunkt des Nutzens. So sucht z. B. VOLTAIRE (2) zu zeigen, daß die Religion der Welt unnütz sei, daß sie den Lauf der Zivilisation aufhalte, der Aufklärung Hindernisse in den Weg lege und dgl. Nach BOULLANGER stört sie das Glück des Staates, die Ruhe der Bürger, den Frieden der Familien (3); statt einen Klerus zu unterhalten, meint HELVETIUS, wäre es besser, das Geld für die Marine zu verwenden (4). Der praktische Gesichtspunkt herrscht durchaus vor. - Wie ferner die Aufklärung das Christentum auf die nur empirische Subjektivität bezieht, so faßt sie ihr Objekt selbst in der ganzen Zufälligkeit seines empirischen Daseins auf. Sie unterscheidet nicht zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Geist des Christentums und Christentum der katholischen Kirche, und aus diesem Grund kommt sie dazu, mit der äußeren Form das Substantielle selbst zu negieren.

Wesentlich empirisch zeigt sich die Aufklärung in ihren Versuchen, den Ursprung der Religion zu erklären. Die Quelle, aus der sie gewöhnlich abgeleitet wird, sind die Künste der Priester und Politiker. Wo diese nicht ausreichen, nimmt man Momente hinzu, die eben so zufällig und äußerlich sind. BOULANGER leitet alle Religion - und allen Despotismus - aus der Sintflut ab, aus dem moralischen Eindruck, den diese furchtbare Katastrophe in den Gemütern der Menschen zurückgelassen haben soll. Für DUPUY ist die Hauptquelle aller Religion die Astrologie; doch läßt auch er es an Priester- und Pfaffenbetrug nicht fehlen. (5) Die Religion, die Idee des Absoluten, hat nach dieser Anschauungsweise immer nur einen zufälligen, empirischen Ursprung.

In Bezug auf das Sittliche ist das gewöhnliche Argument: jedes Volk und jeder Mensch habe wieder eine andere Ansicht von Gut und Böse und daraus wird geschlossen, daß das Gute überhaupt nichts ansich Seiendes, sondern nur der Konvention sei. Auch wird gesagt die Moral des Evangeliums sei enthusiastisch, unpraktisch, asketisch, mehr geeignet den Geist zu deprimieren (6) und dgl. Durch ein oberflächliches groß empirisches Raisonnement wird die Moral in ihrem Fundament untergraben und zur Sache der Willkür herabgesetzt.

Die Tendenz der französischen Aufklärung war, die ganze Welt der hergebrachten Vorstellungen und Institutionen im kirchlichen und politischen Leben zu vernichten und nach ihrer völligen Destruktion nichts übrig zu lassen, als das einfache  Natürliche.  Das ist der positive Hintergrund, aus welchem die negative Richtung selbst in letzter Beziehung hervorging. Nur das Natürliche soll als das Wahre gelten. Dem Glauben stellt sich der  natürliche  Verstand der positiven Religion eine  natürliche  Religion gegenüber, die abstrakte Moral der katholischen Kirche wird ersetzt durch eine Moral der  natürlichen  Triebe und Gefühle, an die Stelle der positiven Rechte treten die  natürlichen  Menschenrechte. Die französische Philosophie des 18. Jahrhunderts ist ein  vollendeter Naturalismus. 

Dieses Natürliche nun, indem es die Bedeutung des vorausgesetzten Wahren hat, ist als solches das unmittelbar Gegebene; die Wahrheit existiert nicht in der Form des Begriffs, sondern als Sache der Erfahrung. Der Naturalismus ist daher wesentlich empirischer Natur.

Dies zeigt sich sogleich bei ROUSSEAU. So idealistisch das von ihm mit der größten Begeisterung verfochtene Prinzip der subjektiven Freiheit ansich sein mag, so ist es doch für ihn nicht als spekulativer Begriff vorhanden, sondern in der Weise des Gefühls, als absoluter Trieb, als ein gewaltiger Drang seiner Subjektivität, d. h. nur in empirischer Form. Es ist nur als allgemeine Behauptung ausgesprochen, und darum bleibt es abstrakt. Die Freiheit hat bei ihm keinen Inhalt, sondern ist die Negativität selbst, die Freiheit von äußerem Zwang.

Die Moral des 18. Jahrhunderts ist, wie bemerkt,  eine Moral der natürlichen Triebe,  die Moralprinzipien sind fast durchgängig empirische, begrifflose Bestimmtheiten des Subjekts, die Selbstliebe, die Selbsterhaltung, der Glückseligkeitstrieb, wohl auch das Wohlwollen. Einige erheben sich zwar vermöge ihres zarteren sittlichen Gefühls über den groben Eudämonismus; aber teils bleiben die Reden, die sie zum Lob der Tugend halten, nur prinziplose Deklamationen, wie bei ROUSSEAU, teils fällt das Prinzip um seines formalen Charakters willen unmittelbar wieder in die Empirie zurück, wie bei VAUVENARGUES (7), wenn er die Tugend in die Unterordnung des persönlichen unter das allgemeine Interesse setzt, schließlich ist das Prinzip ansich teils selbst schon empirisch, wie der moralische Sinn, welchen DIDEROT von SHAFTESBURY adoptiert hat.

Am offenbarsten tritt aber die empirische Fassung des Prinzips der freien Subjektivität i nder Art und Weise hervor, in der die französische Philosophie das Wesen des Menschen und der menschlichen Erkenntnis, so wie die Idee Gottes bestimmt hat.

Nach der Vernichtung der traditionellen Begriffe von Gott, seinem Verhältnis zur Welt, von der Seele usw. als  unnatürlicher  Vorstellungen, handelte es sich darum, ein System  naturgemäßer  Erkenntnisse aufzubauen. Wie hatte das zu geschehen?

Der Mensch in  puris naturalibus,  um theologisch zu reden, wird als der Normalmensch hingestellt. Für ihn hat bloß dasjenige Wahrheit, was seinem Wesen entspricht, d. h. was natürlich ist. Natürlich aber ist nur das, was die Natur selbst darbietet, mit anderen Worten, was Gegenstand der unmittelbaren Erfahrung ist. Das Subjekt flüchtet sich aus der Kirche in die Natur, aus dem religiösen Glauben in das  empirische  Wissen. Quelle aller Erkenntnis ist ihm die sinnliche Erfahrung. Dieses LOCKEsche Prinzip hat VOLTAIRE in Frankreich eingeleitet, und von ihm an wurde es das Losungswort aller Aufklärer. (8)

Während sich nun Einige damit beschäftigten, das sensualistische Axiom genauer zu analysieren und den Weg zu bestimmen, auf welchem sich die Ideen im Subjekt erzeugen, wie besonders CONDILLAC, begnügte sich die Majorität, dasselbe ohne tiefere Begründung, als eine von selbst verständliche Wahrheit vorauszusetzen, gab sich aber dafür umso mehr Mühe, die aus demselben sich ergebende Konsequenzen zu ziehen. Als solche zeigten sich der  Naturalismus  und  Materialismus

Das ewige und notwendige Wesen der Welt, sagt das  Systéme de la nature,  ist keine Intelligenz; um intelligent zu sein, muß man denken; denken kann man nicht ohne Ideen; die Ideen setzen Sensibilität voraus; was aber Sinne hat ist materiell - das ist die richtigste Konsequenz von der Welt; im System des Sensualismus bleibt nur übrig, Gott als die Allgemeinheit der Natur oder der Materie, als allgemeines Leben zu denken. HELVETIUS nennt sie zwar höchste Intelligenz, aber das ist ein bloßer Euphemismus [mit anderen Worten dasselbe - wp].

Die Gottesidee des Naturalismus ist nicht die spinozistische, mit der sie von Franzosen so oft zusammengeworfen wird, sondern nur die eine Seite derselben, die  substantia quatenus extensa  [die Verlängerung der Substanz - wp]. Die spinozistische stellt das Ansich, die naturalistische das Anderssein dar; es fehlt an der Rückbeziehung auf einen festen Einheitspunkt. Die Einheit ist nur abstrakt, ein Postulat, um das Vielfache der Empirie zusammenzuhalten. Es fehlt ihr an der inneren Determination und Gliederung. Sobald daher das Absolute bestimmt werden soll, fällt es unmittelbar in eine Vielheit von Kräften, Ursachen und Bewegungen auseinander. Im Spinozismus geht die Welt in Gott, im Naturalismus Gott in der Welt auf. Jener ist  Akosmismus,  dieser  Atheismus

Die Kehrseite des Naturalismus ist der  Materialismus  in der Psychologie. Reduziert sich die Substanz des materiellen Daseins auf die ungeistige Bewegung, so kann auch das Prinzip des menschlichen Lebens nur als Bewegung gedacht werden. Es gibt nur eine Gattung von Ursachen, die physischen (9); folglich ist auch dasjenige, was die Ursache der psychologischen Phänomene ist, das "Ich" ein nur physisches Prinzip. Die Seele fällt mit dem körperlichen Organismus ganz zusammen. Die Ideenbildung ist ein physiologischer Prozeß, der  Mensch eine Maschine der Natur.  So lehrte richtig LAMETTRIE.

Dieser naturalistischen Richtung stehen nun zwar auch solche gegenüber, welche die  transzendente Persönlichkeit  und die  Immaterialität der Seele  aufrechterhalten. Aber teils sind ihre Vorstellungen so unbestimmt und schwankend, daß die Geschichte der Philosophie von ihnen kaum Notiz nehmen kann, wie das mit ROUSSEAU der Fall ist; teils wird die Idee Gottes so abstrakt und negativ bestimmt, daß sie von der naturalistischen im Grunde nur nominell verschieden ist, wie bei ROBINET; zum Teil stehen diese Theisten schließlich selbst wieder auf dem Boden des Sensualismus, wie BONNET und CONDILLAC, so daß ihre Theorie nur als eine Inkonsequenz angesehen werden kann. Ist die Quelle aller Erkenntnis die sinnliche Erfahrung, liegt die wahrhaft affirmative Realität auf Seiten der endlichen Welt, so kann das Absolute nur diese endliche Welt selbst sein, als Allgemeinheit gedacht, als allgemeine Bewegung oder wie man es nennen will. Jenseits der Welt ist nichts mehr zu suchen. (10)

Das Prinzip der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist, daß das Subjekt absolute Geltung habe; aber dieses Prinzip tritt in einer Form auf, welche ihm unangemessen ist, und in welcher es daher selbst wieder zugrunde geht. Es ist nur der Trieb nach geistiger Freiheit vorhanden, nicht die Freiheit selbst. Die Subjektivität ist ganz abstrakt aufgefaßt, noch nicht als die in sich selbst freie, substantiell vernünftige. Wenn DIDEROT sagt: so lange die Dinge in meinem Verstand sind, sind sie Begriffe, welche wahr oder falsch sein können (11), so zeigt dies deutlich, wie wenig das Selbstbewußtsein noch zur Gewißheit seiner selbst gelangt ist. Nachdem es alle Autorität von sich abgeschüttelt hat, stellt sich bei ihm das Gefühl der Leere ein; in diesem Gefühl wirft es sich der sinnlichen Erfahrung in die Arme und gibt sich hiermit eine neue gewaltige Autorität. Indem es seine Freiheit zu retten glaubt, opfert es dieselbe auf. Als experimentierendes ist es schlechthin durch die Erfahrung determiniert. Die Bewegung, welche mit der Freiheit begonnen hat, endet konsequenterweise mit dem geistlosesten  Determinismus. 

Der Determinismus ist die Negation der ganzen Aufklärung. Ist die Freiheit ein Wort ohne Sinn (12), der Mensch eine willenlose, durch die Außenwelt bewegte Maschine, woher will das Subjekt noch das Recht nehmen, dasjenige zu negieren, was es negiert hat. Positive Religion und hergebrachtes Recht können doch auch nur als Produkte dieser menschlichen Maschine angesehen werden, und da dieselbe auf dem Boden der Natur steht, so sind jene eben damit Produkte der letzteren, also nicht naturwidrig, wie immer behauptet wurde, sondern naturgemäß.

Ist so der große Widerspruch vorhanden, daß auf der einen Seite die Freiheit behauptet, auf der anderen wieder durch den Sensualismus aufgehoben wird, so wird die Aufgabe der weiteren Entwicklung keine andere sein können, als sich dieses Widerspruchs bewußt zu werden; und dahin wird die Philosophie nur gelangen, wenn sie das Wesen des Sensualismus selbst näher zu begreifen sucht.

Eine genauere Analyse der Erkenntnis auf dem Grund des sensualistischen Axioms war in der der Revolution vorangehenden Periode nur von CONDILLAC unternommen worden. Da von den übrigen eine solche Spezialuntersuchung für kaum der Mühe wert gehalten wurde, so war CONDILLAC zu seinen Lebzeiten wenig beachtet worden. Er wurde wohl hie und da zitiert, im Ganzen aber war die Aufmerksamkeit, welche man ihm schenkte, gering, und noch geringer sein Einfluß. (13)

Anders gestaltete sich die Sache, als die ersten Stürme der Revolution vorüber waren. Nach dem Enthusiasmus trat die besonnenere Reflexion ein. Die verderblichsten Auswüchse der Aufklärung waren proskribiert [exkommuniziert - wp] worden, man wandte sich dem unschädliche CONDILLAC zu. Gegen Ende des Jahrhunderts erhielt er in der Philosophie die Hauptautorität oder war wenigstens derjenige, an welchem man unmittelbar anzuknüpfen suchte. Die fernere Geschichte der französischen Philosophie ist daher eine Geschichte des Condillacismus.

CONDILLAC hatte dem Sensualismus eine Form gegeben, durch die er sich wesentlich von LOCKE unterschied. Waren vom Letzteren noch gewisse geistige von der Erfahrung unabhängige Vermögen vorausgesetzt und der äußeren Erfahrung eine innere zur Seite gestellt worden, so hob CONDILLAC beide Momente auf. Er ließ die Ideen sowohl als die Vermögen selbst durch sukzessive Transformation der ersten Sensation entstehen und auf diese Weise ging auch die innere Erfahrung auf jene Sensation als das Prinzip allen geistigen Lebens zurück. Hiermit zog CONDILLAC eine in der Natur der Sache liegende Konsequenz. Ist die Seele eine  tabula rasa,  eine  Camera obscura,  in der nach LOCKEs Ausdruck (14) die Sinne als Fenster angebracht sind, durch welche das Licht eindringt, entwickeln sich alle Seelenvermögen, obwohl ansich vorhanden,  nur  unter dem Einfluß der äußeren Erfahrung, und sind sie ohne diese so viel wie nichts, so heißt das in Wahrheit nichts anderes, als den Geist zu einem Produkt der Objekte zu machen. Der Geist ist, was er ist, nur durch die Erfahrung, und da diese mit einer ersten Sensation beginnt, so ist eben deswegen diese als Prinzip der Ideen und Vermögen anzusehen.

Hatte also CONDILLAC in seiner Erkenntnistheorie das sensualistische Prinzip getreu aufgefaßt, so verleitete ihn sein theologisches Gewissen zu der Inkonsequenz, neben dem sensitiven Organismus noch von einer immateriellen zur Unsterblichkeit bestimmten Seele zu reden. Für sie blieb kein Raum mehr übrig, nachdem das geistige Leben auf die Sensibilität reduziert worden war. Der Materialismus war daher die notwendige Ergänzung. Ging man aber von materialistischen Prämissen aus, so mußte dies mehrfache Modifikationen in der Lehre von der Erkenntnis zur Folge haben, umso mehr, da die Art und Weise, wie CONDILLAC dieselbe konstruiert hatte, sich bei einer näheren Untersuchung als zu gekünstelt, und dem Wesen der natürliche Entwicklung des Menschen nicht entsprechen darstellen mußte. Der Statue werden von CONDILLAC die fünf Sinne nach und nach geöffnet, kein Mensch kommt aber nur mit  einem  Sinn auf die Welt. (15)

Die philosophische Tätigkeit wurde im Jahre 1795 durch die Errichtung von Normalschulen wieder aufgenommen. GARAT lehrte dort den Condillacismus. Da seine Schüler zu öffentlichen Lehrern bestimmt waren, war jene Philosophie gewissermaßen die Staatsphilosophie (16). Für die Geschichte der franzöischen Philosophie hat GARAT keine Bedeutung; ebensowenig St. LAMBERT, in dessen "Catechisme universel" man nur schwache Nachklänge von HELVETIUS vernimmt.

Mit der Übergehung dieser und einiger anderer, werden wir die Geschichte des Sensualismus nur in den Systemen derjenigen verfolgen, welche, indem sie das Prinzip bestimmter zu entwickeln und zu begreifen suchen, dadurch den Vernichtungsprozeß des Sensualismus einleiten. In dieser Beziehung kommen besonders CABANIS, DESTUTT de TRACY und LAROMIGUIÉRE in Betracht.



Cabanis (1757 - 1808)

Je mehr die französische Philosophie zum Materialismus herabgesunken war, umso mehr philosophische Bedeutung mußte dem Teil der anthropologischen Wissenschaft gegeben werden, welcher es mit dem Menschen als  belebtem  Individuum zu tun hat, der Physiologie. Ist die Seele nach CONDILLAC ganz in der Sensibilität, muß dies, wie es von HELVETIUS z. B. geschah, sogleich näher dahin bestimmt werden, daß die geistigen Tätigkeiten nichts anderes sind, als das Resultat des Zusammenwirkens der verschiedenen Teile des Körpers, so ist die Frage nach dem Ursprung der Idee unabweislich an physiologische Probleme geknüpft; die Basis der Philosophie ist in Wahrheit die Physiologie. Das behauptet CABANIS. Vom gleichen Gesichtspunkt ging das Nationalinstitut selbst aus, indem es die Physiologie in die Klasse "Analyse der Ideen" versetzte. (17)

CABANIS adoptiert den Satz CONDILLACs: Alle Ideen und Willensbestimmungen sind Resultate der durch die verschiedenen Organe erhaltenen Eindrücke. Damit werden jedoch mehrfache Modifikationen vorgenommen. Schon dies wird als ungenügend befunden, das Subjekt als eine Statue anzusehen, welcher die fünf Sinne erst nach und nach geöffnet werden, da der wirklichen Entstehungsweise der Sensationen, Ideen und Begierden nichts weniger gleicht, als die partielle Operation eines vom übrigen sensitiven Systeme isolierten Organs. Da die Sinnesorgane alle in Wechselwirkung stehen, so muß nach CABANIS das spezifisch wirkende Organ durch den jedesmaligen Einfluß der anderen Organe verschieden modifiziert werden. Kein Organ läßt sich deshalb isoliert betrachten. Und die äußeren Sinnesorgane stehen nicht bloß unter sich in einem inneren Zusammenhang, sondern sie haben selbst wieder irgendein Verhältnis zu anderen Organen, deren Zustand auf den Charakter der Sensationen Einfluß hat. Einige Krankheiten z. B. wirken auf das Gehörorgan; die Unterleibsgedärme stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Gesicht usw. (18)

CABANIS betrachtet die Sensibilität als Physiologe. Da dieselbe nach den verschiedenen äußeren Verhältnissen immer verschieden modifiziert wird, so ist es ganz in Ordnung, wenn Klima, Alter, Gesundheit, Krankheit, Geschlecht usw. als ebensoviele Momente angesehen werden, durch welche die Bildung der Ideen bedingt ist. Die Einwirkung derselben auf die Sensibilität nachzuweisen, ist dann auch der Hauptzweck seiner physiologisch-philosophischen Abhandlungen.

Die animalischen oder sensitiven Kräfte stehen ferner unter sich im Verhältnis gegenseitiger Aufeinanderwirkung. Durch ihren Zusammenstoß erzeugen sich ebenso Impressionen, wie durch die Einwirkung äußerer Objekte auf die Sinnesorgane; folglich auch Ideen. Der äußeren Erfahrung ist somit eine innere an die Seite zu stellen. (19) Wird hierdurch die Grundlage der Ideenbildung für den Menschen als schon existierend erweitert, so geht CABANIS andererseits noch weiter zurück als CONDILLAC. Letzterer setzt im Menschen, sobald er das Licht der Welt erblick, die Fähigkeit voraus, Eindrücke zu empfinden. Woher dieses Vermögen? fragt CABANIS. Wenn es ein Resultat seiner Organisation ist, so muß sein Anfangspunkt schon im Fötus gesucht werden. Würde sich dasselbe nicht hier schon entwickeln, so könnte nachher nimmermehr erklärt werden, wie der Mensch dazu gekommen ist. (20)

Das menschliche Individuum ist nach CABANIS, im Augenblick der Geburt keine  tabula rasa  mehr; wenn es zwar eine solche im Verhältnis zur Außenwelt ist, so ist doch in ihm alles präformiert [vorgebildet - wp], dessen es bedarf, um mit derselben in Beziehung zu treten. Der Fötus hat schon eine Menge Eindrücke erhalten, woraus der Begriff des Widerstands zusammengesetzt ist; denn er vollzog Bewegungen, welche durch die ihn umhüllenden Häute beschränkt wurden; er hat somit schon die Idee fremder Körper, er hat Bedürfnisse und Begierden, d. h. das Vermögen seine Bewegungen zu vollziehen. Er hat also auch schon das Bewußtsein des Ich, so vage es sein mag. Er trägt in seinem Gehirn die ersten Spuren aller Fundamentalbegriffe. (21)

Die Sensation, als das eigentliche Prinzip der Erkenntnis wird als das Resultat von Aktion und Reaktion bestimmt. Die Organe erhalten Eindrücke vermöge der ihnen immanenten Sensibilität. Jedes derselben hat ein Zentrum der Reaktion, welches den von den Extremitäten des Organs zu ihm gelangten Eindruck zu den ihm korrespondierenden Organen zurückschickt.

Ist das Zentrum der einfachen Sensation nur ein Partialzentrum, so haben Gedanke und Wille ihr Organ am Hauptzentrum. Die Eindrücke, aus welchen sich das Urteil bildet, werden durch die empfindenden Extremitäten in den inneren Mittelpunt des Systems der Sensibilität aufgenommen. Das durch Vergleichung entstandene Urteile erzeugt sofort den Willen. Obgleich die verschiedenen Organe alle mehr oder minder auf die Erzeugung des Denkens und Willens ihren Einfluß haben können, so ist doch das Zentrum der Reaktion hier das Gehirnzentrum selbst. Letzteres ist das Zentrum des ganzen Nervensystems und aller Partikularzentren. Es belebt alle Teile des Körpers, ist überall gegenwärtig, als Stamm und gemeinschaftliches Band aller sensitiven Kräfte. Wie es allen Teilen des Nervensystems Leben mitteilt, so sammelt es alle durch die verschiedenen Organe empfundenen Eindrücke. Es denkt, will, und bestimmt alle Bewegungen. (22) Dieses Lebensprinzip ist jedoch keine absolute Ursache; es kann keine Tätigkeit aus sich selbst hervorbringen und auf die anderen Organe pflanzen, sondern ist selbst wieder dem Einfluß des letzteren unterworfen. Alle geistigen Tätigkeiten bilden eine Kette von Phänomenen, worin ja das folgende Glied durch das vorangehende determiniert ist. Was dieses Prinzip seiner Natur nach sei, dies zu wissen ist unmöglich. Seine Devise ist: Ich bin was ist, was war und was sein wird, und niemand hat meine Natur erkannt. (23)

Wir haben im Grunde hier nur wieder  l'homme machine,  den komplettesten Materialismus eines LAMETTRIE, nur mit mehr Präzision und Einfachheit formuliert. Die ganze Theorie von Aktion und Reaktion, Partikularzentrum und Gehirnzentrum usw. ist zwar künstlich, erhebt sich aber nicht über den Wert einer künstlichen Hypothese, eines Postulats, um den geistigen Mechanismus vorstellig zu machen. Indem der Empirismus in seine Psychologie Momente einführ, die selbst weder unmittelbar auf dem Gebiet der Erfahrung liegen, noch aus derselben abstrahiert sind, wird er sich selbst untreu und bekennt, daß er sich durch sich selbst nicht verstehe. Die Theorie von CABANIS tritt umso mehr in ihrem Widerspruch mit dem Wesen des Empirismus hervor, als gerade dasjenige Prinzip, das den Mittelpunkt des Erkennens und des geistigen Lebens überhaupt bildet, als ein vollkommen transzendentes behauptet wird.

Halten wir CABANIS mit CONDILLAC zusammen, so ist die Lehre des ersteren eine konsequente Weiterbildung des Prinzips des letzteren. Ist die Seele nur Sensibilität, so läßt sie sich vom Körper nicht mehr unterscheiden; die geistigen Tätigkeiten resultieren aus dem leiblichen Organismus. Wenn das aber so ist, so sind sie durch all die äußeren und inneren Umstände bedingt, welchen der belebte Organismus überhaupt unterworfen ist. Ebenso läßt sich dann auch die Sensibilität nicht mehr nur so im Allgemeinen betrachten, wie es von CONDILLAC geschah; denn da sie notwendig einer Menge von Einflüssen unterworfen ist, existiert sie immer nur in individueller Form; eine Erkenntnistheorie welche hierauf nicht reflektiert, könnte keinen Anspruch auf Wahrheit machen. - Ist endlich einmal die Seele mit dem Nervensystem identifiziert, so läßt sich die Sensibilität nicht mehr nur in die fünf äußeren Sinne einschließen. Da der ganze Körper sensibel ist, so müssen auch alle sensitiven Kräfte einen Anteil an der Bildung der Ideen haben.

Bei CABANIS sucht sich das sensualistische Prinzip näher zu begreifen. Je mehr es aber aus seiner abstrakten, allgemeinen Fassung heraustritt, desto größer sind die Schwierigkeiten und Widersprüche, auf welche es stößt. Existiert, wie CABANIS richtig behauptet, die Sensibilität immer nur in individueller Form, so ist eine Erkenntnistheorie eine reine Unmöglichkeit. Würde eine solche sich an die Sensibilität im Allgemeinen halten, so verfiele sie in den Fehler, den CABANIS an CONDILLAC rügt, sie wäre nicht der Wirklichkeit entsprechend. Ginge sie von der in einem bestimmten Individuum auf besondere Weise modifizierten Sensibilität aus, so hätte sie nur individuellen Wert; sie wäre die Geschichte der Intelligenz eines Individuums, keine philosophische Erkenntnistheorie. Und da für jedes Individuum diese Geschichte im Besonderen abzufassen wäre, so sänke das Wissen zur reinen Zufälligkeit herab. Jedes Individuum hat seine individuelle Sensibilität, also seine individuellen Ideen. Wer will entscheiden, welches Individuum die wahren Ideen hat? Die unvermeidliche Konsequenz ist der Skeptizismus.

Außerdem, daß eine solche Erkenntnistheorie für die Philosophie ohne Bedeutung wäre, ist sie auch ansich etwas Unmögliches. Wie könnte die Reflexion all die einzelnen Momente erreichen, durch welche die Genesis der Ideen bestimmt ist? Sie verlöre sich in einem Detail ohne Ende, in einem Labyrinth ohne Ausgang; über dem Suchen nach Einflüssen käme sie nie zur Sache selbst. CABANIS hat sich deswegen auch wohl gehütet, Spezialuntersuchungen anzustellen. Er weist wohl nach, daß Krankheiten, Klima und dgl. die Sensibilität modifizieren; aber eine andere Frage, welche unbeantwortet bleibt, ist noch die: welches ist die Genesis der Ideen in der so oder anders modifizierten Sensibilität?

Wie diese Theorei einerseits zum Skeptizismus führt, so andererseits zu einem subjektiven Idealismus, sofern die Ideen unter dem Einfluß des gesamten sensitiven Systems stehen sollen. Wird schon durch die sogenannten inneren Impressionen des Instinkts dem Subjekt ein Anteil in der Bildung der Erkenntnis eingeräumt, so wird diese durch die individuell gefaßte Sensibilität gänzlich subjektiviert. Wir haben nicht mehr die getreuen Abbilder der Dinge, wie bei CONDILLAC; die Objekte müssen vielmehr je nach der verschiedenen Sensibilität der Einzelnen verschiedenartige Ideen erzeugen. Die Anschauung der Objekte ist durch die Subjektivität bestimmt und da sich in jedem Individuum die Sensibilität in einer besonderen Form vorfindet, so ist eine wirklich objektive Anschauung ebensowenig möglich, als sich überhaupt entscheiden läßt, welches Subjekt diese oder jene Anschauung in ihrer objektiven Wahrheit besitze. Der Empirismus ging von der Voraussetzung aus, daß die äußere Erfahrung allein zu einem objektiven Wissen führe. Hier dagegen sieht er sich bereits zu der Konsequenz geführt, daß das empirische Wissen ebenso subjektiv ist, als das von ihm verschmähte apriorische. Wir haben bei CABANIS alle Prämissen, durch welche der dogmatische Empirismus zum Skeptizismus oder subjektiven Idealismus hingedrängt wird.

CABANIS beschäftigte sich mit der Sensibilität bloß insofern als sie den Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie bildet; auf den ferneren Prozeß des psychologischen Lebens, wie es nach diesem Prinzip zu bestimmen ist, auf die verschiedenen Seelenvermögen und dgl. hat er sich nicht eingelassen. Sehen wir uns nach einem System um, welches von derselben Grundlage ausgehend, die von CABANIS gelassene Lücke ausfüllt, so begegnet uns die Ideologie von DESTUTTE de TRACY.
LITERATUR - Carl Eberhard Fuchs, Die Philosophie Victor Cousins, Berlin 1847
    Anmerkungen
    1) Zum Beispiel LERMINIER, Philosophie du XVIII. siécle.
    2) In seinem Essai sur les moeurs des nations.
    3) Le christianisme dévoilé T. IV. p. 8
    4) De l'esprit T. II. p. 56
    5) In seinem vierbändigen Werk: L'origine des tous les cultes.
    6) So BOULANGER im genannten Werk.
    7) Introduction á la connaissance de l'esprit humain, Seite 84
    8) DIDEROT, der behauptete Idealist sagt daher: Tout se reduit á revenir des sens á la reflexion et de la reflexion aux sens. [Alle Reflexion geht auf die Sinne zurück, ist auf die Sinne reduziert. wp] - Les sens sont la source de toutes nos connaissances. [Die Sinne sind die Quelle all unseres Wissens. - wp] - De l'interprétation de la nature, im zweiten Band seiner Werke, Seite 146 und 204.
    9) Il n'y a qu'une sorte des causes, á proprement parler, ce sont les causes physiques, il n'y a Q'une sort de nécessité, c'est la même pour tous les êtres. DIDEROT in der Korrespondenz mit GRIMM, Teil 2, Seite 11
    10) Nur das ist daher konsequent, was HELVETIUS sagt: La sensibilité physique est l'homme lui - même et le principe de tout ce qu'il est. Aussi ses connaissances n'atteignent elles jamais au-delá des ses sens. Teil 2, Seite 608
    11) DIDEROT, de l'interprét de la nat.
    12) Dies ist die Meinung desselben DIDEROTs (Korrespondenz mit GRIMM, Teil 2, Seite 11). Wir haben absichtlich auf ihn eine spezielle Rücksicht genommen, da er von Franzosen selbst immer als der Haupt-Mann vorangestellt und als derjenige bezeichnet wird,  in welchem sich die philosophische Fakultät des 18. Jahrhunderts individualisiert hat.  Siehe den Artikel über DIDEROT in den "Portraits littéraires von St. BEUVE. - Wenn DIDEROT Idealist genannt wird, so kann man daraus entnehmen, was für einseitige und verworrene Begriffe man in Frankreich vom Wesen des Idealismus hat.
    13) Wenn COUSIN und seine Schule die Philosophie des 18. Jahrhunderts geradezu Condillacismus nennen, so ist dies eine unrichtige Ansicht. CONDILLAC steht weder an der Spitze jener Bewegung, noch greift er in dieselbe ein. Nur durch seinen Sensualismus steht er mit ihr auf gleichem Terrain; aber die Frische und Energie, mit der das Prinzip der Freiheit in derselben aufgetreten ist, zeigt sich bei ihm durchaus nicht. Von ihm kommt es nicht her. St. BEUVE sagt daher mit Recht: Condillac nevécut pas au coeur des son époque et n'en représente aucunement la plénitude, le mouvement et l'ardeur. A. a. O.
    14) the windows by which light is let into this dark room. Essay concerning human understanding, Chapter XI, § 17.
    15) Schon in der Korrespondenz von GRIMM und DIDEROT wird darauf hingewiesen, daß das Verfahren CONDILLACs unnatürlich sei, und nicht die wahre metaphysische Geschichte des Menschen darstelle. (Teil 1, Seite 230).
    16) Siehe DAMIRON, Philosophie du XIXéme Siécle, Teil 1, Seite 127
    17) CABANIS, Rapport du physique et du morale de l'homme, 1817, Teil 1, Seite 7
    18) CABANIS a. a. O. Teil II, Seite 307
    19) CABANIS a. a. O. Teil I, Seite 161
    20) CABANIS a. a. O. Teil II, Seite 307
    21) CABANIS a. a. O. Teil II, Seite 298 und 308
    22) CABANIS a. a. O. Teil II, Seite 392
    23) CABANIS a. a. O. Teil I, Seite 29