cr-4ra-1W. E. WalzA. RiehlJ. E. ErdmannF. Bacon    
 
EDMUND PFLEIDERER
Empirismus und Skepsis
in David Humes Philosophie

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"Das naive Bewußtsein meint bekanntlich, das Schwein heißt Schwein weil es häßlich ist. Schon das Lernen fremder Zungen löst diese unmittelbare Identität und läßt das Wort als wechselnde Form erkennen."

"Der Kampf gegen die scholastisch-kirchliche Tradition der Schule stellt voran die idola theatri. Denn mehr Wert, als den eines Schauspiels - ob es nun Tragödie oder Komödie der Irrungen heißt - hat das bunte Spiel der Systeme und Sekten nicht, wo einer nach dem andern auftritt und seine Sache vor dem beifallklatschenden Publikum deklamiert - aber im Grund ist es doch eitel Maske und Theaterherrlichkeit, Flitter und Tand; nichts Gediegenes, kein Leben!"


Eingang

Auf allen drei Gebieten, welche nach guter alter Sitte innerhalb des menschlichen Geisteslebens unterschieden zu werden pflegen, hat das englische Denken rühmliche und ehrenwerte Leistungen aufzuweisen. Obwohl dieselben auch nicht in die volle Tiefe dringen mögen, ist doch dafür ihre nüchterne Klarheit und ernst-gediegene Wahrhaftigkeit anzuerkennen. Der theoretische Geist verdankt dem Inselland die ersten so hochwichtigen Versuche, das Werkzeug aller Erkenntnis, den menschlichen Verstand zum ausschließlichen Gegenstand der isolierenden Untersuchung gemacht zu haben. Auf praktischem Gebiet ist gleichzeitig eine Reihe guter Namen emsig bemüht, Selbständigkeit, Ursprung und Grundrichtungen des sittlichen Handelns um die Wette festzustellen. Auf der Seite des Gefühls werden nicht nur die ersten Bausteine für die künftige Wissenschaft der Ästhetik dort behauen, sondern es findet auch die noch tiefere und eingreifendere Schwesteridee, die Religion, eine geschlossene Phalanx wackerer Vorkämpfer, die sich meist mit tiefem Ernst bestreben, die von der Zeiten überwucherndem Unkraut Umstrickte aus den Fesseln und Banden zu lösen und in ursprünglicher Schöne darzutun.

Indessen gebührt das Primat unter dieser Dreiheit unstreitig der theoretischen Philosophie. Nicht nur folgen wir damit HUME selber, dem scharfsinnigsten Theoretiker Englands und Hauptgegenstand unserer Darstellung, sondern das Gleiche ist auch ansich und in der Natur der Sache begründet.  Unsere  Zeit freilich zieht in einer Art von Übersättigung und Abspannung die mehr peripherischen Gebiete des Denkens, sozusagen die Fragen einer schon angewandten Philosophie den zentralen und reinen Untersuchungen vor. Ist doch für ihre Richtung in dieser Hinsicht eine Weltweisheit typische, welche den Willen vor die Vorstellung setzt oder dem Triebleben des Unbewußten den Vorrang vor der wissenden Geistesklarheit gibt. Und dennoch behauptet das Theoretische sein angestammtes Recht, der echteste Spiegel und der klare Geist des Ganzen zu sein, mit seiner Fackel voranzuleuchten, nicht etwa als  ancilla pedisequa  [Magd, Dienerin - wp] gehorsam zu folgen. Seine Fragen und Ergebnisse stehen in lebendiger Wirkung und Gegenwirkung zum Übrigen, sie stammen aus dem innersten und bleibenden Wesen des Geistes, während andere Bewegungen, wie die religiösen, moralischen oder staatsrechtlichen, weit mehr die jeweilige Zeit- und Lokalfarbe annehmen und tragen.

Dies berechtigt und verpflichtet, dem theoretischen Teil den Vortritt zu lassen. Inbesondere für die Vorentwicklung auf HUME hin wird die Bedeutung dieses Gebietes es rechtfertigen, wenn wir hier dem Gang der Geschichte Schritt für Schritt folgen. Das Ergebnis gilt dann gleich auch für die anderen Teile mit, bei welchen es hinreichen mag, die Vorstufen nur in Grundstrichen, mit kurzen schlagenden Zügen zu markieren. Denn wer weiß nicht, in wie naher Verwandtschaft auch die moralischen Lehren und die deistischen Verhandlungen Englands mit seiner theoretischen Philosophie, vornehmlich mit dem anerkannten Nationalphilosophen LOCKE zusammenhängen, den selbst ein Gegner des Deismus, CONYBEARE, sehr bezeichnend "the instructor of the age" nennt. Es wird darum immer die Aufgabe sein, diesen inneren Zusammenhang der verschiedenen Gebiete, die Konsequenz oder Inkonsequenz der gezogenen Folgerungen und Anwendungen scharf im Auge zu behalten, was namentlich das solide, aus  einem  Guss arbeitende Denken Englands nahelegt.


Erster Band
Theoretische Philosophie

Erster Teil
Die empiristische Entwicklung vor Hume

Ein merkwürdiger Grundzug, der sich jedem Beobachter des englischen Lebens unwillkürlich aufdrängt, ist die große Stabilität und Geradlinigkeit des dortigen Wesens und Wachsens. Mit Recht erinnert schon die kultur- und literaturgeschichtliche Betrachtung des Völkerlebens GOETHEs treffenden Vergleich desselben mit einer musikalischen Fuge, indem  eine  Stimme nach der anderen einsetzt, das gleiche Thema variierend zu verfolgen. Die drei tonangebenden Nationen der Neuzeit, Engländer, Franzosen und Deutsche haben nacheinander je ihren Tribut zur Entfaltung des Menschengeistes gezahlt, um auch der beschränktesten Borniertheit zu zeigen, wie sie alle nur Momente der  einen  Idee sind, "dienstbare Geister, ausgesandt zur Pflege des Ganzen."

In besonderem Maß gilt dieses kettenartige Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten von der englischen Entwicklung. Nicht nur haben die  drei  Reiche Großbritanniens je ihren eigentümlichen Beitrag zur dortigen Gesamtleistung geliefert: England in der Aufstellung der beherrschenden und tonangebenden Philosophie, Irland durch religiös und mystisch gefärbte Nebensysteme (BERKELEY und BROWN), Schottland nach alter Art durch kühne Invasionen und skeptisch-zersetzende, nomadisierende Streifzüge. Auch innerhalb derselben Richtung, in der Erkenntnistheorie, in der Moral und dem Deismus zeigt sich die gleiche Handreichung, die konservative Übernahme und Weiterbildung des von früheren Generationen Geleisteten. Eine solche stark hervortretende Erscheinung hat in letzter Instanz immer innere Gründe, die wir in der soliden, nicht zu hoch fliegenden, auf das Erzielen eines Erfolgs ausgehenden englischen Charaktereigentümlichkeit, sowie in einem unleugbar geselligen, auf Assoziation bedachten Trieb jenes Volkes suchen müssen. In der Wechselwirkung damit mag die insulare Lage stehen, welche naturgemäß ein größeres Zusammenhalten und sympathisch gleichförmigeres Streben innerhalb des eigenen Volkskreises herbeiführt. Dies zumal in früheren Zeiten, wo die englische Sprache noch nicht in das Naturrecht ihres abgeschliffenen Mischcharakters, Weltsprache zu werden, eingetreten war, sondern sich im Gegenteil auf einen engen Bezirk beschränkt sah, währen, nach MACAULEYs Wort, Frankreich für den englischen MOSES mit seiner schweren Zunge den gewandten dolmetschenden, des Bruders Gedanken an den Mann bringenden und alle Welt aufklärenden AARON abgab.

Eine derartige konservative Stetigkeit mag ihre Nachteile gegenüber dem originelleren, sprungartigen Denken in einer Zickzackline haben, wo jeder wieder auf eigen Faust unternimmt, sich die Welt zu konstruieren. Indessen sind die Vorteile aber ebensowenig zu leugnen, wenn  eine  Richtung stufenweise zur vollen Reife ausgetragen wird. - Sei dem, wie ihm wolle, die Tatsache jedenfalls steht in auffallend hohem Grad fest, und hier gilt, daß "das Wirkliche vernünftig ist", Sinn und Recht hat zumindest an  seinem  Ort. Ich brauche kaum zu erinnern an die zuerst von ADAM SMITH als klares Prinzip ausgesprochene und als Haupthebel empfohlene Arbeitsteilung im englischen Fabrikwesen. Dasselbe kehrt auf geistigem Boden wieder. Kenner der dortigen Verhältnisse heben hervor, daß ganze Familien (1) nicht nur Generationen lang, sondern Jahrhunderte hindurch eine gleiche Richtung in den bürgerlichen Angelegenheiten ihres Vaterlandes festhalten, so daß man nicht nur dem einzelnen Mann, sondern einem ganzen Haus einen bestimmten Charakter zuschreiben kann. In ähnlicher Weise unterscheiden sich die beiden Universitäten voneinander durch einen Typus, welcher sich Jahrhundert lang im Wesentlichen gleichbleibt: Oxford von jeher mittelalterlich hochkirchlich, Cambridge der puritaniisch gefärbte Sitz der  low church  oder "niederen Kirche".

Auch in der Wissenschaft, wie Philosophie oder Theologie reicht der resolute Neuanfang den mittelalterlichen und scholastischen Vorläufern die Hand. Ein ANSELM von CANTERBURY lebt und wirkt zwar in England; aber der kühne Rationalismus und Idealismus des geborenen Italieners (von Aosta) ist ein exotisches Gewächs auf britischem Boden, das darum nicht viel Anklang fand. Echte Typen dagegen sind ein DUNS SCOTUS mit seinem Nominalismus, mit seiner Betonung der Freiheit und Willkür gegen des Italieners THOMAS strenge Geschlossenheit; oder noch mehr ein WILHELM von OCKHAM, der entschiedene Auflösungspunkt der Scholastik. Ihm ist das Allgemeine nur noch per abstractionem entstanden, "quae non est nisi  fictio  quaedam" [nichts anderes als eine Art Fiktion - wp]; er findet vor der nagenden Skepsis seines Denkens nur Ruhe in einer erzwungenen, halbwahren und verzweifelten Hingabe an das nun einmal tatsächlich Gegebene, die Autorität - ein unverkennbares Vorspiel der späteren Zersetzung des englischen Empirismus in HUMEs Zweifel. Und in der polemischen Unbefriedigung, mit welcher England seinen, zumindest hierin echt protestantischen Geist früh ahnen ließ, kämpft schon JOHANN von SALISBURY gegen den leeren Formalismus und die Scheinweisheit seiner Zeit. Noch deutlicher erkennt ROGER BACON, daß die Weisheit seiner Genossen nur eine  apparentia sapientiae  [Erscheinungsbild der Weisheit - wp] und daß die Haupthindernisse der Wahrheitserkenntnis liegen in "dem Vorgang schwacher und unwürdiger Autorität, in der Länge der Gewohnheit, den Vorstellungen des ungebildeten Pöbels und dem Verstecken der eigenen Unwissenheit nebst dem Großtun mit scheinbarer Weisheit." Nahen sich uns da nicht schon im 13. Jahrhundert bei ROGER die schwankenden Gestalten der "idola" seines Namensverwandten FRANCIS aus dem sechzehnten? Denn durch ein Wortspiel der Geschichte steht wieder ein BACON an der Spitze des englischen Denkens der Neuzeit.


Kapitel 1
Francis Bacons Beitrag
zum Neuanfang der Philosophie

Das Wiederaufleben der Philosophie ist schon so oft mit der kirchlichen Reformation verglichen worden, daß eine Aufnahme des fast verbrauchten Beispiels leicht banal scheinen könnte. Und doch ist, den geistigen Grundcharakter jener Zeit zu schildern, jene Parallele fast unentbehrlich.  Sympnoia panta  [Alles strebt zum Ganzen - wp] heißt es vor allem auf dem Gebiet des  pneuma  [Geistseele - wp]; und die unleugbar wichtigste, tiefeingreifende Erscheinung einer Zeit spiegelt am besten die Nebenphänomene, in welchen wesentlich das gleiche Leben pulsiert und mitzittert. Nur muß die Vergleichung schärfer eindringen und mehr sein, als eine bloß spielende, sich von selbst verstehende Nebeneinanderstellung. Übrigens liegt sie nicht bloß in der Sache, sondern auch im Bewußtsein jener Männer, wenn wir z. B. beachten, wie BACON seinem beabsichtigten Hauptwerk den stolzen Namen  "Instauratio magna"  gibt.

Dieser Parallele entsprechend handelte es sich nun auch wissenschaftlich um den Bruch mit dem Alten und die Grundlegung eines nötig gewordenen Neuen. Es ist merkwürdig, wie gleichmäßig, ja fast eintönig die Erkenntnis und Betonung dieses doppelten Bedürfnisses in der ganzen Reihe der verschiedenen Philosophen bis auf KANT wiederkehrt, um in der berühmten Vorrede zu seiner "Kritik der reinen Vernunft" verklärt und geläutert zum Schluß auszuklingen. Überall ein Gefühl großer Unbefriedigung und übersättigten Ekels, ein Sehnen und Suchen loszukommen, umso stärker, je härter die vorangegangene Zuchtschule gewesen ist, gleichwie auf religiösem Gebiet Jahrhunderte hindurch der sehnsüchtige Ruf nach einer Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern ergangen war. Schreitet doch HUME, der diese Stimmung noch völlig teilt, in seinem  Essay,  Kap. XIV "the rise of arts and sciences" (2) bis zu der starken Behauptung fort, es scheine ihm, daß Risse in der wissenschaftlichen Gesamtentwicklung, wie etwa durch den Untergang des Altertums in der Völkerwanderung, für Künste und Wissenschaften eher günstig sind, indem sie die wachsende Macht der Autorität brechen und die usurpatorischen Tyrannen der menschlichen Vernunft entthronen. Es sei, ähnlich der bürgerlichen und sozialen Luftreinigung durch eine Revolution, eine heilsame, von Zeit zu Zeit notwendige Befreiung der Geister aus dem Bann der Schule und Überlieferung.

Des Näheren galt es für die mündig gewordene Wissenschaft als eine  doppelte  Lösung. Zuerst mußte, wie es die Reformation fürs Leben und die kirchliche Gemeinschaft tat, die hemmende Fessel des  kirchlich-theologischen  Denkens, oder wie es damals zusammenfassend hieß, des Aberglaubens gebrochen werden.

BACON gibt, um namentlich für die Naturforschung die Bahn frei zu machen, die Losung aus: "Scheidung der bislang in Mesalliance [nicht standesgemäße Ehe - wp] Lebenden, sich nur gegenseitig Störenden und Verderbenden! Was kann durch die unverständige Vermischung von Göttlichem und Menschlichem anderes herauskommen, als eine phantastische Philosophie, wenn z. B. die Naturforschung auf das erste Kapitel der biblischen Genesis oder auf das Buch HIOB gebaut werden soll? Der Aberglaube und blinde Religionseifer ist eine Hauptursache der Irrtümer und des Stillstandes in der Naturwissenschaft, das schlimmste, weil auf die Einbildung wirkende unter den  idola theatri,  eine wahre Pest des Verstandes." Diese ehegerichtliche Sentenz, um jene Scheidungsforderung so zu nennen, kling in der mannigfachsten Weise bei den Nachfolgern fort. Bei den deistischen Philosophen versteht sich die Auseinandersetzung von selbst; meist finden wir von ihnen ein bezeichnendes Schriftenpaar, das in enger Wechselwirkung zusammenhängt: so beim Vater des Deismus, EDWARD HERBERT of CHERBURY, neben der Schrift "de veritate" die andere "de religione", bei LOCKE neben seinem Hauptwerk "Über den menschlichen Verstand" das deistisch wichtige Buch "Von der Vernünftigkeit des Christentums", um gegenüber von der seitherigen Unterordnung der Vernunft nun deren Supremat zu sichern. Auch bei den Skeptikern kann die Berührung mit dieser Zeit- und Lebensfrage nicht fehlen, ob sie nun wie die früheren, z. B. GLANVILL, HIRNHAYM, HUET, ihre theoretischen Zweifel einem supranaturalistischen Glauben als Opfer darbringen, oder wie namentlich HUME umgekehrt erklären, das einzige "katholische", wirklich und auf die Dauer durchschlagende Gegenmittel gegen den papistischen Aberglauben und die damit verbündete abstruse Philosophie mit ihrem metapyhysischen Jargon sei ein genaues, richtiges, seiner bescheidenen Grenzen wohlbewußtes Denken; und diese Heilkraft sei nicht das Geringste, was ihm Wert verleiht. Dasselbe Streben nach einer Lösung und kritischen Scheidung des ungesund Verbundenen erweist sich nicht minder zugunsten der Moral, ja der Religion selbst; denn es gehörte eben zur charakteristischen Aufgabe jener reformierenden Zeit.

Eng zusammen mit dieser Opposition gegen die kirchlich-theologische Bevormundung hing begreiflicherweise der Widerwille gegen die ganze, in einem kirchlichen Gewand auftretende und in solche Fragen verflochtene  scholastische Philosophie  selbst. Und auch die großen Errungenschaften des griechischen Geistes, die man zunächst nur durch dieses trübe Medium sah, wurden in die gleiche Verachtung hineingezogen, Metaphysik wurde (3) ein gar spöttisches Tadelwort. Was weiß nicht BACON über die phantastisch-leeren Begriffe  Substanz, Qualität, Sein  und dgl. zu klagen und zu höhnen; unter den  idola theatri  nimmt das  genus sophisticum  aristotelischer Scheinweisheit die zweite, noch immer recht bedenkliche Stelle ein. Die Griechen sind ihm geschwätzig, wie Kinder, aber ebenso unfruchtbar; des ARISTOTELES Lieblingstochter, die Teleologie, ist eine gottgeweihte Jungfrau, zu nichts nütze, da sie nicht gebiert. (4) Auch der Rationalist CARTESIUS, wenngleich etwas weniger scharf, ist dennoch fest überzeugt, "quam multa falsa pro veris admiserit ineunte aetate", daher "proinde omnia semel funditus esse evertenda atque a primis fundamentis denuo inchoandum, si quid aliquando firmum et mansurum cupiat in scientiis stabilire" (Meditation I, init.) Bei LOCKE der gleiche Spott ber die Wort- statt Sachphilosophie der Substanzler, die sich bei ihren Definition ewig im Kreis drehen, wie die Antwort auf die Frage der indischen Philosophen, auf was die Erde ruht [mnemo#wolfdom].

Auch in HUME hat sich dieser Widerwille gegen die lebenszähe Scholastik und alte Philosophie noch keineswegs gelegt oder beruhigt; er steht hierin mit der ganzen Reihe auf gleichem Boden der Antipathie. Zwar geht er nicht soweit, wie der frivol werdende BOLINGBROKE, nach welchem die Eitelkeit der alten Philosophen ebensoviel Schuld an der Weltverfinsterung hat, wie das betrügerische Interesse der Priester. Wenn weniger Philosophie wäre und mehr einfacher Menschenverstand, gäbe es mehr Weisheit auf der Erde. PLATO namentlich behandelt jeden Gegenstand wie ein philosophierender oder noch eher wie ein bombastischer Poet, ja wie ein wahnsinniger Theologe; seine abgeschmackte Ideenlehre hat einen Strom chimärischer Erkenntnis bis auf die Gegenwart gewälzt; und vollends die Neuplatoniker seien die reinsten Narren. - Indessen kann auch HUME nicht umhin, immer wieder seine Lauge über die metaphysischen Grundbegriffe des Altertums auszugießen, die schon LOCKE ein Dorn im Auge sind, sie als eitle Fiktionen zu brandmarken und das Studium der alten Philosophie (5) von diesem Gesichtspunkt aus zu empfehlen, daß es ja für die Kenntnis unseres Herzens und moralischen Zustandes auch heilsam ist, wenn man sich Morgens an die wirren Träume der Nacht erinnert - ein schlechtes Kompliment für die alten Weisen, die damit für nicht viel mehr als Fieberkranke erklärt sind! - Gewiß werden wir von unserem heutigen Standpunkt aus dem maßvollen und harmonisierenden LEIBNIZ ganz Recht geben, wenn er sogar an dem milderen CARTESIUS tadelt, daß er "à ce que me semble a reformé trop fort" [übertrieben reformierte - wp], daß er in einer gewissen "affectation d'originalité, de singularité et de nouveaute" [an einem Übermaß an Originalität, Einzigartigkeit und Neuheit leidet - wp] (6) zu weit in der Geringschätzung des hochverdienten, geistvollen Altertums gegangen ist.

Allein versetzen wir uns in jene Zeit eines kräftig aufstrebenden Neuanfangs hinein, der nun einmal gewiß ein Bedürfnis war, so gilt das Wort: "Der Lebende hat Recht"; ohne einige Übertreibung aber geht es beim Pendelschlag der Geschichte nie ab. - Wie nötig dem allgemeinen Bewußtsein eine völlige Neufundamentierung erschien, das sehen wir an der tatsächlichen Wirklichkeit und Leistung aller, selbst der Gemäßigsten. Sogar ein LEIBNIZ kann nicht umhin, "de  primae  philosophiae  emendatione"  [eine erste Philosophie der Veränderung - wp] zu schreiben. BACONs Instaurationsplan haben wir schon erwähnt, zu dem er wenigstens das  "novum organum"  lieferte. CARTESIUS nicht minder stellt "meditationes de  prima  philosophia" an und schreibt deren  principia;  SPINOZA ergeht sich "de intellectus  emendatione".  Was brauchen wir nach diesen bloßen Titeln noch weiteres Zeugnis, daß jene Zeit selbst mit den Anfangsgründen und der metaphysischen Grundlage des bisher Geleisteten durchaus unzufrieden war und das Bedürfnis eines völligen Neubaus fühlte, da in ihren Augen die scholastische Weisheit völlig Fiasko gemacht hatte!

Eine frische, kritisch-reformatorische Luft wehte durch alle Lande und Gebiete des Lebens wie des Denkens, auszufegen mit der abgestandenen, dumpfen Schüle der Vergangenheit. Man fühlte in sich den geschichtlichen Beruf, reinen Tisch zu machen, eine  tabula rasa  entweder einmal versuchsweise und vorläufig, gleichsam des Experiments halber herzustellen, wie CARTESIUS, oder sie geradewegs als das allein Wahre und Ursprüngliche zu behaupten und zu Grunde zu legen, wie LOCKE und alle Gegner des Apriori, oder wie sie es sinnlicher nannten, des angeborenen Bewußtseins- und Ideengehaltes. Im Gegensatz zur Übermacht einer allmählich erstarrten Geschichte und Tradition, des lawinenartig angewachsenen Ergebnisses der Jahrhunderte ging ein ausgesprochener Zug nach der Quelle, nach dem Originalen und Fundamentalen durch die Zeit, eine Rückwärtsbewegung als erste Bedingung wahren und gesunden Fortschritt (7); die zu jugendlich-kräftigem Selbstbewußtsein erwachte Subjektivität hatte den Drang, dem Verfahren der Kinder bei ihren Spielzeugen nicht ganz unähnlich das Naturrecht des Geistes, den kritischen Zersetzungs- und Zerstörungstrieb an der starren Objektivität, dem bloß Tatsächlichen walten zu lassen und die Geschichte auch einmal zur Probe auf den Kopf zu stellen. ROUSSEAUs berühmtes "retournons à la nature!" war schon jetzt wenigstens auf wissenschaftlichem Gebiet, ob ausgesprochen oder nicht, die Maxime der Zeit, die bald auch für Poesie und Kunst überhaupt demselben Drang folgend die Fesseln falscher Klassizität abstreifte und an der reinen Naturkraft neues Gefallen fand (vgl. das Wiederaufleben SHAKESPEAREs und die parallelen "Verjüngungen" des Geistes). Übersättigt und angeekelt von der  Meta physik hoffte man in der lauteren  physis  selber ein Erfrischungsbad zu finden, wie schon vereinzelte Scholastiker, so RAIMUND von SABUNDE oder NIKOLAUS von KUES auf das "Buch der Natur" als die beste Erkenntnisquelle hingewiesen hatten.

Neben der zentralen wissenschaftlichen Erscheinung dieses Geistes sind wohl besonders zwei eigentümliche Produkte jener Zeit von charakteristischer Bedeutung für deren Grundgepräge. Ich meine zuerst ihre  Robinsonaden.  Notwendig mußten die großen geographischen Entdeckungen, die plötzliche Erweiterungen des mittelalterlichen Horizonts sich spiegeln in einer Masse von abenteuerlichen, fabelhaften Reisebeschreibungen, namentlich phantastischen Seereisen. Abgeklärt und vom philosophischen Geist des Jahrhunderts durchhaucht tritt uns dieser Zug in die Ferne entgegen in dem Buch DANIEL DEFOEs von 1719, dem Original-Robinson Crusoe. Der beispiellose Erfolg desselben ist bekannt: Nicht nur, daß er rasch in alle möglichen Sprachen übersetzt wurde, sondern er fand auch schnelle eine Masse von Bearbeitungen und Nachahmungen. Jedes Land, jede Provinz, jedes Gewerbe und Geschlecht wollte seinen eigenen ROBINSON, also daß es schließlich in Deutschland allein deren gegen 60 - 80 gab. Schon diese glänzende Aufnahme zeigt, welch ein glücklicher Griff aus dem Leben jener Tage und in dasselbe hinein das Buch des Engländers war, wie richtig er in allgemeinverständlicher, populär ansprechender Weise das lösende Wort gefunden. Kein Wunder, daß besonders auch ROUSSEAU es so lebhaft preist und für einen EMILE keine bessere Lektüre weiß (daher denn auch die Wertschätzung in den Kreisen der philanthropischen Pädagogik KAMPEs u. a.). Gewiß aber ist es zunächst weniger der erzieherische, als der philosophische Gesichtspunkt, von dem aus der, die Zeit und Welt revolutionär zurückdrehende Genfer ihm die Anerkennung spendet. Denn es ist in der Tat für den, welcher in einem weiteren Überblick das Grundwesen jener eigentümlichen Periode erwägt, nicht zuviel gesagt, wenn man in DEFOEs Roman eine für jene Tage höchst bezeichnende Philosophie der Geschichte sieht und ehrt. Das fertige Gewebe der historischen Gegenwart wird aufgetrennt in seine elementaren Fäden; das Gewordene muß sich dazu herbeilassen, wie im Experiment des Naturforschers neu zu werden vor dem Auge des kritischen Beschauers. Gewerbe und Künste, Gesellschaftsbildung und Religion - Alles wird einer genetischen Definition  ab ovo  [vom Ei weg - wp] unterworfen. Der Isolierschemel des abstrakten, in sich reflektierten Gedankens kleidet sich schematisch in das Bild der einsamen Insel im weiten Weltmeer als eines trefflichen Versuchsfeldes der Theorie. Darum wollte auch gleich alles  seinen  ROBINSON haben, um in ihm seine Genealogie und Geburtsgeschichte zu spiegeln. Nicht ohne tieferen Grund aber erschien das Buch als Niederschlag der in der Luft liegenden Stimmung zuerst in England, welches auch mit der entsprechenden Richtung der Gedankenentwicklung voranging.

Neben dieser zunächst romanhaften Geschichtsphilosophie ist eine zweite, spezifisch englische Erscheinung zu beachten, die bis auf die Gegenwart nachklingt, ich meine die kritische  Sprachphilosophie BACON klagt, daß unter den "idola fori"  das  hauptsächlich Schaden stiftet, wenn die  verba  schlechte oder inhaltsleere  tesserae notionum  [gewürfelte Vorstellungen - wp] sind, wenn man mit Namen operiert, denen gar nichts Wirkliche entspricht, sondern nur Erdichtung und phantastische Voraussetzungen zugrunde liegen, wie z. B. bei dem Wort "Zufall" und dgl. LOCKE schreibt das ganze, vielleicht wichtigste und geistvollste dritte Buch seines "menschlichen Verstandes" über die Worte in ihrem Verhältnis zur Sache und scheidet geflissentlich zwischen Real- und Nominalessenz, realen und nominalen oder "frivolen" Propositionen. HOBBES ist resolutester Nominalist im eigentlichen Sinn des Wortes; ihm ist das Denken wesentlich nichts anderes, als das, an das Herkommen sich richtig anschließende Operieren d. h. Rechnen oder Komputieren mit Worten als den  monimenta  unseres  conceptus,  nicht der Sache (8) (Insbesondere eifert er gegen das scholastische Latein, diese "meist bedeutunglosen Reihen fremder und barbarischer Wörter", und empfiehlt dagegen als Prüfstein des Gehalts die Übersetzung in eine lebende Sprache der Neuzeit - dieselbe Behauptung und Forderung, welche sich auch, nur noch ausgeführter, bei LEIBNIZ in seinem Aufsatz "de stilo Nizolii" findet (9) und den Protest der Neuzeit gegen den sprachlichen Katholizismus des Mittelalters ausdrückt, wie die Reformation für ihre individuelle Nationalkirche auch die lebendige Volkssprache von einem zentralisierenden Romanisms zurückfordert. Erging doch damals auf allen Gebieten die Forderung der abtrünnigen Söhne an den Pabst: "Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gebührt!"). - Bei HUME finden wir zwar keine so ausdrücklichen und eingehenden Untersuchenden über Sprache und Worte, aber doch so vielfach die Bezeichnung einer Streitfrage als "verbal dispute", eines Begriffs als leeren Schalls und Wortklangs, daß wir sehen, er steht auf dem gleichen Boden und hat dieselbe Gedankenrichtung in sich aufgenommen, deren weitere Besprechung ihm gar nicht mehr nötig dünkt. Wenn aber schließlich eben diese Untersuchungen in STUART MILLs Logik mit größtem Nachdruck wiederkehren (10), so beweist diese geschlossene Reihe gewiß hinreichend, daß wir hierin eine recht eigentlich englische Erscheinung, wie nicht minder einen Ausdruck der Zeitstimmung vor uns haben, aus welcher die originale englische Gedankenentwicklung zuerst hervorging.

In letzterer Hinsicht gehört die so auffallend lebhafte Behandlung dieser Frage zu der kritischen Gesamthaltung gegenüber der Tradition und Jahrhunderte alten Überlieferung. Ist doch das Wort als Vehikel des Gedankens und Depositär des seither vom Geist Errungenen eben die leibhaftige Tradition, welche an einem sichtenden Wendepunkt der Geschichte nicht unbesehen frei passieren darf. Lange Jahre ist das Wort im Verkehr des "forum", mit BACON zu reden, umgelaufen; allmählich hat sich sein Gepräge so abgeschliffen, daß eine Einziehung und Umprägung Not tut. Oder es hat wie eine versiegelte Geldrolle bisher gegolten auf Treu und Glauben, Kraft des amtlichen Siegels der Schulen und der wertangebenden Aufschrift. Ob aber wirklich auch der Inhalt stimmt, ob es nicht als eine "vetustas erroris" nur durch eine lange Gewohnheit im Kurs war? Ein Öffnen und Nachzählen kann nichts schaden; denn man ist durch eine anderweitige Erfahrung gegen die Ehrlichkeit und Solidität der bisher geltenden Mächte tief mißtrauisch geworden. Gerade aber der Engländer als solider Geschäftsmann und tüchtiger Rechner will nicht gern betrogen sein; "Worte, Worte, Worte," wie HAMLET sagt, mag er nicht nur so leichthin als bare Münze nehmen.

So sind es außer dem Gesamtzug der Zeit auch noch andere, in der englischen Art und Geschichte wurzelnde Gründe, welche gerade dort das ungewöhnliche Interesse an der sprachphilosophischen Kritik weckten und bis auf die Gegenwart so wach erhielten. Einem Volk, das neben aller selbstbewußten Abgeschlossenheit so viel auf den sozialen Verkehr, das Leben und assoziierende Streben mit anderen hält, dem seine politische Entwicklung die Macht des mündlichen Rednerworts, wie der freien Meinungsäußerung in der Presse so nahe liegt, muß notwendig einen besonderen Sinn für das Bindeglied des Menschen, für das Wort, haben und es zum ausdrücklichen Gegenstand seiner Untersuchung machen. - Dazu kommt aber schließlich auch der Mischcharakter der englischen Sprache. Bei Sprachen von verhältnismäßiger Reinheit und Originalität ist Wort und Sinn, Klang und Gedanke so urwüchsig verschlungen, daß deren relative Trennung kaum zu Bewußtsein kommt. Das naive Bewußtsein meint bekanntlich, das Schwein heißt Schwein weil es häßlich ist. Schon das Lernen fremder Zungen löst diese unmittelbare Identität und läßt das Wort als die wechselnde Form erkennen;  daher  vor allem der bildende Wert dieser Übung. Der Engländer nun hat in seiner germanisch-romanischen Mischsprache diese Bildungsschule von Anfang an; für dasselbe Ding (z. B. das so hochwichtige Schifffahrtswesen) hat er angelsächsische und romanische Wortstämme oft in beliebiger Auswahl zur Verfügung; das muß ihn dem Nominalismus früh geneigt machen und seinem forschenden Denken die Richtung auf jene Fragen geben.

Wenn im Bisherigen die Vergleichspunkte mit der negativen Seite der Reformation, dem Abbruch des traditionellen Alten lagen, so handelte es sich für das Andere auch auf weltlich-wissenschaftlichem Gebiet um die Grundlegung und weiterhin den Aufbau eines Neuen, Solideren. Im Gegendruck gegen die seitherige Einförmigkeit und schablonenmäßige Nivellierung des Katholizismus mußte sich aber der protestantisch-reformatorische Geist notwendig differenzieren und in verschiedenen Parallelgestaltungen Ausdruck geben, welche bei wesentlich gleichem Gehalt durch eine verschiedene Mischung oder abweichende Stellung der einzelnen Momente mehrere Schattierungen des  einen  Grundgedankens repräsentierten. Bekannt ist ja die unumgängliche Unterscheidung der zwei reformatorischen Prinzipien, des formalen Schrift- und des materialen Glaubensprinzips, (11) jenes der beherrschende Ausgangspunkt für das reformierte System, dieses der bestimmende Mittelpunkt für das lutherische. Dort geht das Hauptstreben darauf, die Kirche und die Religion von allem eingedrungenen paganischen [heidnischen - wp] Stoff und Beiwerk zu reinigen; hier aber soll dem Menschen, gegenüber von judaistischer Veräußerlichung, in der Form des Glaubens die rechte Innerlichkeit und felsenfeste Heilsgewißheit zurückerobert werden. Oder dasselbe von einem etwas anderen Gesichtspunkt aus: die Religion, deren Wiederherstellung es galt, hat die zwei Pole der Freiheit und Abhängigkeit, in deren richtigem Spiel ihre Gesundheit besteht. Die Betonung des Schriftprinzips nun soll die rechte und echte Abhängigkeit, das wahrhaft verpflichtende Gesetz gegenüber von willkürlicher Menschensatzung und Erdichtung geben; die Hervorhebung des rechtfertigenden Glaubens aber als des alleinigen Heilswegs soll der Schutzbrief für die "Freiheit eines Christenmenschen" werden, dem fortan kein Bann und Interdikt [Kirchenbann - wp] oder auch kein ängstliches Zeremonial-Gesetz das innerste Leben und Weben des Gemüts antasten soll und verbittern können.

In ähnlicher Weise und mit offenbarer innerer Verwandtschaft schlägt auch der neuerwachte philosophische Geist in BACON und CARTESIUS von Anfang an zwei Wege nebeneinander ein. Jener, gleich der reformierten Kirche rücksichtsloser gegen das Althergebrachte, als die Schwesterrichtung, klagt vor allem in der stofflichen Neigung des englischen Wesens über die  Gehalt losigkeit und materielle Wertlosigkeit der seitherigen Begriffe und Systeme, in welche sich so Vieles allmählich eingeschlichen hat, was bei Licht besehen statt des nährenden Korns nur leeres Stroh und Spreu ist. Der Vater des neueren Idealismus dagegen vermißt vornehmlich die rechte Wahrheits- und Gewißheits form  und findet sie in der, freilich zunächst abstrakten Innerlichkeit des Bewußtseins, in seinem berühmten "cogito, ergo sum" und dem entsprechenden Kanon: "quae clare et distincte percipio, vera sunt" [Klare und deutliche Wahrnehmung ist wahr. - wp]. Seine Zweifel haben unverkennbare Ähnlichkeit mit LUTHERs Gewissensskrupeln und Seelenkämpfen, während wir eine solche Stimmung weder bei BACON, noch bei den Vätern der reformierten Kirche finden. - Der englische Empiriker will ferner dem Denken die rechte Quelle und Fundgrube des Wissens aufzeigen, und im Gesetzessinn seiner Nation gegenüber der seitherigen spielenden Willkür des Forschens und Experimentierens die bindende und determinierende Autorität des Objekts eindringlich machen. Im Idealismus des CARTESIUS soll er unerschütterlich letzte Standort gewonnen werden und der jugendlich aufstrebende Geist in den Genuß der lange vorenthaltenen Freiheitsrechte (das Vorspiel der späteren französischen "Menschenrechte") eintreten, indem er aus der Fremde heimkehrend bei sich selber Einzug hält.

Obwohl nach dieser Entwicklung der Idealismus und Empirismus vollkommen gleiches geschichtliches Recht haben, wird sich doch nicht leugnen lassen, daß das Erstgeburtsrecht, der Vortritt wenigstens für jene Zeit, dem empirischen Denken gebührt. Mit dem berühmten, höchst treffenden Bild BACONs zu reden hatte der auf sich selbst beschränkte Geist im fortgesetzten Spinnen seiner luftigen Gewebe nur aus sich selber seine Kraft und seine Fonds erschöpft, eine gewisse geistige Schwindsucht war eingetreten, für welche frische Luft und Landaufenthalt in der Natur das beste Heilmittel schien. Dem Zug der Zeit zum Kernigen und Originalen bot sich ohnedem die äußere, objektive Natur als nächstliegendes Gebiet des Forschens dar. Mit dem Auftun der weitesten Blicke auf allen Seiten und Feldern, mit dem Fallen einer Menge von Schranken des bisherigen Gesichtskreises erging auch an den Geist die Aufforderung, vor allem die erschlossenen Schätze aufzusuchen und emsig zu sammeln, um gleich den Gold- und Silberflotten Spaniens mit reichster Ausbeute heimzukehren. Auf die falsche Vernunftidentität des katholischen Mittelalters folgte naturgemäß zunächst der empirische Sinn für die bunte Vielheit und Mannigfaltigkeit, um nicht bloß mit Ameisenfleiß überall zusammenzutragen, sondern auch der Biene gleich den Ertrag aller Blumen innerlich zu verarbeiten. Diese höhere, vom Stoff gesättigte Arbeit freilich, die Herstellung der wahren Vernunftidentität blieb einer späteren Zeit vorbehalten; genug, daß sie einmal wenigstens als Ziel und Aufgabe hingestellt war. - Eine solche Bedeutung für die Zukunft hatte nun aber namentlich der parallele Idealismus. Mochte er bei der zunächst abstrakten Leerheit des kartesianischen Ich immerhin rasch wieder in die alten, ausgefahrenen Geleise einlenken, und mochte auch durch allerlei herbeigerufene dienstbare Geister aus der anfänglichen  tabula rasa  schnell ein neues "Tischlein, deck' dich!" nach fast scholastischem Geschmack werden, der einmal kühn an die Spitze gestellte Grundgedanke ging nicht verloren; ohne die Stetigkeit des auf festem Boden schreitenden Empirismus, in stets erneuten originellen, hochstrebenden Versuchen gelang es ihm allmählich, den solideren Bruder zu überflügeln und schließlich als das innerlich weit wertvollere Ferment in die Entwicklung mit der geschlossenen Kraft des zusammenhaltenden Gedankens einzutreten, während jener sich unterwegs in der zerstreuenden Vielheit des Stoffs zersplittert und verloren hatte oder als Skeptizismus in die Irre lief.




Nach diesen Grundzügen, in welchen der Gesamtcharakter des philosophischen Neuanfangs und der zuerst mit ihrer Stimme einsetzenden, so stetigen englischen Entwicklung insbesondere skizziert werden sollte, geben wir die Hauptgedanken, durch welche FRANCIS BACON (1561 - 1626) bahnbrechende Bedeutung erhielt.

Mit dem gerechten Selbstbewußtsein, das großer Leistungen Grundbedingung ist, bezeichnet er selbst sein Vorhaben, die "instauratio magna" als den  partus maximus temporis  [die größte Geburt der Zeit - wp]. Blieb es in seiner Hand zunächst auch nur beim Grundriß, so verbietet uns doch der unstreitig gewaltige Einfluß seiner wirklichen Aufstellungen, an das "parturiunt montes" [die Berge sind in Arbeit - wp] zu denken. In der ersten hierzu gehörigen Vorarbeit "de dignitate et augmentis scientiarum" stellt er neben dem schon erwähnten, der ganzen Zeit eigenen Ausdruck der Unbefriedigung mit der seitherigen Leistung, nach d'ALEMBERTs treffender Bezeichnung "un catalogue immense de ce qui reste á découvrir" [ein riesiger Katalog von dem, was zu entdecken bleibt - wp] auf und leiht damit dem tiefsten Instinkt seines Jahrhunderts das Wort, nämlich dem Gefühl der riesigen Aufgabe, welche die mündig gewordene Menschheit sich gestellt sah. In schwellender Jugendkraft fühlte sie sich (mit einer leichten Umdeutung des LEIBNIZschen Wortes über die Monade) "decharge du passe et gros de l'avenir" [Verhinderung des Ausverkaufs von Vergangenheit und Zukunft - wp]. Diese zweite, berühmtere Schrift BACONs soll ein "novum organum" an die Stelle der seither alleinseligmachenden aristotelischen Logik setzen; denn  organon  war ja der Gesamtname für den Komplex der logischen Schriften des großen Stagiriten gewesen. Warum nun ber zunächst ein "novum"? Der Grundfehler des bisherigen Denkens war die Idololatrie [Bilderverehrung, Götzendienst - wp], Dienst der Idole statt verehrenden Suchens der Ideen gewesen: ein treffliches Wortspiel, wie ja BACON überhaupt der Meister geflügelter Worte war, deren viele in der Wissenschaft fortleben. Zugleich erinnert die theologische Färbung seines Haupteinwands an die polemische Stellung gegen die Kirche und Scholastik, mit welcher die Neuzeit ihren Kampf ums Dasein begann und BACON speziell als philosophischer "Ikonoklast" oder Bilderstürmer auftrat. - Was man bisher Wissen hieß, ist durch und durch mit Mangelhaftem und Falschem versetzt; und zwar besteht der Fehler ganz im Allgemeinen darin, daß man nicht die Wirklichkeit, das Objekt erfaßte, wie es ist, sondern überall das Subjekt einmischte. Statt pietätsvoll an die Natur und Sache sich hinzugeben, statt von ihr sich bestimmen und beschenken zu lassen, wie ein dankbares Kind von den Eltern, hat der Mensch sich selbst auf den Altar gesetzt und den allgemeinen oder besonderen Zügen seiner geschöpflichen Natur Verehrung und Opfer dargebracht. Dieser wissenschaftlichen Selbstvergötterung gegenüber gilt gleichfalls das Wort: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich der Wahrheit kommen."

Im Einzelnen sind die, den treuabspiegelnden Ideen untergeschobenen willkürlichen Idole, die Grundirrtümer oder Hauptquellen derselben wesentlich vierfacher Art, zwei davon wurzelnd in der Geschichte und dem Einfluß des menschlichen Gesamtverkehrs, zwei in der Natur des einzelnen Menschen selbst nach seinem allgemeinen oder individuellen Charakter.

Der Kampf gegen die scholastisch-kirchliche Tradition der Schule stellt voran die  idola theatri.  Denn mehr Wert, als den eines Schauspiels, ob es nun Tragödie oder Komödie der Irrungen heißt, hat das bunte Spiel der Systeme und Sekten nicht, wo einer nach dem andern auftritt und seine Sache vor dem beifallklatschenden Publikum deklamiert - aber im Grund ist es doch eitel Maske und Theaterherrlichkeit, Flitter und Tand; nichts Gediegenes, kein Leben! Verwandt sind die  idola fori,  die Irrtümer des gewöhnlichen Verkehrs, wo leere Worte allmählich die gangbare Scheidemünze werden und der Geist die grundschädliche Gewohnheit annimmt, ein Wort zur rechten Zeit sich einstellen zu lassen, wo Begriffe fehlen, oder das Denken zur Rhetorik zu verflüchtigen. - Verderblicher noch sind die Idole, welche in der menschlichen Natur ansich ihr Gaukelspiel treiben. Wollte man die  idola specus  (nach PLATOs Republik, VI, init.), d. h. die Idiosynkrasien [Eigenmischungen - wp], die Privatdispositionen und Neigungen zum Vorurteil und Irrtum aufzählen, so käme man mit diesem Sündenregister des individuellen Geistes gar nicht zu Ende. In den  idola tribus  dagegen, die der menschlichen Gattung überhaupt anhängen, lassen sich zwei auf Abwege verleitende Grundtriebe unterscheiden. Fürs erste der  metaphysische  Zug, welcher wähnt, das Maß aller Dinge sei der Mensch. Dies äußert sich als Hand, mit vorgefaßten Meinungen an die Dinge heranzutreten oder der eigenen Natur entsprechend überall mehr Ordnung und Regelmäßigkeit mit Gewalt vorauszusetzen und zu behaupten, als die Wirklichkeit eben einmal bietet; daher das Fortdrängen von Gründen zu Gründen ohne Rast noch Ruhe, die unaustilbare Neigung zur Abstraktion, der vermessene Flug, der mit  einem  Aufschwung den Gipfel gleich erreichen will und nun von einem hohen Turm herab die Natur nur in nebelhafter Verschwommenheit sieht, bei welcher die wahren Feinheiten und Eigentümlichkeiten selbstverständlich verschwinden und sich an der Stelle des frischen, farbenreich konkreten Lebens eine blasse Allgemeinheit dem schwindelnden Blick präsentiert. Diesem falschen Flug des metaphysisch-rationalen Verstandes muß man Bleigewichte an die Füße hängen, damit er hübsch ordentlich in der Tiefe auf festem Boden bleibt oder höchstens langsam und allmählich aufsteigt, wie es sich gebührt. - Hart daneben findet sich in der widerspruchsvollen Menschennatur der entgegengesetzte  sinnliche  Zug, in einem raschen vorschnellen Zufahren für wahr zu halten und als wirklich zu nehmen, was doch nur so scheint und in der Tat bloß von subjektiver Natur ist, wie Farben, Töne usw.

So ist der menschliche Geist, der geschichtlich gewordene, wie der ungeglättet natürliche ein  speculum inaequale  [unebener Spiegel - wp], das mit seinen Trübungen, Unreinheiten und Unebenheiten nur verzerrte Bilder, nur Karikaturen statt der wirklichen Charaktere der Dinge liefert. Soll er darum ein wirklich brauchbares "organum" zur Erkenntnis der Dinge werden, so muß das "novum" in gründlicher Politur und Abschleifung bestehen, d. h. in Ablegung aller subjektiven Zutaten, welche seine reine Rezeptivität hindern. Ohne Bild, das geforderte Neue ist die  methodische Erfahrung  als der allein rechte Weg zu einer soliden Wahrheit:  Erfahrung welche begierig und demütig lernt, statt hochmütig zu meistern, welche treu und geduldig aus dem Buch der Natur interpretiert, statt zu antizipieren (12);  methodische  Erfahrung aber und planmäßige Induktion statt der, nur wildwachsende, sozusagen naturalistische Begriffe gebenden  experientia vaga  [vage oder zufällige Erfahrung - wp], wie sie schon seither vereinzelt und sporadisch, aber ebendeswegen mehr als ein Spiel der Neugier, denn als ein fruchtbringendes und zum Ziel führendes Forschen getrieben worden war, man denke an ALBERTUS MAGNUS, THEOPHRASTUS PARACELSUS u. a., an die unklar gährenden Ansätze der späteren Chemie und Astronomie oder Meteorologie in Alchemie und Astrologie, die es galt in die Zucht zu nehmen und so auf die Bahn der solide geordneten Wissenschaft überzuleiten, wie es in irenisch [friedfertig - wp] anerkennender Weise namentlich LEIBNIZ tat (13). Man darf, fordert BACON, nicht bloß bald da, bald dort passiv zusehen, wie es sich eben trifft oder auch nicht trifft, sondern muß die Natur wißbegierig befragen, im kunstmäßig angestellten Experiment der willigen Entfaltung und Offenbarung ihrer Gesetze lauschen; statt der  enumeratio simplex, ubi  [einfachen Aufzählung, wo-wp]- vielleicht rein zufällig, daher nichtssagend -  non reperitur instantia contradictoria  [um eine widersprüchliche Instanz auszuschließen -wp], muß ein wohlbedachtes Kreuzverhör der Zeugen, das  experimentum crucis  [Kreuzversuch, kritisches Exp. - wp] vorgenommen, in einem anatomischen Zerlegen und Eliminieren der reine, letzte Sachverhalt ermittelt werden.

Mit dieser Methode ist dann aber auch eine vollkommen objektive und zutreffende Erfahrung möglich. Wie schon angedeutet wurde, ist nämlich BACON und wohl das englische Naturell überhaupt, obgleich es zuletzt den bedeutendsten Skeptiker der Neuzeit an HUME erzeugte, im innersten Grund durchaus nicht skeptisch, sondern überwiegend dogmatisch geartet. Es ist das auch für den hoffnungsfreudigen Neuanfang mit seinem starken Selbstbewußtsein und objektiven Kraftgefühl eine ganz natürliche und passende Stimmung, indem wir in den skeptischen Anwandlungen des kartesianischen Idealismus gleichfalls nicht Schwäche, sondern nur die Hypersthenose [Entzündung - wp] eines nervös gespannten Subjektivismus erblicken, der sich deswegen mit den Jahren bald beruhigt. BACON seinerseits ist überzeugt, daß bei einer Anwendung der richtigen Organe das (echt englische) Ziel der Wissenschaft, die genaue Kenntnis und Beherrschung der Natur zum Nutzen des Menschen gar wohl erreicht werden kann. Denn das Wissen ist seinem Wesen nach das einfache Abbild des Seins, beide verhalten sich (nach seinem zugrunde liegenden Bild) wie der reflektierte und direkte Strahl. - Ja noch mehr, es ist sogar Erfahrung im eminenten Sinn möglich. Denn alles Bisherige soll durchaus nicht das Letzte, sondern nur das Mittel zum Zweck, der Weg zum Endziel oder zur eigentlichen Philosophie sein. In innigster Verbindung von Anschauung und Verstand sollen aus der kunstvollen Einzelbeobachtung die allgemeinen Formen und Ideen, die  fontes emanationes  [Quellen des Ursprungs - wp], wie er es nennt, d. h. der Dinge reales Grundwesen gefunden werden. So verfehlt wie der Spinne luftiges Treiben wäre der bloß sammelnde Ameisenfleiß, der das Gewonnene nicht zu verwerten und bienenartig zu verdauen wüßte. Man darf bei der gefundenen Vielheit nicht stehen bleiben, sondern muß von der Besonderheit aus fortsuchen, bis das allgemeine Gesetz gefunden ist. Denn die wahre Einheit ist keine Abstraktion oder bloße Subtilität. Läßt sich doch auf diesem Weg sogar die transzendente Wahrheit als  theologia naturalis  ganz wohl finden, um die Trias des Denkens: Natur, Mensch, Gott zu erschöpfen.

BACONs Gesamtstandpunkt mit kurzen Worten zu charakterisieren ist keineswegs leicht. Offenbar liegen ja bei ihm noch verschiedene Elemente gährend beeinander, die sich erst später scheiden. Wie stimmen aber nur seine ziemlich radikalen anfänglichen Forderungen und Ausschließungen mit seinem eigenen Ersatz am Ende zusammen? Nehmen wir zu Beginn den Grundvorwurf des abgöttischen Anthropomorphismus, wonach der Mensch sich immer selbst in die Natur hineinlegt oder sein eigenes Wesen in die Dinge projiziert. Nun redet aber BACON selbst wieder von der Natur im Stand der Freiheit und der Knechtschaft oder Verirrung, von gewissen Trieben, die sie beseelen sollen, von Zuneigung und Abneigung der Körper gegeneinander, von einem Hunger der Materie, von Vorstellung oder Wahrnehmung (nur ohne Empfindung), wodurch sich allein die Aufeinanderwirkung des Getrennten erklären läßt. All das ist die verpönte Übertragung menschlicher Kategorien auf ein ganz anderes Gebiet, eine Inkonsequenz, in der wohl BACON seinen Tribut an die mystische Vergangenheit bezahlt, die Keinen auf das erste Mal schon frei gibt. - Oder betrachtet man die Sache strenger philosophisch ohne das theologische Schema der Idololatrie, so ist es sehr fraglich, ob  seine  (gewiß im wesentlichen richtige) Fassung des Begriffs "Experiment" mit der reinen, bloß lernenden und hörenden Hingebung ans Objekt bestimmt, die er zuerst verlangt. Ein Befragen der Natur, statt nur dumpf-passiven Zusehens, ein Kreuzverhör mit derselben, ein anatomisch-eliminierendes Zerlegen ihrer ansich verbundenen Momente setzt doch gewiß eine relative Meisterschaft über sie voraus; wer fragt, der trägt auch schon die Antwort oder zumindest verschiedene Möglichkeiten derselben antizipierend in sich. Mit  einem  Wort, wie KANT in der Vorrede der "Kritik der reinen Vernunft" mit so großem Nachdruck als das Verdienst BACONs hervorhebt, ein derart methodisches und kunstmäßiges Experimentieren ist bereits "auf dem Heeresweg der Wissenschaft", d. h. es trägt das Apriori als seine beherrschende Seele in sich und ist, ob zugestanden oder nicht, kein Schüler mehr, sondern "bestallter Richter, der die Zeugen  nötigt,  auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt." - Und wenn der Geist nach BACON nicht ruhen darf, bis er die letzte Einheit, das wahrhaft Allgemeine gefunden hat, das er nicht für eine leere, subtile Abstraktion halten darf, so ist das genau der metaphysische Zug, der unter den  idol tribus  die erste Stelle einnahm. Selbst über die Natur hinaus ins metaphysische Gebiet der  theologia naturalis  will BACON schließlich dem Zug des Geistes zu dringen verstatten. So können also die bisherigen Idole doch eigentlich  ansich  keine Idole gewesen sein, und der bisherige Weg war nicht spezifisch fehlerhaft, sondern es wurde nur eben das genau Richtige bis jetzt noch nicht getroffen und auf dem an und für sich berechtigten Weg oder zumindest in der nicht zu verwerfenden Richtung etwas zu rasch und übereilt gesucht. Der qualitative Unterschied zwischen dem, was BACON so energisch verwirft, und dem, was er dafür empfiehlt, wird unter der Hand zu einem bloß quantitativen, zu einer Frage der Zeit, seine Übereinstimmung mit den Gegnern stellt sich viel größer heraus, als er selbst weiß oder zugibt.

Ihn einen Empiriker im Vollsinn des gewöhnlichen Wortes zu nennen, verbieten also diese starken rationalen Zusätze, wenn er auch immerhin um des Grundzugs willen der Vater der empirischen Richtung genannt werden mag. Wie alle lebensvollen Anfänger einer neuen Periode ist er eine reiche Natur, deren Vorrecht sogar Widersprüche sind; man denke nur an LUTHER! Leicht kann sich, da sie nicht abgeschlossen haben, ein Streit über sie erheben, in welches Fachwerk der fertigen Nomenklatur sie wohl gehören mögen. Erst die Nachfolger, die von ihrem Erbe zehren, arbeiten die eine oder andere Seite ihres Geisteslebens reinlich zu einem konsequenteren, aber eben darum auch vielleicht zu einem geripp- und filigranartigen System aus. So lag in BACON der folgenreiche Anstoß für verschiedene Richtungen und Bestrbeungen vor, je nachdem die Peripherie oder das Zentrum seiner Leistung in eine weitere Arbeit genommen wurde.

Selbst der, aus der italienischen Ahnungsphilosophie stammende mystische Platonismus der Naturbetrachtung bei einem MORE, CUDWORTH u. a. war in der Anschauung des sonst nüchternen BACON nicht ohne Anklänge, wie das oben Hervorgehobene aus seinem neuen Anthropomorphismus zeigt. Aber natürlich war dies vor allem zur Abstoßung durch die weitere Entwicklung bestimmt, der Eierschale gleich, die das ausschlüpfende Hühnchen noch eine Weile an sich trägt. - Auch in seines Zeitgenossen und Bekannten HERBERT von CHERBURY (1581 - 1648) interessanten Sätze "de veritate" - seine Haupt- und Lieblingsschrift hieß so - liegt nichts mit BACONs Denken schlechthin Unvereinbares, wenngleich er die rational-idealistische Seite daran  ausschließlich  vertritt. Seine Absicht ist, beim Widerstreit der theologisch-philosophischen Lehren sich selbst eine Ansicht zu bilden und schließlich zu finden: "Was ist Wahrheit?" Daher sein Buch und dessen Titel. Dasselbe beschäftigt sich zuerst mit den Bedingungen der Wahrheit, d. h. mit der Frage, wie und wann die subjektiven Vermögen des Menschen, die ihm als Gegenstücke der einzelen Daseinskreise wichtig sind, den Dingen entsprechen. Unter ihnen ist das wichtigste der  intellectus,  der sich mit der  veritas complexa  oder dem Allgemeinen beschäftigt. Er ist - theologisch-schematisch von ihm ausgedrückt - etwas wahrhaft Göttliches und bedarf des äußeren Dienstes der Gegenstände nicht, sondern erfreut sich seiner eigenen Wahrheiten, der  notitiae communes,  die dem Geist ursprünglich mitgegeben sind - sie bilden den Hauptgegenstand der Untersuchung. In ihnen hat der Mensch (mens tanquam coelitus imbuta [der Geist von einem Glanz durchdrungen - wp]) den gleichsam göttlich verliehenen Prüfstein zur Beurteilung der Objekte, die auf diesem "Welttheater" auftauchen. Sie verkündet der Spruch der Natur auf dem inneren "Forum". Weit entfernt, daß jene Elemente oder heiligen Prinzipien von der Erfahrung oder Beobachtung abgeleitet würden, machen sie die Erfahrung und Beobachtung allererst möglich; vornehmlich besteht die Moral und Mathematik fast ausschließlich aus ihnen; sie sind so wenig "Experimente", daß ohne sie gar kein Experimentieren geschehen kann. Werden sie freilich nicht durch die geeigneten Gegenstände erweckt, so machen sie sich auch nicht bemerkbar (sua involutae pace et silentio delitescunt, nisi excitentur). Entdeckt werden sie übrigens am besten, wenn man auf den  consensus communis  achtet und das im Auge behält, worin alle Menschen miteinander übereinstimmen. Fort also mit denen, welche unseren Geist für eine  tabula rasa  oder  abrasa  erklären! - Die allerdings meist antithetische Beziehung auf BACON ist in diesen Worten und Sätzen unverkennbar. Nach dem Obigen fehlen jedoch auch die Berührungspunkte nicht; denn der Vorkämpfer solcher im Mikrokosmos schlummernden und den Gebieten des Makrokosmos genau entsprechenden  notitiae communes  könnte sich immerhin mit der Lehre von den  fontes emanationis,  den realen Ideen der Dinge verständigen. Und was die  tabula rasa  betrifft, so ist es bei BACON die eigene Sache, daß er in der Mitte stehend zwischen CARTESIUS und LOCKE nicht zu einer klaren Entscheidung kommt, wenn er auch eigentlich wie dieser die tabula rasa als das Wesen des natürlichen Geistes behaupten oder sie nur wie jener der vorläufigen Reinigung wegen herstellen will. Schließlich hat HERBERT allerdings Recht, wenn er seine Aufstellungen im Gegenstaz zur Haupt- und Grundrichtung BACONs weiß. - War seine Denkweise durch den Lauf der Geschichte auch nicht bestimmt, in England irgeneine Nachfolge und weitere Bedeutung zu erlangen, so diente sie doch dazu, durch die Hervorhebung und Steigerung eines der in BACON vereinigten Elemente die Scheidung und Klärung des Beieinanderliegenden rascher herbeizuführen und vermöge der Oppostion zur energischen und ausschließlichen Verfolgung der einmal eingeschlagenen Hauptrichtung zu veranlassen. Ist es doch unverkennbar, wie vielfach in Worten, Wendungen und Gedanken gerade LOCKE durch den Gegensatz zu HERBERT angeregt und bestimmt ist.

Stellten die Bisherigen nur Seitenschößlinge aus der reichen Wurzel BACONs dar, so ist als zentrale Bedeutung jenes Mannes, wie bei CARTESIUS, in erster Linie das Formal-Methodologische zu nennen und als Hauptader, aber jetzt im Unterschied von jenem, der Zug zur Empirie zu bezeichnen. BACON erklärt sich selbst nur für den Wegweiser anderer, denen es auf diesen Bahnen mehr als schon ihm vergönnt sein mag, auch materielle Ausbeute zu geinnen. So gehen ja in jener Zeit die großen Entdeckungsreise, die Auffindung neuer Land- und Seewege voran, um alsdann vom stoffsuchenden Handel verwertet zu werden. - Das Nächste, was also geschehen konnte, war, dieser Weisung zu folgen und die neue Methode der Induktion mit darauf folgender Deduktion auf  dem  Gebiet in Anwendung zu bringen, das BACON als den, seinem Verfahren nächstliegenden und verwandtesten Stoff bereits mit Vorliebe in seinen Beispielen ausgezeichnet hatte: ich meine das Gebiet der  Naturwissenschaft.  Schon zu seinen Lebzeiten hatte die Privatregsamekeit etlicher Gelehrter begonnen, seinem und der Zeit Lieblingsgedanken durch die Bildung einer kleinen naturwissenschaftlichen Gesellschaft einen festen Boden und gesicherten Halt zu bereiten. Im Jahr 1662 wurde dieselbe amtlich erweitert und sanktioniert als "regalis societas Londini pro scientia natural promovenda". Ihr ausgesprochener Grundsatz, das Experiment zur ausschließlichen Methode zu machen, bezeichnet den Sieg der Forderung BACONs und den Anfang einer Reihe der fruchtbarsten Entdeckungen. Die wichtigste war NEWTONs (1643 - 1727) Gravitationslehre. Mit ihr als einem echten Kind der Neuzeit hat die willkürliche Phantastik, die im ptolemäischen System, ja selbst in den Ansichten von TYCHO de BRAHE noch spukte, ein für allemal ein Ende durch die reine Rationalität gefunden. Zugleich aber sind die hochverdienstlichen Vorarbeiten und emsigen Einzelbeobachtungen der vorangehenden Forscher auf ihre "fons emanationis", das durchgehend waltende allgemeine Gesetz zurückgeführt; die Deduktion ist auf das Glücklichste mit der Induktion verbunden.

Auf dem eigentlich philosophischen Gebiet dagegen erwies sich in genauem Anschluß an BACONs Bahnbrechung eine weitere, eingehendere Verfolgung der kritisch-methodologischen Seite unter einer eigentümlichen Verschlingung des formellen und materiellen Gesichtspunkts als die echteste und wichtigste Aufgabe der stetigen Nachfolge und Weiterarbeit. Ein neues Organ der Erkenntnis hatte jener gesucht; das ist aber in letzter Instanz nicht diese oder jene einzelne Verfahrensweise, sondern der menschliche Geist selber, von dessen Mängeln gerade die seitherigen Mißerfolge kommen sollten und mußten. Eine Aufdeckung und Abstellung derselben als erstes Geschäft der  instauratio magna  lag gleichfalls in der Idolengallerie schon vor. Und wie sehr eine solche das Bedürfnis der Zeit traf, beweist eine Reihe paralleler Schriften von damals oder wenig später. So schriebt z. B. auch HERBERT eine besondere Abhandlung "de causis errorum", der Arzt THOMAS BROWNE im Jahre 1646 eine "pseudodoxia epidemica or inquiries into vulgar and common errors" unter alleiniger Empfehlung der Vernunft und Erfahrung, als der beiden Grundpfeiler der Wahrheit. Jedoch konnte selbst die Leistung BACONs nicht als genügend und abschließend in diesem Punkt anerkannt werden. Einmal hatte er die wichtige negative Frage mehr nur nebenher und als Voruntersuchung behandelt, sodann aber namentlich, wie wir oben betonten, sehr Ungleichartiges, allgemein und notwendig Menschliches mit rein zufällig Individuellem und Vermeidlichem zusammengestellt und eben darum keine strenge Konsequenz zu erreichen vermocht. In den offenbaren Widersprüchen zwischen seinen negativen und positiven Aufstellungen regte sich die unabweisbare Forderung des Neuansatzes, der überwiegenden, ja fast ausschließlichen Untersuchung eben über das Geistesorgan. Dabei lag es nahe, zur Erlangung von mehr innerer Folgerichtigkeit das Eine der Momente, nämlich das rationalistische, welches dort noch mitvorlag, mehr fallen zu lassen oder zurückzustellen, größeren Ernst zu machen mit der so nachdrücklich geforderten und schließlich doch nicht gehaltenen schülermäßigen Rezeptivität des Geistes, und den bloßen Beobachtungsstandpunkt des  radius reflexus  ohne jegliche Zutat eigenen Lichtes einzunehmen. Wenn auf diese Weise Hoffnung war, das negative und positive Element bei BACON harmonischer zu vereinigen, so schien nicht minder das formale und materiale noch besser als bei ihm zusammenzustimmen. Hatte er doch immer davor gewarnt, allzu rasche Schritte zu machen und sich ohne festen Grund und Boden an weitere Aufgaben zu wagen. Als eine solche vorschnelle Abschweifung aber konnte es (in abstracto) immerhin erscheinen, wenn die neue Methode sich sogleich der  äußeren  Natur zuwandte, statt vorher das sachlich viel näher liegende Objekt, dessen Bestimmung für alles weitere maßgebend war, ich meine die Natur des eigenen Geistes, auf das Genaueste zu untersuchen, um Form und Wert seines Lebensprozesses festzustellen.
LITERATUR: Edmund Pfleiderer, Empirismus und Skepsis in David Humes Philosophie, Berlin 1874
    Anmerkungen
    1) als "langlebige", wie SCHLEIERMACHER es ausdrückt.
    2) HUME, Werke III, Seite 131 - 132; ich zitiere nach der schönen Ausgabe seiner "philosophical works", Edinburgh-Boston, 1854.
    3) in treuer Befolgung von NEWTONs Wahlspruch: "Hüte dich vor Metaphysik!"
    4) Die wenigstens in der Absicht große Leistung desselben, die Kategorientafel verspottet HOBBES mit den Worten: cepit Aristotelem  libido quaedam pro autoritate sue, cum rerum non posset, verborumg tamen censum peragendi. 
    5) HUME, Werke I, Seite 274
    6) LEIBNIZ, Philosophische Werke, Ausgabe ERDMANN, Seite 167
    7) gleichwie auf dem Gebiet der religiösen Reformation das reine Urchristentum, teilweise praktisch wie schon von den Waldensern, als anzustrebendes Ziel aufgestellt wurde.
    8) HOBBES, "Opera latina", London 1839, Bd. I, Seite 11f
    9) vgl. mein Buch über "Leibniz als Patriot", Seite 692f.
    10) Vgl. auch die Bedeutung, welche sie in des englischen Deutschen FRIEDRICH MAX MÜLLERs religions- und sprachgeschichtlichen Studien und Mythenbildungserklärung besitzen (Wissenschaft der Sprache, Bd. II).
    11) Beide Bestimmungen könnten freilich bei der Relativität und Amphibolie dieser "Reflexionsbegriffe" ebensogut miteinander vertauscht werden.
    12) Vgl. die entsprechende Grundforderung in der reformatorischen Kirche, welche gleichfalls statt willkürlicher Dogmenscheidung die Exegese [Auslegung, Erläuterung - wp] der allein maßgebenden Schrift verlangt.
    13) Vgl. PFLEIDERER, Leibniz als Patriot, Seite 744f