cr-4cr-2MillTh. AchelisP. NatorpE. PfleidererPh. FrankC. Göring    
 
ELSE WENTSCHER
Das Problem des Empirismus
[dargestellt an John Stuart Mill]
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 "John Locke  unternimmt es als erster, die Tragweite unseres Verstandes systematisch zu untersuchen, damit wir uns nicht mit Problemen beschäftigen, von denen unser Denken sich keine klaren Begriffe bilden kann. Diese Untersuchung führt ihn zu dem Ergebnis, daß wir von geheimen Kräften, vom Wesen des kausalen Geschehens, von körperlichen oder geistigen Substanzen keine Begriffe haben, weil unser Erkennen über die von Sinnes- und Selbstwahrnehmung gezogenen Grenzen nicht hinaus kann."


Vorwort

Es gibt wenige Philosophen, die eine Lehrmeinung so vollkommen zuende gedacht haben, wie JOHN STUART MILL den Empirismus. Er hat ihn durchzuführen versucht in der Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie, ebenso in der Ethik und Soziologie. Überall setzt er der deduktiv-rationalen Gedankenführung die Erfahrungsgrundlage, den überlieferten Begriffen und dem Vorurteil der Meinung die Analyse der realen Tatsachen entgegen; nirgends will er eine Ansicht gelten lassen, die nicht in positiven Tatsachen ihre Erfahrungsgrundlage nachweisen kann; Leidenschaft für die Wahrheit und der Wunsch nach Objektivität sind die Hauptmotive seiner Gedankenführung. Heutzutage, wo sich das Interesse für Philosophie neu belebt, wo die verschiedensten Geistesströmungen dem philosophischen Denken neue Nahrung zu geben suchen, wo die Geister hart aneinander geraten, ist uns eine Klärung der philosophischen Grundbegriffe vor allem notwendig. Wir werden sie am besten gewinnen, wenn wir kritisch den Gedanken eines Philosophen folgen, der  eine  Geistesrichtung,  eine  Weltanschauung zuende zu führen versucht hat. So bietet uns die Vertiefung in MILLs System die Antwort auf die Frage: Ist der Empirismus, als Basis einer Weltanschauung, geeignet und zureichend? Und - sofern er es nicht ist - wo liegen seine Grenzen? Wie ist er zu überwinden? Die vorliegende Schrift stellt sich die Aufgabe, diese Fragen anhand von MILLs Lehren zu untersuchen.

Noch in einer anderen Beziehung bringt die Problemlage unserer Zeit uns die Gedankenführung dieses Philosophen besonders nahe: MILL verbindet mit dem theoretischen Scharfsinn und der rückhaltlosen Kritik ein tiefes soziales und humanes Interesse. Darum sucht er, was er theoretisch als richtig und wertvoll erkannt hat, im Dienst der Menschheit nutzbar zu machen. Er hat sein Leben lang darum gerungen, eine gerechte und allseitig gegründete Lösung der sozialen Frage zu finden und alle in der Gesellschaftswissenschaft verknoteten Probleme vorurteilslos zu lösen; so bietet uns auch der Soziologe MILL reichste Anregung. Seine ethischen Untersuchungen aber zwingen uns schon durch den Zwiespalt zwischen der utilitaristischen Formulierung und dem alle seine Gedanken tragenden ethischen Idealismus Stellung zu nehmen zu der Frage, ob eine Ethik auf rein empirischer Basis durchführbar ist. So bieten uns MILLs Gedanken heute, wo wir auf allen Gebieten um eine Neugestaltung unseres Weltbildes ringen, in theoretischer wie praktischer Beziehung, reichste Anregung. Da im Jahr 1923 50 Jahre seit dem Tod des Philosophen verflossen sind, dürfte eine Erinnerung an ihn, der auch das deutsche Geistesleben weitgehend befruchtet hat, gerade jetzt besonders angebracht sein.

Wenn ich mir die Freiheit nehme, diesen Blättern den Namen BENNO ERDMANN voranzusetzen, so möchte ich damit bezeugen, daß ich vor allem diesem unvergleichlichen Lehrer die methodische Schulung und das kritische Rüstzeug verdanke, die mich befähigen, auf dem Gebiet der Geschichte der Philosophie mitzuarbeiten. - Zu dem Kapitel über MILLs Soziologie bin ich dem Soziologen der Universität Köln, Herrn Professor von WIESE, für wertvolle Anregungen verpflichtet, für die ich auch an dieser Stelle verbindlichsten Dank ausspreche.


Erstes Kapitel
Historischer Rückblick auf den Empirismus.
Mills Leben und Entwicklung.

Das empirische Denken ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung der englischen Philosophie; dort hat es seine Wurzeln, dort findet es seine höchste Blüte (1). So ist der erste Denker, der im Mittelalter energisch auf die Bedeutung der Erfahrung hinweist, der Engländer ROGER BACON. Er stellt der überlieferten Hingabe an die Autorität das eigene kritische Denken, der haltlosen Spekulation die empirische, auf Sprachkenntnisse und Mathematik gestützte Forschung und der Hingabe an die Abstraktion die Versenkung in Beobachtung, Erfahrung und Experiment gegenüber. Auch die englischen Scholastiker lenken den Blick vom Allgemeinen, Abstrakten hin zum Positiv-Konkreten. So faßt DUNS SCOTUS zwar das Allgemeine, die Universalien, noch als selbständigen, realen Wesensgrad; aber er lehrt andererseits: nicht ein Negatives, nicht ein Mangel, sondern eine Vervollkommnung, ja das wahre Ziel der Natur, ist die individuelle Existenz; denn in ihr tritt zum Allgemeinen etwas Positives, eine "ultima realitas" hinzu. Mit diesem Hinweis auf das Konkrete ist schon hier der kritische Gedanke verbunden, daß die menschliche Vernunft zum Beweis vieler metaphysischer und theologischer Lehrsätze unzureichend ist und ebenso die Überzeugung, daß das ursprüngliche Fundament aller Erkenntnis die empirische Wirklichkeit ist. - Auch der nominalistische Scholastiker, der endgültig mit der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] der Universalien bricht, ist ein Engländer: WILHELM von OCKHAM. Er geht von dem Grundsatz aus: "entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem" [„Wesenheiten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. - wp] und er lehrt: Nur das Einzelne ist wirklich, die Allgemeinbegriffe, durch die wir die realen Dinge beurteilen und erkennen, existieren nur in unserem Geist, als "conceptus mentis" als "actus intelligendi"; die überlieferte Lehre von ihrer realen Existenz hat, ebenso wie die Frage nach dem Prinzip der Individuation keinen Sinn. Auch in der Psychologie schlägt OCKHAM bereits Wege ein, in denen Züge des späteren englischen Empirismus ausgeprägt sind: Unsere Vorstellungen, so lehrt er, sind nicht Bilder, sondern  Zeichen  der äußeren Objekte, und das Denken besteht nicht nur in der Verbindung und Trennung abstrakter Inhalte, sondern auch in der Erforschung und Verarbeitung des in äußerer und innerer Erfahrung gegebenen  Konkreten. 

Führt der Bruch mit der platonisch-aristotelischen Weltanschauung mehr und mehr zur Erkenntnis, daß nicht Deduktion, sondern Induktion die fruchtbarste wissenschaftliche Methode darstellt, so ist es wiederum ein Engländer, der diese Methode zum Gegenstand eines eingehenden Studiums macht: BACO von VERULAM. Er zeigt, daß die Erforschung der Natur die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft ist, die jedoch erst einsetzen kann, wenn die ihr entgegenstehenden Vorurteile besiegt sind. Er versucht eine Analyse der auf Beobachtung gegründeten und durch das Experiment gestützten induktiven Methode. Sie gelingt ihm allerdings nicht, weil er selbst noch zu tief in der scholastischen Formenlehre befangen ist, und weil ihm die Einsicht in das Wesen des Kausalzusammenhangs abgeht, womit die richtige Einschätzung des Induktionsproblems untrennbar verbunden ist. Auch steht er der mathematischen Grundlegung der Naturerkenntnis verständnislos gegenüber. Aber ein anderes oft mit dem Empirismus verbundenes Moment zeichnet seine Wissenslehre aus: der pragmatische Zug. Das Wissen ist dem englischen Großkanzler nicht mehr, wie das griechische  theorein,  oder wie die mystische Versenkung, Selbstzweck; Wissen ist Naturbeherrschung, ist Macht: "tantum possumus, quantum scimus" [Wir vermögen so viel, wie wir wissen. - wp].

Empiristische Elemente enthält, freilich verbunden mit einer rationalistischen Gedankenführung, auch die Philosophie des THOMAS HOBBES. Er unternimmt insofern eine völlige Umkehrung der bisher in der Metaphysik herrschenden Methode, als er nicht von apriorisch-gewissen Prinzipien, sondern von der  Erfahrung  ausgeht; er verwirft alle Metaphysik und sieht die Aufgabe der Wissenschaft einzig darin, aus erfahrungsmäßig gegebenen Wirkungen die Ursachen denknotwendig abzuleiten und umgekehrt aus diesen die Wirkung zu erschließen. Erfahrung aber haben wir nur von Dingen, die wir durch unsere Sinne wahrnehmen, also von der Körperwelt. HOBBES ist ausgesprochener Sensualist und er zieht daraus und aus einer einseitigen Übertreibung der mechanischen Naturauffassung, die sein Zeitalter geschaffen hatt, materialistische Konsequenzen: Alles Wirkliche besteht in materiellen Bewegungen; auch unsere seelischen Erlebnisse sind im Grunde nichts anderes als körperliche Vorgänge in den Sinnesorganen, in Nerven und Blut. So finden wir bei HOBBES zum erstenmal in der neueren Philosophie den Empirismus ausgeprägt zum Sensualismus, und wir sehen ihn zugleich umschlagen in einen ausgesprochenen Materialismus. Eigenartig ist freilich, daß mit diesen beiden Momenten eine auf den überlieferten Nominalismus, auf Mathematik und Naturwissenschaft fußende dialektische Methode verbunden ist.

HOBBES' Hinweis auf die Wahrnehmung als Quelle der Erkenntnis verbindet seine Gedanken mit dem eigentlichen Begründer des englischen Empirismus, mit LOCKE. Dieser unternimmt es als erster, die Tragweite unseres Verstandes systematisch zu untersuchen, damit wir uns nicht mit Problemen beschäftigen, von denen unser Denken sich keine klaren Begriffe bilden kann. Diese Untersuchung führt ihn zu dem Ergebnis, daß wir von geheimen Kräften, vom Wesen des kausalen Geschehens, von körperlichen oder geistigen Substanzen keine Begriffe haben, weil unser Erkennen über die von Sinnes- und Selbstwahrnehmung gezogenen Grenzen nicht hinaus kann. Dieser empiristischen Kritik unseres Erkennens fallen die überlieferten angeborenen Ideen und die meisten der metaphysischen Dogmen zum Opfer; an ihre Stelle soll, als Ausgangspunkt der künftigen Forschung, die Analyse der Erfahrungstatsachen treten. So wird durch LOCKEs Empirismus die Axt an die überlieferte rationalistische Metaphysik gelegt; diese war ja aufgebaut auf die Überzeugung, daß unsere  ratio  das Seiende, wie es ansich ist, in sich abbildet. Sie muß darum einer Untersuchung zum Opfer fallen, die es unternimmt, unser Erkennen in die Grenzen der Erfahrung zurückzuweisen. So begründet LOCKE die Umwandlung der dogmatischen Metaphysik in Erkenntnistheorie, und er schmiedet die Waffen, mit denen HUME und KANT das Werk des Kritizismus vollbringen können.

Auch BERKELEYs Denken trägt, trotz der rational-metaphysischen Gestaltung seines Systems, deutlich empiristische Züge. Auch er geht ja von der Erfahrung aus, und er führt LOCKEs Analyse der Sinneswahrnehmung weiter bis zur völligen Auflösung des Substanzbegriffes in der Körperwelt. Nur aus Erfahrung stammt für BERKELEY die Kenntnis der Naturgesetzlichkeit; wir bemühen uns vergeblich, diese Gesetze denkend zu verstehen oder den Naturlauf a priori zu berechnen. Denn wir haben keinerlei Einsicht in den Sinn des Geschehens oder in das Wesen der Kausalität, wir kennen in der Natur keine wirkungsfähigen Kräfte; wir kommen über die Feststellung und Klassifizierung von Tatsachen nicht hinaus. In diesen Gedanken BERKELEYs ist zum erstenmal der positivistische Standpunkt angedeutet, der keine kausalen Zusammenhänge, keine wirkenden Kräfte in der Natur anerkennt, sondern sich damit begnügt, erfahrungsmäßige Verknüpfungen und regelmäßige Sukzessionen im Gegebenen aufzufinden. Dieser Positivismus ist hier freilich verbunden mit einer teleologisch gerichteten rationalistischen Metaphysik. - Ohne alle traditionellen Zutaten aber wird der Empirismus durchgeführt vom bedeutendsten Denker des 18. Jahrhunderts, von HUME. Er erkennt keine gültige Idee in unserem Geist an, zu der wir nicht imstande wären, die  impression  aufzuweisen, aus der sie gebildet ist. Von dieser empiristischen Überzeugung aus wendet er die Kritik am Substanzbegriff auch auf die Träger des geistigen Geschehens; vor allem aber richtet er seine Kritik auf den Nerv der dogmatischen Metaphysik, den überlieferten Kausalbegriff. Was BERKELEY angedeutet hat, das zeigt HUME in einer eingehenden scharfsinnigen Analyse: Weder die Sinnes- noch die Selbstwahrnehmung bietet uns eine Einsicht in kausale Zusammenhänge, in das Wesen einer Ursache oder einer Kraft; überall müssen wir uns damit begnügen, regelmäßige Aufeinanderfolgen festzustellen; niegends sehen wir ein "kausales Band", das diese Folge bewirkt, oder eine  impression,  auf die sich unsere Idee der Kausalität stützen könnte. Darum schließt HUME, daß es nur eine "gewohnheitsmäßige Verknüpfung in unserem Geist" ist, die uns zu der Erwartung veranlaßt, daß eine oft beobachtete Sukzession auch künftig eintreten wird. Wenn auch diese Verlegung der kausalen Beziehung ins Subjekt nicht haltbar ist, so wird HUMEs Kritik am Kausalbegriff doch der Angelpunkt für die Zersetzung der überlieferten Metaphysik, und sie ist die Grundlage, auf der JOHN STUART MILL weiterbauen konnte. Auch die Erforschung des Induktionsproblems hat HUME wesentlich gefördert, indem er auf den Zusammenhang hinweist, der zwischen diesem und dem Kausalproblem besteht. Insofern ist HUMEs Kritik recht eigentlich die Vorbedingung von MILLs induktiver Logik.

Eine andere Richtung des englischen Emirismus, die gleichfalls großen Einfluß auf MILL geübt hat, ist die an LOCKE anknüpfende Assoziationspsychologie. Die ersten Anfänge dieser psychologischen Methode reichen jedoch noch weiter zurück in die Entwicklung des englischen Empirismus: sie liegen in BACONs Forderung, daß die Psychologie eine Mechanik der Vorstellungen und Triebe sein soll, in HOBBES' Gedanken, daß alle komplizierten seelischen Vorgänge sich aus Empfindungen und dem Selbsterhaltungstrieb aufbauen, und sie finden sich schließlich in LOCKEs Lehren von den  sensations  und  reflexions  und in seinem Hinweis auf die Assoziation der Ideen. Diese Antriebe bauen HARTLEY und PRIESTLEY aus zu der Lehre, daß alle komplizierten seelischen Gebilde durch Assoziation aus einfachen entstehen; aber sie verquicken diese mit einer dem Materialismus sehr nahe kommenden Gleichsetzung der geistigen Vorgänge und der physiologischen Gehirnprozesse. Die Assoziationstheorie beherrscht, allerdings ohne jene materialistischen Konsequenzen, die englische Psychologie lange Zeit; ihr Hauptvertreter ist JAMES MILL.

So führt die Entwicklung des englischen Empirismus in fast gerader Linie vom Mittelalter bis hin zu der Problemlage, die JOHN STUART MILL vorfand. Daneben aber geht, wenngleich niemals als herrschende Richtung, eine dem Empirismus entgegengesetzte Gedankenströmung. Auch sie hat auf MILL gewirkt, indem er auf ihre Argumente vielfach polemisch eingeht. Es ist die vor allem von der schottischen Schule ausgeprägte  common-sense-Lehre. Sie setzt der empiristischen Auffassung, daß alle Kenntnis uns lediglich aus der Erfahrung stammt, die Überzeugung entgegen, daß unsere Seele vielmehr vor aller Erfahrung ein unbeirrbares Urteil über wahr und falsch besitzt: im gesunden Menschenverstand, im  common sense und daß ihr ebenso, kraft eines angeborenen  moral sense,  ein sicheres ethisches Urteil vor aller Erfahrung eigen ist. Auch der englische Deismus, der im Gegensatz zur Offenbarungsreligion eine natürliche oder vernünftige Religion annimmt, steht auf dieser Linie. Er geht letzten Endes zurück auf HERBERT von CHERBURYs Lehre von den "notitiae communes", den Vernunftwahrheiten, die im Bewußtsein aller Menschen ein der Erfahrung vorhergehendes Urteilsvermögen darstellen. HERBERTs Lehre steht im bewußten Gegensatz zum nominalistischen Vergleich der Seele mit einer  tabula rasa.  Die hier beginnende Geistesströmung gegen den Empirismus findet ihren Höhepunkt in der Kritik den die schottische Schule, vor allem THOMAS REID, gegen HUME richtet. Sie bekämpfen den sensualistischen Ausgangspunkt ebenso wie die assoziations-psychologische Methode, und sie setzen beiden den Gedanken entgegen: Unsere komplizierten Bewußtseinsinhalte sind lediglich mechanische Verbindungen ursprünglicher einfacher Ideen. Vielmehr gehören auch zum Urbesitz unserer Seele kompliziere Gebilde, ursprüngliche Kräfte, die uns instinktiv-gewisse Kenntnisse erschließen. Sie kommen ins Spiel z. B. bei allen Induktionsschlüssen, die ja über die Erfahrung hinausgehende Zuversicht enthalten, daß die Zukunft der Vergangenheit ähnlich sein wird. Diese Gewißheit ist ein "Instinkt, den der weise Schöpfer der Natur uns eingepflanzt hat". So erwächst auf diesem Boden also ein Weltbild, das zum Empirismus in einem schroffen Gegensatz steht.

Die aus Schottland stammende  common-sense-Lehre trieb auch in England nach allen Richtungen hin ihre Blüten; überall versuchte sie, der klaren Vernunfterkenntnis und der wissenschaftlichen Analyse den Hinweis auf ein instinktives Wissen, auf intuitive Erkenntnis entgegenzusetzen. Darum erblickt JOHN STUART MILL in der intuitiven Philosophie den Feind jeden Fortschritts; wir werden sehen, daß er immer von neuem gegen sie zu Felde zieht. Ihr Hauptvertreter war zu seiner Zeit Sir WILLIAM HAMILTON; MILL widmet der eingehenden Prüfung von dessen Gedanken sein zweites Hauptwerk. Auch HAMILTON will letzten Endes von der Erfahrung ausgehen, aber er bekämpft den sensualistischen Standpunkt, als stamme alle Erfahrung aus der Sinneswahrnehmung; er versucht, andere unmittelbar gewisse Bewußtseinsfaktoren aufzuweisen und aus ihnen die Grundgesetze des Denkens, ebenso wie unsere Begriffe von Raum und Zeit, von Kausalität und Substanz abzuleiten. Seine Gedankenführung trägtdeutliche Spuren seiner Berührung mit KANT, wenn er auch in den Ergebnissen nicht mit ihm zusammenstimmt. Noch auf einem anderen Weg aber war, vermittelt vor allem durch den SCHELLING nahestehenden englischen Romantiker COLERIDGE, die Philosophie KANTs und der deutschen Idealisten in das englische Geistesleben eingedrungen.

HUMEs Empirismus, die Assoziationspsychologie, eine auf Intuition fußende metaphysische Richtung und schließlich eine dem deutschen Idealismus entstammende philosophische Strömung: das war die Problemlage, die MILL in der Philosophie seines Zeitalters vorfand. Aber nicht nur diese allgemeine Problemlage erschließt uns das Verständnis für die Lehre eines Denkers; notwendige Bedingung ist vor allem die Kenntnis seines Entwicklungsganges und all der Faktoren, die darauf gewirkt haben. Wir haben darum die Pflicht, diesen Entwicklungsgang, soweit er für das geistige Werden des Denkers entscheidend war, zu verfolgen.



JOHN STUART MILL wurde am 20. Mai 1806 zu London geboren, als Sohn des Nationalökonomen, Historikers und Psychologen JAMES MILL. Dieser hat mehr als andere Väter den Entwicklungsgang des Sohnes beeinflußt, denn er hat ihn fast ausschließlich selbst unterrichtet und gebildet; auf allen Gebieten ist darum der Gedankenkreis des Vaters und seiner Freunde der Ausgangspunkt, an den die selbständige Entwicklung des Sohnes anknüpft. JAMES MILL stellt in seinen Lehren eine Verbindung der Gedankenwelt des 18. und des 19. Jahrhunderts dar. Jenem gehört die Überzeugung an, daß Aufklärung und Erziehung der Menschen zu einem vernünftigen Denken einen unbegrenzten Fortschritt der Menschheit bewirken werden, daß jede soziale Reform sich darum wesentlich auf diese moralischen Faktoren aufbauen muß. Diesen Glauben an die "fast grenzenlose Macht der Erziehung" hat auch JOHN STUART MILL zu allen Zeiten gehegt; dadurch ist auch er mit dem Gedankenkreis der Aufklärung verbunden. Dazu aber tritt beim älteren MILL die innigste Vertrautheit mit den sozialpolitischen Bestrebungen, die das 19. Jahrhundert in England erfüllen, vor allem mit den theoretischen und praktischen Gedanken seiner Freunde JEREMY BENTHAM und DAVID RICARDO. MILL beabsichtigt, in der "Analysis of the Phenomena of the Human Mind" die Grundlage für BENTHAMs utiliaristische Ethik zu schaffen; auf seine Anregung erst schreibt RICARDO seine Epoche machenden "Principals ot the Political Economy and Taxation". BENTHAM, JAMES MILL und RICARDO haben den größten Einfluß auf die Gestaltung des modernen England geübt: sie kämpfen im Sinne des Liberalismus, der Demokratie und eines aufgeklärten Utilitarismus gegen den Geist des Feudalismus und Klerikalismus; sie erstreben und erreichen eine durchgreifende Reform der Gesetzgebung, des Gefängniswesens und der Armenpflege. Ihr Werk ist die Abschaffung der Kornzölle und die Durchführung des Freihandels; sie setzen sich ein für die Aufhebung der Sklaverei und für eine Parlamentreform; überall streben sie danach, eine Selbstverwaltung anstelle der Bevormundung, eigene aufgeklärte Einsicht anstelle von Vorurteilen zu setzen; darum zielen ihre Reformen auch vor all auf eine verbesserte und vertiefte Volksschulbildung ab. - Dieses Streben, den Dingen auf den Grund zu gehen und kein Vorurteil zu schonen, sei es auch durch Jahrhunderte lange Tradition geheiligt, diese wahrhaft humane Gesinnung, verbunden mit dem Blick für das praktische Leben und mit dem Bemühen, das einmal als richtig Erkannte auch wirklich durchzusetzen, - alle diese Momente hat JOHN STUART MILL von seinem Vater und dem BENTHAM-Kreis als unverlierbares Gut übernommen. In der Politik gelten diese Männer als die Begründer des "Radikalismus", der sich von da ab neben den früher in England allein vorherrschenden Richtung der Tories und Whigs als besondere Partei durchsetzt. Er ist gegründet auf die Ideen der Freiheit und der Menschenrechte, wie sie die französische Revolution geschaffen hat.

JAMES MILL, der aus bescheidenen Verhältnissen hervorging, war durch Stipendien in die Lage versetzt worden, in Edinburgh Theologie zu studieren; aber seine Anschauungen gestatteten ihm nicht, ein Amt in der englischen Kirche zu übernehmen; darum ernährte er seine große Familie durch seine literarischen Arbeiten. Sein Hauptwerk ist die "History of British India", die MACAULAY als eines der besten englischen Geschichtswerke bezeichnet. Er gibt darin eine auf gründliches Studium gestützte Kritik der Verwaltungstätigkeit, die von der East-Indian-Company in jenem Land ausgeübt wurde. Trotz dieser Kritik erhält er aufgrund der ausgedehnten Sachkenntnis, die sein Werk bezeugt, eine Anstellung, später sogar eine leitende Stelle in der ostindischen Gesellschaft; somit kommt die Familie in sorgenfreie Verhältnisse.

Das Resultat der psychologischen Studien hat JAMES MILL in der "Analysis oft the Phenomena of the Human Mind" niedergelegt, die in späteren Auflagen mit Anmerkungen des Sohnes erschienen ist. Er versucht darin, das geistige Leben völlig durch Vorstellungsassoziationen zu erklären; seine Methode ist, nach dem Urteil des Sohnes, "a mental chemistry", die die seelischen Erlebnisse in ihre Elemente zu zerlegen sucht und sodann zeigt, wie aus diesen durch Assoziationen die kompliziertesten seelischen Gebilde entstehen. Auch die für das Denken charakteristischen Momente des Vergleichens und Unterscheidens, ebenso wie die Willenserlebnisse, sind nach dieser Auffassung lediglich Produkte der Assoziation; eine Handlung wird gewollt, wenn sie als Mittel zu einem mit Lust verbundenen Zweck vorgestellt wird. Bei JAMES MILL ist diese Auffassung die selbstverständliche Folge seines empiristischen Denkens, für das es nichts gibt, das sich nicht erklären und analysieren läßt, für das sich alles Geschehen aus erfahrbaren Elementen aufbaut, die nach mechanischen Gesetzen erklärt werden können. Was wir einst erlebt haben, das können wir in unserem Geist wieder herstellen, sobald wir uns die mit jenen Erlebnissen verbundenen Erfahrungen ins Gedächtnis zurückrufen. Von dieser Auffassung aus eröffnet sich eine unbegrenzte Möglichkeit, durch Erziehung, Gesetzgebung und soziale Reformen auf das menschliche Geistesleben zu wirken. So stellt sich diese psychologische Betrachtung auch als die geeignetste Grundlage dar für die utilitaristisch-ethischen Gedankengänge von BENTHAM. Ist der Mensch, wie dieser lehrt, von Natur aus nur egoistischer Motive fähig, so gilt es, durch die Bildung von geeigneten Assoziationen in der Erziehung Motive zu erzeugen, die dem Nutzen und der Glückseligkeit der Gesellschaft dienen. Die Assoziationspsychologie, die sich somit als Glied in einen wesentlichen Faktor des damaligen Geisteslebens einreiht, ist auch der Ausgang und lange Zeit die beherrschende Methode für das Denken des jüngeren MILL.

Bei aller wissenschaftlichen, beruflichen uns sozial-politischen Tätigkeit widmete JAMES MILL seinen Kindern die sorgfältigste Erziehung und Ausbildung; früh schon erkannte er die hervorragenden Gaben des ältesten Sohnes, JOHN STUART, dessen Unterricht er vollkommen übernahm. So schreibt er über den erst sechsjährigen an seinen Freund BENTHAM: "Vielleicht werden wir beide dereinst einen würdigen Nachfolger an ihm besitzen." (2) Es ist zu verstehen, daß ein Mann, der alles aus seiner eigenen Energie geworden ist, der an sich selbst die höchsten Anforderungen stellt, auch von seinen Kindern viel verlangt, und daß er den Grundsatz seines eigenen Lebens, keine Zeit zu verlieren, auch in der Erziehung der Kinder befolgt. JOHN STUART MILL hat in seiner Selbstbiographie und in zahlreichen Briefen (3) von seinem Leben und Bildungsgang Rechenschaft abgelegt. Die Schilderung der Kindheit, die wir hier finden, dürfte wohl von den meisten Überlieferungen dieser Art charakteristisch verschieden sein! So wird mit keinem Wort die Mutter erwähnt; keinen Abglanz kindlicher Fröhlichkeit im Zusammensein mit den zahlreichen Geschwistern finden wir; nur vom Unterricht und von den Studien wird berichtet, zu denen der Vater ihn, wie es scheint, vom dritten Lebensjahr an, anhielt. Diese haben das Leben des Kindes vollkommen ausgefüllt; klagt er doch: "Ich war niemals ein Knabe, ich habe niemals Krickett gespielt!" Dagegen begleitet er den Vater auf vielen Spaziergängen, wobei aber stets gelehrt und gelernt wird. Der Bildungsgang des jungen MILL ist dann auch einzig in seiner Art; er rechtfertigt völlig das Urteil seines Freundes THEODOR GOMPERZ (4): "Mill war ein Prachtexemplar jener seltensten aller Varietäten der Menschennatur: gelungene Wunderkinder." Bereits mit dem dreijährigen Knaben, der damals schon Englisch lesen konnte, beginnt der Vater Griechisch zu lernen; bis zum achten Lebensjahr werden fast alle griechischen Prosaschriftsteller bewältigt, die man heute in der Schule liest, so u. a. sechs platonische Dialoge; dazu liest er eine große Reihe englischer historischer Schriftsteller, wie HUME und GIBBON; in den Abendstunden wird der kleine Kerl mit Arithmetik geplagt. Mit acht Jahren beginnt der Lateinunterricht und die Lektüre der griechischen Dichter, dazu Geometrie und Algebra. Niemals darf sich der Knabe nur rezeptiv verhalten; sondern der Vater hält ihn stets zur selbständigen Verarbeitung des Gelernten an. So schreibt der elfjährige Junge eine Geschichte der römischen Regierungsgrundsätze; denn das politische und soziale Interesse war durch den Vater und dessen Freunde besonders früh in ihm geweckt worden. Hand in Hand mit einem so tiefen Eindringen in die Geisteswissenschaften geht ein mathematisches Studium, das zu ebenso überraschenden Ergebnisse der Frühreife führt.

Die Selbstbiographie unterrichtet uns darüber, wie MILL selbst später über diesen ungewöhnlichen Bildungsgang geurteilt hat. Er ist ihm zunächst ein Beweis dafür, daß in der üblichen Methode der Jugendbildung viel wertvolle Zeit nutzlos vergeudet wird. Hat er auch unter dem Übermaß der Anforderungen gelitten, so sieht er andererseits auch ein, daß die heutige Erziehung, die geneigt ist, ins andere Extrem zu verfallen, auch nicht auf dem richtigen Weg ist; er fürchtet, daß man durch die Tendenz, der Jugend das Lernen gar zu sehr zu erleichtern, ein Geschlecht heranzieht, das unfähig ist, "in Dingen, die ihm nicht angenehm sind, etwas zu leisten". Für unsere von pädagogischen Problemen und Reformen bewegte Zeit ist dieses Urteil eines Mannes, der selbst durch die strammste Zucht gegangen ist, sehr beachtenswert. - Es zeugt von einem unbeirrbar guten Gemüt JOHN STUART MILLs, daß er, wie die Selbstbiographie beweist, ohne Bitterkeit an eine Jugend zurückdenkt, der im Grunde alle Fröhlichkeit fehlte, weil sie völlig in Arbeit eingespannt war. Schloß ihn der Vater doch "wegen des verderblichen Einflusses, den Knaben auf Knaben üben", auch vom Verkehr mit Altersgenossen ab. Auch gewährte er ihm keine Ferien, "damit er nicht Geschmack am Müßiggang gewinnt". Sein Urteil über den Vater zeugt von höchster Achtung, aber nicht von Liebe, denn "die Furcht vor ihm erstickte die kindliche Liebe", und JOHN MILL bedauert es aufrichtig, daß ein Mann, der soviel für seine Kinder getan hat, nicht wirklich ihre Liebe besaß. Die Ursache davon sieht er nicht nur in der Strenge des Vaters, sondern auch in dessen Gewohnheit, alle Gefühle stets zu beherrschen und zu unterdrücken. In dieser Gewöhnung, die schließlich zur Verkümmerung des Gefühlslebens führt, erkennt MILL einen bedauerlichen Fehler des englischen Nationalcharakters.

War es überall das Hauptbestreben von Vater MILL, selbständiges Denken und kritisches, objektives Urteil in seinem Sohn zu wecken, so war von diesem Geist vor allem der religionswissenschaftliche Unterricht getragen. Er geht vom Standpunkt des Skeptikers aus, der über den Bekenntnissen steht, weil er sich bewußt ist, daß für die jenseits aller Erfahrung liegenden metaphysischen Fragen unser Erkennen nicht ausreicht; so kommt diesem Unterricht nur der Charakter einer historischen Unterweisung zu. Darum kann JOHN MILL von sich sagen, er sei "eines der wenigen Beispiele in England, die den religiösen Glauben nicht abgestreift, sondern niemals besessen haben", und die Wandelbarkeit der menschlichen Ansichten sei ihm schon als Kind selbstverständlich gewesen. Die große Sachlichkeit und Vorurteilslosigkeit, die uns in allen Schriften MILLs begegnen, mag dieser Eigenart des väterlichen Unterrichts zu danken sein. Die moralischen Ansichten, in denen der Vater ihn erzog, wurzeln in der griechischen Philosophie, hauptsächlich in den Lehren von SOKRATES, PLATO und den Stoikern. Die Tugenden der Gerechtigkeit, Beharrlichkeit und Tätigkeit, besonders aber die Mäßigkeit, bezeichnen das sittliche Ideal, das der Vater in seinem eigenen Wesen verwirklichte, und worauf er in der Erziehung der Kinder abzielte. Er war überzeugt, daß das meiste Unheil im Leben daher stammt, daß die Menschen den Leidenschaften und dem Genuß zuviel Raum gewähren. Der sehr hohe Grad von Selbstbeherrschung, den JOHN MILL im Leben und in seinen Schriften, z. B. in der Polemik, bekundet, mag in dieser Erziehung begründet sein.

Theoretisch wie praktisch beweist JAMES MILL, der im täglichen Gedankenaustausch mit BENTHAM lebt, seine ethischen Lehren im Sinne des  Utilitarismus,  für den das Glück der Gesamtheit die oberste Norm des sittlichen Handelns ist; wir werden sehen, daß auch dieser Faktor dauernd im Sohn nachwirkt. Vor allem aber hat die tätige Sorge für das Gemeinwohl, die das Leben von JAMES MILL, BENTHAM und RICARDO ausfüllte, und die Selbstlosigkeit ihres Strebens den tiefsten Einfluß auf ihren gemeinsamen Zögling ausgeübt. Zu dieser mehr zufälligen und praktischen Beeinflussung in sozialen Dingen kommt sehr bald die bewußte theoretische, indem der Vater mit dem 13jährigen Knaben einen "Kurs in den Staatswissenschaften" durchnimmt, ADAM SMITHs und RICARDOs Werke mit ihm liest. Der Standpunkt, den der Vater selbst bei seinen politischen und historischen Vorträgen vertritt, liegt in der Richtung einer liberalen Demokratie. Alle diese Studien bewirken, daß das Denken des jungen MILL von Anfang sehr stark auf die sozialen Probleme gerichtet ist, so daß ihm sein Leben lang eine philosophisch begründete Gesellschaftslehre als letztes Ziel aller Philosophie vorschwebt.

Im übrigen tritt MILL nach seinem Bericht in der Selbstbiographie (5) im 12. Jahr unter der Leitung des Vaters in ein höheres Stadium seines Bildungsgangs ein, da jetzt nicht mehr "die Hilfsmittel des Denkens, sondern dieses selbst die Hauptaufgabe bildet". Er studiert Logik anhand von PLATO und ARISTOTELES, und er gesteht, daß die sokratische Methode, wie sie in den platonischen Dialogen bekundet wird, ihn begeistert habe. Ja die Taktik des Sokrates, die jeden unklar denkenden Gegner in die Enge treibt, geht ihm "so in Fleisch und Blut über, daß sie ein Teil seines Ich wird". Er sieht in dieser dialektischen Methode weit mehr als im Inhalt der platonischen Lehre ihr Wesen und ihren Kern. Durch eigenes Studium erschließt er sich auch damals schon die scholastische Logik und vor allem HOBBES' "Computatio".

Im Gespräch sucht der Vater den zwölfjährigen Knaben über den Nutzen der syllogistischen Logik aufzuklären; und er gesteht, daß nichts so sehr zu seiner Denkschulung beigetragen hat, wie diese frühen logischen Studien. Er stellt demgegenüber den denkbildenden Einfluß der Mathematik zurück und er erblickt in der Schullogik auch den zweckmäßigsten Ausgangspunkt für ein philosophisches Studium. Auf allen Gebieten also wird dem jungen MILL eine Bildung vermittelt, die ihn hoch über seine Altersgenossen hinaushebt; dabei ist der Vater ängstlich bemüht, ihn vor jedem Dünkel ob seiner Frühreife zu bewahren. Er ist dann auch, vielleicht weil der Vater ihn von Jugend auf sehr kurz hielt, sein Leben lang äußerst bescheiden geblieben, ja er hält sich nicht einmal für über den Durchschnitt begabt; sondern er meint, daß jedes normal veranlagte Kind dasselbe erreichen könnte, wenn es ebenso zweckmäßig unterrichtet würde. Bei aller Strenge und allen Anforderungen, die JAMES MILL an seinen Sohn stellt, leitet ihn doch nichts als selbstlose Liebe und der Eindruck der außerordentlichen Begabung seinse Sohnes. So schreibt er, als der Kleine sechs Jahre alt ist, in dem schon erwähnten Brief an BENTHAM:
    "Sollte ich sterben, ehe dieser arme Knabe ein Mann geworden ist, so würde mich kaum etwas so schwer bedrücken, wie der Gedanke, seinen Geist nicht zu jenem Grad von Trefflichkeit haben bilden zu können, dessen ich ihn fähig glaube."
Mit Genugtuung aber durfte er erleben, daß sein Erziehungswerk aufs schönste belohnt wurde, daß der Same, den er in die Seele seines Sohnes gelegt hatte, wunderbare Früchte trug.

Als JOHN STUART MILL vierzehn Jahre alt war, erfuhr das Einerlei seiner arbeitsreichen Jugend eine erfreuliche Unterbrechung: durch einen fast einjährigen Aufenthalt in Südfrankreich auf dem Schoß von BENTHAMs Bruder. Diese Reise ist in verschiedenster Beziehung für seine Entwicklung bedeutsam geworden. Obwohl er, wie sein Reisetagebuch dem Vater berichtet (6), auch dort täglich viele Stunden arbeitet, obwohl er Unterricht nimmt und Vorlesungen hört, schafft all das Neue das jetzt auf ihn eindringt, ein wohltätiges Gegengewicht gegen die rein geistige Beschäftigung seines bisherigen Lebens. Diesem Umstand ist es wohl zu danken, daß der Nervenzusammenbruch, den die Überanstrengung in der Kindheit ihm später eingetragen hat, nicht noch vollständiger wurde. Seine tiefe Liebe zur Natur schöpft aus den reizvollen Eindrücken des Garonne-Tals und der gewaltigen Gebirgslandschaft der Pyrenäen kräftige Nahrung, vor allem aber lernt der Knabe, der in der Einsamkeit des Studierzimmers aufgewachsen ist, in der liebenswürdigen Gesellschaft seiner Gastfreunde die Reize eines schönen Familienlebens kennen, und es erschließt sich ihm "die freie fröhliche Atomosphäre des Kontinentallebens". Der Grund zu der erstaunlich objektiven, ja abfälligen Beurteilung des durchschnittlichen englischen Nationalcharakters, den wir in MILLs Schriften finden, wurzelt wohl in den Eindrücken dieser Reise. Sie öffnen ihm, wie er gesteht, die Aufgen für den Egoismus und die Zugeknöpftheit des Durchschnittsengländers, und sie mögen mit beigetragen haben zu den warmen Tönen der Sympathie und des Wohlwollens, die ihm eigen sind, zu dem Bestreben, aus der nationalen Begrenztheit des Urteilens und Empfindens heraus zu allgemein-menschlichem Wertschätzen zu kommen. Schon auf dieser Reise des Knaben wird auch das erste Band zum Gedankenkreis des französischen Liberalismus geknüpft: in Paris lernt er, durch die Beziehungen des Vaters, die Häupter der liberalen Partei und die Anhänger der Revolution, sogar SAINT-SIMON selbst kennen.

Nach Hause zurückgekehrt, nimmt er die Studien unter der Leitung des Vaters wieder auf, auch muß er einen großen Teil seiner Zeit dem Unterricht der jüngeren Geschwister widmen. Im Mittelpunkt seines eigenen Interesses stehen jetzt psychologische, nationalökonomische und juristische Studien. Schon die Auswahl der Werke, die sein Vater ihm empfiehlt, läßt erkennen, daß es in der Philosophie die sensualistisch-empiristische Richtung ist, durch die er hindurchgeht. Er liest CONDILLAC, LOCKE, BERKELEY, THOMAS BROWN und HARTLEY und im Manuskript die "Analysis of the Phenomena of the Human Mind", die sein Vater damals schreibt. So wird er (7) durch seinen Studiengang auf die Anschauung hingewiesen, "daß alle geistigen und moralischen Gefühle und Eigenschaften, ob von guter oder schlimmer Art, das Resultat von Assoziationen" sind, daß eines Menschen Gefühl und Urteil das Ergebnis von Erziehung und Gewohnheit ist: nämlich der Ideenverbindungen, die diese Faktoren in ihm geschaffen haben. Auch die Erziehung und der ständige Einfluß, den der Vater auf ihn übt, ist auf den Grundsatz aufgebaut: es kommt darauf an, von Jugend an möglichst starke Assoziationen zu schaffen, angenehme für alles, was wohltuend auf das große Ganze wirkt, gegenteilig für das, was das Ganze schädigt - also auf die Prinzipien, die zugleich aus der empirischen Psychologie und dem Utilitarismus stammen. Für die praktische Bewertung der Assoziationsmethode ist es hoch interessant, wie JOHN MILL, der in ihrem Gedankenkreis, ja "in ihrem Bann" aufgewachsen ist, später darüber urteilt. Wir müssen dazu vorgreifend erwähnen, daß er mit 20 Jahren einen Nervenzusammenbruch erlebt, der hauptsächlich in einer Hemmung und Beeinträchtigung des Gefühlslebens bestand. Alles was ihn früher mit Begeisterung erfüllte, woran sein Herz hing, scheint ihm schal und gleichgültig. Er sucht in der Selbstbiographie, diesen Zustand, unter dem er Jahre hindurch gelitten hat, zu erklären. Nicht die Überarbeitung, der er doch zweifellos von frühester Kindheit an ausgesetzt war, scheint ihm der Grund dafür zu sein, sondern die auf assoziationspsychologischer Anschauung fußende rein intellektualistische Erziehung, die ihm zuteil geworden ist. Dem Schmerz und dem Vergnügen, so meint er, die durch die Erziehung
    "in so gewaltsamer Weise mit den Dingen in Verbindung gebracht werden, fehlt jedes natürliche Band, und die Gewohnheit der Analyse, die diese Denkrichtung mit sich bringt, hat die Tendenz, die Gefühle lahm zu legen, zur notwendigen Folge." (8)
Ist es der Vorzug der Analyse, daß sie dem Vorurteil und der ungeprüften Meinung wirksam begegnet, so wird sie andererseits zum "nagenden Wurm" an den Wurzeln unserer Gefühle und an den Freuden, die dem Leben Wert verleihen. Aufgrund eigenster Erfahrung also urteilt hier einer der besten Kenner der assoziationspsychologischen Methode über ihren praktisch-pädagogischen Wert scharf ab. Was der Erziehung aus diesem Grund gefehlt hat, hat MILL aber mit glücklichstem Erfolg in seiner Selbstbildung nachgeholt; sie gewährt ihm eine Kultur der Gefühle durch Naturgenuß, durch die Berührung mit der Kunst und durch intime menschliche Beziehungen (9).

Neben den psychologischen fesseln staatswissenschaftliche Studien das Interesse des heranwachsenden STUART MILL; auch hierin wird er zunächst von seinem Vater gefördert, der damals seine "Elements of Political Economy" schrieb. Bald aber lernt MILL das Werk kennen, das einen "Wendepunkt in der Geschichte seines Geistes" bewirkt: den "Traitè de la Législation" von BENTHAM (10). Zwar war, wie bei einem Schüler von JAMES MILL begreiflich, seine ganze bisherige Erziehung "ein Kurs Benthamismus" gewesen. Jetzt aber, da er das Glückseligkeitsprinzip in BENTHAMs Ausdeutung und den Ausblick auf die Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, den es bietet, im Zusammenhang kennen lernt, wirkt es wie eine Offenbarung auf ihn. "Ich hatte jetzt Ansichten, einen Glauben, eine Doktrin, eine Philosophie und ... eine Religion, deren Predigt und Verbreitung zur Hauptaufgabe meines Lebens gemacht werden konnte!" Er möchte "ein Reformator der Welt" werden, in dem Sinn, in dem BENTHAM die Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft erstrebt. MILL ist zwar, wie sein 1838 geschriebener Essay über BENTHAM zeigt, von der enthusiastischen Schätzung dieses Denkers später sehr zurückgekommen; dennoch in in seinen ethischen Gedankengängen jener Einfluß dauernd zu spüren. BENTHAMs Bedeutung aber liegt mehr auf praktisch-juristischem und philanthropischem, als auf theoretischem Gebiet; so ist er der erste bahnbrechende Reformator auf dem verwahrlosten Gebiet der englischen Rechtsprechung. Er ist überhaupt ein großer "Fragesteller" in Bezug auf alte, sinnlos gewordene Anschauungen und Einrichtungen. Alle Reformen, die er erstrebt, stehen im Dienst seines sittlichen Ideals, "des größten Glücks der größten Zahl"; er hat durch seine Ideen den Kreis reformbegeisterter junger Leute, die sich um ihn und JAMES MILL scharten, aufs tiefste angeregt. - Die utilitaristische Grundlegung der Ethik ist jedoch keineswegs von BENTHAM zuerst ausgesprochen, sondern sie war in England seit HOBBES, in Frankreich seit HELVETIUS, den MILL gleichfalls in jener Zeit studiert, bekannt. Sie ist die Konsequenz des Empirismus auf dem Gebiet der Ethik. Aber die charakteristische Formulierung, die BENTHAM dem Gedanken gibt, die "Maximierung der Glückseligkeit" hat die Entwicklung der philosophischen Ethik für lange Zeit beeinflußt. (11)

Auf den jungen MILL wirkt vor allem BENTHAMs scharfsinnige Polemik gegen die herrschenden  intuitiven  Moralprinzipien. Zeigt er doch, daß sich hinter den Phrasen vom "moralischen Sinn" oder von der "natürlichen Vernunft und vom natürlichen Recht" oft nichts anderes versteckt, als überlieferte Vorurteile, unbewiesener Dogmatismus oder gar ein unberechtigtes Klasseninteresse. Demgegenüber hat BENTHAM - nach MILLs eigenem Urteil - als erster "die Anwendung der wahren Induktionsmethode auf das Problem der Moral" durchgeführt, indem er als Maßstab des Handels nicht ein unkontrollierbares Gefühl, sondern den Nutzen der Gesamtheit einsetzt, und nach diesem Maßstab die Formen des menschlichen Handelns in ein System wissenschaftlicher Klassifikationen bringt. Es ist natürlich, daß unserem jungen Denker, der an PLATONs Dialektik, an psychologischer Analyse und an den Klassifikationen des "natürlichen botanischen Systems" geschult war, diese empirisch fundierte scharfsinnige Methode BENTHAMs wie "eine neue Ära des Denkens" einleuchteten. Vor allem aht der Kampf gegen die intuitiven Prinzipien MILLs eigener Lebensarbeit die Richtung gewiesen.



Zu den vielseitigen Studien tritt, als MILL im 17. Jahr steht, zum erstenmal auch ein anregender persönlicher Verkehr mit jungen Menschen, die gleich ihm vom Eifer für den menschlichen Fortschritt in BENTHAMs Sinn beseelt sind. Den tiefsten Einfluß übt auf ihn JOHN AUSTIN, der erste englische Jurist, der die Rechtswissenschaft an einer englischen Universität vertritt, und der auf einer Studienreise durch Deutschland zu SAVIGNY und NIEBUHR Beziehungen gewonnen hat. Er führt den jungen MILL ein in die Grundzüge der Rechtswissenschaft und in rechtsphilosophische Fragen, wie die Beziehung von Recht und Moral. Im Gegensatz zum Kreis, dem MILL sonst angehört, ist er Gegner der Demokratie, weil er von der Unfähigkeit des Volkes, seine Interessen zweckmäßig zu vertreten, überzeugt ist. Vielleicht ist es seinem Einfluß mit zu verdanken, daß MILL bei aller Vorliebe für demokratische, ja sozialistische Prinzipien, sich der Grenzen ihrer praktischen Durchführbarkeit stets bewußt geblieben ist. Zu den Männern, deren Einfluß der junge MILL viel verdankt, gehören ferner GROTE und MACAULAY. GROTE, der später als Verfasser der Geschichte Griechenlands und seines Werkes über PLATON berühmt wurde, steht politisch völlig auf dem Boden von BENTHAM und JAMES MILL; als Stimmführer der radikalen Partei kämpft er vor allem für eine Erziehungsreform im liberalen Sinn; wir werden sehen, welche Rolle pädagogische Reformen auch in MILLs Soziologie spielen. Auch mit MACAULAY trifft MILL sich in politischen und philanthropischen Idealen. Dieser vielseitige, anregende persönliche Verkehr muß aufs fruchtbarste auf den Geist eines Jünglings wirken, dessen Ideal es ist, "ein Reformator der Welt" zu werden.

Mit 17 Jahren gründet MILL eine Gesellschaft junger Männer, die sich in Ethik und Politik um die neuen "radikalen" Ideen scharen, und die in regelmäßigen Zusammenkünften über alle Fragen des menschlichen Fortschritts diskutieren. Als Bezeichnung dieser Gesellschaft taucht zum ersten Mal der auch von BENTHAM bisher noch nicht gebrauchte Name "Utilitarier" auf; MILL hat ihn in einer alten Novelle als Bezeichnung von Freigeistern entdeckt; von da ab gelten BENTHAM uns seine Anhänger als Utilitarier. Diese Gesellschaft gibt dem jungen Mill, der als ihr Führer gilt, die erste Gelegenheit, seine Rednergabe zu üben; sie bringt ihm durch geistigen Austausch mit Gleichstebenden reichste Anregung und lenkt seine Interessen immer mehr auf die Probleme der Sozialpolitik. Um jene Zeit beginnt er auch, mit journalistischen Arbeiten hervorzutreten, indem er zu literarischen Neuerscheinungen oder zu Tagesfragen das Wort nimmt. So deckt er, als Schüler von BENTHAM, Mängel der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung auf oder er tritt für das damals noch sehr fragliche Recht der freien Meinungsäußerung ein. Diese Aufsätze lassen bereits den späteren Schöpfer der Abhandlung über die Freiheit ahnen.

In jener Zeit wurde JAMES MILL für seinen Sohn eine Freistelle im College von Cambridge angeboten; er schlug sie aus, wie es scheint vor allem, weil der Sohn sich nicht entschließen konnte, in eine Gemeinschaft einzutreten, bei der die Übereinstimmung mit dem Glauben der Hochkirche als Voraussetzung galt (12). Dagegen wurde bald darauf eine andere Entscheidung über sein Leben gefällt: Er erhielt eine Stelle in der Ostindischen Gesellschaft; er trat ein in die seinem Vater unterstehende Prüfungsstelle der indischen Korrespondenz und arbeitete sich bald in die höchsten Staffeln dieses ansehnlichen Verwaltungsmechanismus hinauf. Die East India Company besaß damals noch einen erheblichen Einfluß. Sie war gegründet unter Königin ELISABETH, auf Anregung reicher englischer Kaufleute, die dadurch das Privileg für den Handel nach Ostindien erhielten. Die Gesellschaft gewann in Indien bald den größten Einfluß, ja unumschränkte Macht, sie beherrscht dort sogar eine Zeitlang die Militär- und Zivilgerichtsbarkeit, und sie besaß das Recht, mit den "Ungläubigen" Krieg zu führen. Später wurden ihr alle diese Rechte mehr und mehr genommen, sie blieb zwar das Organ des ostindischen Handels und der Verwaltung des Landes; aber sie wurde der Aufsicht des Ministeriums unterstellt. Im Jahr 1858 aber machte Lord PALMERSTON der Gesellschaft, als einem Zweig der Regierung Indiens, ein Ende; sie sank zu einer bloßen Handelsgesellschaft herab. Damals trat JOHN MILL, nach einer 35jährigen Tätigkeit, mit einer ansehnlichen Pension zurück. Das ehrenvolle Anerbieten, als Rat beim ersten Staatssekretär für Ostindien ins Kabinett einzutreten, lehnte er ab.

So floß MILLs äußeres Leben also in der ruhigen Bahn eines Verwaltungsbeamten dahin, mehrfach unterbrochen nur durch größere Reisen nach Frankreich, Deutschland und Italien. Wie seine Werke beweisen, hat ihm sein Amt bei der großen Energie seines Charakters und der strengen Disziplin und Arbeitsamkeit, an die er von Jugend auf gewöhnt war, Zeit zu vielseitiger tiefgründiger wissenschaftlicher Betätigung gelassen, und es hat ihn davor bewahrt, zur Deckung seines Lebensunterhaltes berufsmäßiger Journalist zu werden. Auch dankt er seiner Amtstätigkeit eine reiche praktische Erfahrung und vielseitige Lebens- und Menschenkenntnis, die ihm als Politiker und soziologischer Schriftsteller sehr wertvoll wurde. Diese Berührung mit dem praktischen Leben ist in seinen Schriften überall zu spüren, er stellt kaum je eine Theorie auf, ohne ihre Durchführbarkeit allseitig zu erwägen.

Um uns das Verständnis für MILLs Geistesleben und Schaffen zu erschließen, haben wir auch der Persönlichkeiten zu gedenken, die in seinem späteren Leben den größten Einfluß auf ihn geübt haben. Mehr als für viele andere Denker kommen solche Einflüsse für MILL in Betracht, denn er war von Natur in hohem Maß rezeptiv und hat niemals aufgehört, von anderen zu lernen. War doch der Dienst an der Wahrheit seine größte Leidenschaft. So hat er niemals zu den Denkern gehört, die sich einer Anregung von außen oder einer neuen Erkenntnis verschließen, weil sie nicht in "ihr System passen". Stets ist er bereit aufzunehmen und vorurteilslos Neues zu erwägen. Ja, dieser Charakterzug ist wohl der Grund, daß MILL überhaupt kein eigentliches System hat, und daß wir in seinen Gedanken manche Entwicklungsstadien zu verzeichnen haben. Diese Eigenart seines Denkens unterscheidet MILL vor allem von dem Philosophen, mit dem er fünf Jahre lang (1841-46) in regem Ideenaustausch gestanden hat: vom großen französischen Positivisten AUGUSTE COMTE. Und der verschiedene Charakter erklärt vollkommen die Rolle, die beiden Philosophen innerhalb dieser freundschaftlichen Korrespondenz (gesehen haben sie sich niemals) zukommt (13). Als MILL im Jahr 1841 den "Cours de Philosophie positive" gelesen hat, ist er so erfüllt vom Eindruck des Werkes, daß er an COMTE schreibt, um ihm seine Bewunderung auszudrücken. COMTE nimmt die Huldigung des englischen Denkers, dessen Name ihm bis dahin unbekannt war, freudig auf; aber er hält ihn, vielleicht infolge von MILLs übertriebener Bescheidenheit, für einen schrankenlos ergebenen  Schüler,  während MILL auf einen Austausch philosophische Gedanken gehofft hatte. Als die ersten Gegensätze auftauchen, macht MILL zunächst größere Zugeständnisse, als er im Grunde verantworten kann, und er hofft andererseits, COMTE in manchen Punkten zu überzeugen. Aber er muß immer mehr erfahren, daß ihm im System des französischen Positivisten ein "rocher de bronce" [eherner Fels - wp] gegenübersteht, an dem sein Schöpfer nicht die leiseste Veränderung vorzunehmen gedenkt. Hat er doch nichts von MILLs Fähigkeit, auf die Gedanken anderer einzugehen, verschließt er sich doch ausdrücklich gegen alle Einflüsse, indem er keine Notziz von der philosophischen Literatur nimmt. Er hält die "philosophie positive" für eine Art Dogma, zu dem man sich kritiklos bekennen muß; das später ins Groteske verzerrte Autoritätsbewußtsein des "Hohenpriesters der Menschheit" steckt schon damals in COMTEs Bewußtsein. So muß er die in MILL sich regende Kritik für die Abtrünnigkeit eines anfangs treu Ergebenen halten, während auf MILLs Wesen diese Abgeschlossenheit des anders mehr und mehr verstimmend wirken muß. Auch die großzügige äußere Hilfe, die MILL und einige andere englische Bewunderer von COMTE diesem, der seine Stelle verloren hat, bieten, trägt schließlich zur Entfremdung noch bei, so selbstlos sie von MILL gemeint war. So sehen wir die beiden Denker, die sich anfangs ihrer geistigen Gemeinschaft aufrichtig freuen, sich schließlich wieder trennen, und die Korrespondenz nach etwa fünf Jahren wieder einschlafen. Aber der Einfluß, den COMTE auf MILL geübt hat, ist unverkennbar; schon der methodische Grundgedanke des Positivismus, die Überwindung des theologischen und metaphysischen Zeitalters durch eine Betrachtungsweise, die nur die  Gesetze  des Gegebenen aufzufinden strebt, muß zündend auf ihn wirken.

MILL überschätzt die Leistung COMTEs auch auf dem Gebiet der Logik zunächst so, daß er schreibt: "Hätte ich den Cours de Philosophie positive vor der Ausarbeitung meiner Logik gekannt, so hätte ich mich vielleicht begnügt, den Cours zu übersetzen, anstatt eine eigene Logik zu schreiben." (14) Tatsächlich aber hat sich MILL auch mit dem positivistischen Grundgedanken niemals völlig identifiziert, so hat er z. B. der Verwerfung des Ursachbegriffs nicht zugestimmt. Auch sieht MILL, der induktiv geschulte Forscher, besser als COMTE, wieviele Lücken der Stand der Forschung im einzelnen noch aufweist, und es ist ihm klar, daß man diese durch spezielle Studien erst ergänzen muß, bevor man ein wahrhaft geschlossenes System des Positivismus darbieten kann (15). Größeren Einfluß als der Logiker, übt der  Soziologe  COMTE auf MILL, der sich damals selbst mit dem Plan trägt, eine Soziologie zu schreiben. Bewundernd merkt er, daß COMTE, ebenso wie er selbst, von einem heiligen Eifer "für die große Sache der Menschheit" erfüllt ist, und es macht den tiefsten Eindruck auf ihn, daß auch der Franzose die Soziologie für die "science finale" ansieht. Ist es MILLs Absicht, die Methoden der exakten Wissenschaften auch auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, so muß das Werk, in dem die soziologischen Gesetze in ein System der Statik und Dynamik gebracht sind, in dem, wie in ihm selbst, der Glaube an den menschlichen Fortschritt lebendig ist, wie eine Offenbarung auf ihn wirken. Auf die Einzelheiten dieses Einflusses haben wir später zurückzukommen.

Bald aber kommt im Briefwechsel der im tiefsten Wesen der beiden Denker wurzelnde Gegensatz zum Ausdruck: für COMTE ist autoritative Beeinflussung und Unterordnung, für MILL individuelle Freiheit die Norm für alle menschlichen Beziehungen und die Basis der Sittlichkeit. Sie werden sich dessen bewußt zuerst in einer Diskussion über die Stellung der Frauen (16). COMTE ist von der Inferiorität [Unterlegenheit - wp] des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen überzeugt, er will die Frauen zu "Priesterinnen des Hauses" machen und ihnen zwar eine Art Kultus widmen, aber keinerlei soziale Rechte verstatten. Wir weden sehen, wie sehr MILL in dieser Beziehung der Antipode des französischen Denkers ist. Und noch ein anderer Punkt ist es, der beide trennt: Ihre verschiedene Einschätzung der Psychologie. Für MILL ist es selbstverständlich, daß diese Wissenschaft wie jede andere vor allem die Aufgabe hat, die Gesetze ihres Gebietes aufzusuchen, und er sieht in der Analyse der Bewußtseinstatsachen die einzige Methode, die zu diesem Ziel führt. COMTE aber leugnet die Möglichkeit einer solchen Wissenschaft; er kennt nur Biologie, Soziologie und GALLs Phrenologie. Tritt MILL mit BENTHAM, HELVETIUS, ja mit dem ganzen 18. Jahrhundert, für die aus der Aufklärung stammende Überzeugung ein, daß die Menschen ihrer Anlage nach im Grunde gleich sind, so hat sich COMTE vollkommen von GALLs Theorie beschlagnahmen lassen, wonach die geistigen Unterschiede in unabänderlichen EIgenschaften der Gehirnbildung bedingt sind. Er versucht, auch MILL für die Phrenologie zu gewinnen; aber das eingehende Studium dieser Materie kann dessen wissenschaftlich streng geschulten Geist nicht befriedigen. Denn er vermißt darin die kausale Betrachtungsweise, die den Ursachen aller Tatsachen nachgeht und die den Versuch macht, die angeboren scheinenden Eigenschaften möglichst als erworbene nachzuweisen. Dazu aber hilft auf psychologischem Gebiet eine verständig betriebene Assoziationsmethode; darum stellt diese, nicht aber die mit unbewiesenen Hypothesen arbeitende Methode GALLs, die "positive Wissenschaft des Geistes" dar. Der Mangel an psychologischer Schulung ist nach MILLs Überzeugung auch schuld an den politischen und soziologischen Unmöglichkeiten, die sich besonders in den späteren Werken von COMTE finden.

In keiner der Kontroversen gelingt es den beiden Denkern, die Gegensätze zu überbrücken; denn sie wurzeln zu tief im Wesen von beiden; für COMTE wird, trotz seiner positivistischen Einstellung, die Menschheit mehr und mehr zu einem spekulativen, fast mystischen Gebilde, aus dem den Einzelnen bindende Vorschriften erwachsen, und er sieht im übrigen das Ideal eines philosophischen Systems mehr in seiner Geschlossenheit als in der Übereinstimmung aller Teile mit den Tatsachen. Völlig anders urteilt MILL: Nirgendwo wird der wissenschaftliche Vorzug einer durch Erfahrung und Mathematik gebildeten Denkschulung deutlicher als im Vergleich der beiden Philosophen. Nicht auf Gesclossenheit des Systems hat MILL jemals abgezielt, sondern auf die Übereinstimmung seiner Lehren mit den empirischen Tatsachen. Darum kennt er auch einen den Individuen übergeordneten spekulativen Begriff der "Menschheit" nicht; sondern er leitet diesen Begriff aus den empirischen Tatsachen und Gesetzen ab, die die Wissenschaft vom Menschen feststellt. Aus diesen tiefgehenden Gegensätzen ist es zu begreifen, daß beide Philosophen schließlich aufhören mußten, sich zu verstehen.



Eine herzliche Freundschaft hat MILL mit THOMAS CARLYLE verbunden, wie die vielen an ihn gerichteten Briefe beweisen. Nichts bekundet so sehr wie diese Freundschaft,  daß  MILL sich auch in völlig anders gerichtete Geister hineindenken und ihren Wert ermessen kann; denn fast in jedem Sinn stellt die Gedankenwelt des Dichter-Philosophen einen Gegensatz zu der seinen dar: Hier Empirie und Analyse, dort Geringschätzung der empirischen Wissenschaften und ihrer "Mechanismen" und dafür die Versenkung in die "unbegreiflichen Wunder des Geschehens, in die Symbole und Ideen", die sich in der Natur offenbaren. Hofft MILL auf eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen, auf einen Fortschritt auf utilitaristischer Basis, so steht CARLYLE in einem ausgesprochenen Gegensatz zur Sozialpolitik seiner Zeit; ja er ist von einem tiefen sozialen Pessimismus erfüllt. Nicht in der Demokratie sieht er die Rettung für sein eigenes, von ihm nicht eben hoch bewertetes Zeitalter, sondern allein in der Ehrfurcht vor den Helden der Menschheit, in denen sich die Kraft des Universums symbolisiert; sie allein können die Massen emporheben. MILL wurde für CARLYLE gewonnen durch sein Werk über die französische Revolution; die Briefe der beiden behandeln philosophische, literarische und soziale Probleme.

Den tiefsten Einfluß auf die innere Entwicklung unseres Philosophen hat die Frau geübt, deren Freundschaft - nach seinem Bekenntnis - "die Ehre und der Hauptsegen seines Daseins gewesen ist", Mrs. HARRIET TAYLOR (17). Nach der Charakteristik, die MILL von ihr entwirft, muß sie intellektuell und moralisch zu den höchststehenden Persönlichkeiten gehört haben: eine in das Wesen der Dinge dringende rasche Auffassungsgabe, liberale wahrhaft humane Gesinnung, ein feuriges Temperament und eine "Leidenschaft für Gerechtigkeit" sind die hervorstechenden Züge in diesem Bild. Das geistige Band. das MILL an sie knüpft, ist begründet vor allem in ihren gemeinsamen ethischen und sozialen Interessen, sie ist nach seiner Meinung "die Quelle von vielem", was er zur Hebung der Menschheit getan hat. Wie ihn selbst, beseelt auch sie der Glaube an den menschlichen Fortschritt und die Überzeugung, daß nur auf ethischer Basis die immer schwieriger werdende soziale Frage zu lösen sei. MILL bekennt, daß er dieser Frau, mit der er 20 Jahre lang in einem lebhaften, freundschaftlichen Gedankenaustausch gelebt hat, bsi sie nach dem Tod ihres Gemahls seine Gattin wurde, "das Beste in seinen Werken verdankt". Ja er bezeichnet seine Schriften vielfach als das Produkt einer "Verschmelzung ihrer beiden Geister". Ein unvergängliches Denkmal hat MILL dieser Geistesgemeinschaft in der Widmung seines Buches "On Liberty" gesetzt. Gewiß ist der Anteil, den er der Freundin an seinem Schaffen zuschreibt, zum Teil in seiner übertriebenen Bescheidenheit und vielleicht auch in einer subjektiven Überschätzung der Freundin bedingt. Jedenfalls aber hat sie zu den Menschen gehört, die den wohltuendsten Einfluß auf ihn geübt haben. Sie hat ihm, der in der kühlen Atmosphäre der analytischen Psychologie aufwuchs, die tiefste menschliche Beziehung erschlossen; sie hat all die Interessen und Ideale, an denen er mit ganzer Seele hing, geteilt und belebt, sein Geist zog aus den Gesprächen mit ihr die fruchtbarste Anregung, und ihre Lebens- und Menschenkenntnis hat seinen Blick immer wieder auf das wirkliche Leben zurückgelenkt und seinen Geist vor weltfremden Spekulationen und Theorien bewahrt. Als Produkt ihrer gemeinsamen Arbeit bezeichnet MILL vor allem die mehr praktisch gerichteten Kapitel der "Politischen Ökonomie" und des "Utilitarismus", die Abhandlung über die "Hörigkeit der Frau" und über "Frauen-Emanzipation" und das Buch "Über die Freiheit".

Ein bedeutsames Ereignis in MILLs ruhig dahinfließendem Leben stellt seine kurze parlamentarische Tätigkeit dar. Solange er im Dienst der ostindischen Gesellschaft stand, war das Parlament ihm verschlossen; aber seine Schriften und seine redaktionelle Tätigkeit an der "London Review" hatten ihn in weiten Kreisen als Vertreter des liberalen Gedankens bekannt gemacht. So wurde er, nachdem er sein Amt niedergelegt hatte, von den liberalen Parteien Westminsters, hauptsächlich von Arbeitern und Handwerkern, als Abgeordneter für das Unterhaus gewählt. MILL hat durch seine parlamentarische Tätigkeit das Siegel auf das gedrückt, was er als Philosophe und Sozialpolitiker gefordert hat; er hat sich eingesetzt für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit und für eine soziale Reform auf sittlicher Basis. Darum tritt er für die unterdrückten Eingeborenen der englischen Kolonien ein; darum wirll er die Machtbefugnis der Beamten im Sinne der Gerechtigkeit und Billigkeit beschränken, den Iren Recht schaffen und den Arbeitern eine angemessene parlamentarische Vertretung geben. Zum erstenmal in einem Parlament wird von ihm auch eine Petition für das Frauenstimmrecht eingebracht. Es ist begreiflich, daß ein solcher Politiker dem Einfluß der Gegner bald zum Opfer fallen mußte; er wurden nach drei Sessionen nicht wiedergewählt. Der Führer der Liberalen, GLADSTONE, aber hat ihm das für einen Politiker wohl seltene Zeugnis ausgestellt, daß er "allen Antrieben und Beweggründen, welche Parlamentarier durch die Vermittlung ihres Egoismus zu beeinflussen pflegen, völlig unzugänglich, ja unnahbar war"; er nennt unseren philosophischen Politiker "den Heiligen des Rationalismus".

MILL hat, seitdem seine Gattin ihm auf einer Reise in Avignon durch den Tod entrissen wurde, stets den größten Teil des Jahres in der mittelalterlichen Papst-Stadt in Südfrankreich zugebracht. Er lebte dort in der Einsamkeit eines Landhauses ihrem Andenken und der Vollendung seiner Werke. Dort ist auch er am 8. Mai 1878, nach einem Leben voll rastloser Arbeit, zur ewigen Ruhe eingegangen.
LITERATUR - Else Wentscher, Das Problem des Empirismus, Bonn 1922
    Anmerkungen
    1) Vgl. zu dieser Skizze über die Entwicklung des Empirismus: ELSE WENTSCHER, "Geschichte des Kausalproblems in der neueren Philosophie", Leipzig 1921.
    2) Brief vom 28. Juli 1812
    3) JOHN STUART MILLs Selbstbiographie (deutsch von KOLB, Stuttgart 1824), siehe ferner die Auszüge aus den Briefen in: ALEXANDER BAIN, "John Stuart Mill, a criticism" (London 1882).
    4) THEODOR GOMPERZ, "Zur Erinnerung an John Stuart Mill" (Essays und Erinnerungen, Stuttgart 1905).
    5) Selbstbiographie, Seite 14 der deutschen Übersetzung.
    6) BAIN, a. a. O., Seite 11f.
    7) Selbstbiographie, Seite 112
    8) daselbst, Seite 113
    9) Vgl. R. ELLIOT, "The letters of J. St. Mill" (Introduction), London 1910
    10) Das Werk erschien von DUMONT aus dem Manuskript ins Französische übersetzt, zuerst in Paris und wurde erst bedeutend später von da ins Englische zurückübersetzt und in England veröffentlich.
    11) vgl. unten Kap. 5
    12) BAIN, a. a. O., Kap. 1
    13) Vgl. Selbstbiographie Kap. 5 - BAIN, a. a. O., Kap. 3; ferner: "Lettres de J. St. Mill á Auguste Comte" publiées par LÉVY-BRUHL (Paris 1899).
    14) Lettres Seite 77
    15) daselbst Seite 402
    16) daselbst Seite 266f.
    17) Selbstbiographie Kap. 6 und 7; BAIN, a. a. O., Seite 163f. Lettres of Mill, Bd. 1, Introduction