ra-2W. BeckerL. ZunzD. KoigenG. F. SteffenR. Treumann    
 
WILHELM HASBACH
Demokratische und liberale Ideen
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert


"Die treibenden Mächte der politischen Entwicklung sind nicht Ideen, sondern  Bedürfnisse.  Die Ideen sind die Waffen der Bedürfnisse, und mit den realen Bedürfnissen wachsen die theoretischen Folgerungen. Das berühmte Wort Schopenhauers: der Wille schafft sich den Intellekt zu seinem Dienst! wird nun voll durch die Geschichte des Naturrechts und der Politik bestätigt."

"Keinen klareren Beweis von der revolutionären Kraft naturrechtlicher Anschauungen gibt es, als folgende Tatsache. Die Niederländer setzten 1581 König Phillip II. von Spanien ab, weil er seine königlichen Pflichten nicht erfüllt hatte. In der Einleitung der Absetzungserklärung heißt es, daß Gott die Untertanen nicht um des Fürsten willen, sondern diesen um jener willen geschaffen hat."

Während die Vorkämpfer für die Menschenrechte die Freiheitssphäre des Untertanen im Staat auszudehnen streben, während Montesquieu in der Lehre vom Gleichgewicht der Gewalten den Mechanismus des freien Staates in seine Teile zerlegt, verneint Rousseau sowohl Menschenrechte wie auch Gewaltenteilung. Und doch gilt er als Prophet der Freiheit!


I. Calvinismus und Naturrecht

Die Reformation hat zwei in in zwei menschlichen Trieben wurzelnde Grundrichtungen des politischen Lebens der neueren Zeit so scharf in zwei ihr eigentümlichen Begriffen ausgeprägt, daß sie als die Schöpferin zweier politischer Ideen angesehen werden konnte: der demokratischen Idee der Gleichheit, welche sie in der Forderung des allgemeinen Priestertums offenbarte, und der liberalen Idee geistiger und sittlicher Unabhängigkeit, die sie im Recht freier Forschung verkündete. Der Widerstand, welchen diese beiden Ideen im 16. und 17. Jahrhundert hervorriefen, erzeugte blutige Fehden und entsetzliche Kriege, feige Attentate und grauenvolle Hinrichtungen, Fürstenabsetzungen und Untertanenflucht; und nach fast zwei Jahrhunderten unmenschlicher Grausamkeit und wilder Verwüstung sieht ein neues Geschlecht spöttisch auf die Kämpfe seiner Ahnen herab.

Es waren vorzugsweise religiöse und naturrechtliche Lehren, welche den Neuerern das Bewußtsein, in ihrem Kampf gegen die Regierungen recht zu handeln, gaben. Enthielt, wie so oft behauptet wird, diejenige CALVINs den Samen der demokratischen Bestrebungen jener Zeit?

CALVIN ist kein Schmeichler unumschränkter Fürsten. Er ist "ein Alleinherrscher ... er macht keine Scherze... er ist nie nett gewesen, aber z allen Menschen gut und ein hoher Geist." Er handelt nicht nach demokratischen Grundsätzen (1) und er neigt zur aristokratischen Republik. Das Volk wird nach CALVIN am besten regiert, wo "es die Freiheit nur wohltemperiert gibt"; und die Auflehnung gegen einen pflichtvergessenen Fürsten, der doch nach ihm ein Werkzeug zur Bestrafung der Gottlosen ist, nennt er "ein Unternehmen, das nicht nur verrückt und nutzlos, sondern auch noch böse und schädlich ist"; aber den volksbefreienden Tyrannenmord betrachtet er als einen Beweis göttlicher Güte. Nur die zur Beaufsichtigung des Fürsten bestellten Ephoren, Tribunen haben das Recht, gegen den Tyrannen aufzutreten, und der einzelne ist nicht verpflichtet, seine Befehle gegen Gottesgebot auszuführen: "Wenn es Grund gibt gegen den Tyrannen vorzugehen, darf keine Rücksicht genommen werden."

Wie ist es aber zu erklären, daß der Genfer Theokrat, der nicht der Prediger demokratischer und freiheitlicher Lehren war, der seine Kirche vom Staat, aber nicht den Staat von seiner Kirche unabhängig, sondern zu ihrem Büttel machen wollte, wie ist es zu erklären, daß seine Lehre als der Stamm betrachtet wird, der die Äste und Zweige des modernen Demokratismus und Liberalismus hervorgetrieben hat? Weil man ihm Weiterentwicklungen zugerechnet hat, die das Verdienst anderer sind.

Die repräsentative Verfassung der calvinistischen Kirche entstand in Frankreich. Demokratische Einrichtungen fügte KNOX in Schottland hinzu. Daß aber selbst der so gestaltete Presbyterianismus und die freie demokratische Kirche sich auf das schroffste unterscheiden, beweist das Verhältnis der englischen Independenten zu den Presbyterianern und dasjenige von WILLIAMS und HOOKER zu COTTON in den Kolonien. Es müssen also vorwärtstreibende nicht-calvinistische Kräfte am Werk gewesen sein.

Zweitens übersieht man den Einfluß, welchen das Alte Testament auf das Handeln vieler Protestanten aller Bildungsgrade und auf die politischen Doktrinen gelehrter Männer gehabt hat. Das Neue Testament verkündet das Evangelium der Liebe, der Geduld, des Friedens; das Alte Testament ist von Fürstenverachtung und Fanatismus erfüllt. Den Geist dieses so viel unheilige Glut in den Seelen entflammenden Teils der Heiligen Schrift charakterisiert JELLINEK ausgezeichnet mit den Worten:
    "Die Vortellung, daß  Jahwes  Gebot höher steht, als Königsmacht, (ist) wohl seit den ersten Zeiten des Königtums lebending gewesen ... In der gesamten Literatur aller Völker dürften nicht so viele herbe, tadelnde, strafende Urteile über Könige zu finden sein, wie in der Israels ... Hinzutritt der tiefgehende demokratische Grundzug im politischen Charakter Israels. Erinnerungen aus der vorköniglichen Zeit bleiben lebendig, die die Einsetzung der königlichen Herrschaft auf den Volkswillen, der schließlich göttliche Sanktion erhält, zurückzuführen, wie denn auch die transzendente Herrschaft  Jahwes  nicht eine natürliche Tatsache ist, sondern auf ausdrücklicher Unterwerfung des Volkes beruth, die in Vertragsform vollzogen wird." (2)
An diesem Punkt werden die Lehren des Alten Testaments unterstützt von den naturrechtlichen, die in ihrer allgemeinsten, reifsten Fassung, mit der wir uns begnügen müssen, etwa so lauten möchten: Es gibt ein  natürliches  Recht, das eine höhere Geltung beanspruchen darf, als das von Fürsten und gesetzgebenden Versammlungen erlassene, in Gesetzbüchern niedergelegte, oder von Herkommen, Gewohnheit überlieferte positive Recht. Hieraus folgt, daß das positive, wenn es dem natürlichen widerspricht, diesem weichen muß. Diese Sätze von größter Tragweite begründeten seine Vertreter etwa so. Die Menschen hätten am Anfang der Zeiten in einem staatenlosen Zustand gelebt, damals waren sie frei und gleich; in dieser Periode ihres Daseins haben sie kein anderes Recht gekannt, als das ihnen von Gott eingepflanzte natürliche Recht, das aus der Natur des Menschen und der Dinge mittels der menschlichen Vernunft erkannt werden kann und sich im Gewissen offenbart. Die Unsicherheit des Lebens hat sie gezwungen, den Zustand voller Unabhängigkeit aufzugeben; sie hätten den Staat gegründet und zwar durch einen  Vertrag, (3) in dem von ihnen verzichtet wurde auf denjenigen Teil ihrer Freiheit, den sie zur Herstellung eines Gemeinwesens aufgeben mußten, um den übrigen Teil ihrer Freiheit und Gleichheit zu bewahren. Man hat z. B. auf die Freiheit verzichtet, erlittenes Unrecht selbst zu rächen, das jetzt von staatlichen Gerichtshöfen bestraft wird; im Naturzustand hat es an Gesetzen, unparteiischen Richtern und der Macht, den Richterspruch durchzusetzen gefehlt. Der staatliche Zustand unterscheidet sich folglich vom vorstaatlichen dadurch, daß die Bürger, um positives Recht zu schaffen, gesetzgebende Versammlungen erwählt und, um es durchzuführen, Regierungen bestellt hätten.

Das  Volk  also soll die  Quelle  und der  Inhaber  aller staatlichen Gewalt sein, die von ihm eingesetzten Versammlungen und Regierungen haben keine anderen Rechte, als Beauftragte zu haben pflegen. Ihnen obliegt die Verpflichtung, dem Volk jederzeit Rechenschaft abzulegen und, wenn sie ihre Befugnisse überschreiten sollten, war es berechtigt, sie zu tadeln, zu strafen, zu entfernen, andere Beauftragte zu ernennen. Wenn sie sich aber nicht gutwillig fügten, dann gab es das Recht zum Widerstand, das Recht auf Revolution. Den Inbegriff derjenigen Rechte, welche dem Volk die höchste Befehlsgewalt im Staat zusprechen, nennen wir  Volkssouveränität

Die ersten Bestandteile dieser Lehren gehören einem aus dem Altertum heranwallenden, dann durch zahlreiche Zuflüsse immer mächtiger gewordenen Gedankenstrom an. Die griechische Philosophie hatte die Idee des Naturrechts erfaßt, sie hatte die Lehren vom Naturzustand, von der Notwendigkeit der Staatsgründung und dem Staatsvertrag geschaffen: vom römischen Recht, das sie übernahm, war der Begriff des natürlichen Rechts bis an die Grenzen der europäischen Kultur getragen worden, während die Literatur des Rechts die Idee der Volkssouveränität durch eine geschichtliche Grundlage gleichsam gestützt hatte: sie leitete nämlich die gesetzgebende Gewalt der römischen und ihrer Nachfolger, der deutschen, Kaiser aus der Übertragung dieser Gewalt vom römischen Volk auf die römischen Kaiser ab. Danach hatten im Mittelalter die soziologischen Vorstellungen der Griechen durch die christlichen Dogmen von der Erschaffung der Welt, von der Erbsünde und der Vertreibung aus dem Paradies, von den hierauf folgenden jämmerlichen, die Errichtung des Staates herbeiführenden Zuständen die sicherste Bestätigung erhalten; die Existenz des Naturrechts erschien nun als die Auswicklung einer von Gott bei der Erschaffung des Menschen in ihm angelegten Fähigkeit, während die Stoiker sie als eine Konsequenz ihres Pantheismus betrachtet hatten. Das heidnische Naturrecht war christianisiert worden. Auch wurde sowohl durch die Bibel wie die zahlreichen Verträge der ständischen Zeit der Gedanke, daß der Vertrag die Brücke zwischen staatloser Unkultur und staatlicher Kultur bildet, in den Geistern befestigt.

Das Wort  Gedankenstrom  sollte nicht die Vorstellung eines Zieles, dem er zustrebt, erwecken, sondern das Bild einer durch die Jahrhunderte flutenden Massen von Vorstellungen und Begriffen hervorrufen, aus der aufeinanderfolgende Zeiten befruchtende Zuflüsse zur Förderung ihrer besonderen, voneinander abweichenden Zwecke ableiten. Diese Zwecke wirken auf die Gestaltung der Lehre, auf die Wahl der Gedankenelemente zurück. So war die theoretische Möglichkeit gegeben, mit dem Naturrecht für ganz verschiedene Ziele zu kämpfen. Es gab konservative Naturrechtslehrer, welche annahmen, daß das Volk beim Abschluß des Staatsvertrags auf seine Rechte verzichtet oder sich bedingungslos einem Fürsten unterworfen hat. Offenbar konnte ein materialistisches System einem solchen Beginn Vorschub leisten, weil in ihm das Wort  Naturrecht  nicht den Sinn einer ewigen, objektiven Norm haben konnte, wie in einem theistischen oder pantheistischen. Dagegen wurden die letzten Konsequenzen eines idealistischen Naturrechts: das über dem positiven Recht thronende objektive Naturrecht, die Volkssouveränität, seit dem 17. Jahrhundert subjektive natürliche Rechte, unter diesen das allgemeine, gleiche Stimmrecht, von solchen verkündet, die für die Freiheit des Staates, für konstitutionelle und demokratische Ideale kämpften, ohne daß sie im positiven, historischen Recht eine genügende Stütze für ihre Bestrebungen gefunden hätten. Daher ist es fast selbstverständlich, daß nicht alle Naturrechtslehrer alles gefordert haben, was sich logische aus den grundlegenden Lehren ableiten ließ; die treibenden Mächte der politischen Entwicklung sind nicht Ideen, sondern Bedürfnisse. Die Ideen sind die Waffen der Bedürfnisse, und mit den realen Bedürfnissen wachsen die theoretischen Folgerungen. Das berühmte Wort SCHOPENHAUERs: der Wille schafft sich den Intellekt zu seinem Dienst! wird nun voll durch die Geschichte des Naturrechts und der Politik bestätigt.

Schon im 14. Jahrhundert, während des langen Ringens zwischen Papsttum und weltlicher Gewalt, tritt MARSILIUS von Padua für die volle Volkssouveränität ein. Aber der Kriegsruf dieses klaren Denkers war verklungen, als im 16. Jahrhundert in Frankreich hochgebildete und gelehrte Protestanten calvinistischen Bekenntnisses den geistigen Kampf gegen religiöse Bedrückung beginnen. Auch ihre Waffen sind die Ideen des Naturgesetzes, der Volkssouveränität und des Staatsvertrages. Zum Teil liefert sie ihnen das römische Recht, zum Teil die Bibel, und sie berufen sich auf die Geschichte. Aber von angeborenen Rechten wissen sie noch nichts, nicht einmal von einem Recht auf Religionsfreiheit, sie streiten nur für eine durch repräsentative Einrichtungen beschränkte Monarchie. (4) Auf dem Boden ähnlicher Überzeugungen stehen die katholischen, HEINRICH III. und HEINRICH IV. von Frankreich befehdenden Monarchomachen, dann in Schottland KNOX und BUCHANAN, in England POYNET und GOODMAN (5).

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts beginnt das Naturrecht eine immer größere Gewalt über die Geister auszuüben, zum Teil deshalb, weil man die in theologischen, juristischen, politischen Schriften enthaltenen Lehren aus ihrem Zusammenhang zu lösen, zusammenzustellen und systematisch abzuhandeln beginnt. Nur einige Verfasser sollen genannt werden, deren Schriften über jene Zeit hinaus gewirkt haben und nicht auf dem Friedhof der Literatur, den Bibliotheken, vermodern. Ein wertvolles Werk dieser Zeit sind die 1594 veröffentlichten vier ersten Bücher der "Laws of Ecclesiastical Politiy" von RICHARD HOOKER, einem der englischen Hochkirche angehörigen Geistlichen, der im Streit zwischen Tradition und Schrift auf das Naturgesetz als eine göttliche Erkenntnisquelle verwies. Eine ausführlichere, gründlichere und klarere Darstellung der Prinzipien des Naturrechts, auf die sich LOCKE mehrmals beruft, hat die folgende Zeit trotz ihrem Reichtum an Schriften dieses Inhaltes nicht hervorgebracht. Wenige Jahre später (1599) erscheint das berüchtigte Buch MARIANAs "De rege et regis institutione", welches, wie andere Werke von Jesuiten dieser Zeit, die Volkssouveränität verficht. Zehn Jahre später wurde das bedeutendste Werk der katholischen Richtung, der "Tractatus de Legibus" von SUAREZ veröffentlicht. Und nun stehen wir im 17. Jahrhundert, in dem das Naturrecht eine das ganze menschliche Leben mit einem System von Rechtssätzen umklammernde selbständige Wissenschaft wird, wo die antiken Spekulationen der Stoiker und Epikureer im Gefolge des Humanismus wieder aufleben und wo der Kampf gegen die STUARTs extreme Geister, mit denen wir uns noch zu beschäftigen haben werden, bis zu den letzten Konsequenzen der naturrechtlichen Staatslehre forttreiben wird. Es soll genügen, die großen Namen der GROTIUS, HOBBES, PUFENDORF zu nennen. Vom Dreigestirn MILTON, SIDNEY und LOCKE sprechen wir noch an anderer Stelle.

Keinen klareren Beweis von der revolutionären Kraft naturrechtlicher Anschauungen gibt es, als folgende drei Tatsachen. Die Niederländer setzten 1581 König PHILIPP II. von Spanien ab, weil er seine königlichen Pflichten nicht erfüllt hatte. In der Einleitung der Absetzungserklärung heißt es, "daß Gott die Untertanen nicht um des Fürsten willen, sondern diesen um jener willen geschaffen hat", eine Begründung, die sich fast mit denselben Worten bei den Monarchomachen finden, mit denen sie enge Sympathien verbindet. (6) Fast sechzig Jahre später, am 4. Januar 1649, fassen die englischen Gemeinden folgende Resolutionen:
    1. das Volk ist der Ursprung der Staatsgewalt;

    2. das Abgeordnetenhaus besitzt als Vertreter des Volkes die höchste Gewalt;

    3. seine Beschlüsse haben auch ohne Zustimmung des Königs und des Abgeordnetenhauses Gesetzeskraft.
Und als die Engländer im Jahre 1689 König JAKOB II. absetzten, erklärten sie, er habe die Verfassung des Königreichs durch den Bruch des Staatsvertrages umzustürzen versucht.


II. Independenten, Levellers, Milton, Locke

Die ältere Periode der englischen Reformation hatte eine hierarchische Staatskirche geschaffen; die Presbyterianer waren unter ELISABETH wenig zahlreich; in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts wurde das Bild der demokratischen Kirche von dem Geistlichen ROBERT BROWNE entworfen. Er hatte in Verbindung mit den radikalen Sekten des Festlandes gestanden, und diese Beziehungen erhielten sich auch unter seinen Nachfolgern.

Nach ihm ist jede Gemeinschaft von Gläubigen eine Kirche; ein bemerkenswerter, sowohl naturrechtlicher wie alttestamentarischer Zug seiner Schöpfung: sie entsteht durch einen Vertrag, wodurch sie sich unter den Gehorsam Gottes und  Christi  stellt; in diesem Vertrag fallen zwei Akte zusammen: der Vereinigungsvertrag der Mitglieder unter sich und der gemeinsame Unterwerfungsvertrag unter Gott. Die Presbyterianer griffen die Brownisten an, sie behaupteten, die Bibel berichtet nicht von Vereinigungsverträgen, sondern nur von Herrschaftsverträgen zwischen Gott und seinem Volk. (7) In einer demokratischen Kirche sind alle Mitglieder gleichberechtigt, weshalb sie nur der Mehrheitswille bindet. Aus diesen Lehren flossen zwei politische Forderungen: volle religiöse Toleranz und die Trennung von Kirche und Staat. Aber sie hatten eine noch weitere politische Wirkung; BROWNE wollte seine Grundsätze einer demokratischen Kirchenverfassung auch auf den Staat angewandt wissen: Gehorsam wird nur der vom Volk gewählten Obrigkeit geschuldet. WEINGARTEN (8) übertreibt aber, wenn er glaubt, daß durch die Übertragung seiner Überzeugungen vom Wesen der Kirche die Lehre von der Volkssouveränität in das Bewußtsein der modernen Welt eingeführt worden ist.

Die Anhänger BROWNEs nannte man  Brownisten,  auch  Separatisten,  weil sie sich von der Staatskirche trennten,  Kongregationalisten,  wobei das Moment der souveränen Gemeinschaft als das wichtigste erschien, schließlich seit der Versammlung puritanischer Geistlicher in Westminster im Jahre 1643  Independenten,  wegen der vollen Unabhängigkeit und Autonomie jeder Kirche. Sie waren im Anfang weder zahlreich noch ragten sie durch ihre soziale Stellung hervor. Den Wendepunkt in ihrer Geschichte bezeichnet im Jahre 1620 die Auswanderung von Kongregationalisten auf der "Mayflower" nach Nordamerika, wo die "Pilgerväter" ein Gemeinwesen durch einen von allen unterzeichneten Vertrag in New Plymouth begründeten. Nach anfängliche schwerem Mißgeschick wurde die Lage der Kolonisten freundlicher, und die Schilderungen ihrer beneidenswerten Verhältnisse zogen neue Schwärme von Auswanderern herbei. Tatsächlich entsprach die Entwicklung der Kolonien nicht völlig dem von BROWNE gezeichneten Ideal; undemokratische Einrichtungen behaupteten sich, und in Massachusetts errichtete COTTON eine Theokratie nach Genfer Muster, deren Geist sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erhielt. Auch war der im Jahre 1631 gelandete ROGER WILLIAMS, welcher Kirche und Staat vom unindependistischen Unkraut zu säuber und den Grundsatz unbeschränkter reliögiöser Freiheit zu verwirklichen gedachte, wegen seiner Jugendlichkeit und Leidenschaftlichkeit nicht ganz so erfolgreich, wie bisweilen angenommen wird. Immerhin kam man in dem großenteils von Unzufriedenen aus Massachusetts besiedelten Gebiet der heutigen Staaten Rhode Island und Connecticut langsam dem hohen Ziel sehr nahe. Neuengland erschien in einem umso helleren Licht, je trüber die Zustände in Altengland waren. Hier mehrte sich die Zahl der Independenten allmählich unter dem Einfluß der politischen Unruhen des amerikanischen Vorbildes, des Eintretens der Fünf für den Separatismus in Westminster und der Intoleranz der Presbyterianer, aber auch hier war ihr Sehnen nicht auf den Umsturz der Verfassung gerichtet; religiöse Freiheit und die Trennung von Kirche und Staat blieben ihre wichtigsten Forderungen. Erst als das Königtum nach der Schlacht bei  Naseby  niedergerungen war, als die Presbyterianer aus Furcht vor dem Heer auf die Wiederherstellung der Monarchie und die Auflösung der Armee sinnen, da verbreitet die Agitation der  Levellers  rasch demokratische Lehren, aber auch jetzt noch sind die hervorragendsten Independenten, die CROMWELL und IRETON, mit der Wiederaufrichtung der Monarchie einverstanden, vorausgesetzt daß die in den "Heads of the Proposals" verzeichneten und im Sommer 1647 dem König überreichten Forderungen von ihm angenommen werden. Diese sind: alle zwei Jahre einzuberufende Parlamente, Neuverteilung der Parlamentssitze nach der  Steuerleistung,  vor allem aber religiöse Freiheit für alle Nichtkatholiken, aber weder Republik noch allgemeines Stimmrecht (9).

Ganz anders JOHN LILBURNE, der hervorragendste Kopf der LEVELLERS, welcher durch persönliche Schicksale und das Mißtrauen gegen das Parlament aus einem Anhänger PRYNNES, des Vorkämpfers für die Parlamentssouveränität und Verfassers von "The Soveraigne Power of Parliaments and Kingdoms" (1643), zu den parlamentsfeindlichen Konsequenzen der modernen Demokratie gelangt war: zur Idee eines höchsten, unwandelbaren Gesetzes, das durch künftige Parlamente nicht abgeschafft werden kann, eines Gesetzes, das aus dem  allgemeinen Stimmrecht  hervorgegangenen Parlament die Überwachung der ausführenden Gewalt und die Gesetzgebung in allen Fragen einräumt,  die sich das Volk nicht vorbehalten hat.  Zur Begründung dieser Doktrin berief er sich auf die Lehre des Naturrechts, daß alle staatliche Gewalt ihren Ursprung in der Gesamtheit des Volkes hat, weshalb dessen freie Wahl oder dessen durch Vertreter abgegebene Zustimmung die wahrhaft letzte Grundlage jeder zu Recht bestehenden Regierung bildet, aber er berief sich auch auf die Zweckmäßigkeit, Normen aufzustellen, die spätere Parlamente nicht mehr ändern könnten (10). Der seinem Einfluß unterstehende Teil der Armee legt dann ebenfalls 1647, dem Jahr des Wendepunkts der Revolution, im (ersten) "Agreement of the People" ein ausführliches Programm vor. Er begehrt
    1. eine Vertretung nach der  Bevölkerungszahl; 

    2. die Auflösung des langen Parlaments am 30. September 1648;

    3. eine zweijährige Dauer der Parlamente;

    4. das Recht des Parlaments, alles zu tun, was sich die Bürger nicht vorbehalten haben. Die Vorbehalte sind folgende:
      1. Das Parlament ist nicht befugt, sich mit religiösen Fragen zu beschäftigen;
      2. der Zwang zum Militärdienst ist gegen die Freiheit,
      3. die künftigen Parlamente sind nicht berechtigt, während des Bürgerkriegs begangene Handlungen zu bestrafen;
      4. die Gesetze sollen das Prinzip der Gleichheit verwirklichen und
      5. der Wohlfahrt des Landes dienen.
Am Schluß heißt es: Wir erklären, daß dies unsere angeborenen Rechte (native rights) sind.

In einem zweiten "Agreement of the People" aus dem Jahr 1648/49, welches man als einen Kompromiß zwischen dem Rat der Armee und den  Levellers  betrachten darf, werden die Forderungen und Vorbehalte noch breiter ausgeführt. Den Abgeordneten wird die höchste Entscheidung in allen natürlichen und bürgerlichen Angelegenheiten zuerkannt, aber nicht in religiösen (spiritual and evangelical). Aber selbst auf dem ihnen zugewiesenen Gebiet der natürlichen und bürgerlichen müssen sie sich Einschränkungen gefallen lassen. Es lautet z. B. die erste Hälfte der sechsten Erklärung:
    "Kein Abgeordneter darf auf irgendeine Weise aufgeben, oder übergeben, oder wegnehmen irgendeine der Grundlagen des gemeinen Rechts, der Freiheit und Sicherheit der Menschen gleich machen oder das Eigentum zerstören, oder die Gütergemeinschaft herstellen."
Die Lektüre dieser "Gesellschaftsverträge" des 17. Jahrhunderts überzeugt, daß LILBURNE und seine Freunde nicht zu den kommunistischen Levellers gehörten; (11) sie überzeugt auch, daß ursprünglich sie ihre Überzeugungen von dem mit CROMWELL und IRETON um die "Heads of the Proposals" gescharten Männer trennte. Aber einig sind sie in ihrer feindseligen Haltung gegen die parlamentarische Willkürherrschaft. Deutlich beweist es das "Instrument of Government", der Niederschlag der konstitutionellen Ideen der Independenten und Levellers, das die militärischen Freunde CROMWELLs im Dezember 1653 entwarfen, welches von CROMWELL angenommen wurde und die Verfassung des Protektorates bilden sollte. Die hervorstechendsten Bestimmungen dieses Schriftstücks sind: das Parlament kann die in diesem "Instrument" niedergelegte Verfassung nicht ändern; die darin festgesetzte Ausgabesumme unterliegt nicht seiner Bewilligung; der Lord Protector hat kein Veto, ist aber zur Kritik der Gesetzentwürfe berechtigt; als Haupt der Exekutive ist er an die Zustimmung der Gesetzentwürfe berechtigt; als Haupt der Exekutive ist er an die Zustimmung unabsetzbarer Staatsräte gebunden; Religionsfreiheit wird allen an  Jesus Christus  Glaubenden (12). Das am 3. September 1654 zusammentretende Parlament bestritt der Armee das Recht, Verfassungen zu erlassen; es lehnte sich gegen den Gedanken einer unveränderlichen Verfassung auf und entwarf eine neue, die seine Rechte wahrte; es forderte das parlamentarische Bewilligungsrecht für alle Ausgaben und wollte diejenigen für das Heer nur auf 5 Jahre gewähren. So verwickelten die Konsequenzen der Lehre von der Volkssouveränität, wie sie die Offiziere gezogen hatten, den Lord Protector in einen Kampf mit der Volksvertretung, der bis zu seinem Tod am 3. September 1658 dauerte.

Wir aber müssen noch einmal zu den Levellers zurückkehren. Daß sie zur Exekutive dieselbe Stellung, wie zur Legislative, eingenommen haben, berichtet ein Zeitgenosse, THOMAS EDWARDS. Er hat die revolutionären Lehren seiner Zeit in einem unersetzbaren Werk zusammengestellt; drei Bände sind von ihm veröffentlicht worden, aber den vierten, den er im dritten versprach und der die politisch-sozialen Theorien der Zeit genauer darstellen sollte, hat er nicht herausgeben können, weil die Abgebildeten ihren Bildnismaler zwangen, nach den Niederlanden zu fliehen. Im dritten berichtet er, es werde von den Extremen gefordert:
    "Alle Macht, Stellen und Ämter ... sollten durch das Volk verliehen werden ... und niemand sollte gehorchen und sich unterwerfen den Befehlen, Aufforderungen und Gesetzen irgendeiner Person, mit Ausnahme derer, die sie gewählt haben." (13)
In den vorher besprochenen Dokumenten hat sich die demokratische Doktrin in einer Reinheit kristallisiert, der LOCKE sich 40 Jahre später nur aus der Ferne nähern wird. Mit den Beschränkungen, welche die Levellers für das Parlament aufstellen, verglichen, erscheinen matt diejenigen des 11. Kapitels seines zweiten "Treatise of Government", das überschrieben ist: "Über die Grenzen der gesetzgebenden Gewalt". Sie habe, führt er dort aus, keine unumschränkte Befehlsgewalt, das Naturgesetz steht allen Menschen als ewige Norm gegenüber. Sie kann über die Rechte der Untertanen nur nach feststehenden Gesetzen durch ordentlich bestellte Richter verfügen. Sie kann niemandem einen Teil seines Vermögens (Steuern) ohne seine Zustimmung entziehen. Sie kann ihr Recht, Gesetze zu erlassen, nicht auf andere übertragen. In den "Agreements" dagegen wird zwar das Recht des Volkes, alles zu tun, was ihm beliebt, nicht ausgesprochen, aber unüberschreitbare Grenzen werden nur für das Parlament festgesetzt, und nirgendwo wird die gesetzgebende Gewalt die höchste genannt, welche über die "vereinigte Macht all jener Personen, die ihre eigene zugunsten einer höheren Versammlung aufgegeben haben" verfügt. (14) (15)

Noch zu einer anderen Betrachtung regt die Stellung der Levellers in der Geschichte der modernen politischen Ideen an. Das Bewußtsein subjektiver politischer Rechte, welches, wie wir sahen, bei den Monarchomachen noch nicht erwacht ist, erscheint zuerst bei den Independenten in der Forderung der Glaubensfreiheit und viel allgemeiner bei den Levellers in der Betonung der angeborenen Rechte. "In allen ihren Büchern", sagt EDWARDS, "wenden sie sich gegen die bekannten positiven Gesetze des Leandes und rufen nach Gesetzen, die der richtigen Vernunft entsprechen, nach natürlichen einfachen Rechten, die gerecht sind." (16)

Der Leser wird vielleicht geneigt sein, in den angeborenen Menschenrechten der Levellers eine Erscheinungsweise desselben Geistes zu erkennen, welcher sich in der "Petition of Right" und der "Bill of Rights" offenbart. Aber der Unterschied ist groß. Denn die Freiheitsrechte, welche die Engländer in den Jahren 1628 und 1689 beanspruchen, weil sie von den Fürsten verletzt wurden, sind positive, wie sie behaupten überkommene Rechte, und die meisten treten auch nicht, wie JELLINEK scharfsinnig bemerkt, in der Gestalt von Rechten der Untertanen, sondern von Pflichten der Regierung hervor. (17) Es sind Rechte, welche den Untertanen gegen Übergriffe und Willkür der Herrschenden schützen sollen.

Wir haben nun den Höhepunkt der demokratischen Gedankenentwicklung des 17. Jahrhunderts (18) überschritten. Nach der Enthauptung des Königs übernimmt MILTON die Verteidigung der siegreichen Revolution. Sein schlichtes Büchlein, "On the Tenure of Kings und Magistrates", das die religiöse protestantische Hülle noch nicht abgeworfen hat, erzählt die alte Legende von der ursprünglichen Freiheit des nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen, von der Sünde, der Entstehung des Staates, der Macht des Volkes und der verantwortlichen Gewalt der von ihm gewählten Regierung. Es ist kaum mehr als die Flugschrift eines Gelehrten, wenn man es vergleicht mit den späteren, schon äußerlich gewichtigen, an der allerrohesten Polemik reichen, rhetorischen "Defensiones pro popula Anglicano", welche, ähnlich wie die Schriften der Monarchomachen, ihre Beweise aus Geschichte, Bibel, Naturrecht zusammentragen. Das große Werk des 14 Jahr jüngeren, unter der Restauration hingerichteten ALGERNON SIDNEY "Discourses concerning Government", welches erst 15 Jahr nach seinem Tod bekannt wird, unterscheidet sich in der naturrechtlichen Grundlegung nicht von anderen Werken dieser Zeit. Er versteht es nicht, seine Gedanken breit und anmutig zu entwickeln; auch fehlt seinem Werk wegen der Vermischung politischer und naturrechtlicher Erörterungen der einheitliche Charakter, und die mit der Darstellung verbundene Polemik gegen FILMER, den Vertreter des Königtums von Gottesgnaden, trägt zu dem unerfreulichen Charakter des Buches bei; der gewandtere LOCKE führt seine Fehde gegen FILMER in einer besonderen Schrift, dem "First Treatise of Government". LOCKE ist derjenige Philosoph, der im Jahre 1689 zur Rechtfertigung der zweiten, gegen JAKOB II. gerichteten englischen Revolution und der Thronbesteigung WILHELMs III. in seinem "Second Treatise of Government" die naturrechtliche Staatslehre, als eine Theorie der Volkssouveränität, lichtvoll begründet, vielseitig ausführt und der zugleich seine Darlegung in eine Form kleidet, die durch ihre Klarheit und Fülle sowohl seinen um 24 Jahre älteren Vorgänger JOHN MILTON wie den 10 Jahre älteren ALGERNON SIDNEY in den Schatten stellen mußte. Diese drei Vorkämpfer für eine freiheitliche Staatsordnung in der STUARTschen Zeit ragen aus der Nacht der Vergessenheit empor, die lange so viele Mitstreiter deckte, von denen einer, JOHN LILBURNE, sie an Usprünglichkeit der Ideen überragte. In den Grundgedanken und den wichtigsten Folgerungen, die der Leser am Anfang des vorigen Abschnitts genügend kennengelernt hat, unterscheidet sich LOCKE nicht wesentlich von seinen Vorgängern. Dagegen hebt seine Darstellung von ungemischter Einheitlichkeit und ruhiger Klarheit, die auch dem gewöhnlichen Verstand einleuchten muß, die Gedanken in die Höhe abstrakter Allgemeinheit hinauf; nur die gelegentliche Erwähnung des Urvaters  Adam  und vereinzelte Versuche, die Entstehung des Staates durch Vertrag aus der Geschichte zu beweisen, ziehen den Geist einige Male in die historische Wirklichkeit herab.

Diese Vorzüge des Denkers und Schriftstellers erklären die unvergleichliche Macht, die er über die Geister des 18. Jahrhunderts besessen hat; nicht die von ihm verwerteten Grundbegriffe sind es, die ein gemeinsames Besitztum aller Theoretiker des 17. Jahrhunderts darstellen. Die von ihm aus seinen Prämissen gezogenen Konsequenzen sind von großem Einfluß auf die spätere Zeit gewesen, soweit sie für demokratische und liberale Ideen kämpfte. Nicht weil er sie zuerst, sondern weil sie niemand vor ihm in dieser Gestalt verkündet hat. Wenn auch die Jünger nicht in allen Einzelheiten mit ihm übereinstimmten, so tragen doch folgende Überzeugungen den Stempel LOCKEschen Geistes. Mit der Gründung des Staates ist das natürliche Recht nicht erloschen, es lebt auch im Staat als ein dem positiven Recht übergeordneter Maßstab fort. Das Volk hat beim Eintritt in den Staat auf seine natürlichen, angeborenen Rechte nicht verzichtet; ihre Ausübung ist nur in dem Maße eingeschränkt worden, als zur Herstellung der Staatsordnung erforderlich war. Die Gesellschaft ist vielmehr zur besseren Erhaltung des Einzelnen, seiner Freiheit und seines Eigentums eingerichtet worden. Das Volk hat das Recht, sich eine ihm zweckmäßig erscheinende Staatsform zu wählen. Die höchste, dem Volk untergeordnete Gewalt ist die gesetzgebende, von der die ausführende zu trennen, zweckmäßig ist.

Allein LOCKEs Analyse der Menschenrechte ist sehr unvollkommen. Der Mensch hat auch ihm einen Komplex von Rechten in den Staat hinübergenommen; er nennt sie Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum, ja er faßt sie mit dem Wort "Recht auf Eigentum" zusammen. In das naturrechtliche Gewand kleidet er also nur Untertanenrechte, und merkwürdigerweise erwähnt er nicht das Recht auf religiöse Freiheit, um welches Independenten und Levellers den geistigen Besitz ihrer Zeit vermehrt hatten. Aber er hatte sich in den "Letters concerning Toleration" auf das gründlichste und kräftigste zu ihr bekannt. (19)

Diese Lücken in seinem System mußten seine Nachfolger reizen, sie auszufüllen.


III. Menschenrechte und Montesquieu

Hat man die Schwelle des 18. Jahrhunderts überschritten, dann glaubt man eine reinere, heiterere Luft zu atmen. Sengende und plündernde Heerhaufen, die sich um Glaubenssätze zerfleischen, begegnen nicht mehr unserem Blick; den Henker, welcher religiöse und politische Armesünder zum Richtblock oder zum Scheiterhaufen schleppt, suchen unsere Augen vergebens; aus dem fanatischen Kampf der Meinungen ist ein milder Rationalismus und Deismus entsprossen, welcher geringe Ansprüche an die Glaubenskraft der Menschen stellt und das Wesen der Religion in das sittliche Handeln setzt. Hinter den Deisten erscheinen materialistische Philosophen, welche, wie im Altertum die Epikureer, die Gemüter von den Gespenstern zu befreien suchen, welche ihre Seelenruhe und den öffentlichen Frieden stören. Es mehrt sich die Zahl verehrter Fürsten, welche sich für die ersten Beamten ihrer Völker halten, während man die Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert vielfach für jagdbares Wild betrachtet hatte, das man erdolchte, hinrichtete, absetzte und vertrieb. Und in dieser leichteren Atmosphäre dehnt sich die Seele aus und verlangt auch mehr Freiheit. Das Prinzip des wirtschaftlichen Liberalismus wird ausgesprochen. Seine Kraft und Wirkungssphäre reichen weiter, als die früherer Freiheiten. Denn die wirtschaftliche Freiheit war nicht durch eine einzige lösende Maßregel zu erreichen; ihre Verwirklichung erforderte die Beseitigung der Hörigkeit, der Leibeigenschaft, der Sklaverei, der Feudallasten, der Ein- und Ausfuhrverbote, der religiösen und politischen Hemmungen, der Wanderfreiheit, der Wucherverbote, der Zünfte, der Monopole. Die wirtschaftliche Freiheit umschloß gleichsam alle anderen Freiheiten. Zugleich gab sie der Idee der Freiheit eine tiefe Begründung und sittlichen Adel, weil sie jedem Blick die Wahrheit erschlos, daß das Individuum die bewegende Kraft allen Fortschritts ist.

Die Naturrechtslehrer und Philosophen sind bemüht, das von LOCKE Versäumte nachzuholen und dem Begehren nach Freiheit den Charakter ewiger Menschenrechte zu verleihen. WOLFF zählt auf
    "das Recht zu demjenigen, ohne welches man der natürlichen Verbindlichkeit kein Genügen tun kann, worunter auch das Recht, um Liebesdienste zu bitten, und den anderen dazu vollkommen zu verbinden, enthalten ist, die natürliche Gleichheit (Gleichheit der Rechte und Verbindlichkeiten), die Freiheit, das Recht der Sicherheit und das daher entspringende Recht, sich zu wehren, oder zu verteidigen, und das Recht zu strafen." (20)
Dürftiger sind die Menschenrechte im System BURLAMAQUIS: Rechte auf natürliche Freiheit, auf Leben, berechtigten Widerstand, Eigentum (21). Dagegen nehmen die Menschenrechte in der Moralphilosophie HUTCHESONs, des einflußreichen, gewiß auch in Amerika bekannten Lehrers von ADAM SMITH, einen breiten Raum ein; nach ihm sind es acht: das Recht auf Sicherheit, auf den freien Gebrauch seiner Kräfte (was er natürliche Freiheit nennt), das Recht, sein Leben aufs Spiel zu setzen, das Reccht auf Eigentum, das Recht auf wirtschaftlichen Verkehr, das Recht auf Ehre, das Recht auf Ehe, das Recht auf Denk- und Gewissensfreiheit (22) (23).

Sein größter Schüler, ADAM SMITH, verkündet wie die Physiokraten das Naturrecht auf wirtschaftliche Freiheit.

Während die Naturrechtslehrer die Idee der Menschenrechte entfalten, entwirft MONTESQUIEU das Bild des freien Staates und verdrängt damit die Lehre von der Volkssouveränität.

Die korrupte, vom langen Parlament ausgeübte Gewalt, welches nur durch die brutale Macht des Heeres hatte gebeugt werden können, erweckte die Überzeugung, daß selbst die unumschränkte Herrschaft des gesetzgebenden Körpers von Übel ist (24) und unter dem Protektorat CROMWELLs, welches die Legislative zur Unwirksamkeit zwang, hatte man Gelegenheit, den bekannten Gedanken gleichsam von einem neuen Standpunkt zu erkennen. Man erlebte die Notwendigkeit der Beschränkung der höchsten Staatsgewalt; sie müsse gleichsam in mehrere Teile zerlegt werden, die sich gegenseitig in Schach halten.

Mit dieser Überzeugung verschlingt sich die aus dem Altertum stammende Lehre von der Zweckmäßigkeit gemischter Staatsformen. Schon ARISTOTELES hatte die Politie als eine Mischung von Oligarchie und Demokratie aufgefaßt; (25) von POLYBIUS war jene Lehre in tief dringender Weise auf den römischen Staat angewandt und durch CICERO allgemein bekannt geworden. Noch ALGERNON SIDNEY trägt sie im 16. Abschnitt seines 2. Buches seiner "Discourses" breit vor.

Die weitere Verfolgung der Doktrin von der Trennung der Gewalten ist außerhalb einer dogmengeschichtlichen Untersuchung (26) nicht am Platz. Wir wollen sie nur in der vollendeten Gestalt, in der sie in MONTESQUIEUs "Esprit des Lois" erscheint, betrachten, aber nochmals hervorheben, daß sie mit der Idee von der Volkssouveränität unverträglich ist, wie sich auch im entsprechenden Teil des genannten Werkes keine Spuren von ihr finden. (27)

Die Freiheit besteht nach ihm darin, das tun zu dürfen, was man wollen soll und nicht gezwungen zu sein, das tun zu müssen, was man nicht wollen soll. Freiheit ist folglich die Unterordnung unter das Gesetz zum Unterschied von der Unabhängigkeit, welche gesetzlose Willkür bedeutet. Die politische Freiheit definiert er daher als die Gemütsruhe, die aus der Überzeugung eines jeden entspringt, daß seine Sicherheit verbürgt ist. Die politische Freiheit läßt sich nicht aufrechterhalten, das ist seine Meinung, wenn man die Macht des Staates nicht über mehrere Gewalten, die sich gegenseitig zügeln, verteilt ist, während der Demokratismus alle Macht des Staates zusammenballen, auf die Gesetzgebung häufen möchte, damit sie alle Widerstände niederzuwerfen die Kraft hat. Dieser möchte die Ruten zu einem starken Bündel vereinigen, jener das Band lösen und die Ruten trennen. Denn der Liberalismus schätzt nichts höher, als die Individualität, welche die bewegende Kraft alles Menschlichen ist; je mehr Individualitäten, umso reicher an Kräften ist das Volk; dieser Reichtum gedeiht aber nur im Zustand der alle Willkür zurückdrängenden Freiheit. Was der Liberalismus am meisten haßt, ist jede Art der Despotie. Die Demokratie ist eine Form der Despotie, die Despotie der Mehrheit der gesetzgebenden Versammlung, welche ihre Hand nach allen Machtmitteln des Staates ausstreckt. Es ist eine besondere Form der Despotie, weil die Mehrheit sich aus vielen zusammensetzt, von denen jeder nur eine geringe Verantwortung zu tragen hat, während die Despotie eines absoluten Herrschers schwach ist, weil alle Verantwortung ihm allein zufällt. Liberalismus und Demokratismus bezeichnen daher zwei entgegengesetzte Prinzipien. Der Liberalismus ist das natürliche Prinzip, weil die natürliche Ungleichheit die Grundlage seiner Forderungen bildet, der Demokratismus ist das künstliche Prinzip, weil er die natürliche Ungleichheit durch die ethische Forderung der Gleichheit aufheben möchte. Ja, sie sind einander geradezu feindlich. Denn je weiter die Freiheit ausgedehnt wird, umso geringer ist die Gleichheit; je mehr die Gleichheit verwirklicht wird, umso mehr muß die Freiheit eingeschränkt werden.

MONTESQUIEU unterscheidet zwischen der Freiheit der Verfassung und der Freiheit der Bürger, zwischen der Macht des Volkes und seiner Freiheit. Diesem kann die Verfassung eine unumschränkte Gewalt geben, dann sind die Bürger als Herren frei, aber nicht notwendigerweise als Untertanen, denn die Mehrheit kann die Minderheit unterdrücken. Umgekehrt können die Bürger, ohne politische Rechte zu besitzen, als Untertanen frei sein, wenn die Träger der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkt sind. Es kann vorkommen, sagt MONTESQUIEU, daß die Verfassung frei ist, die Bürger es aber nicht sind und es ist möglich, daß die Verfassung nicht frei ist, die Bürger es aber sind. Und noch deutlicher: Die Demokratie und die Aristokratie sind ihrem Wesen nach keine freien Staaten. Die Freiheit im Sinne der Untertanenfreiheit findet sich nur in den gemäßigten Staatsformen, aber auch dort selbstverständlich nur, wenn die Gewalt nicht mißbraucht wird. Ihre Heimat ist die Monarchie, die er scharf von der Despotie unterscheidet. Es gibt nach ihm zwei Arten der Monarchie: die absolute und die konstitutionelle, wie er sie in England zu erkennen glaubte. Die absolute Monarchie wird eingeschränkt durch die Existenz von Grundgesetzen, nach denen sie regiert, zweitens durch zwischen König und Bürger stehende Körperschaften und drittens durch einen unabhängigen Richterstand. Jene "pouvoirs intermédiaires" [Vermittler mit Befugnissen - wp] (Adel, Klerus, Städte usw.) hindern den Willen des Monarchen daran, sich rücksichtslos geltend zu machen. Es erfordert keine Ausführung, daß MONTESQUIEU in ihrem Verschwinden und ihrer Schwächung eine Todesursache für den absoluten Staat sehen mußte; andererseits ist es bekannt, wie sehr der in den Parlamenten amtende Richterstand durch Engherzigkeit, Eitelkeit, Unverstand den alten Staat an der Gesundung gehindert hat.

In der englischen Monarchie erkannte er das wahre Freiheitsprinzp: die Trennung der Gewalten. Die gesetzgebende Gewalt ist von der ausführenden getrennt, damit sie nicht tyrannische Gesetze machen und tyrannisch ausführen kann und die richterliche ist unabhängig von beiden. Wäre sie mit der gesetzgebenden verbunden, dann hätte der Richter willkürliche Gewalt über Leben und Eigentum der Bürger. Wäre sie mit der ausführenden vereinigt, dann hätte er die Macht eines Unterdrückers. Alles wäre verloren, wenn alle Gewalten auf eine Person, eine Körperschaft oder das Volk gehäuft wären. Die ausführende Gewalt ist nach ihm am besten in der Hand eines Monarchen, weil sie fast immer rasch handeln muß. Das geschieht besser durch einen als durch mehrere, während die gesetzgebende besser durch mehrere als durch einen besorgt wird. Aber es soll nicht die gesetzgebende der ausführenden Gewalt unvermittelt gegenüberstehen. Zwei Einrichtungen sollen es verhindern. Erstens: zwischen die Volksvertretung und die Krone schiebt er ein erbliches Oberhaus ein, ein "corps intermédiaire", welches das Recht hat, die Volksvertretung zu zügeln, wie das Unterhaus befugt ist, das Oberhaus zu beschränken. Da aber eine erbliche Macht geneigt ist, ihre besonderen Interessen zu verfolgen, so darf das Oberhaus in Finanzfragen nur das Recht haben, den Beschlüssen des Unterhauses zuzustimmen oder sie zu verwerfen. Die zweite Maßregel besteht darin, daß der ausführenden Gewalt ein Veto gegen die Beschlüsse des Parlaments zusteht. Nur verhindern soll sie, nicht an der Gestaltung der Gesetze teilnehmen, daher nicht in die parlamentarischen Verhandlungen eingreifen und keine Gesetzentwürfe einbringen. Andererseits soll die Legislative nicht die Freiheit der Exekutive beschränken, wohl aber die Ausführung der Gesetze überwachen. Durch das Spiel dieser Kräfte (freins et contrpoids; checks and balances) entsteht das Gleichgewicht der Verfassung. Die beiden Gewalten sollen also nicht, eine jede in ihrer besonderen Sphäre, unbeeinflußt voneinander schalten, sondern sie sollen selbständig sein, aber zum Wohl des Volkes zusammenwirken.

Die Doktrin von der Teilung der Gewalten beruth also auf dem Grundsatz, daß dem Volk nicht ausschließlich die Souveränität zustehen soll: zu den gesetzgebenden Faktoren gehört nicht nur das Volk (bzw. seine Vertreter) sondern auch das Oberhaus und der König vermöge seines Vetos; die ausführende Gewalt aber ist dem Volk entzogen.

Man hat behauptet, daß MONTESQUIEU die englische Verfassung (28) nicht richtig beschrieben hat. Selbst zu seiner Zeit habe sie dem von ihm gezeichneten Bild nicht mehr geglichen, noch weniger in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, so daß er die Väter der amerikanischen Bundesverfassung in die Irre geführt hat. Denn die parlamentarische Regierung, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts allmählich entwickelt hat, wird nicht durch die Trennung gekennzeichnet, sondern durch die enge Verbindung der gesetzgebenden und ausführenden Gewalt, durch die Übertragung der höchsten Ämter der ausführenden auf die Spitzen der gesetzgebenden Gewalt: auf die Führer der parlamentarischen Mehrheitspartei. Ob MONTESQUIEU wirklich nicht genügend mit dem damaligen Entwicklungsstand der englischen Verfassung vertraut war, diese Frage ist verschieden beantwortet worden, und die Antwort ist für unsere Zwecke belanglos.


IV. Rousseau

Während die Vorkämpfer für die Menschenrechte die Freiheitssphäre des Untertanen im Staat auszudehnen streben, während MONTESQUIEU in der Lehre vom Gleichgewicht der Gewalten den Mechanismus des freien Staates in seine Teile zerlegt, verneint ROUSSEAU sowohl Menschenrechte wie auch Gewaltenteilung. Und doch gilt er als Prophet der Freiheit! Im "Contrat Social" zerreißt er unabsichtlich, mit unsicherer Hand den gleißenden, das abschreckende Antlitz der Volkssouveränität verhüllenden Schleier. Das ist sein großes Verdient, daß er das Wesen der Demokratie tiefer begriffen und gedeutet hat, als ein anderer moderner Politiker; so lehrreicht ist sein berühmtes Werk für das Verständnis der Demokratie und der Freiheit, daß wir auf den folgenden Seiten seinen Inhalt ausführlich wiedergeben.

Der Mensch ist frei geboren und doch ist er überall in Ketten, so beginnt er das erste Kapitel. Mit anderen Worten: nirgends ist die Volkssouveränität die Grundlage der Verfassung; ROUSSEAU faßt nämlich das Wort  Freiheit  hier im Sinne von Volksherrschaft.

Wie sich das Herabsinken aus Freiheit in Knechtschaft vollzogen hat, weiß er nicht, er glaubt aber darlegen zu können, wie der herrschende Zustand in einen rechtmäßigen verwandelt werden kann. Offenbar dadurch, daß man die bestehenden Verfassungen nach dem Grundsatz der Volkssouveränität umgestaltet. Und da nun der Theorie nach Volkssouveränität und Vertrag in den engsten Beziehungen stehen, so ist vorauszusehen, daß der Verfasser einen die Volksherrschaft begründenden Staatsvertrag darzustellen suchen wird.

Die Grundlage seiner Konstruktion ist die Annahme, daß der Mensch frei, das heißt unabhängig vom Willen eines anderen geboren ist. Womit beweist er sie? Er weiß sie nur mit der kurzen Betrachtung zu begründen, daß es eine Folge der menschlichen Natur ist: "Sein oberstes Gesetz ist es, üebr seine eigene Erhaltung zu wachen (I,2) (29) Ob diese Behauptung genügt zur Begründung der Freiheit im Sinne der politischen Gleichheit, oder nur etwa zur Forderung der Gewerbefreiheit, diese Frage brauchen wir nicht zu beantworten.

Der Erhaltung der freien Menschen nun, so nimmt ROUSSEAU an, stellen sich im Naturzustand unüberwindliche Hindernisse entgegen, weshalb sie (worin er HOBBES und SPINOZA folgt) eine Form der Vergesellschaftung ausfindig zu machen suchen, durch welche die Person und die Güter jedes Gesellschafters mit der durch die Vereinigung aller Kräfte entstandenen Gesamtkraft geschützt und verteidigt werden. Andererseits soll sie doch so geartet sein, daß zwar jeder sich mit allen vereinigt, aber nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er zuvor gewesen ist; in diesem Gedanken begegnet er sich mit SPINOZA.

Das Problem besteht folglich darin, eine die Rechte der Urmenschen sichernde Vertragsform ausfindig zu machen. Die Phantasie vieler Politiker hatte sich bemüht, solche Vertragsformen, die ihre Forderungen zu stützen geeignet wären, aufzustellen; ROUSSEAUs Einbildungskraft wird sich ebenfalls daran versuchen. Zu seiner Zeit unterschied die Theorie zwei Verträge: einen Vereinigungsvertrag, den Gesellschaftsvertrag, durch welchen die aus dem Naturzustand heraustretenden Menschen die Gesellschaft einrichten, und einen Herrschaftsvertrag, durch welchen die Vergesellschafteten sich einer staatlichen Ordnung unterwerfen. Zuerst war die Lehre vom Herrschaftsvertrag ausgebildet worden, da die meisten Theoretiker an der aristotelischen Lehre festgehalten hatten, daß der gesellschaftliche Verband aus der Familie herausgewachsen ist; seit dem 16. Jahrhundert leitet man aber auch dessen Entstehen aus einem Vereinigungsvertrag her, und im siebzehnten, mit der Erneuerung der epikureischen Philosophie, läßt man den Gesellschaftsvertrag aus Nützlichkeitserwägungen der in einem gesellschaftslosen Zustand lebenden Individuen hervorgehen. Die Erneuerer dieser Lehre waren GASSENDI, THOMAS HOBBES und SPINOZA. HOBBES hatte aber, um den Staatsabsolutismus begründen zu können, den Vertrag so gestaltet, daß der Vereinigungsvertrag vom Herrschaftsvertrag verschlungen wurde; nach ihm schließt jeder mit jedem einen Vertrag des Inhalts ab, daß er sich der Herrschaft eines einzigen oder einer Versammlung unterwerfen will. An HOBBES reiht sich ROUSSEAU aber selbständig an, indem die den Gesellschaftsvertrag Abschließenden sich dem Gemeinwillen unterwerfen, wie wir gleich sehen werden. Diese Darlegungen leitet er ein mit dem Versuch nachzuweisen, daß alle Theorien, mit denen man bisher die Entstehung der rechtlichen Herrschaft über Menschen erklärt hat, falsch sind, wobei er sich vornehmlich auf seine Überzeugungen von der natürlichen Freiheit stützt. Sie sei nicht hervorgegangen aus der Familie, da das Autoritätsverhältnis der Eltern mit der Selbständigkeit der Kinder aufhört; nicht, wie er spöttisch ausführt, aus der Macht  Adams  oder  Noahs,  da alle Menschen von ihnen abstammen; nicht aus dem sogenannten Recht des Stärkeren, da Gewalt niemals Recht schafft; nicht aus einem freiwilligen Verzicht auf die angeborene Freiheit, da man auf sie nicht verzichten kann; nicht aus der freiwilligen Unterwerfung eines Volkes unter einen Herrscher, denn diesem Akt muß ein anderer vorhergehen: daß ein Volks sich bildet, was nur durch einen mit Einstimmigkeit erfolgenden Vertrag möglich ist.

Die ursprüngliche Freiheit kann nur bewahrt werden, wenn jeder sich selbst und alle seine Güter der Gemeinschaft hingibt. Indem er sich allen hingibt, gibt er sich keinem hin, und der gewinnt ebensoviel, wie er verliert; die Vertragsbedingungen sind dann für alle gleich. Da aber der Vereinigung die einheitliche Leitung fehlt, müssen die Vertragschließenden vereinbaren, daß sie sich, wie schon vorher erwähnt wurde, dem Gemeinwillen unterwerfen wollen. Unter dem Gemeinwillen (volonté générale) versteht er den das allgemeine Wohl erstrebenden Mehrheitswillen, zum Unterschied vom Willen aller (volonté de tous), welcher auf die Föderung privater Interessen gerichtet ist (II, 3). Diejenigen, welche miteinander den Vertrag eingehen, begründen damit das Gemeinwesen, die anderen bleiben draußen, sie sind Fremde. Anders ausgedrückt: der Vertrag mußte einstimmig gefaßt werden, alle folgenden Beschlüsse sind Mehrheitsbeschlüsse (IV, 2), woraus folgt, daß die Bürger durch einen einstimmigen Beschluß das Gemeinwesen wieder auflösen können (III, 18).

Die nach Abschluß des Vertrages entstandene Person des öffentlichen Rechts heißt  Staat wenn sie passiv,  Souverän,  wenn sie aktiv,  Macht wenn sie mit anderen verglichen wird; die Menschen werden Bürger genannt als Teilhaber an der souveränen Gewalt, Untertanen als dem Gesetz Unterworfene (I, 6).

Der Souverän herrscht unumschränkt über seine Untertanen, weil es unmöglich ist, daß er jemandem schaden kann (I, 7). "Der Gesellschaftsvertrag gibt dem Staat eine unbeschränkte Macht über alle die Seinigen" (II, 4). "Wer auch immer sich weigern sollte, dem Gemeinwillen zu gehorchen, wird dazu durch die ganze Gemeinschaft gezwungen werden, das heißt nichts anderes, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein" (I, 7). Und: "Der Bürger gibt seine Zustimmung zu allen Gesetzen, selbst zu denen, die gegen ihn erlassen werden, selbst zu denen, die ihn bestrafen, wenn er es wagt, eines zu verletzen. Der beständige Wille aller Glieder des Staates ist der Gemeinwille, durch ihn sind sie Bürger und frei. Wenn man in der Volksversammlung ein Gesetz vorschlägt, dann fragt man sie nicht, ob sie den Vorschlag billigen oder verwerfen, sondern ob es mit dem Gemeinwillen, der der ihrige ist, übereinstimmt. Indem er (der Bürger) abstimmt, sagt er seine Meinung darüber, und aus der Zahl der Stimmen ergibt sich der Gemeinwille. Wenn also der dem meinigen entgegengesetzte Wille siegt, dann beweist das nur, daß ich mich getäuscht habe und daß, was ich für den Gemeinwillen hielt, es nicht war" (IV, 2).

Eine außerordentlich weitgehende Herrschaft über der Souverän über die religiösen Überzeugungen der Untertanen aus. ROUSSEAU glaubt, daß ein Staat ohne Religion nicht bestehen kann. Aber das Christentum selbst in der edlen Gestalt, wie es uns in den Evangelien entgegentritt, hält er dem Staat für schädlich, weil es den Gläunigen von der Welt abwendet; der Katholizismus aber, behauptet er, sei ihm gefährlich, weil sein Bekenner zwei Vaterländer, zwei Oberhäupter hat und zwei Gesetzgebungen untersteht, wodurch die Einheit des Staates zerstört wird. Es muß daher nach ihm eine Staatsreligion eingeführt werden, die den Bürger seine staatsbürgerlichen Pflichten lieben lehrt. Ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis wird vom Souverän aufgesetzt, dessen Artikel nicht Glaubenssätze im herkömmlichen Sinn sind, sondern brüderliche Gefühle ausdrücken, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger oder ein treuer Untertan zu sein.
    "Ohne jemanden zwingen zu können, sie zu glauben, kann er jeden aus dem Staat verbannen, der sie nicht glaubt ... Wenn aber jemand, nachdem er sich zu diesen Glaubenssätzen öffentlich bekannt hat, durch sein Verhalten zeigt, daß er sie nicht glaubt, dann soll er mit dem Tode bestraft werden, er hat das größte Verbrechen begangen, er hat vor den Gesetzen gelogen" (IV, 8).
Gibt es, da nach menschlichem Ermessen die Mehrheit irren kann, im Systeme ROUSSEAUs einen Schutz gegen sie, wenn sie die Interessen der Bürger verletzt? Nein. Enthält es eine Erklärung der Menschenrechte? Nein. Er sagt ausdrücklich, eine Verbürgung ihrer Rechte sei unnötig, da die höchste Gewalt nicht die Absicht haben kann, ihnen zu schaden; der Souverän setzt sich ja aus ihnen zusammen (I, 7). An zwei Stellen macht er freilich einen Anlauf, sich den Gedanken LOCKEs und der Levellers zu nähern, aber jedesmal mißlingt es. In dem Kapitel "Über die Grenzen der höchsten Gewalt" heißt es:
    "Es wird zugegeben, daß dasjenige, was jeder durch den Gesellschaftsvertrag von seiner Macht, seinen Gütern, seiner Freiheit abtritt, nur derjenige Teil ist, der für die Gemeinschaft wichtig ist; aber man muß auch zugeben, daß der Souverän allein Richter darüber ist, was wichtig ist" (II, 4).
Der Leser wird sich erinnern, daß er (I, 6) den Vertrag zustande kommen läßt durch eine "totale Hingabe aller seiner Rechte an die Gemeinschaft"; wenige Zeilen weiter wiederholt er es mit den Worten "kein Gesellschaftsgenosse hat einen weiteren Anspruch". Ja er behauptet: "Ohne diese Hingabe würde der Naturzustand fortdauern und die Gesellschaft müßte notwendig zur Tyrannei oder zum leeren Namen werden." Ein so völliger Widerspruch mildert die Verwunderung darüber, daß ROUSSEAU mit der einen Hand Menschenrechte gibt, die er mit der anderen wieder nimmt. Aber es muß auch beachtet werden, daß die soziologischen Vorstellungen der Schöpfer der englischen Gesellschaftsverträge durchaus von denen ROUSSEAUs verschieden sind. Sie lassen die Menschen in den Staat eintreten, nachdem sie Vorbehalte gemacht haben, die Menschen ROUSSEAUs schließen den Vertrag ohne jede Reserve ab, sie unterwerfen sich blindlings allem, was der Gemeinwille beschließen wird. Darauf kommt ja ROUSSEAU immer wieder zurück, daß der bisher unabhängige Mensch im Staat integrierender Teil eines Ganzen werden soll. Die Engländer wollen vor allem Gewissensfreiheit, ROUSSEAU unterwirft die Bürger den Dogmen der Staatsreligion. Auch hier scheint er einen Augenblick sich den Engländern nähern zu wollen aber dann wiederholt er die alte Phrase und geht entschlossen wieder seine eigene Bahn.
    "Das Recht, welches der Gesellschaftsvertrag dem Souverän über die Untertanen gibt, überschreitet keineswegs die Grenzen des politischen Nutzens. Die Untertanen sind nur so weit verpflichtet, dem Souverän über ihre Meinungen Rechenschaft abzulegen, als diese Meinungen für den Staat von Wichtigkeit sind. Nun aber ist es für den Staat von großer Wichtigkeit, daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten zu lieben veranlaßt" (IV, 8).
Eine der wichtigsten Entscheidungen des Souveräns betrifft die Regierungsform, die er sich geben will: ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Sie wird in der rechtlichen Form des Auftrags ausgeführt (30). Der Souverän kann die Bürger mit der Regierung betrauen, dann entsteht die Demokratie, er kann einer kleinen Anzahl den Auftrag eben, Aristokratie, oder einer einzigen Person, Monarchie (III, 3); es paßt die Demokratie für kleine, die Aristokratie für mittlere und die Monarchie für große und reiche Länder (III, 3; III, 8). Hieraus geht hervor, daß ROUSSEAUs Doktrin zwei charakteristische Züge hat: erstens lehnt er die Idee des Herrschaftsvertrags, den Gedanken ab, daß eine Aristokratie oder Monarchie dadurch begründet wird, daß ein Volk sich durch einen Vertrag einer Versammlung oder einem Fürsten unterwirft, denn Fürst und Versammlung sind nur seine Beamten, seine Beauftragten, die es daher auch nach Belieben wieder absetzen kann; zweitens sind nach ihm Demokratie, Aristokratie und Monarchie nicht verschiedene Staatsformen, sondern verschiedene Formen der ausführenden Gewalt. Die gesetzgebende Gewalt steht in jeder dieser Formen dem Volk zu; es ist und bleibt souverän, welche Regierung es auch wählen mag.

Diese Unterscheidung hat eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Lehre von der Gewaltentrennung:
    "Wir haben gesehen, daß die gesetzgebende Gewalt dem Volk zukommt und nur ihm zukommen kann ... wenn (aber) der Souverän regieren, oder der Beamte Gesetze geben will ... dann handeln Gewalt und Wille nicht mehr in Übereinstimmung, der Staat löst sich auf und verfällt dem Despotismus, oder der Anarchie." (III, 1)
Daß die Ähnlichkeit aber nur scheinbar ist, beweist nichts besser als eine Stelle (II, 2), wo er die Vertreter der Lehre mit japanischen Gauklern vergleicht, die ein Kind in Stücke zerschneiden und dann wieder zusammensetzen.

Noch ein anderer Widerspruch ergibt sich aus seinen Lehren über die Staatsform. Wir müssen vorausschicken, worauf wir noch einmal zurückkommen müssen, daß er behauptet, die Souveränität lasse sich nicht repräsentieren, weil ihr Wesen im Gemeinwillen besteht, der sich aber nicht vertreten läßt (III, 15). ROUSSEAUs Staatslehre schließt folglich jede Art von Repräsentation aus. Nun bereitet es keine Schwierigkeiten, sich vorzustellen, daß in einem kleinen Staat (Demokratie) alle Bürger persönlich erscheinen, Gesetze geben und Beamte wählen; wie ist es aber denkbar, daß alle Bürger eines großen Staates, einer Monarchie, sich zu diesen Zwecken vereinigen? Er sieht die Schwierigkeiten wohl ein, aber wenn er den Gedanken zu Ende gedacht hätte, wäre sein System zusammengestürzt, und darum geht er darüber hinweg.

Nachdem wir hiermit einen Überblick über die Staatslehre ROUSSEAUs gegeben haben, halten wir eine Nachlese.

Die Herrschaft der Mehrheit rechtfertigt er damit, daß der Mehrheitswille der Gemeinwille ist. Aber andererseits kann er sich der Überzeugung nicht verschließen, daß der Mehrheitswille als "volonté de tous" egoistische Bestrebungen fördern, ja daß er in sinkenden Staaten nur noch unlauteren Zwecken dienen kann.

Welches sind seine Vorschläge zur Verhinderung der Entstehung egoistischer Einzelwillen? Vor allem müssen die Bürger, die verpflichtet werden können, am Erlaß der Gesetze beteiligt werden; es müssen alle Vereine mit besonderen Zwecken unterdrückt werden (was für ein Gegensatz zum Liberalismus!); man soll dafür sorgen, daß jeder Bürger nach seinen eigenen Überzeugungen abstimmt; er rät bei der Begründung des Staates einen Gesetzgeber zu berufen, einen SOLON, einen LYKURG und ein Tribunat zur Überwachung der Legislative einzurichten. Die wichtigste Maßregel aber ist die stete Sorge der Gesetzgebung, der schädlichen Differenzierung der Vermögen entgegenzuwirken (ohne daß er für die volle Gleichheit eintritt), denn wenn der reiche Bürger den armen kaufen kann und der arme sich kaufen lassen muß, um leben zu können, dann gibt es keine Gleichheit mehr und mit ihr ist dann auch die Freiheit verschwunden (II, 3, 6, 7, 10, 11).

Wir sind bei einer der hervorragendsten Seiten von ROUSSEAUs Staatslehre angelangt. Es ist offensichtlich, daß sein Freiheitsbegriff auch hier der demokratische, nicht der liberale ist. Die Freiheit, die er meint, ist die künstlich, durch Staatszwang erzeugte soziale Unabhängigkeit der großen Masse, die ihr gestatten soll, ein freies politisches Votum abzugeben.
    "Wenn man" heißt es (II, 11), "untersucht, worin das höchste Gut aller besteht, das der Zweck jedes Systems der Gesetzgebung ist, dann wird man finden, daß es sich auf zwei Hauptaufgaben zurückführen läßt: auf Freiheit und Gleichheit. Die Freiheit, weil jede besondere Unabhängigkeit dem Staatskörper ebensoviel Kraft entzieht, die Gleichheit, weil die Freiheit nicht ohne sie bestehen kann."
Verweilen wir bei diesem Punkt einen Augenblick, weil er gestattet, den Demokratismus scharf vom Liberalismus zu sondern. Dessen soziale Freiheit ist eine natürliche Freiheit, die Möglichkeit der Ungleichheit, sich auszuwirken, welche für das höchste Gut des Gemeinwesens gehalten wird. Denn je mehr die natürlichen Besonderheiten hervortreten, umso reicher ist es an seelischen Kräften. Manche Vertreter des Liberalismus glauben, daß diese Freiheit nicht nur zur Entwicklung der Menschheit notwendig ist, sondern auch daß eine prästabilierte Harmonie schädliche Wirkungen verhindert, gegenseitige Hilfsbereitschaft aber sie mildern wird. Wer Antithesen liebt, wird sagen, daß die Demokrati die Freiheit der Schwachen ist, der Liberalismus die Freiheit der Starken. Die politische Freiheit sieht der Liberalismus verbürgt durch die Gewaltenteilung. Sie ist undurchführbar, wenn die Gewalten nicht eine gewisse Unabhängigkeit voneinander behaupten können. In ROUSSEAUs Staat aber ist die vollziehende Gewalt nur eine auf Kündigung angestellte Dienerin der gesetzgebenden. So gelangen wir zum zweiten Mal zur Überzeugung, daß Volkssouveränität und Gewaltenteilung einander ausschließen.

Im demokratischen Staat gibt es nur eine Gewalt, die sich alle anderen dienstbar machen wird: die gesetzgebende. Wie mächtig ist sie in ROUSSEAUs Staat, und wie mächtig ist sein Staat! Die Vorkämpfer der germanischen Demokratie suchen sie und suchen ihn einzuschränken (wenn auch mit unsicherem Erfolg, wie wir noch sehen werden), durch Erklärungen der Menschenrechte, weil sie fürchten, weil sie als kraftvolle Männer fühlen, daß sie das Beste der eigenen Kraft verdanken. Der ROUSSEAUsche Staat macht sich Personen und Güter untertan, er darf es, weil
    "der Staat Herr aller Güter seiner Mitglieder durch den Staatsvertrag wird, ... weil das Recht, welches jeder Bürger auf sein Vermögen hat, demjenigen der Gesellschaft auf alle untergeordnet ist." (I, 9)
Von den Vorteilen seines Güter an sich reißenden, Menschen unterjochenden Staates für den Bürger spricht er ähnlich wie ARISTOTELES. (31) Mit ihm erst entsteht Sittlichkeit, das Gefühl der Pflicht, die Kräfte des Bürgers entwickeln sich, sein Gesichtskreis erweitert sich, er gewinnt die bürgerliche Freiheit, die sittliche und gesetzliche Gleichheit ergänzen gleichsam die Lücken der natürlichen Gleichheit (I, 8 und 9). Ja der große Gesetzgeber gestaltet die Menschen um, verändert ihre Konstitution, nimmt ihnen ihre natürichen Kräfte und gibt ihnen neue (II, 7).

Ist es notwendig, stark hervorzuheben, daß diese Verherrlichung von Gesetz und Staat nicht germanisch ist, sondern antik?

Vor die Augen seiner mit ihren staatlichen Zuständen unzufriedenen Zeitgenossen stellt ROUSSEAU das begeisternde Bild der romanischen Demokratie: das souveräne Volk, dessen Macht nicht durch Trennung der Gewalten und Menschenrechte geschwächt ist, dessen in Gesetzen redender, selbstherrlich über Menschen und Dinge verfügender Gemeinwille niemandem schadet, allen wohltut, sie zu höheren Wesen erhebt: das souveräne Volk, welches die Freiheit schafft, weil es die Gleichheit erzwingt; das souveräne Volk, das selbst, immer unabhängig, an keine Norm gebunden ist.
    "Für dieses so verbundene Volk gibt es nicht und kann es nicht geben irgendeine Art von verpflichtendem Grundgesetz, nicht einmal den Staatsvertrag." (I, 7). "Solange ein Volk gezwungen ist, zu gehorchen, und wenn es gehorcht, tut es recht; sobald es das Joch abschütteln kann, und wenn es dasselbe abschüttelt, tut es noch besser." (I, 1)
ROUSSEAU ist aber kein Vorkämpfer für die Demokratie im heutigen Sinne. In allem, was sich auf die Exekutive bezieht, stellt er sich als geschmeidiger Relativist vor. Nachdem er den überall gleichen Unterbau der Volkssouveränität unter dem "Esprit des Lois" erreichtet hat, wird er ein gelehriger Schüler MONTESQUIEUs. Er erkennt an, daß nicht jede Regierungsform für jedes Land paßt, daß sie nach Umständen die beste und schlechteste sein kann, und daß gemischte Regierungsformen ihre Vorteile haben. Von allen Formen sagt er viel Übles, am besten kommt noch die Aristokratie, insbesondere die Wahlaristokratie, bei ihm weg. Auf seine geheimsten Überzeugungen wirft er ein helles Licht, daß er in einer Anmerkung CALVIN auch als Gesetzgeber preist (II, 7). Unter Demokratie versteht er nicht nur eine das ganze Volk umfassende Regierungsform, sondern auch eine solche, die die Hälfte ausschließt (III, 3). Streng genommen hat nie eine wahre Demokratie bestanden und es wird auch nie eine geben (III, 4). Es sei gegen die natürliche Ordnung, daß die große Zahl herrschen soll und die kleine beherrscht wird. In Genf sind zu seiner Zeit nur zwei Stände, von fünf der Bevölkerung, Staatsbürger; das erfahren wir wieder in einer Anmerkung (I, 6); er hat kein Wort des Unmutes dafür. In einer wahren Demokratie würde das Los keinen Schaden stiften, nämlich einem Staatswesen, wo Sitten, Talente, Grundsätze und Vermögen gleich wären (IV, 3). Erstaunen erregt es, daß er, der die Sklaverei als eine gegen das Naturrecht verstoßende Einrichtung brandmarkt, sie als die materielle Grundlage der antiken Republiken feiert.
    "Was! die Freiheit erhält sich nur durch die Sklaverei? Vielleicht. ... Es gibt verhängnisvolle Lagen, in denen man seine Freiheit nur auf Kosten derjenigen eines anderen erhalten kann, und wo der Bürger nur wahrhaft frei ist, weil der Sklave außerordentlich unterdrückt wird. ... Ihr modernen Völker, Ihr habt keine Sklaven, aber Ihr seid Sklaven, Ihr bezahlt ihre Freiheit mit der Eurigen. Rühmt nur diesen Fortschritt, ich finde darin mehr Feigheit, als Humanität!" (III, 15).
Die Demokratie ist nach ihm an Bedingungen geknüpft, die sich selten vereint finden: kleines Territorium, große Einfachheit der Sitten, große Gleichheit des Rangs und des Vermögens, wenig oder gar kein Luxus. Keine Regierungsform ist nach ROUSSEAU so sehr Bürgerkriegen und inneren Unruhen ausgesetzt, weil sie fortwährend im Fluß begriffen ist, keine, deren Erhaltung so viel Mut, Wachsamkeit, Kraft und Beständigkeit erfordert. "Wenn es ein Volk von Göttern gäbe," so schließt er, "dann würde es sich demokratisch regieren, eine so vollkommene Regierungsform paßt nicht für Menschen" (III, 4).

Die Demokratie ROUSSEAUs ist, was wir heute unmittelbare Demokratie nennen. Er verwirft die repräsentative Staatsform. Der Gemeinwille läßt sich ja, wie wir schon sahen, nach ihm nicht vertreten; die Volksvertreter sind des Volkes Kommissare, sie können keine bindenden Beschlüsse fassen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst genehmigt hat, ist nichtig, es ist kein Gesetz (III, 15). Ob ROUSSEAU das in einigen Teilen seines Vaterlandes bestehende Referendum gekannt hat, weiß ich nicht. In den "Considérations sur le Gouvernement de la Pologne", in welchem Staat sich die Vertretung nicht vermeiden ließ, empfiehlt er "Mandat Impératif" und "Compte-Rendu" [Rechenschaftsbericht - wp]. Die Landboten sollen gehalten sein, sich an ihre Instruktionen zu binden und ihren Wählern einen Rechenschaftsbericht über ihr Verhalten im Landtag zu geben. (32)

Ehe wir von ihm Abschied nehmen, sei zu seinem Lob erwähnt, daß er frei von dem in einem demokratischen Gemeinwesen häufig gedeihenden Mitleid mit Verbrechen ist. Er rühmt es einmal, daß vor den Gefängnissen in Genua und auf den Ketten der Galeerensträflinge das Wort  Libertas  steht; wären alle Bösewichter im Gefängnis, meint er, dann würde man die vollkommenste Freiheit genießen (IV, 2). Und im "Du Droit de Vie et de Mort" überschriebenen Kapitel, das vorteilhaft gegen einige unreife Gedanken in dem zwei Jahre später erscheinenden Werk BECCARIAs absticht, verurteilt er die in der Demokratie so beliebten Begnadigungen (II, 5).

Am Ende dieser zweiten Wanderung durch den "Contrat Social" läßt sich die Stellung dieses Werkes in der politischen Gedankenentwicklung mit wenigen Worten bezeichnen.

Im "Discours sur l'inégalité" hatte ROUSSEAU das Werden der menschlichen Gesellschaft (33) nach der Entstehung des Privateigentums unter dem Einfluß der Reichen und Klugen (34) dargestellt: die gesellschaftliche Ungleichheit ist größer als die natürliche, Kinder befehlen Greisen, Toren beherrschen Weise, eine Minderheit erstickt im Überfluß, während hungrigen Menge das Notwendige fehlt. Das Privateigentum ist nicht mehr zu beseitigen, aber man kann das Los der Armen und Ungebildeten bessern, wenn man allen Menschen, die ein Gemeinwesen begründen, gleiche politische Rechte gibt; sie sind dann in der Lage, die Reichen und Klugen zu überstimmen und so ihre Interessen zu wahren. Dies ist das Thema des "Contrat Social". So liegt ihm nichts ferner, als in der Weise der englischen Demokraten Vorbehalte bei der Staatsgründung zu machen, die Menschenrechte zu erklären, oder wie MONTESQUIEU die Gewalt der Masse durch "checks and balances" zu beschränken: im Gegenteil er will den Staat, in dem die Mehrheit unbedingt herrscht (welche überall und zu allen Zeiten aus Armen und wenig Befähigten bestehen wird), weil nur so ihr Los erträglich gemacht werden kann. Wie widersinnig ist daher der Gedanke, er beabsichtige das Bild eines freien Staates zu malen, in dem einem jeden die freieste Bewegung gestattet ist (35). Und doch ist dies die vorherrschende Meinung. Wenige Leser hätten den "Discours" verstanden, sagt er in seinen Bekenntnissen; es scheint noch heute so zu sein. Selbst die natürliche Freiheit ist für ihn nur ein Hilfsbegriff, dessen Existenz er nicht einmal notdürftig begründet. Es ist nur eine Annahme, aber eine für seine Zwecke unentbehrliche Annahme. Denn nur, wenn die Menschen von Natur aus frei gewesen sind und bei der Begründung des Staates ihr Interesse verstanden haben, müssen wir als dessen Fundament einen Vertrag betrachten, der jedem - nicht die Freiheit - sondern die politische Gleichheit sichert. in dem so geschaffenen Zwangsstaat herrscht die Masse unbedingt, sie setzt sogar das Glaubensbekenntnis fest und wird Herrin des Vermögens aller Untertanen. Wenn dieses Ziel erreicht ist, wird die Frage: Demokratie oder Monarchie? bedeutungslos: sie wird nach Gründen der Zweckmäßigkeit entschieden.


V. Aristokratische Republiken

Im 18. Jahrhundert gab es ungefähr 70 Republiken: die etwa fünfzig deutschen Reichsstädte, die Republik der Vereinigten Niederlande, die Schweizer Republiken, Venedig und Genua, Lucca und San Marino. Die meisten waren aristokratische Republiken; selbst ursprüngliche Demokratien hatte ein aristokratisches Wesen wie Efeu umsponnen. Die meisten wurden durch die französische Revolution oder durch die von ihr ausgehenden Wirkungen gestürzt, um sich nicht wieder zu erheben.

Nicht in ihnen ist die moderne demokratische Bewegung entstanden, sondern auf dem Gebiet der heutigen Vereinigten Staaten, welche damals als englische Kolonien Einrichtungen besaßen, die man als konstitutionelle bezeichnen kann, und zu einem Gemeinwesen gehörten, das sich in einem Übergangszustand von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie befand. Von dort sprang der revolutionäre Funke auf Frankreich über, welches damals unter einem absoluten Herrscher lebte; die zweite französische Republik folgte auf eine parlamentarische Regierung, die dritte auf ein cäsaristisches Regiment. Von Frankreich her erfolgte die Umwandlung der schweizerischen Republiken in moderne Demokratien.
LITERATUR Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie, Jena 1921
    Anmerkungen
    1) Die Wahl der Geistlichen in Genf bestand nur in der  Auswahl  aus einer von den Predigern vorgelegten Kanditatenliste, also einer gemilderten Kooptation.
    2) GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1905, Seite 284
    3) "Der Ursprung des Staates aus einem Vertrag ist vielen Schriftstellern eine geschichtliche Tatsache, welche der rationalen Lehre eine unangreifbare empirische Stütze geben soll." (JELLINEK, a. a. O., Seite 203) So ein Gelehrter, der die naturrechtliche Literatur kannte, während andere uns glauben machen wollen, die soziologischen Vorgänge wären durchgängig nur als Prämissen zur Entfaltung einer rationalen Staatslehre betrachtet worden; an ihrer geschichtlichen Unwahrheit habe niemand gezweifelt. Diese Bedeutung haben sie bei einigen Theoretikern vor HUME gehabt, z. B. bei HOBBES. Wäre diese Auffassung aber allgemein verbreitet gewesen, dann verstände man nicht, weshalb HUME gegen sie ankämpfen mußte.
    4) RUDOLF TREUMANN, Die Monarchomachen, 1885; MÉALY, Les Publicistes de la Reforme, 1903.
    5) GOOCH, The History of English Democratic Ideas in the 17th century, 1898, Seite 43f, 65f, 34f.
    6) WENZELBURGER, Geschichte der Niederlande, Bd. II, Seite 503; MOTLEY, The Rise of the Dutch Republic, Bd. VI, Seite 4.
    7) BORGEAUD, Premiers Programmes de la Démocartie Moderne in den "Annales de l'Ecole Libre des Sciences Politiques, 1890.
    8) HERMANN WEINGARTEN, Die Revolutionskirchen Englands, 1868
    9) GARDINER, History of the Great Civil War, Vol. III, Seite 160f. CROMWELL hat am Independentismus die Predigt der Toleranz gefallen, welche ihm ermöglichte, seine Soldaten ausschließlich nach militärischen Anforderungen auszuwählen - so GARDINER.
    10) GARDINER, a. a. O., Seite 210f.
    11) Sie protestierten gegen die Bezeichnung  Levellers,  besonders wenn sie sich auf das Gleichmachen der Vermögen beziehen sollte. (GARDINER, History of the Commonwealth and Protectorate, Bd. 1, 1894, Seite 47.
    12) Die beiden Agreements, Heads of Proposals, Instrument of Government in "The Constitutional Documents of the Puritan Revolution" von GARDINER, 1899. Über ein drittes Agreement siehe GARDINER, History of the Commonwealth, Seite 53f.
    13) THOMAS EDWARDS, Gangraena, Bd. III, 1646, Seite 15.
    14) Wen hat es nicht verwundert, daß aus dem nüchternen Puritanismus und dem bevormundenden Presbyterianismus die hochfliegenden, wilden, rationalistischen Gedanken der Independenten, Gleichmacher, Quäker entspringen? Im Calvinismus und in der leidenschaftlichen, aber nüchternen Bewegung der Monarchomachen ist hiervon der Same nicht zu finden. Ich glaube an den Einfluß der Wiedertäufer, der sich in allen Stadien des Brownismus bemerkbar macht. Die Lehre dieser Sekte, daß man dem Wort keine zu hohe Bedeutung beilegen soll, die Geringschätzung des kirchlichen Amtes, ihr im "inneren Licht" hervortretender strenger Subjektivismus, ihr Mystizismus, ihre demokratisch-sozialistischen Bestrebungen: All dies scheint einen außerordentlich kräftigen Sauerteig abgegeben zu haben. Für diese Hypothese finden sich nicht nur bei WEINGARTEN und GARTZ, der während der Revolution in England weilte (Puritanischer Glaubens- und Regimentsspiegel), sondern auch bei EDWARDS viele Belege. (Vielleicht ist es gestattet, darauf hinzuweisen, daß auch SPINOZA, wie MENZEL in seiner durch historische Interpretation ausgezeichneten 1898 erschienen Abhandlung "Wandlungen in der Staatslehre Spinozas" wahrscheinlich macht, in seiner ersten Entwicklungsperiode durch Arminianer und Mennoniten beeinflußt worden ist.) Dafür spricht auch das Werk BAILLIES "Anabaptism the true Fountain of Independence etc. (GOOCH, a. a. O., Seite 132) - - - Das deutsche Volk hat dreimal bewiesen, wie sehr es zu extremen, ungesunden Theorien neigt: im 13. und 14. Jahrhundert die Brüder und Schwestern vom freien Geist, im 16. die Wiedertäufer, im 19. die Sozialdemokraten.
    15) Der Unterschied zwischen LOCKE und LILBURNE erklärt sich großenteils aus der Verschiedenheit ihrer Gegner. Als LOCKE als hoher Fünfziger schrieb, hatte er den Kampf gegen die absoluten Neigungen CROMWELLs und der STUARTs erlebt; von den Levellers war gegen die Herrschsucht des Parlaments gekämpft worden. Er tritt für die konstitutionelle Monarchie ein, sie für eine pseudo-repräsentative Demokratie. LOCKE muß daher dem Parlament Konzessionen machen, welches er "die oberste Macht" nennt, und die Volkssouveränität zieht sich praktisch in den Hintergrund zurück, wenn ihr auch in der Theorie der erste Platz verbleibt.
    16) EDWARDS, a. a. O., Bd. III, Seite 217. Birth-right hatte zuerst die Bedeutung von ererbtem Recht, oder auch von Rechten, die die Engländer vor der Normannischen Eroberung besessen hatten.
    17) "Daß Gesetze nicht suspendiert, von ihnen nicht dispensiert, daß keine Ausnahmegerichte errichtet, grausame Strafen nicht verhängt, die Geschworenen gehörig ernannt, Steuern nicht ohne Gesetz auferlegt, ein stehendes Heer nicht ohne parlamentarische Bewilligung gehalten, daß die Parlamentswahlen frei, daß Parlamente häufig einberufen werden sollen, das alles sind nicht Rechte des einzelnen, sondern Pflichten der Regierung." Nur drei Befugnisse der Untertanen wurden aufgezählt (Petitionsrecht, das Recht Waffen zu tragen und die Redefreiheit der Parlamentsmitglieder). Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1904, Seite 29.
    18) Flüchtig sei erwähnt, daß in demselben 5. Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts der Vorkämpfer für den Absolutismus, THOMAS HOBBES, zweimal seine Schrift "De Cive" (1642, 1647) veröffentlichte, in der er (im 10. Kapitel) Monarchie und Demokratie miteinander verglich. Der große Philosoph räumte darin mit manchen Scheingründen für die Demokratie auf.
    19) Die Vorgänger und Mitstreiter LOCKEs für religiöse Freiheit: SPINOZA, THOMASIUS, MILTON, hat man häufig vergessen. Verständlich ist dies bei SPINOZA, weil dessen Forderung die Konsequenz eines eigenartigen philosophischen Systems ist. Nach ihm hat jeder von Natur so viel Recht, wie er Macht hat, daher muß das Naturrecht, wie er es faßt, auch im Staat fortdauern, der mit seinen Machtmitteln nur eine äußere Beobachtung der zum Zusammenleben erforderlichen Gesetze erzwingen kann; man kann das Recht zu handeln aufgeben, wenn man in den Staat tritt, nicht aber das Recht zu denken und zu urteilen, wie man denkt und urteilt. Ebensowenig kämpft THOMASIUS für Religionsfreiheit von einer im eigentlichen Sinne religiösen Grundlage aus. (vgl. über ihn HETTNER, fünfte Auflage) Weit näher steht hierin MILTON dem jüngeren Landsmann. Wenn man MILTON mit LOCKE vergleicht, machen sich dessen schriftstellerische Vorzüge auch hier geltend.
    20) Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, 1754, § 95.
    21) Principes du Droit de la Nature, Yverdon 1767, III (überarbeitet von de FELICE), Seite 146f.
    22) Eine Inhaltsangabe bei HASBACH, Untersuchungen über Adam Smith, Bd. 2, 1891, Seite 2.
    23) Über den Einfluß der bedeutenden Juristen BLACKSTONE und MATHEW HALE siehe HATSCHEK, Englisches Staatsrecht, Bd. 1, Seite 18 und JELLINEK, Erklärung a. a. O., Seite 33.
    24) LILBURNEs Ideal war "den einen Tyrannen zu unterstütze, um einem anderen Tyrannen gegenüber das Gleichgewicht zu halten" (GARDINER, Seite 500). Über die Notwendigkeit, das Parlament durch monarchische Gewalt zu beschränken, vgl. GARDINER, History etc. a. a. O., Bd. II, Seite 1f und 268.
    25) Treffend die Kritik der Widersprüche, in die sich ARISTOTELES verwickelt, bei SUSEMIHL, Aristoteles' Politik, Bd. 1, 1879, Seite 63.
    26) EUGENE d'EICHTHAL, Souverainetè du Peuple et Gouvernement, 1895, Seite 89f. Nach REHM, Allgemeine Staatslehre, 1899, Seite 217 findet sich die Lehre schon bei BUCHANAN.
    27) vgl. HASBACH, Ist Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität? Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 1911.
    28) Deren geringschätzige Kritik in HOLBACHs "Systeme Social", Bd. 2, Seite 6.
    29) In der Vorrede zum  Discours  findet sich eine breitere Ausführung dieses Gedankens. Selbsterhaltungstrieb und Mitleid erscheinen hier als die psychologischen Wurzeln der Freiheit und Gleichheit. Aus der physischen und psychischen Ausstattung des Menschen das Recht herzuleiten, ist eine gewöhnliche Methode des Naturrechts.
    30) ROUSSEAU, Contrat social, III,1. Vgl. auch III, 16; III, 17; III, 18.
    31) Mit ARISTOTELES teilt ROUSSEAU die Überzeugung von der Bedeutung des Staates für die Sittlichkeit.
    32) FRANZ HAYMANN, Jean-Jaques Rousseaus Sozialphilosophie, 1898
    33) ROUSSEAU hat die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Entstehung der Ungleichheit nicht für feststehende historische Wahrheiten gehalten, aber geglaubt, daß sie denselben Wert wie die Hypothesen der Geologen über die Bildung der Erde. (Petit chefs - d'oeuvre, Seite 46) Solche "raisonnement hypoth´tiques et conditionells" aber schätzte das 18. Jahrhundert nicht gering ein. Vgl. die Ausführungen DUGALD STEWARTs in HASBACH, "Untersuchungen über Adam Smith", Seite 311f.
    34) Immer wieder tritt die Auffassung hervor, daß der Kluge und der Reiche den Staat zum Schaden der Armen und Schwachen gegründet haben. Aber auch im  Contrat Social  findet sich diese Auffassung.
    35) JOSEF EÖTVÖS (Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat (1851, Seite 37f) vergleicht die Begriffe  Freiheit  und  Gleichheit  nach der politischen Entwicklung Englands, des politisch freien Staates, und dem "Contrat Social" in sehr klarer Weise. - - - Die politische Entwicklung Englands hatte folgende Auffassung der Freiheit herausgebildet. Freiheit ist die Abwesenheit einer absoluten Gewalt im Staat (Beschränkung der königlichen Gewalt durch das Parlament, des Oberhauses durch das Unterhaus, verschwören sich alle drei gegen die Freiheit, dann werden sie durch die Jury in Schranken gehalten). Nach dem "Contrat Social" aber muß es im Staat eine absolute Gewalt geben, damit der Staat seine höchste Aufgabe erfüllen kann. Die Bürger bedürfen keines Schutzes gegen dessen Gewalt, da sie ja dem Volk selbst gehört und der Staat nichts dem Volk Schädliches wollen kann. So kann die bürgerliche Freiheit nur darin bestehen, daß die Staatsgewalt im Namen des souveränen Volkes und zumindest mittelbar durch dasselbe ausgeübt wird. Nach englischen Begriffen wird die Gleichheit darin gesucht, daß jeder Bürger den gleichen Schutz des Staates genießt, sich in seinem Kreis mit gleicher Freiheit bewegen kann, der Staatsgewalt nicht mehr unterworfen ist als jeder andere Bürger. Es ist folglich die gleiche individuelle Freiheit, die man in England mit dem Namen  Gleichheit  belegt. Anders im "Contrat Social". Nachdem der Begriff der individuellen Freiheit in dem der Volkssouveränität aufgegangen ist, kann die Gleichheit nur den Sinn haben, daß jeder Bürger gleichmäßig teilhat an der der Gesamtheit zukommenden absoluten Gewalt. Wonach man strebt, ist nicht die gleiche Wirkung erlassener Gesetze auf alle Bürger, sondern der gleiche Anteil an der Gesetzgebung und die gleiche vollkommene Unterwerfung aller unter das Gesetz.