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THEODOR LIPPS
Grundtatsachen des Seelenlebens

"Es gibt überhaupt zwei umfassende Wissenschaften, Naturwissenschaft und Philosophie, Wissenschaft der äußeren und Wissenschaft der inneren Erfahrung. Auf innerer Erfahrung beruhen Psychologie, Logik, Ästhetik, Ethik mit den daran sich anknüpfenden Disziplinen."

Vorwort

"Grundtatsachen des Seelenlebens" nenne ich vorliegendes Buch, nicht ohne Furcht, es möchte hinter dem Titel gesucht werden, was anzukündigen nicht seine Absicht ist. Fern liegt mir vor allem der Versuch, auf "letzte und höchste Fragen" darin die Antwort zu geben. Nur auf die Grundtatsachen und Grundgesetze des Seelenlebens, die sich in der Erfahrung als solche darstellen, ist es abgesehen. Selbst wo von einem seelischen Wesen die Rede ist, hat dies zunächst nur die Bedeutung eines zusammenfassenden Ausdrucks für die Tatsachen und Gesetze.

Unter Erfahrung verstehe ich hier die psychologische Erfahrung. Psychologisch ist der Standpunkt des Buches, und weder metaphysisch, noch physiologisch. Nicht auf die den psychischen Phänomenen zugrunde liegenden oder sie begleitenden physischen Vorgänge, sondern auf jene als solche kam es mir an.

Darum konnte ich doch nicht umhin; auf die Grenzgebiete zwischen Physiologische und Psychologischem da und dort überzuschweifen. Die exakten Resultate der WUNDT'schen und anderweitiger physiologisch-psychologischer Arbeiten waren mir sogar in ganz besonderem Maße wertvoll.

Noch nach einer anderen Richtung habe ich die Absicht des Buches einzugrenzen. Um eine systematische Erörterung der Grundtatsachen handelte es sich mir, eine zusammenhängende Anschauung wollte ich geben, nicht einzelne Fragen nach allen möglichen Seiten beleuchten. Da dies die Meinung war, so glaube ich auf eine  grundsätzliche  Heranziehung der Versuche und Leistungen anderer, die bei monographischer Behandlung bis zu einem gewissen Grad Pflicht gewesen wäre, verzichten zu müssen. Wo ich freilich einzelne Resultate aus Arbeiten anderen entnahm, verfehlte ich natürlich nicht, dies zu bemerken. Ich bezog mich im Übrigen in der Regel nur auf diejenigen fremden Anschauungen ausdrücklich, die mich in meiner Darstellung, sei es negativ, sei es positiv, weiter leiten konnten. Daß es vorzugsweise die drei Namen LOTZE, HELMHOLTZ und WUNDT waren, die ich zu nennen Veranlassung hatte, dies wird nicht verwundern. Freilich, wieviel meiner Meinung zufolge die Psychologie den genannten Männern verdankt, und wieviel auch ich ihnen zu verdanken meine, kann aus meiner Darstellung nicht deutlich werden. Umso mehr fühle ich mich gedrungen, hier auszusprechen, was ich auch im Buch selbst gelegentlich ausdrücklich betone, daß ich mir auch da, wo ich zu ihnen in Gegensatz trete, mir meiner Abhängigkeit von ihnen wohl bewußt bin.

Mancherlei Mängel dieses Buches sind mir jetzt schon nicht unbekannt. Nicht tatsächliche Fehler, ohne deren Berichtigung ich das Buch nicht in die Öffentlichkeit gehen lassen würde. Wohl aber Mängel der Darstellung. So muß ich wohl zugestehen, daß ich gelegentlich breiter war, als es nötig erscheinen mag, oder kürzer, als es die Sache zu verlangen scheint, obgleich jene Breite ihren Grund zu haben pflegt, und die Kürze in anderen Punkten durch den Plan des Buches bedingt war. Schädliche Grundanschauungen besonders glaubte ich soviel als möglich in ihre letzten Schlupfwinkel verfolgen zu müssen. Daneben mußten sich einzelne Probleme mit einem bescheideneren Rahmen begnügen, oder es sich gefallen lassen, völlig unberührt zu bleiben. Daß ich öfter eine und dieselbe Tatsache an mehreren Orten besprach, auch wohl einer später genauer zu bestimmenden Tatsache an früherer Stelle eine einstweilige und ungenügende Formulierung zuteil werden ließ, hängt mit der Methode der Darstellung, die, soweit es anging, aus den einfachsten Elementen die kompliziertenn Erscheinungen hervorwachsen lassen sollte, notwendig zusammen. - Der geringste unter den Mängeln, deren ich mir bewußt bin, besteht in der großen Anzahl von Druckfehlern, die sich vor allem in der ersten Hälfte finden. Ich bitte sie zu entschuldigen und die sinnstörenden unter ihnen, die ich hier sogleich anfüge, vor dem Lesen zu verbessern.

Daß neben den mir bewußten mehr und wichtigere Mängel, die ich einstweilen nicht kenne, sich in dem Buch finden werden, ist zu selbstverständlich, als daß ich es hier zu sagen nötig hätte. Es ist aber auch das Buch nicht als Abschluß meines psychologischen Arbeitens, sondern als erster Ruhepunkt gemeint. Mögen ihm die Angriffe, aus denen ich lernen kann, nicht fehlen. Der Wunsch, daß dieselben von Tatsachen ausgehen mögen, nicht von "Standpunkten", womit nichts getan wäre, liegt darin schon eingeschlossen.


Erster Abschnitt
Kritische Vorbemerkungen

Erstes Kapitel
Einleitung

Wie bekannt, erlebt es die Philosophie in unseren Tagen von Neuem, daß ihre Vertreter in einer Frage uneins sind, von der man meinen sollte, daß sie vor allen andern ihre Erledigung gefunden haben müßte. Ich meine die Frage, was Philosophie wolle, oder worin ihre eigentümliche Aufgabe bestehe. Zwar herrscht darin Übereinstimmung, daß Philosophie nicht mehr  die  Wissenschaft sein könne, wie sie dies zu Zeiten ohne Zweifel gewesen ist. Ohne diesem Begriff seinen idealen Wert zu nehmen, spricht man ihm doch praktische Bedeutung ab. Die Mannigfaltigkeit der Gebiete und die Menge des zu bearbeitenden Stoffes hat eine Teil der einen Wissenschaft in viele einzelne nötig gemacht und zur Folge gehabt. Aber eben, wie jetzt, nachdem die Teilung geschehen ist, ein Begriff der Philosophie, der auch praktische Bedeutung habe, zu gewinnen sei, worin also die Aufgabe der Philosophie im Verhältnis zu den im Laufe der Zeit entstandenen einzelnen Wissenschaften zu suchen sei, darin gehen die Meinungen nicht unwesentlich auseinander.

Man hat zunächst gemeint, den umfassenden Charakter der Philosophie retten zu müssen, und sie deswegen entweder als Wissenschaft der Prinzipien bezeichnet oder ihr die Aufgabe gestellt, die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften zu einem Gesamtbild zusammenzufassen, gewissermaßen der Pyramide ihre Spitze, den Seiten und Flächen derselben ihre Einheit zu geben. Aber um zunächst bei der letzteren Erklärung zu bleiben, so meine ich, daß damit allein wenig gesagt sei. Denn entweder die Seiten und Flächen der Pyramid streben schon für sich einem einheitlich abschließenden Punkt zu, dann ist ein solche Philosophie unnötig, oder sie tun es nicht, dann ist sie unmöglich. Ohne Bild gesprochen, die letzten und einheitlichen Prinzipien der verschiedenen Wissenschaften ergeben sich entweder aus diesen selbst, dann werden die fraglichen Disziplinen es sich nicht nehmen lassen,  selbst  die letzten Konsequenzen zu ziehen, und nicht erlauben, daß sich eine fremde Hand ihre schönsten Früchte aneignet; oder dies ist nicht der Fall, dann würde sich Philosophie im besten Fall in bloßen Möglichkeiten bewegen. Nun braucht freilich die Vergleichung und Ausspinnung der mannigfachen Möglichkeiten nicht notwendig ein völlig unnützes Geschäft zu sein. Aber die Erreichung irgendeines Ziels setzt doch voraus, daß sich unter den Möglichkeiten einige finden, denen Tatsachen und Bedürfnisse - und auch Bedürfnisse sind Tatsachen - zur Stütze dienen, oder einen, sei es auch nur moralischen oder ästhetischen Rückhalt gewähren; und wenn diese Tatsachen und Bedürfnisse doch wiederum notwendig dem Gebiet irgendeiner Einzelwissenschaft angehören müssen, dann ist klar, daß auch die Möglickeiten am zweckmäßigsten eben diesen Einzelwissenschaften überlassen bleiben. Freilich setzt dies voraus, daß keine der einzelnen Disziplinen sich scheut, auch einmal einen höheren Flug zu wagen und in diesem SInne selbst philosophisch zu sein.

Es muß aber doch, da die menschliche Erkenntnis auf keinem Standpunkt der Zusammenfassung des Erworbenen zu einem sei es auch nur vorläufigen Ganzen entbehren kann, solche geben, die eben dies vor allem anderen zu ihrem Geschäft machen. Ohne Zweifel; nur daß die Zusammenfassung nich beanspruchen könnte, als solche eine eigene Wissenschaft zu heißen. Sie wäre es nur in einem Fall, wenn sie nämlich zu dem, was andere erarbeiteten, Neues aus ihrem eigenen Besitz hinzufügte. Um dies aber zu gewinnen, müßte sie ein besonderes Tatsachengebiet haben, also selbst in die Reihe der Einzelwissenschaften einrücken.

Es leuchtet ein, die Wissenschaft, die das Weltbild herstellen soll, muß  die  Wissenschaft oder Einzelwissenschaft, wenigstens  auch  Einzelwissenschaft, sein. Jenes ist nicht möglich, so bleibt nur dies übrig. Es wäre aber möglich, daß wir Grund hätten, in der Philosophie diejenige Einzelwissenschaft zu sehen, deren Fragen die Eigentümlichkeit besäßen, mehr als die anderer Wissenschaften überall einzugreifen, Grundlagen zu legen, Voraussetzungen zu untersuchen und was dergleichen mehr ist. Dann allerdings könnte sie vor allem geeignet erscheinen, zugleich über der Einheit der Erkenntnis zu wachen und sich das Weltbild angelegen sein zu lassen.

Indem ich mir diese Auskunft gerne gefallen lasse, wende ich mich doch zweitens gegen diejenige Meinung, welche in der Philosophie die Wissenschaft der Prinzipien glaubt sehen zu müssen. Denn entweder man meint mit den Prinzipien die realen Prinzipien der Dinge, und die lassen sich die einzelnen Wissenschaften nun einmal nicht von anderswoher diktieren, oder man meint die Prinzipien der Erkenntnis, und die gehören zwar zur Philosophie, eine Einschränkung aber der Philosophie auf Feststellung derselben, eine Identifikation von Philosophie und Erkenntnistheorie also, wäre durch nichts gerechtfertigt.

Zwei Gesichtspunkte muß die in jedem Fall notwendige Umgestaltung des ursprünglichen Begriffs der Philosophie festhalten, den praktischen und den historischen. Das Gebiet, das er abgrenzt, muß ein eigentümlich geartetes sein, dessen Bearbeitung dementsprechend ihre besonderen Weisen des Verfahrens erfordert und es muß so viel als möglich diejenigen Disziplinen umschließen, die wir als philosophische zu bezeichnen gewohnt sind. Beide Forderungen erfüllt die Definition der Philosophie als Geisteswissenschaft oder Wissenschaft der inneren Erfahrung.

Auf innerer Erfahrung beruhen Psychologie, Logik, Ästhetik, Ethik mit den daran sich anknüpfenden Disziplinen, schließlich auch Metaphysik in dem Sinne, in dem von einer solchen die Rede sein kann. Alle Disziplinen gelten uns jetzt als philosophisch und sie füllen einer gewohnten Anschauung zufolge, wenigstens der Hauptsache nach, den Umkreis der Arbeit, die wir speziell mit dem Namen der philosophischen beehren. Ihre Objekte sind die Vorstellungen, Empfindungen, Willensakte, und daß die von den Gegenständen anderer Wissenschaften verschieden sind und dementsprechend ihre eigene Weise wissenschaftlicher Behandlung erfordern, leugnet kein Verständiger.

Ich gestehe, keinen anderen Weg zu wissen, wie man zu einem praktisch wertvollen Begriff der philosophischen Wissenschaft gelangen könnte, als den eben bezeichneten. Sollte irgendjemand glauben, aus historischer Rücksicht die Identifikation der Philosophie mit Weltweisheit aufrechterhalten und demnach kein wohlumgrenztes Gebiet wissenschaftlicher Arbeit mit jenem Namen bezeichnen zu sollen, so könnte ihm dies dennoch nicht verwehrt werden. Es müßte aber dann das Prinzip der vernünftigen Arbeitsteilung veranlassen, nichts destoweniger eben die genannten auf innerer Erfahrung beruhenden Disziplinen zu einer Wissenschaft zu vereinigen und in dieselben Hände zu legen, gleichgültig, mit welchem neuen Namen man, immerhin im Widerspruch mit dem jetzt geltendenn Sprachgebrauch, diese Wissenschaft taufen wollte.

Nehmen wir hier an, unsere Definition der Philosophie sei zugestanden, dann gibt es überhaupt zwei umfassende Wissenschaften, Naturwissenschaft und Philosophie, Wissenschaft der äußeren und Wissenschaft der inneren Erfahrung, beide ihre Objekte als solche betrachtend, oder deren geschichtliche Entwicklung verfolgend. Zwar sagt ein jetzt vielfach hingeworfenes, seltener mit Überlegung ausgesprochenes Wort, alle Wissenschaft sei Naturwissenschaft. Aber dieser Satz kann unserer Einteilung nichts anhaben, denn allerdings hat auch die Seele, worin auch immer ihr Wesen bestehen mag, ihre eigentümliche Natur und ist selbst ein Stück Natur in einem allumfassenden Sinn dieses Wortes, aber ich meine eben hier das Wort in dem speziellen Sinn, in dem es vielleicht die Grundlage, wie der materiellen, so auch der geistigen Erscheinungen ausmacht, aber dennoch von diesen verschieden ist; bin übrigens auch gerne bereit, die Namen preiszugeben, sofern man nur die Sache bestehen läßt.

Unter den Disziplinen der Philosophie wie wir sie bestimmen, ist ohne Zweifel die Psychologie, als die Wissenschaft vom Getriebe des seelischen Lebens überhaupt, seinen Elementen und allgemeinen Gesetzen, die Grunddisziplin, auf der alle anderen basieren. Man könnte nun aber versuchen, dieser Disziplin und damit im Grund der ganzen Philosophie dadurch ihre Selbständigkeit zu rauben, daß man erklärte, geistige Vorgänge ständen nicht nur mit materiellen in einer beständigen Wechselwirkung, sondern seien auch gar nichts als Wirkungen physiologischer Ursachen, die man in ihrer eigentümlichen Gesetzmäßigkeit dann und nur dann zu verstehen Aussicht habe, wenn es gelänge, in der Erkenntnis des zugrunde liegenden materiellen Geschehens weit genug vorzudringen; es sei mithin die Psychologie ein Zweig, die psychologische Erkenntnis ein Nebenerfolg sozusagen der physiologischen, allgemeiner der materiellen Naturwissenschaft. Indessen diese Erklärung würde doch schwerlich aufrechterhalten können, was sie behauptet.

Ich rechte hier natürlich nicht mit denen, die den Satz, Denken, Fühlen, Wollen  sei  materielle Bewegung, für sinnvoll halten. Die Vorstellung  Blau  ist nun einmal tatsächlich keine Bewegung, sondern eben die Vorstellung  Blau,  und wer in die kompliziertesten und feinsten Bewegungsvorgänge innerhalb des menschlichen Gehirns die vollkommenste Einsicht hätte, derart, daß er die Lagerungen und Ortsveränderungen jedes einzelnen Atoms in einem gegebenen Augenblick völlig deutlich vor Augen hätte, der sähe damit doch noch keine Lust oder Unlust, kein Streben oder Widerstreben, kein Blau, Hart, Sauer usw. Er könnte behaupten, diese Gruppierung von Atomen sei das, was der Lust oder Unlust entspreche, jene Komplikation von Bewegungen dasjenige, was die Strebung zur unmittelbaren Folge habe, vermöchte aber nicht einmal anzugeben, wie der mechanische Ruhe- oder Bewegungszustand es anfange, eine damit völlig unverleichliche Lust- oder Strebungsempfindung zuwege zu bringen oder in eine solche überzugehen.

Nehmen wir aber an, es stehe fest, daß überall Geistiges aus bloß Mechanischem, speziell aus den physiologischen Stoffen und Kräften, wir wissen nicht wie, sich erzeuge, es gelte also vollständig die materialistische Hypothese in der Fassung, in der sie ein besonderes geistiges Wesen leugnet, ohne doch  X  und  U  für identisch zu erklären, so würde erst recht die Forderung, daß Psychologie warte, bis sie als Nebenerfolg aus der Physiologie hervorgehe, als eine in hohem Grad sonderbare erscheinen müssen. Daß es vielleicht eines Tages gelingt, die komplizierten physiologischen Vorgänge auf einfache Gesetze der Anziehung und Abstoßung weniger Arten von Atomen oder auch eines einzigen Uratoms zurückzuführen, und darin erst ihre volle Erklärung zu finden, veranlaßt die Physiologie nicht ihre Arbeit einzustellen und abzuwarten, bis die Kenntnis jener einfachsten Elemente und ihrer möglichen Beziehungen ohne sie soweit gediehen ist, daß aus derselben auch die physiologischen Vorgänge von selbst deutlich werden. Vielmehr hofft sie umgekehrt, indem sie auch da, wo von Mechanik der Atome noch keine Rede ist, arbeitet und auf Erkenntnis der Gesetze ausgeht, nicht nur auf ihrem Gebiet Ersprießliches zu schaffen, sondern auch fundamentaleren Wissenschaften zu dienen und der Erkenntnis allgemeinerer Naturgesetze in die Hände arbeiten. So wird auch die Psychologie ihre Arbeit nicht aufgeben, weil einmal in der Abhängigkeit physiologischer Vorgänge voneinander der wahre Grund für die physiologischen Gesetze gefunden werden könnte. Mag es sich mit diesem wahren Grund wie auch immer verhalten, die Gewohnheiten des seelischen Lebens bieten auch um ihrer selbst willen ein hinlängliches Interesse, um zur Beachtung und Erkenntnis aufzufordern. Mögen in ihnen bloß gewisse allgemeinere Gewohnheiten körperlichen Lebens sozusagen an die Oberfläche treten, dann muß sich eben die Frage erheben, welche Gesetzmäßigkeit schon an dieser Oberfläche bemerkt werden, oder wie weit von einer solchen geredet werden kann. Vielleicht spiegelt sich an der Oberfläche die Gesetzmäßigkeit des Grundes oder eine Seite derselben vollständig, dann kann denen, die auf eine Erkenntnis der Grundvorgänge ausgehen, kein größerer Dienst geleistet werden, als durch eine Untersuchung der seelischen Vorgänge. Oder die Gesetzmäßigkeit des seelischen Lebens zeigt Lücken, dann wird die Psychologie diese Lücken anerkennen und dadurch wiederum der Wissenschaft von den körperlichen Vorgängen einen wertvollen Fingerzeig geben.

Tatsächlich ist es ja auch so, daß der Zweig der Physiologie, der hier zunächst in Frage kommt, sich von seelischen Tatsachen Aufgaben stellen und in seiner Untersuchung leiten läßt. Physiologie kann sich aber in der Art nicht durch das leiten lassen, was von psychologischer Einsicht jedem mühelos in den Schoß fällt. Jene nunmehr außer Kurs gekommene Lokalisationslehre, die für allerlei Vermögen, Tugenden oder Laster im Gehirn einen eigenen Ort bereit hatte, war nur möglich aufgrund einer psychologischen Anschauung, die noch nicht gelernt hatte, Gattungen einfachster Elemente des Seelischen von Gattungen solcher Tatsachen, die sich aus den verschiedenartigsten einfachen Eleenten mannigfach komplizieren, zu unterscheiden. So wird überhaupt eine schlechte Psychologie auch die Physiologie in die Irre führen, eine gute und besonnene ihr oft genug die Lösung einer Aufgabe erst möglich machen. Will man ein Beispiel, in dem sich jetzt noch diese Abhängigkeit zeigt, so braucht nur auf die Optik hingewiesen zu werden. Welche physiologischen Tatsachen der Entstehung des Gesichtsraumes zugrunde liegen, diese Frage ist erst zu beantworten, wenn die psychologische Natur der Raumanschauung klar vor Augen liegt. Daß man ohne eine solche Einsicht an die Aufgabe ging, hat tatsächlich und nachweisbar die sonderbarsten physiologischen Theorien zur Folge gehabt. Ebenso brauche ich, um an ein vielleicht untergeordnetes Beispiel zu erinnern, nicht zu sagen, daß die Kontrasterscheinungen, wenn sie physiologischen Ursprungs sind, als solche sicher anerkannt werden müssen, wenn sich zeigen läßt, daß unser Urteilen nicht die Kraft besitzen kann, sie hervorzubringen und daß auch sonst keine psychologischen Beziehungen zwischen Empfindungen obwalten, denen sie zu Last gelegt werden dürften.

Von zwei Seiten, meine ich, sei das Geschäft der Untersuchung der menschlichen Natur selbständig in Angriff zu nehmen, und beide Arten der Untersuchung haben sich in die Hände zu arbeiten, wenn eine möglichste Annäherung an das Ziel der Erkenntnis der ganzen menschlichen Natur erreicht werden soll. Zunächst auseinanderfallen aber müssen diesen beiden Arten der Arbeit gemäß dem sonst allgemein zugestandenen Grundsatz der Teilung der Arbeit. Zwar mag die Psychologie immerhin ein Teil der Physiologie  genannt  werden. Der Streit darüber wäre derselbe Streit um Worte, dem wir in anderer Form schon begegnet sind und dessen Lösung einzig von der bis zu einem gewissen Grad immer willkürlichen Definiton des letzteren Namens abhinge. Daß beide  eine  Wissenschaft sein sollen, ist eine ideale Forderung, wie die andere, daß  alle  Wissenschaften im letzten Grund eine zu sein hätten. Die Frage ist, ob die Objekte und Arten des Verfahrens für beide auseinanderfallen, und beides nahmen wir schon als selbstverständlich zugestanden an. Aber es besteht zwischen beiden nicht nur der Unterschied, der zwischen sonstigen Wissenschaften besteht, sondern sie sind voneinander getrennt in einer Weise, wie sie sich sonst nirgendwo findet. Eine Scheidewand steht zwischen Physischem und Psychischem, die so beschaffen ist, daß von keinem Standpunkt aus gleichzeitig die Vorgänge auf der einen und die auf der anderen gesehen werden können. Wohl laufen Fäden von der einen Seite zur anderen; und zwar ist die Verknüpfung der materialistischen Hypothese zufolge so zu denken, daß nur auf der einen, der physiologischen Seite, sich eine selbständige Bewegung findet, alle Bewegung der psychischen Seite immer unmittelbar durch diese hervorgerufen wird. Aber welches psychische Geschehen mit welchem physischen verbunden ist, das läßt sich doch nicht aus den Bewegungen der einen Seite erschließen; vielmehr muß, was sich auf der anderen findet, ebensowohl selbständig erkannt werden. Wäre nun freilich diese Erkenntnis mit einem oberflächlichen Blick zu gewinnen, so könnte trotz aller Verschiedenartigkeit eine besondere Wissenschaft der psychischen Tatsachen als überflüssig erscheinen. Aber die Erfahrung zeigt nur zu deutlich, daß das nicht der Fall ist, daß vielmehr eine ernste und besonnene Arbeit dazu erfordert wird.

Schon von der einfachen Analyse der Bewußtseinsinhalte und der Formen, in die sie gegossen erscheinen, gilt diese Behauptung. Sie gilt noch sicherer, wenn wir von den Inhalten und Formen zu ihren Beziehungen übergehen. Diese Beziehungen sind wie ich ohne weiteres zugestehe und später noch genauer erörtern werde, überall durch unbewußte Vorgänge vermittelt. Diese unbewußten Vorgänge werden von der materialistischen Theorie als rein physiologische betrachtet werden. Umso besser für die Physiologie, wenn die Art ihrer Vermittlung von der Psychologie ans Licht gestellt wird. Jedenfalls hat Psychologie sich mit ihnen zu beschäftigen und sie als  auch  psychologisch in Anspruch zu nehmen. Sie gehen sie an,  soweit  sie in das Gewebe, dem die Bewußtseinsinhalte, die ursprünglichsten Gegenstände psychologischer Betrachtung, angehören, mit verwebt erscheinen, insofern sie, anders ausgedrückt, zur Herstellung einer lückenlosen Gesetzmäßigkeit zwischen den Bewußtseinsvorgängen postuliert werden müssen. Was sie ansich sein mögen, ob wirklich physiologisch oder ihrer eigenen Natur nach unbekannte Lebensäußerungen eines besonderen seelischen Wesens, bleibt dahingestellt. So läßt es auch die Wissenschaft der materiellen Vorgänge dahingestellt, ob nicht am Ende die materiellen Wirkungen im letzten Grund als Ausfluß geistiger Kräfte gedacht werden müssen. Was sie kümmert, sind eben die materiellen Wirkungen und ihre erkennbare Gesetzmäßigkeit.

Damit ist schon gesagt, daß die psychologische Wissenschaft nicht ausgeht von irgendeinem Begriff des seelischen Wesens. Sie gewinnt einen solchen, wie die Wissenschaft der Materie einen Begriff der Materie gewinnt, nämlich als Resultat ihrer Arbeit. Die Seele ist gar nichts, als der Träger oder der zusammenfassende Ausdruck für die erkannten seelischen Wirkungen. Da ihr die Erfahrung nichts sagt von räumlichen Verhältnissen der seelischen Vorgänge zueinander, von Denktätigkeiten, die räumlich nebeneinander herlaufen, Gefühlen und Strebungen, die im räumlichen Sinn gleich oder verschieden gerichtet wären, so besitzt ihr Begriff der Seele keinerlei räumliche Prädikate. Sie verzichtet darum doch nicht darauf, von einem seelischen Wesen zu sprechen, so wenig als Naturwissenschaft, weil sie keine geistigen, sondern nur räumliche Prädikate ihrer einfachen oder zusammengesetzten Wesen kennt, darauf verzichtet, ihren Wirkungen materielle Wesen zugrunde zu legen. Mag sich für eine Wissenschaft, die eine vollkommenere Kenntnis des Materiellen und Geistigen besäße, als wir sie besitzen, zur Evidenz herausstellen, oder ein metaphysisches Bedürfnis annehmen, daß das seelische Wesen mit Materiellem identisch, d. h. daß es eben dasselbe sei, von dem auch gewisse materielle Wirkungen ausgehen, dann verschlägt dies der Psychologie soviel und sowenig, als es den materiellen Wissenschaften verschlüge, wenn sich herausstellte, daß alle ihre materiellen Wesen zugleich als Träger geistiger Wirkungen zu denken seien.

Diese selbständige Stellung der Psychologie schließt nun freilich nicht aus, daß es eine Wissenschaft geben kann, die gerade die beständigen Wechselbeziehungen der physiologischen und psychologischen Vorgänge oder ihr Nebeneinanderherlaufen sich zum eigentlichen Gegenstand nimmt. Wenigstens bin ich mir bewußt der letzte zu sein, der Unternehmungen wie der WUNDT'schen "physiologischen Psychologie" etwas von ihrer Bedeutung nehmen möchte. Und selbst die Psychologie, die ihre Aufgabe nicht in der Weise bestimmt, kann nicht umhin, Grenzgebiete anzuerkennen, auf denen sie sich die Ergebnisse physiologischer Arbeit aneignet und verwertet. Aber weder verneint die physiologische Psychologie die rein psychologische Arbeit, noch ist das Vorhandensein von Grenzgebieten etwas der Psychologie im Unterschied von anderen Wissenschaften eigentümliches. Wie wenig speziell von jener Verneinung die Rede ist, darüber gibt das genannte Werk den besten Aufschluß, wie es denn auch in der Einleitung jene rein psychologische Arbeit ohne weiteres anerkennt.

Wir nun haben hier die eigentliche und von ihren eigenen Gegenständenn ausgehende, immerhin an ihren Grenzen mit der Physiologie sich berührende Psychologie im Auge. Ihr Erkenntnismittel ist die Beobachtung, die man innere Beobachtung nennt, nicht weil sie eine andere Art von Beobachtung oder überhaupt von geistiger Tätigkeit wäre als die äußere, sondern weil ihre Objekte andere sind, genauer, weil andere Beziehungen, in denen  dieselben  Objekte stehen, sie interessieren. Denn Vorstellungen bilden am Ende das Material der Naturwissenschaft, wie der Geisteswissenschaft. Aber Vorstellungen treten für uns in ein doppeltes System von Beziehungen, das der objektiven vom Subjekt unabhängig gedachten Beziehungen, in das die Vorstellungen als unsere subjektiven Zustände zueinander und zum ganzen seelischen Wesen treten. Mit jenen hat es die äußere, mit diesen die innere Beobachtung zu tun. Man ist der letzteren gelegentlich mit einem sachlich nicht ganz gerechtfertigten Mißtrauen entgegentreten. Zunächst soll die Kontrollierbarkeit der Beobachtungen fehlen. Ich denke aber, sie ist in der Tat nur eine schwierigere Sache. Der äußere Vorgang, dessen Vorhandensein behauptet wird, kann vielleicht unter solcen Bedingungen dem Auge vorgeführt werden, daß jeder, der die Augen offen hält, ihn unmittelbar erkennt und anerkennt. Derart mechanisch vor Augen stellen und mit der Hand oder Werzeugen günstige Bedingungen der Wahrnehmung schaffen, können wir in der Psychologie nicht. Wir können aber versuchen mit Worten und durch die Deutlichmachung dessen, worum es sich handelt, in möglichst bestimmter Weise eben diejenigen  psychologischen  Bedingungen in anderen zu erzeugen, unter denen das von uns behauptete psychologische Faktum uns deutlich geworden ist. Gelingt dies, so wird sich auch in andern das Faktum einstellen müssen. Daß dieses Verfahren, das anzuwenden wir sogar nie unterlassen, zu etwas führe, setzt freilich voraus, daß der andere guten Willens ist und nicht durch Vorurteile befangen, es setzt auch voraus, daß er unsere Wort so versteht, wie wir sie meinen; aber das sind Schwierigkeiten, die die Erreichung einer schließlichen Übereinstimmung verzögern, persönliche Umstände, nicht sachlich und prinzipielle Differenzen. Noch eins ist dabei vorausgesetzt; daß überhaupt im andern dieselben allgemeinen Gesetze des psychischen Geschehens Geltung haben, wie in mir. Aber das setzt die Kontrolle auf dem Gebiet äußerer Erfahrung ebenso voraus. Es gäbe keine Kontrollen der äußeren Beobachtung als solcher, ohne die Annahme, daß alle normal veranlagte Individuen unter gleichen Bedingungen dasselbe sehen und hören, keine Kontrolle der daraus gezogenen Schlüsse, ohne die Annahme, daß unter gleichen Bedingungen die gleichen Urteile von allen vollzogen werden müssen.

Mehr scheint es mit dem Vorwurf auf sich zu haben, daß der psychologischen Beobachtung das Hilfsmittel des Experimentes, die Möglichkeit einer quantitativen Bestimmung ihrer Objekte, der Anwendung der Mathematik, der die Naturwissenschaft so hervorragende Erfolge verdankt, abgeht. Aber zunächst müssen wir das Experiment in einem allgemeineren Sinn des Wortes doch wohl ausnehmen. Denn seelische Vorgänge künstlich hervorrufen können wir in vielen Fällen sogar leichter, als das bei materiellen Vorgängen angeht. Sie sind nur damit noch nicht quantitativ bestimmt. Aber auch die quantitative Bestimmung darf samt der Anwendung der Mathematik in keinem Fall von vornherein aus der Psychologie ausgeschlossen werden. Vorstellungen verlaufen in der Zeit und haben Unterschiede der Stärke und des Grades. Beides aber sind ansich meßbare Größen. Es ist aber auch durch die Messungen, wie sie, zumal von WUNDT, tatsächlich angestellt worden sind, die praktische Ausführbarkeit der Messung für jedermann deutlich bewiesen. Ein Gebiet wertvollster psychologischer Arbeit ist, wie ich denke, damit erschlossen, das die Psychologie so weit es geht, auszudehnen verpflichtet sein wird. Und es unterliegt keinem Zweifel, daß eine weitere Ausdehnung möglich ist. Bleiben auch Bezirke der Psychologie, in denen Messungen keine Stelle finden, so tut dies doch dem Wert der tatsächlich anstellbaren keinen Eintrag. Andererseits fehlt es auf den der Messung unzugänglichen Gebieten darum doch nicht an reichlicher Arbeit. - Mit dem gleichen Recht, wie gegen die Abweisung psychischer Messungen wendet sich WUNDT gegen die apriorische Abweisung der Mathematik aus der Psychologie, zunächst sofern sie eine Psychologie der Grenzgebiete ist, dann auch sofern sie mit rein innerem Geschehen zu tun hat. Ich wiederhole aber nicht, was WUNDT in der Einleitung zum genannten Werk deutlich erörtert hat. Was die Möglichkeit psychischer Messungen angeht, so verweise ich außer hierauf und die im späteren Verlauf des WUNDT'schen Werks mitgeteilten und verwerteten Messungsresultate auch noch auf den zwischen WUNDT und ZELLER über die Frage geführten wissenschaftlichen Streit, von dem wohl gesagt werden darf, daß er wesentliche Differenzen der Anschauung schließlich nicht ergeben hat. (1) Ich bemerke noch, daß die bisher angestellten psychischen Messungen auch für uns im Folgenden nicht außer Betracht bleiben dürfen.

Dasselbe Mißtrauen gegen die innere Beobachtung, von dem wir sprachen, hat auch gelegentlich veranlaßt die Psychologie der Völker und Sprache, die psychologische Beobachtung der Kinder, die Tierpsychologie als dasjenige zu bezeichnen, von dem man ausgehen muß, um zu sicheren psychologischen Resultaten zu gelangen. der Rückschluß von den seelischen Lebens äußerungen,  die hier natürlich allein unmittelbar beobachtet werden können, so dachte man, gestattet eine sichere Einsicht in das seelische Leben als die unmittelbare Betrachtung. Aber hiermit kehrt man doch offenbar den wahren Sachverhalt völlig um. Keiner Äußerung des seelischen Lebens läßt sich, ebensowenig, wie das von irgendeinem Gehirnvorgang gelten konnte, der dazu gehörige seelische Lebensvorgang ohne weiteres ansehen. Um davon zu wissen, müssen wir ebenso wie dort zunächst das seelische Leben für sich betrachten und das können wir nun einmal nur bei uns. Wir müssen dann zusehen, welche naturgemäßen Äußerungen, natürlich wiederum zunächst bei uns, sich daran knüpfen können. Erst wenn das geschehen ist, können wir nach Analogie unserer selbst auch die fremden Lebensäußerungen verstehen. Freilich verhielte es sich so, daß von vornherein feststände, es sei an jede einzelne Vorstellung oder seelische Regung eine bestimmte Äußerung ein für allemal geknüpft, dann könnte man, nachdem diese einfachen Zusammenhänge erkannt worden wären, dazu übergehen, die Kenntnis der komplizierten Vorgänge und der Gesetze des Seelischen aus den Komplikationen der Äußerungen und ihren Gesetzen zu erkennen. Aber so steht die Sache nicht. Die mannigfachsten und den verschiedensten Gebieten angehörigen seelischen Regungen können zur Erzeugung einer Lebensäußerung bald so bald so zusammenwirken. Wie will man dann die Äußerung deuten, wenn man nicht jene Regungen voneinander zu scheiden vermag und wie will man sie scheiden, ehe man sie in ihrer Eigenart und den möglichen Arten ihres Zusammenwirkens erkannt hat? Nehmen wir als Beispiel einer Lebensäußerung die Sprache. Es steht fest, daß in den sprachlichen Elementen und Formen nicht nur seelische Vorgänge eines Gebietes, etwa des Gebietes der Erkenntnis, sondern zugleich, und mit jenen auf alle mögliche Weise sich verbindend und sie beeinflussend, Regungen aus allen möglichen anderen Gebieten, mannigfache Gewohnheiten, Neigungen, Interessen, auch solche von allerunlogischster Art sich aussprechen. Offenbar kann man, wenn dem so ist, aus den sprachlichen Forrmen auf die Gesetze eines Gebietes, sagen wir wiederum des Gebietes der Erkenntnis erst schließen, wenn man die Erkenntnisvorgänge aus der Verbindung mit den anderen Elementen herausschälen und die Wechselbeziehung jener mit diesen und dieser untereinander verstehen gelernt hat, d. h. mit anderen Worten, wenn man seiner Erkenntnislehre und Psychologie in allen wesentlichen Punkten bereits sicher ist.

Besteht man trotz dieses Sachverhalts auf der hier in Rede stehenden Weise der Inangriffnahme der psychologischen Probleme, so weiß ich nicht, wie folgenschwere Irrtümer vermieden werden sollen. Sie sind aber auch in solchen Fällen kaum zu vermeiden, wo über den nächsten Sinn einer Lebensäußerung kein Zweifel besteht. Weist die Äußerung mit Bestimmtheit auf eine seelische Regung, so kann doch diese Regung dem Zusammenwirken hier dieser, dort jener seelischen Ursachen ihr Dasein verdanken. Indem man aber nur auf die Identität der durch die Äußerung unmittelbar verbürgten seelischen Regung achtet, kann man und muß man am Ende meinen, Gleichheit des seelischen Geschehens überhaupt annehmen zu dürfen, wo vielleicht im Wesentliche völlige Ungleichheit herrscht und umgekehrt. So hat man die Existenz allgemeingültiger ästhetischer und ethischer Gesetze leichthin geleugnet, weil man fand, daß bei den verschiedenen Menschen und Völkern die verschiedensten ästhetischen und ethischen Urteile Geltung haben. In der Tat gefällt am Ende, um auf ein der Besteht man trotz dieses Sachverhalts auf der hier in Rede stehenden Weise der Inangriffnahme der psychologischen Probleme, so weiß ich nicht, wie folgenschwere Irrtümer vermieden werden sollen. Sie sind aber auch in solchen Fällen kaum zu vermeiden, wo über den nächsten Sinn einer Lebensäußerung kein Zweifel besteht. Weist die Äußerung mit Bestimmtheit auf eine seelische Regung, so kann doch diese Regung dem Zusammenwirken hier dieser, dort jener seelischen Ursachen ihr Dasein verdanken. Indem man aber nur auf die Identität der durch die Äußerung unmittelbar verbürgten seelischen Regung achtet, kann man und muß man am Ende meinen, Gleichheit des seelischen Geschehens überhaupt annehmen zu dürfen, wo vielleicht im Wesentliche völlige Ungleichheit herrscht und umgekehrt. So hat man die Existenz allgemeingültiger ästhetischer und ethischer Gesetze leichthin geleugnet, weil man fand, daß bei den verschiedenen Menschen und Völkern die verschiedensten ästhetischen und ethischen Urteile Geltung haben. In der Tat gefällt am Ende, um auf ein der Ästhetik angehöriges Beispiel speziell hinzuweisen, jeder Rasse ihr Typus vor allen anderen. Aber das beweist so wenig gegen eine übereinstimende ursprüngliche Gesetzmäßigkeit ästhetischer Wertschätzung, als es gegen das Gesetz der Trägheit beweisen kann, wenn in Wirklichkeit niemals ein Körper seine Richtung und Geschwindigkeit unverändert beibehalten hat. Gegenstand des Wohlgefallens am Äußern des Menschen ist eben nirgends dieses Äußere rein als solches, ich meine die Formen und Farben und ihre Verhältnisse sondern vor allem und der Hauptsache nach das körperliche und geistige Leben, das sich dahinter verbirgt oder dahinter zu verbergen scheint. Von den mannigfachen Regungen, die dieses Leben in sich schließt, geben uns die Formen und Farben Kunde,  soweit  wir ihre Sprache verstehen gelernt haben, ihre Betrachtung läßt die Vorstellung derselben bewußt oder unbewußt in uns anklingen, soweit Erfahrung - von unserer Kindheit an - dieser Vorstellung Gelegenheit gegeben hat, mit den Formen und Farben in eine genügend enge und unmittelbar wirkungsfähige Verbindung zu treten, damit psychologisch eins zu werden. Demgemäß bestätigt vielmehr jener Gegensatz der Wertschätzungen die Gleichheit der ästhetischen Gesetze. Aber wie will man zu jener Erkenntnis gelangen, wenn man nicht aus der Betrachtung seiner selbst die Arten, wie Vorstellungen sich verknüpfen und Nebenvorstellungen, die an eine Hauptvorstellung sich anheften, auch ohne zu Bewußtsein zu kommen, den Lust- oder Unlustcharakter derselben bestimmen, kennengelernt hat? So wird überhaupt - das angeführte Beispiel macht nicht einmal den Anspruch, besonders gut gewählt zu sein - die Psychologie, die andere zum Objekt hat, die Kenntnisse wenigstens aller wesentlichen Erscheinungen des eigenen seelischen Lebens voraussetzen. Sie wird soviel Sicherheit haben, als sie daraus nimmt. Auch die Abweichungen werden erst aus dieser Kenntnis genügendes Licht bekommen.

Damit will ich freilich wiederum den großen Wert der Völker-, Kinder- und Tierpsychologie nicht leugnen. Sie sind Zweige der Psychologie, die ihre besonders gearteten und nicht minder der Beantwortung bedürftigen und würdigen Fragen stellen. Sie werden auch der Psychologie, die sich zunächst ans eigene Wesen wendet, da und dort als Korrektiv dienen, Aufgaben stellen, Ziele anweisen. Der Hauptsache nach aber werden sie sich doch als angewandte Psychologie darstellen, die dasjenige, was die Psychologie zunächst ohne sie erkannt hat, auf die Wechselbeziehung vieler Individuen anwenden, sein allmähliches Werden und die Stufen seiner Entwicklung deutlich machen und damit allerdings eine neue Art des Verständnisses hinzufügen.

Es wird nach dem Gesagten niemanden mehr verwundern, wenn wir im Folgenden immer zunächst von dem ausgehen, was sich unmittelbar in uns findet. Es fragt sich aber, welcher Art dies sein kann, bzw.  nicht  sein kann. Mit dem, was von Letzteren gilt, werden es die folgenden Kapitel dieses Abschnitts zu tun haben. In erster Linie stehen die "seelischen Tätigkeiten und Vermögen".
LITERATUR - Theodor Lipps, Grundtatsachen des Seelenlebens, Bonn 1883
    Anmerkungen
    1) Dahin gehören die Aufsätze WUNDTs "Über die Messung psychischer Vorgänge" in den von ihm herausgegeben  Philosophischen Studien,  Bd. 1, Heft 2 und "Weitere Bemerkungen über psychische Messung" ebd. Heft 3, womit noch ein im ersten Heft derselben Zeitschrift enthaltener Aufsatz "Über psychologische Methoden" zu vergleichen ist; dann die Abhandlungen ZELLERs "Über die Messung psychischer Vorgänge" und "Einige weitere Bemerkungenn über die Messung psychischer Vorgänge", gelesen in den Sitzungen der philosophisch-historischen Klasse der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 3. März 1881 und am 16. März 1882 und abgedruckt in den Jahresberichten der genannten Akademie.