p-4p-4LasurskiKronfeldBergmannOesterreichSchilderSwitalski    
 
TRAUGOTT KONSTANTIN OESTERREICH
Das Ich und
das Selbstbewußtsein


"Die Psychologie ist nicht imstande, wirkliche Gesetze aufzustellen. Sie kann nur typische Verlaufsweisen der Prozesse feststellen. Es geht ihr genau wie der Geschichtswissenschaft. Und prinzipiell geht es auch der exakten Naturwissenschaft übrigens nicht anders. Wahrscheinlich ist kein einziges Gesetz der Physik und Chemie mehr als eine Formel für ein typisches Verhalten gewisser Vorgänge unter gewissen Umständen. Immer mehr enthüllen sich bis dahin für Urgesetze gehaltene Formeln als Abbreviaturen die nur das Ergebnis von Zusammenwirkung nach elementaren Gesetzen darstellen. Wir sind nirgends sicher, ein letztes Gesetz zu haben, und wir sind so sehr daran gewöhnt, daß vermeintliche Gestze sich nur als Annäherungen herausstellen, daß wir uns in der praktischen Forschung gar nicht mehr darüber wundern. In der Erkenntnistheorie verfährt man aber noch immer so, als wenn die physikalischen Gesetze wirklich letzte Gesetze sind. Während sie in Wahrheit zum allergrößten Teil sicher prinzipiell den historisch-psychologischen Gesetzen durchaus gleichstehen."


Vorwort

Das vorliegende Werk, von dem ich hiermit zunächst den ersten Band veröffentliche, bildet eine Fortsetzung der Untersuchungen, die ich mit den Publikationen "Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychasthenie. Ein Beitrag zur Gefühlspsychologie" (erschienen im "Journal für Psychologie und Neurologie, Bd. VII-IX, 1906-07) begonnen habe (1). Schon das Grundmanuskript jener Untersuchungen enthielt einen größeren Abschnitt über psychasthenische Spaltungserscheinungen des Selbstbewußtseins. Ich habe ihn damals vor der letzten Durcharbeitung des Manuskripts bis auf weiteres zurückgestellt, weil mir eine Reihe von Punkten einer weiteren Klärung bedürftig und das damals vorlegbare Beweismaterial noch nicht ausreichend erschien. Seitdem ist es mir, wie ich hoffe, gelungen, jene Punkte klarzustellen und weiteres Tatsachenmaterial beizubringen, das an so manchen Orten verborgen gelegen hat und dem die Autoren, bei denen es sich vorfand, mangels hinreichender Einsicht und Weite der Gesichtspunkte seine eigentliche Bedeutung nicht abzugewinnen vermocht haben. Gleichzeitig wurden umfassendere Untersuchungen über den psychologischen Charakter der Zustände der eigentlichen Ekstase im engeren Sinne in Angriff genommen, au deren große Bedeutung für die Analyse des Selbstbewußtseins ich mich sowohl durch manche in den psychasthenischen Erschöpfungszuständen vorkommende Phänomene wie auch durch gewisse in der philosophischen Tradition von Generation auf Generation sich übertragende, wenn auch unklare Anschauungen über "Entwerden", "Aufhebung des eigenen Selbst", "Einigung des Ich mit der Gottheit" und anderes mehr hingewiesen sah. Tieferes Eindringen in das vorhandene, außerordentlich reichhaltige und zum Teil psychologisch höchst genaue autodeskriptive Material ergab mehr und mehr oft zu meinem eigenen Erstaunen, wie wichtig eine genaue Analyse dieser Zustände, die aufgrund der hinterlassenen Selbstzeugnisse der großen Ekstatiker in weitem Maße möglich ist, für eine ganze Reihe von Fragen der Psychologie, keineswegs nur solche des Selbstbewußtseins, zu werden vermöchte. Im Laufe der nächsten Monate hoffe ich diese Untersuchungen zum Abschluß zu bringen. Die auf das Problem des Ich sich beziehenden Forschungen werden dann als zweiter Band des vorliegenden Werkes erscheinen.

Ebenso werden zwei längere Abschnitte: "Über das Wertproblem und seine Beziehungen zum Ichproblem" und "Über Besessenheitszustände", die aus Raumrücksichten aus dem vorliegenden ersten Band fortbleiben mußten, in erweiterter Gestalt als Einzelabhandlungen erscheinen.

Je weiter alle diese auf den Grenzgebieten zwischen normaler und pathologischer Psychologie sich bewegenden Untersuchungen über die Probleme des Selbstbewußtseins fortschritten und je mehr ich bestrebt war, den Zusammenhang mit den neueren Forschungen auf anderen Gebieten der Psychologie nicht zu verlieren, umso mehr ergab sich die Notwendigkeit, die  Fundamente  des Ganzen noch einmal einer gründlichen Revision zu unterziehen. In welchen Teilen alles dessen, was heute unter der Gesamtbezeichnung Psychologie behandelt zu werden pflegt, haben wir es mit  Ichphänomenen  zu tun? Diese Frage verlangt noch einmal eine prinzipielle Klarstellung in ihren wesentlichsten Punkten und gab schließlich den Anstoß zu den systematischen Untersuchungen des ersten großen Teils.

Soviel über die Entstehung des Werkes.

Was seine Tendenz betrifft, so haben die Tatsachen selbst, mit denen ich es zu tun hatte, und die mir täglich mit neuer Gewalt vor Augen traten, mich in einen gewissen Gegensatz zu manchen heute noch weitverbreiteten, ursprünglich unter der Einwirkung des Materialismus entstandenen Anschauungen hineingedrängt. Immer energischer trat im Fortgang auch meiner Arbeiten, wie gegenwärtig so vieler, die totale Heterogenität des Psychischen gegenüber den Vorgängen der äußeren Natur, mit denen die Physik und Chemie es zu tun hat, zutage, immer mehr stellte es sich heraus, wie unzureichend jede Auffassung ist, die die psychischen Vorgänge nach Art von Naturprozessen Komplexionen bilden, zu einem Ich zusammentreten und wieder auseinanderfallen läßt.

Eine absolute Deckung des im vorliegenden Werk eingenommenen Standpunktes mit dem, den ich in den obengenannten Untersuchungen über die Depersonalisierungszustände vertreten habe, besteht demnach nicht mehr. Damals befand ich mich selbst noch teilweise unter dem Einfluß von Anschauungen, die ich heute bekämpfen muß. Alles Wesentliche jener Analyse der Depersonalisation halte ich von der Frage der Reduzierbarkeit der Subjekteinheit abgesehen, freilich aufrecht.


Erstes Kapitel
Die Gefühle und das Ich

Die modernen Wissenschaften sind im Kampf gegen den Geist des Mittelalters entstanden. Das Erwachen des diesseitigen Menschen aus dem religiösen Dämmertraum des Mittelalters zur Zeit der Renaissance hatte in Hinsicht der Wissenschaft als tiefste Wirkung eine Abwendung von der logische-metaphysischen Spekulation und eine Hinwendung zur Erfahrung zur Folge. Und zwar gleichzeitig zur Erfahrung der inneren Welt wie der des Kosmos. Alle höherstehenden Geister jener Epoche stürzten sich in brennendem Durst auf die Natur und die Seelenwelt.

Neben der Erweiterung der geographischen Wissenschaften und der neuen Naturwissenschaft GALILEIs steht auf der anderen Seite die Versenkung in das innere Leben des Menschen. Nicht in seine Geschichte in erster Linie, denn jene Zeit war so voll ihrer selbst, daß sie sich wie jeder Höhepunkt der Menschheit mehr noch getrieben fühlte, Geschichte und Kultur zu schaffen, als die vergangene zu studieren, dem unmittelbar gegenwärtigen Leben selbst galt das Studium. Eine Fülle psychologischer Schriften, eine "Anthropologie" in des Wortes vornehmster Bedeutung (nicht in seiner heutigen Beschränkung auf das Physische) entstand (2).

Aber die Schwungkraft beider Bewegungen blieb in der weiteren Zukunft nicht gleich stark.

Während die exakte Naturwissenschaft siegreich unablässig vorwärts dringt, erlischt im Zeitalter der Reaktion gegen den neu angebrochenen Morgen der Kultur wieder langsam das Studium des Menschen seiner Totalität nach. Die Psychologie gelangt nicht zur inneren Selbständigkeit, sie gerät mehr und mehr unter den Einfluß der Ideale der Mechanik. Unter dem konstruktiven Verfahren, das sie einschlägt, leidet die Analyse, so groß auch die Fortschritte sind. Die Psychologie wird nicht selbständig, sie bleibt vom Vorbild heterogener Disziplinen abhängig. Was von der Renaissance wirklich fortlebte, war eben nur die neue Physik. Zur Verselbständigung der Psychologie aber hätte es dessen bedurft, daß auch der ästhetische Geist der Dichtung der Renaissance sich erhalten hätte. Denn nur wenn der Mensch nach innen lebt, gelangt er dazu, die selbständige Eigenart des Psychischen und die Notwendigkeit einer Preisgabe jedes konstruktiven Verfahrens in der Psychologie einzusehen, dessen verfehlter Charakter darin liegt, daß es an die Stelle der Analyse ein deduktives Vorgehen auf dem Boden der Annahme einer zur bestimmten geringen Zahl von psychischen Elementen setzt. Jedem neu auftretenden großen Analytiker enthüllt sich aber, wie es in neuester Zeit wieder WUNDT, LIPPS, und HUSSERL begegnet ist, eine immer größer werdende Zahl neuer "Elemente". Der Analyse treten immer neue Züge, Momente des seelischen Geschehens entgegen, von denen die konstruierende Deduktion nichts ahnt. Der Fortschritt in der Psychologie hat noch immer in der Herausarbeitung und Entdeckung neuer psychischer Momente gelegen, während das deduktive Verfahren immer nur zugunsten eines bestimmten Stadiums der Analyse sich weiteren Fortschritten widersetzt.

Um die Eigenart des Psychischen sichtbar werden zu lassen, bedurfte es einer zweiten Renaissance. Es ist das Zeitalter GOETHEs. Hatte der Schwerpunkt der Kultur der Renaissance zuletzt doch in der Kunst und damit in der Hinwendung auf die Außenwelt gelegen - so tief sie auch in die Seele sah -, so liegt der Schwerpunkt des GOETHEschen Zeitalters nach innen: in der Dichtung. Was an bildender Kunst neu hervortritt, ist nicht von Weltbedeutung.

Die Folgewirkung dieser neuen dichterischen Renaissance war für die Entwicklung der Welterkenntnis die Entstehung der historischen Geisteswissenschaften. Wie die Nachwirkung der ersten Renaissance die neue Naturerkenntnis des Universums gewesen ist, so ist oder wird die der GOETHEschen Epoche die Erkenntnis der Menschenwelt sein.

Dieser Entwicklungsprozeß ist noch nicht vollendet. Zur Zeit GOETHEs entstehen die positiven Geisteswissenschaften, die ihrer selbst gewisse Genialität HERDERs, WILHELM von HUMBOLDTs u. a. ruft sie ins Dasein. Aber was ihnen noch fehlt, ist die theoretische Rechtfertigung ihrer Existenz. Zur Entstehung einer wahrhaft selbständigen Psychologie kommt es noch nicht. Der größte Philosoph der Epoche, KANT, hält Psychologie kaum für eine Wissenschaft. Wie er der neuen Dichtung ablehnend gegenübersteht, hat er auch zu den Anfängen der Geisteswissenschaften kein engeres Verhältnis. Die Größe von HERDERs  Ideen  hat er nicht gesehen. Er hat dasselbe Verhältnis zur Geschichte, wie es noch heute die unter dem Einfluß der Physik groß Gewordenen zu haben pflegen. So entstanden die Geisteswissenschaften gleichsam  per nefas  [auf widerrechtliche Weise - wp], mit innerer Sicherheit, mit positiven Leistungen hervortretend, aber andererseits die theoretische Rechtfertigung ihrer Existenz wesentlich der Zukunft überlassend.

Und als dann der naturwissenschaftliche Sinn in der Philosophie zurücktritt, geht diese sofort aus dem Stadium der Erkenntnistheorie, in einem noch nicht klar durchschauten Prozeß, in eins der Spekulation über, das, so genial es gewesen, doch die Psychologie nicht zur selbständigen Wissenschaft werden ließ. In das Alter KANTs, er eben noch auf der Höhe eines späten Ruhmes gestanden hatte, klingt der neue Grundton der sich wandelnden Zeit wie unvermittelt hinein. Die historischen Wissenschaften werden in die Bewegung wenigstens teilweise mit hineingezogen; selbst die Positivität RANKEs bleibt, trotz heftiger Ausbrüche gegen spekulative Geschichtsschreibung, nicht unberührt davon. Auch die Naturwissenschaften sind mit betroffen.

Und wieder wendet sich, nicht viel langsamer als die Romantik eingesetzt hatte, der Geist der Zeit von ihr ab.

Der als glücklicher Sieger auf dem Kampffeld bleibt, ist von neuem die Naturwissenschaft, die, schnell die ungeeigneten Waffen der Romantik wieder aus der Hand legend, sich gegen sie selbst wandte. Unaufhaltsam setzte sich nun ihren seit langem begonnenen Siegeszug fort, und so trägt das 19. Jahrhundert, das mit der Geburt der Geisteswissenschaften begonnen hatte, heute den Namen eines Jahrhunderts der Naturwissenschaft, deren Triumph sich jetzt auch auf die organische Welt ausdehnte.

In dieser Zeit haben die historischen Geisteswissenschaften eine schwere Krisis durchgemacht; unter dem Einfluß der Naturwissenschaft gerieten sie in Gefahr, ihr eigenes Wesen, Ziel und Methode zu verlieren. Aber sie blieben am Leben, ihre Eigenart erhielt sich, wieder gleichsam  per nefas,  bis schließlich auch ihnen die Stunde schlug und DILTHEY ihre erkenntnistheoretische Rechtfertigung zu geben begann.

Auch die Psychologie geriet in jenem Zeitraum unter den unmittelbarsten Einfluß der Naturwissenschaft. Von allen Geisteswissenschaften hat fast sie allein im naturwissenschaftlichen Zeitalter großen Gewinn, nicht bloß Schädigung erfahren. Es ist das erste Mal in der Geschichte dieser Disziplin gewesen, daß hervorragendste Vertreter nicht bloß in letzten projektartigen Konzeptionen, sondern in faktischer Einzelforschung die Begründung einer psychischen Physik unternahmen.

So entsteht die experimentelle Psychologie. In dieser Epoche stehen wir noch mitten drin.

Je älter die experimentelle Psychologie geworden ist, desto mehr sieht sie sich, nicht immer ausgesprochenen, Angriffen durch die übrigen Geisteswissenschaften ausgesetzt. Diese erwarteten von ihr unmittelbarste schnelle Förderung, und die Ungeduld, daß sie nicht in dem erhofften Maß eingetreten ist, wächst.

Und doch kann es nur einem den Dingen Fernstehenden entgehen, daß das Experiment auf das Ganze der Psychologie tiefe und unvergleichliche Rückwirkungen geübt hat. Alle Einwürfe, daß die experimentelle Psychologie sich im wesentlichen auf das niedere Seelenleben in seinen Detailproblemen beschränkt, daß über Spezialproblemen von so manchen Forschern die größeren Zusammenhänge aus dem Augen verloren worden sind, sie können, was auch an Wahrheit an ihnen sein mag, nicht die Tatsache erschüttern, daß die Rückwirkung des Experiments auf das Ganze der Psychologie eine außerordentliche gewesen ist.

Diese Rückwirkung besteht hauptsächlich in einer so bedeutenden Verschärfung der Präzision der Analyse, wie man sie früher in einem solchen Ausmaß nicht gekannt hat. Und auch manche ansich unbedeutend erscheinende Probleme haben infolge der andauernden systematischen Einstellung der psychologischen Beobachtung auf feinste und flüchtigste Prozesse, zu der das Experiment nötigte und erzog, nach und nach einen Einblick in die Kompliziertheit des Seelengeschehens eröffnet, der weit hinausgeht über die Vorstellungen, die man sich früher davon gemacht hat, und auch für das höhere Seelenleben sind deshalb die indirekten Wirkungen auf die Analyse nicht ausgeblieben.

Die Einführung des Experiments wird einmal der Zukunft doch als ein entscheidendes Moment erscheinen, von dem aus die Psychologie sich selbst gefunden hat. Für die weitere Entwicklung ist es jetzt aber von der größten Wichtigkeit, daß die Psychologie sich wieder nachdrücklich bewußt wird, daß das psychische Geschehen vom physischen gänzlich verschieden ist und diese Differenz von Materie und Geist auch durch keine experimentelle Methode beseitigt werden kann. Eine solche Meinung konnte obwalten, solange die Empfindungsinhalte den Hauptgegenstand der psychologischen Forschung bildeten. Mit der Inangriffnahme des Gebietes der Funktionen tritt ihre Unmöglichkeit deutlich zutage.

Das Bewußtsein vom spezifischen Charakter des Psychischen ist das Fundament, von dem aus die Psychologie zu ihrer im Anzug befindlichen Selbständigkeit gelangen wird. Dann endlich wird auch jenes Mittelglied zwischen der Psychologie und den übrigen Geisteswissenschaften seine Entwicklung finden, das heute erst im Entstehen begriffen ist und das im Wissenschaftszusammenhang die Stellung einer Grundlegung und psychologischen Propädeutig der historischen Disziplinen einnehmen wird. Das Ideal einer Physik des Seelenlebens nach der Art der Physik der Außenwelt ist ein vorübergehendes gewesen (3), ebenso wie inst die Ideen HERBARTs umso mehr in den Hintergrund traten, je weiter die Analyse vordrang. Eben diese Analyse aber angebahnt zu haben, das ist das bleibende Verdienst der neuen Epoche.

Diese große Förderung im Ganzen, die die Psychologie dem naturwissenschaftlichen Zeitalter zu verdanken gehabt hat, schließt aber nicht aus, daß sie in einzelnen Punkten von der Seite der Physik her auch eine entschiedene tiefgehende Schädigung erfuhr. Es sind besonders prinzipielle, auf der Grenze zur Philosophie gelegene Fragen, in denen ein Teil der Forschung auf Standpunkte zurückgeworfen wurde, die zuvor bereits teilweise überwunden gewesen waren. Die Assoziationspsychologie war nur jene Theorie, in der das Hinstarren auf das Vorbild der Physik in seinem schädigenden Einfluß am krassesten zutage trat. -

Zu den Problemen, auf deren Auflösung die Naturwissenschaft ihre unheilvollen Wirkungen ausübte, gehört nun auch das Grundproblem der Psychologie, die  Lehre vom Ich. 

In einem beträchtlichen Teil der neueren Forschung bestehen auf diesem Gebiet Anschauungen, die eine Verkennung des spezifischen Charakters des psychischen Lebens in sich schließen und die es in einer unmöglichen Weise den Gegenständen der Physik anzunähern versucht haben.

Wie wir in der Logik und Psychologie des Denkens durch HUSSERLs und MEINONGs grundlegende Forschungen zu BOLZANOs Standpunkt verwandten Aspekten hingeführt worden sind, so war BOLZANO auch in den Problemen, die das Selbstbewußtsein uns stellt, bereits weiter vorgedrungen, als es die Gegenwart zum großen Teil ist. Und nicht er allein, sondern auch andere seiner Zeitgenossen und Vorgänger waren es. So vor allem das überragende Genie von LEIBNIZ, dessen Einfluß auf BOLZANO ja auf der Hand liegt. Aber auch die Namen KANTs und MAINE de BIRANs können genannt werden. Später ist namentlich LOTZE und aus unserer eigenen Zeit vor allem THEODOR LIPPS' unermüdlicher Kampf gegen die in Betracht kommenden Rückständigkeiten hervorzuheben.

Eine vollständige Wiederbelebung der Ansichten BOLZANOs ist allerdings auch auf diesem Gebiet ausgeschlossen.

Die Grundfrage, mit der wir es zu tun haben, ist diese: Ist das Ich ein Phänomen besonderer Art oder ist es lediglich ein Komplex aus Phänomenen, die es selbst einzeln nicht in sich enthalten?

Die Frage ist zuletzt eine Tatsachenfrage, eine  Frage der Selbstbeobachtung.  Und das Zeugnis vorurteilsfreier, allein auf die Ergreifung der positiven Erfahrung gerichteten Selbstbeobachtung lautet: es gibt ein nicht weiter reduzierbares Ich-Moment. Es finden sich Tatsachen im Umkreis unseres Bewußtseins, die spezifischer, ichhafter Natur sind, wie es umgekehrt auch andere gibt, die gerade nicht von dieser Art sind. Der Punkt, an dem das Vorhandensein des Ich sozusagen am handgreiflichsten wird, sind die  emotionalen Zustände,  die einfachen Gefühle, die Stimmungen und die Affekte.  Ich  bin es, der freudig oder betrübt, der begeistert oder entrüstet, der milde oder zornig ist. Alle diese Gefühle sind Zustände meiner selbst, sie sind Ich-Zustände, Affektionen dessen, was ich "mich selbst" nenne und das in allen diesen Zuständen dasselbe bleibt, so verschiedenartig die Affekte auch untereinander sein mögen.

Diese Tatsache ist unmittelbar evident. Eine Trauer oder Freude, die nicht der traurige oder erfreute Zustand eines Ich wären, sind etwas völlig Undenkbares. Man weiß gar nicht, was das sein sollte.

Eine solche Auffassung bedarf im Grunde so wenig der Bekämpfung, als wenn jemand sagen würde, daß es keine Bewegung gibt, die nicht Bewegung eines Etwas wäre. Beide Behauptungen sind unsinnig und unmittelbar als so beschaffen erkennbar. Sie scheiden aus der Diskussion aus.

Wo immer im Folgenden vom  Ich  die Rede ist, wird unter ihm eben jenes Moment gemeint, dessen Zustände die Gefühle sind und das bei jedem von uns stets mit sich identisch bleibt.

Natürlich ist diese Einsicht, die so sehr auf der Hand liegt, keine neue. Sie reicht so weit zurück, wie man die Geschichte der Psychologie verfolgen kann. Fast nur in Zeiten eines starken Materialismus, wo die Denkweise der Physik auch auf die übrigen Wissenschaften übergreift, kommt es zur Leugnung dieses primärsten psychischen Tatbestandes, der gegenüber die Forscher entgegengesetzter Auffassung dann leicht in den Schein übermäßig metaphysischer Ansichten gelangten, während sie in Wirklichkeit nur in einem höheren Maße die Erfahrung selbst anerkannten und sich von dogmatischer Voreingenommenheit freihielten.

Von den noch heute in einem größeren Umfang wirksamen Psychologen (4), der hinter uns liegenden Generation ist es besonders LOTZE gewesen, der den ichhaften Charakter des Gefühls auf das nachdrücklichste betont hat.
    "Jedes Gefühl der Lust oder Unlust, jede Art des Selbstgenusses enthält für uns den Urgrund der Persönlichkeit, jenes unmittelbare Fürsichsein, das alle späteren Entwicklungen des Selbstbewußtseins wohl durch Gegensätze und Vergleichungen dem Denken verdeutlichen und in seinem Wert durch diese Verdeutlichung steigern mögen, das aber nicht sie erst durch diese Künste erzeugen ..." (5)
LOTZE meint, "daß alles Selbstbewußtsein auf dem Grund
    "eines unmittelbaren Selbstgefühls ruht, welches auf keine Weise aus dem Gewahrwerden eines Gegensatzes gegen die Außenwelt entstehen kann, sondern seinerseits die Ursache davon ist, daß dieser Gegensatz als ein beispielloser, keinem anderen Unterschied zweier Objekte voneinander vergleichbarer, empfunden werden kann. Das Selbstbewußtsein ist nur die später kommende Bemühung, mit den Mitteln der Erkenntnis diese erlebte Tatsache zu zergliedern, vom Ich, das in dieser mit aller Lebendigkeit des Gefühls sich selbst ergriff, ein Gedankenbild zu gewinnen und es auf diese Weise künstlich für die Betrachtung in die Reihe der Gegenstände zu versetzen, in die es nicht gehört." (6)
Auch SIGWART kann als Vertreter dieser Anschauung genannt werden.
    "Wenn wir, unbeirrt von Schulmeinungen, unser unmittelbares Bewußtsein selbst fragen, so kann darüber kein Zweifel sein, daß unser eigentliches, innerstes Sein und Leben durch die Gefühle konstituiert wird, in denen wir unseren Zustand und seine Bedeutung unmittelbar empfinden und durch die Strebungen, durch welche wir wirksam uns selbst bestimmen und uns die Richtungen von einem Moment zum anderen geben. Das ist der wahre Kern unserer Existenz, wie sie uns zum Bewußtsein kommt. Darin erscheinen wir uns als wirkliche, im Zusammenhang des Erleidens und Wirkens mit der übrigen Welt stehende Wesen." (7)
Ebenso müssen BRENTANO (8) sowie DILTHEY (9), MAIER (10), ZIEGLER (11) und in Wahrheit auch WUNDT genannt werden, denn auch WUNDT erklärt:
    "Wir können die sämtlichen Inhalte des Bewußtseins in  objektive  und  subjektive  sondern, wobei wir aber unter diesen Ausdrücken nichts anderes verstehen wollen, als daß die ersteren auf äußere, dem wahrnehmenden Subjekt gegebenen Gegenstände, die letzteren aber unmittelbar auf den Zustand des Subjekts selbst bezogen werden." (12)
Von den psychologischen Elementen
    "lehrt uns die psychologische Analyse zwei von spezifisch verschiedenem Charakter kennen. Die  Empfindungen als die letzten nicht weiter zerlegbaren Elemente der Vorstellungen, die wir hiernach auch die  objektiven  Elemente des Seelenlebens nennen können, und die  Gefühle die jene objektiven Elemente als ihre  subjektiven,  nicht auf die Außendinge, sondern auf den Zustand des Bewußtseins selbst bezogenen Komplemente begleiten. In diesem Sinne nennen wir also  blau, gelb, warm, kalt  Empfindungen, dagegen  Lust, Unlust, Erregung, Depression  usw. Gefühle. Es ist Wert darauf zu legen, daß diese Begriffe nicht, wie es vielfach in der Redeweise des gewöhnlichen Lebens und vielfach auch noch in der Psychologie geschieht, fortwährend vermengt, sondern daß sie streng im angegebenen Sinn geschieden werden." (13)
Das Merkwürdige ist nun aber, daß, obwohl WUNDT so die Einteilung der Gegenstände der Psychologie auf den Subjektbegriff gründet, er gelegentlich an anderer Stelle ganz im Gegenteil erklärt, eine Unterscheidung in von vornherein subjektive und objektive Elemente sei nicht möglich. Subjekt und Objekt ständen sich nicht als Urtatsachen gegenüber. Die Psychologie als Wissenschaft vom Subjekt zu definieren, sei unstatthaft. (14)

Diese Ausführungen scheinen mir in einem unmittelbaren Widerspruch zu den früheren zu stehen. Ist der Unterschied subjektiver und objektiver Vorgänge kein primärer, so sehe ich nicht, wie WUNDT dann noch seine zutreffende Unterscheidung von Gefühl und Empfindung durchführen will. Diese gründet sich ja gerade auf das Vorhandensein jenes Unterschiedes. Was den großen Forscher zu diesen Inkonsequenzen treibt, scheint mir auf die Befürchtung WUNDTs zurückzugehen, daß bei einer Akzeptierung des Ich als psychischer Urtatsache die Aktualitätsauffassung des Seelenlebens Schaden nehmen wird. Diese Befürchtung ist aber durchaus unbegründet. Auch das vorliegende Werk steht durchgängig auf dem Boden der Aktualitätslehre. Nur möchte es eben die Tatsache zur Anerkennung bringen, daß alle wahrhaft psychischen Vorgänge Ich-Vorgänge sind.

So evident nun auch die Behauptung ist, daß die Gefühle Ich-Zustände sind, daß in ihnen ein spezifisches, von uns eben als Ich bezeichnetes Moment uns entgegentritt, so gilt, wie schon angedeutet, selbst für diesen Punkt, daß gelegentlich auch gegen ihn Widerspruch hervorgetreten ist. Es gehört nun einmal zu den eigentümlichsten Vorkommnissen des intellektuellen Lebens, daß selbst die primärsten Erfahrungen gelegentlich angezweifelt werden. Und je älter die Geschichte der Philosophie und damit der Umfang ihrer Literatur wird, umso mehr verringert sich naturgemäß die Zahl der Punkte, die noch nicht einen solchen Widerspruch hervorgerufen haben.

Für das Ich ist, nachdem kurz zuvor erst LEIBNIZ seinen eigentümlichen Charakter klar entwickelt hatte, dieser Fall mit HUME eingetreten. Der scharfsinnige schottische Philosoph ging an der Tatsache des Ich vorüber, ohne sie gewahr zu werden, wie es denn überhaupt das Schicksal lediglich scharfsinniger, aber wahrer philosophischer Tiefe entbehrender Forscher zu sein scheint, trotz aller Präzision ihres Verstandes gleichwohl an manchen fundamentalen Punkten bedenkliche Versehen zu begehen.

HUME meinte:
    "Einen Eindruck von einem Ich oder einer Substanz als inneres, einfaches oder einzelnes Etwas haben wir nicht. Wir haben aber auch keine Vorstellung eines Ich oder einer Substanz in diesem Sinne." (15)
Der Fehler HUMEs ist nur dadurch zu erklären, daß er das Ich als einen selbständigen, für sich stehenden, isolierten Inhalt im Bewußtsein suchte, der irgendwie mit allen übrigen Inhalten in einer Reihe steht. (16) Das tut das Ich nun aber eben nicht. Es steht außerhalb der Reihe, es ist auch nicht ein für sich bestehendes Etwas, das noch jenseits der Gefühle und neben ihnen stände, sondern es liegt  in  den Gefühlen, es ist  das Etwas, dessen Zustand die Gefühle sind. 

Es entspricht der Bedeutung DAVID HUMEs, wenn ihm beim Abschluß des ersten Bandes des  Treatise,  der seine seltsame Theorie des Ich enthält, selbst Bedenken über ihre Haltbarkeit gekommen sind. (17)

Merkwürdig bleibt aber auch so freilich, daß er die Gefühle in eine Reihe mit allen übrigen Empfindungen gestellt hat und nicht auf ihren subjektiven Charakter aufmerksam wurde.
    "Was verschieden ist, ist unterscheidbar. Und was unterscheidbar ist, ist in der Vorstellung oder Einbildungskraft trennbar. Alle Perzeptionen sind voneinander verschieden. Sie sind also unterscheidbar und trennbar und können als für sich existierend vorgestellt werden; sie können also auch tatsächlich für sich existieren. Dieser Gedanke schließt keinerlei Widerspruch oder Absurdität in sich." (18)
Dieser Gedanke ist gleichwohl in Wahrheit völlig absurd. Ich kann an einem Ton oder einer Farbe  Qualität, Intensität, Lokalisation  usw. sehr wohl unterscheiden, und doch wäre es widersinnig, anzunehmen, daß alle diese Momente selbständig für sich existieren können. Es gehört vielmehr zu den eigentümlichsten Grundtatsachen der Welt, daß ihre letzten Bestandteile, die für sich existieren können, bereits in eigenartiger Weise eine geringere oder größere Zahl von Eigenschaftsmomente in sich schließen, die nicht selbständig für sich bestehen können, sondern nur in der eigentümlichen Vereinigung, wie sie in der Wirklichkeit miteinander verbunden sind.

Während nun aber der Gedanke an eine isolierte Existenz, etwa der Gesichtsinhalte, nichts Widersinniges an sich hat, ist das beim Gefühlsleben, um vorläufig allein auf sie einzugehen, sehr wohl der Fall. Weder meine Freude noch meine Trauer, weder meine Lust noch mein Kummer können unabhängig von mir existieren. Sie sind dann auf keinen Fall mehr mein Kummer, auf jeden Fall aber doch wiederum die Freude oder Trauer usw. eines anderen, der von ihnen sagen kann: sie seien  seine  Freude, Trauer usw.

Eine Freude, Trauer, Lust usw., die nicht Freude, Trauer, Lust usw. eines Ich wären, sind  absolut sinnlos. 

Wer das behauptet, der behauptet etwas schlechthin Unsinniges.

Jede Lust und Unlust ist die Lust und Unlust eines Ich, wenn nicht meiner selbst, dann die eines anderen, dessen zentrale Natur ebensosehr wie meine eigene darin besteht, ein "Ich" zu sein, eben eine Art von "Ding", auf das man nur hinweisen kann, das man aber dem "Ich-Blinden" so wenig demonstrieren kann, wie dem Farbenblinden die Farbe (19), ja noch weniger, denn der Farbenblinde kennt zumindest die beiden Farben Weiß und Schwarz, zum Ich aber gibt es keine derartige Parallele. Es gibt nur ein einziges Moment von dieser Art im Bewußtsein. Wer es nicht sieht oder sich mit leeren Worten darüber hinwegzutäuschen sucht, dem ist nicht zu helfen.

So unmittelbare Erfahrungen können eben auch nur im unmittelbaren Erfahrungsurteil ergriffen, aber nicht mehr demonstriert werden.

Was die Frage nach einer absolut zulänglichen  Definition  der Gefühle und einem Kriterium für sie betrifft, so gesteht auch ich, zurzeit ein solches noch nicht geben zu können, wenn es ja auch nicht schwierig ist, im Einzelfall zu sagen, ob ein bestimmtes Phänomen ein Gefühl ist oder nicht.

Die Schwierigkeit, für die Gefühle ein Kriterium anzugeben, liegt freilich durchaus nicht, wie man gemeint hat, in der Grenzbestimmung gegenüber den Empfindungen. Von einer solchen Schwierigkeit kann, wie wir noch näher sehen werden, keine Rede sein. Denn die Gefühle sind stets Ich-Zustände, während die Empfindungsinhalte im Gegenteil stets objektiver, nicht ichhafter Natur sind. Die Schwierigkeit liegt vielmehr in der Aufgabe, die Gefühle gegen andere Funktionen des Ich abzugrenzen.

Vorläufig wage ich nur das eine zu sagen: Gefühle sind stets eine  Zuständlichkeit  des Ich,  keine eigentliche Akte.  Auch scheinen sie, wie im Gegensatz zur noch herschenden, von BRENTANO herstammenden Anschauung doch wird anerkannt werden müssen, ausnahmsweise auch unabhängig von jeder Beziehung auf einen Inhalt vorkommen zu können, während das bei allen übrigen Funktionen des Ich ausgeschlossen ist (20). Dieser Umstand scheint mit dem eigentümlichen Zustandscharakter der Gefühle eng zusammenzuhängen.

Der Mangel eines bestimmten formulierbaren Kriteriums der Gefühle (21) ist peinlich, aber er steht nicht allein da. Wer wäre imstande, ein Kriterium anzugeben, das Vorstellen und Empfinden in ideal befriedigender Weise unterscheidet? Oder wer vermöchte wirklich ein eigentlich phänomenologisches Kriterium für die Unterscheidung thermischer und taktiler Empfindungen anzugeben?

Die Situation, in der wir uns dem Gefühl gegenüber befinden, ist also keine ganz exzeptionelle. Sie wiederholt sich noch mehrfach, wo wir es mit Grundphänomenen der Psychologie zu tun haben (22). So theoretisch unbefriedigend dieser Zustand auch ist, so wiegt er doch in der praktischen Einzelforschung nicht allzu schwer, da er eben nicht notwending eine Unsicherheit im Urteil über die Qualität erlebter Phänomene mit sich führt. (23)

Vielleicht sind diese vermeintlichen Mängel an Kriterien deshalb in Wahrheit großenteils überhaupt nur Schein. Wir werden die Unterschiede in den Phänomenen doch wohl mindestens oft sehr gut gewahr und erfassen ihre charakteristischen Momente gedanklich vollkommen. Was uns fehlt, sind nicht allzuselten nur präzise sprachliche Ausdrücke, die erstens für uns selbst eindeutig sind, d. h. uns nicht sofert selber in Äquivokationen verwickeln, und die zweitens sofort auch für die Kommunikation brauchbar sind, bei denen wir also sicher sein können, daß der andere sie im selben Sinn versteht, in dem wir sie meinen. -

Was die  Mannigfaltigkeit  der Gefühle anlangt, so war es nicht wesentlich übertrieben, als LIPPS noch 1902 bei der Herausgabe seiner Grundlinien ziehenden Untersuchung "Vom Fühlen, Wollen und Denken", in der zum erstenmal in der modernen Psychologie der Versuch gemacht worden ist, dem Reichtum des Gefühlslebens wirklich gerecht zu werden, sagte: in dieser ganzen Frage finde er eine wissenschaftliche Einsicht nur bei WUNDT. (24)

WUNDT hat das nicht hoch genug zu schätzende Verdienst, dem Schlendrian der Lust-Unlustlehre durch die Aufstellung seiner sechs Gefühlsrichtungen Lust-Unlust, Erregung-Beruhigung, Spannung-Lösung ein Ende gemacht zu haben. Dieses Verdienst bleibt ihm, auch wenn man seine Anschauungen im einzelnen nicht völlig akzeptiert. Denn auch BRENTANOs neue Einteilung des Gefühlslebens (25) in Liebe und Haß, die von einigen seiner Schüler, so MARTY (26), akzeptiert wird, war unhaltbar. Kann man schon bei Lust und Unlust im Zweifel sein, ob sie nicht auch ohne Liebe und Haß rein als Lust und Unlust auftreten können, so gilt das ganz sicher für die Zustände der Erregung, der Passivität usw. Liebe und Haß können sehr häufig und sehr leicht zu anderen Gefühlen hinzutreten, sie finden sich aber nicht durchgängig und sie können vor allem von anderen Gefühlszuständen analytisch durchaus gesondert werden (27).

Eine noch viel größere Zahl von unterscheidbaren Momenten hat schließlich LIPPS mit einer eindringen analytischen Kraft herausgearbeitet. Sein gründlicher und überzeugender Nachweis, daß das Ich nicht bloß im Zustand der Lust oder Unlust, sondern noch in zahlreichen anderen Gefühlszuständen sich zu befinden vermag, muß als bahnbrechend angesehen werden.

Faß man die äußere Wirkung dieser neu gewonnenen und in den Prinzipien unzweifelhaft richtigen Auffassungen ins Auge, so läßt dieselbe freilich noch immer zu wünschen übrig. So haben namentlich LIPPS' fein zergliedernde Analysen, soweit ich sehe, noch immer keine ausgedehnteren experimentellen Untersuchungen zur Folge gehabt, zu denen sie doch die weitestgehendsten Anregung geben. Die Tradition zeigt auch in diesem Fall eine ungemein starke Widerstandskraft. Immerhin ist der Gesamteindruck jetzt der, daß die Theorie von der Mehrdimensionalität des Gefühlslebens bei den fortgeschrittensten und einsichtigsten Forschern auf dem Weg zum Sieg ist. So hat sich auch HEINRICH MAIERs bedeutungsvolles Werk "Das emotionale Denken" ganz auf den neuen Boden gestellt (28). Ebenso RIBOT (29).

Bei der Größe der Gegensätze, mit denen wir es zu tun haben und die auch hier wieder auf die Selbstbeobachtung als entscheidende letzte Instanz zurückführen, ist es von besonderer Wichtigkeit, daß wir Selbstbeobachtungszeugnisse beizubringen in der Lage sind, die, unter ganz anderen Umständen entstanden, mit der mehrdimensionalen Gefühlslehre in so hohem Maße übereinstimmen, daß sie eine neue Gewähr geben, daß unsere Behauptungen nicht irrig, sondern objektiv-zutreffend sind.

LITERATUR - Traugott K. Oesterreich, Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, Bd. 1, Leipzig 1910
    Anmerkungen
    1) Ein ausführliches Autoreferat darüber in der  L'année psychologique  (Jahrgang 1908). Die weiter unten mehrfach vorkommenden Namenabkürzungen  Ka., Ti., Prau.  beziehen sich auf die a. a. O. mitgeteilten Depersonalisationsfälle.
    2) Vgl. WILHELM DILTHEY, Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1904. - JACOB BURCKHARDT, Die Kultur der Renaissance, Bd. II., IV. Abschnitt. - MAX DESSOIR, Geschichte der neueren deutschen Psychologie, Bd. 1, Seite 19f.
    3) Die Psychologie ist nicht imstande, wirkliche Gesetze aufzustellen. Sie kann nur typische Verlaufsweisen der Prozesse feststellen. Es geht ihr genau wie der Geschichtswissenschaft. Und prinzipiell geht es auch der exakten Naturwissenschaft übrigens nicht anders. Wahrscheinlich ist kein einziges Gesetz der Physik und Chemie mehr als eine Formel für ein typisches Verhalten gewisser Vorgänge unter gewissen Umständen. Immer mehr enthüllen sich bis dahin für Urgesetze gehaltene Formeln als Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] die nur das Ergebnis von Zusammenwirkung nach elementaren Gesetzen darstellen. Wir sind nirgends sicher, ein letztes Gesetz zu haben, und wir sind so sehr daran gewöhnt, daß vermeintliche Gestze sich nur als Annäherungen herausstellen, daß wir uns in der praktischen Forschung gar nicht mehr darüber wundern. In der Erkenntnistheorie verfährt man aber noch immer so, als wenn die physikalischen Gesetze wirklich letzte Gesetze sind. Während sie in Wahrheit zum allergrößten Teil sicher prinzipiell den historisch-psychologischen Gesetzen durchaus gleichstehen. (Ein gutes Beispiel ist das  Mariotte-Gay Lussacsche  Kompressionsgesetz der Gase.) - - - Bei den psychischen Vorgängen kommt noch hinzu, daß sie keine Welt für sich darstellen, sondern zum größten Teil oder durchweg (wir wissen es noch nicht) von physischen Vorgängen abhängig sind. Ähnliches scheint in der physikalischen Welt nur zu gelten, soweit sie organischer Natur ist. Hier greifen der Wille und die Triebe der Seelen in den Gang des physikalischen Geschehens ein, ja vielleicht kommen auch noch Dominanten- und Entelechienkräfte anderer Art in Betracht.
    4) Ich habe die Diskussion absichtlich fast durchweg auf solche Psychologen beschränkt, deren Lehren noch unter uns lebendig sind. Eine detaillierte Bearbeitung der Geschichte der Ich-Theorien wäre als Ergänzung zur Diskussion der modernen Theorien aber im höchsten Maße lehrreich. - Eine Anzahl historischer Reminiszenzen bei VOLKMANN Ritter von VOLKMAR, Lehrbuch der Psychologie, Bd. II, Seite 166f
    5) LOTZE, Mikrokosmos, Bd. III, Seite 571
    6) LOTZE, a. a. O., Bd. I, Seite 270f
    7) SIGWART, Kleine Schriften, Bd. II, Freiburg i. Br. 1881, Seite 226, ferner ebd. Seite 237: "Eben weil wir das Vorgestellte uns gegenüberstellen und von uns ablösen, bildet es keinen Bestandteil unseres eigenen Selbst; aber was wir fühlen, das ist allein unser Schmerz und unsere Lust, was wir wollen und vollbringen, das ist unsere Tat und ein Stück von uns selbst. Wir können viel lernen und viel vergessen; diese Gedanken scheinen bei uns ein- und auszugehen, wie Besuche, mit denen wir uns eine Zeitlang unterhalten; was uns angehört, ist der Eindruck, den sie auf uns machen, und die Entschlüsse, zu denen sie uns bestimmen. Das Bewußtsein der  Schuld  spricht deutlicher und unwiderleglicher als alle psychologischen Theorien dafür, daß wir unser eigentliches und wahres Sein in unserem Wollen und Fühlen finden." - Vgl. Logik, Bd. II, Seite 177f.
    8) BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. I, Wien 1874. Wie ich aus einer mündlichen Mitteilung von CARL STUMPF entnehmen, steht BRENTANO auch jetzt noch auf diesem Standpunkt.
    9) WILHELM DILTHEY, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1894, Seite 1309-1407.
    10) HEINRICH MAIER, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908
    11) THEOBALD ZIEGLER, Das Gefühl, eine psychologische Untersuchung, Leipzig 1908.
    12) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie, Bd. I, Leipzig 1908, Seite 404
    13) WUNDT, a. a. O., Seite 44
    14) WUNDT, Grundriß der Psychologie, 1907, Seite 270.
    15) DAVID HUME, Treatise on human nature. Deutsch von LIPPS, Bd. I, Seite 360.
    16) Sehr richtig sagt RIEHL: "Hume sucht sein vorstellendes Ich unter den Vorstellungen seines Ich; kein Wunder, wenn er es unter diesen nicht finden kann. Er, der Suchende selbst, ist das Ich, das er sucht." (ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus I, Leipzig 1908, Seite 201)
    17) HUME, a. a. O. Seite 360
    18) HUME, a. a. O., Seite 360
    19) Der Vergleich hinkt natürlich. Auch der Ich-Blinde erlebt sein Ich, er hat es im Bewußtsein, nur sein Urteilen über diesen Sachverhalt geht fehl.
    20) Im allgemeinen haben die von STUMPF (Über den Begriff der Gemütsbewegung, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 21, 1899), MEINONG (Über Urteilsgefühle, was sie sind und was sie nicht sind, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VI, 1906) und LIPPS (u. a.: Das Ich und seine Gefühle, Psychologische Untersuchungen, Bd. 1, Seite 69f) getroffenen Feststellungen über das Verhältnis der Gefühle und Affekte zu den Sinnesinhalten und Urteilen durchaus ihre Gültigkeit.
    21) Auch ORTH bekennt: "Ein subjektives Kriterium des Gefühls zu geben, ist mir ebenso unmöglich, als zurzeit den Psychologen vom Fac." (Gefühl und Bewußtseinslage, Berlin 1903, Seite 34)
    22) So fand STÖRRING bei seinen Untersuchungen über das Bewußtsein der Gültigkeit: "In vielen Fällen wird von dem das psychische Phänomen erlebenden Individuum erkannt, daß es sich um das und das Phänomen handelt, und es wird deutlich von ähnlichen Phänomenen unterschieden, aber worin der Unterschied besteht, kann im einzelnen nicht angegeben werden oder ist zumindest schwer angebbar." (Experimentelle und psychopathologische Untersuchungen über das Bewußtsein der Gültigkeit, Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 14, Seite 20)
    23) Über die Geschichte der Gefühlslehre bis in die Gegenwart hinein vgl. außer DESSOIR, Geschichte der neueren deutschen Psychologie auch ORTH, a. a. O. Leider berücksichtigt ORTH nicht den zwischen KANT und LIPPS-WUNDT gelegenen Zeitraum.
    24) ebd. Seite 5
    25) BRENTANO, Psychologie, Bd. 1
    26) MARTY, Über Annahmen, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 40, Seite 2
    27) Noch etwas weiter als WUNDT ist VOGT gegangen. VOGT, der sich ursprünglich der Lehre WUNDTs völlig angeschlossen hatte, sah sich durch seine eigenen Untersuchungen veranlaßt, noch ein weiteres Paar von Gefühlen: Aktivität und Passivität, zu denen WUNDTs hinzuzufügen; doch hat er gleichzeitig die allgemeine Einschränkung gemacht, daß es sich hierbei und ebenso bei den übrigen Gefühlsarten seiner Ansicht nach nicht um Richtungen, sondern um einfache eindeutige Elementargefühle handelt. Er ist dann sogar dazu übergegangen, unter diesem Gesichtspunkt die einzelnen Affekte einer näheren suggestiv-experimentellen Analyse zu unterziehen. Untersuchungen, die, wenn man auch in manche Aussage seiner Versuchspersonen Zweifel setzt, doch eine weit größere Beachtung verdienen, also sie bisher gefunden haben. (OSKAR VOGT, Zur Kenntnis des Wesens und der psychologischen Bedeutung des Hypnotismus, Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. IV. - Die direkte psychologische Experimentalmethode in hypnotischen Bewußtseinszuständen, ebd., Bd. V.
    28) Vgl. ferner die experimentelle Untersuchung von N. ALECHSIEFF: Die Grundformen der Gefühle, Psychologische Studien, Bd. III, Seite 156-271. - An neuerer Polemik gegen unsere Anschauungen nenne ich STUMPF (Über Gefühlsempfindungen, Zeitschrift für Psychologie, Bd. 44, Seite 2, Anm.), der aber doch zumindest Lust und Unlust als Richtungen und nicht als sich dauernd gleichbleibende Elementargefühle ansieht. Auch REHMKE polemisiert in der zweiten Auflage seines "Lehrbuchs der allgemeinen Psychologie" (Leipzig 1905) wieder sehr lebhaft gegen WUNDT (Seite 295f, 388f). Er hält nach wie vor dafür, es werde bei der Einteilung der Gefühle in Lust und Unlust sogar im Sinne von einfachen Zuständen, nicht bloß von Richtungen sein Bewenden haben müssen. Die Momente der Erregung, Beruhigung, Spannung und Lösung erklärt er lediglich als innere Organempfindungen.
    29) THEODULE RIBOT, Problémes de psychologie affective, Paris 1910, Seite 16f.