ra-3ra-2ra-2DürrFerberCohnLudemannTopitschStrich    
 
THEODOR GEIGER
Ideologie und Wahrheit
- eine soziologische Kritik des Denkens -
[4/4]

"Innerhalb einer geschichtlich gegebenen Kulturgesellschaft herrscht eine gewisse Gleichartigkeit der ästhetischen Bewertungen, zum Teil wohl geradezu erzeugt durch eine propagandistische Verkündigung von Werturteilen. Eine tonangebende Bildungsschicht standardisiert gewisse ästhetische Bewertungsweisen. Ein Stil der Themenbehandlung, aber auch eine Richtung der Themenwahl finden Beifall und der durch diesen Beifall einer engeren Elite gesteuerte Auslesevorgang auf dem Kulturmarkt führt zu einer ästhetischen Gewöhnung des breiteren Publikums."

"Es gibt kaum eine irgendwo verpönte Handlungsweise, die nicht in irgendeiner anderen, vergangenen oder gegenwärtigen, Gesellschaft zugelassen, ja vielleicht geboten wäre. Das gilt vom Lügen bis zur Blutrache, vom Inzest bis zum Kannibalismus. Und es läßt sich mit logischen Gründen wahrhaftig nicht beweisen, daß die eine Moral richtig, die andere falsch ist."

"Als Mord bezeichnet man allenthalben die Gesamtheit der sozial mißbilligten Fälle einer Vernichtung fremden Lebens. Der Scharfrichter dagegen tut seine Pflicht, der Soldat ist ein Held - wenn er Menschenleben vernichtet. Um freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben vom moralischen Makel zu befreien, mußte man daher den Ausdruck Selbstmord durch Freitod ersetzen. Die Menschen sind eben sehr verschiedener Meinung darüber, wann und unter welchen Umständen die Vernichtung von Menschenleben verwerflich, wann zulässig, wann sogar löblich ist."

"Werturteile aller Art beruhen darauf, daß persönliche oder kollektiv gleichartige Primärbewertungen, d. h. Gefühlsverhältnisse von Personen zu einem Gegenstand in Eigenschaften des Gegenstandes umgedeutet, d. h. objektiviert werden. Dinge sind nicht schön oder häßlich, Handlungen sind nicht gut oder böse, usw., sondern Personen oder Personenkreise finden Gefallen oder Mißfallen an ihnen, billigen oder mißbilligen sie."


Kapitel IV
Das Werturteil
- eine ideologische Aussage

Die erkenntniszulässigen Aussagen über eine Wirklichkeit stellen entweder fest, daß X so und so oder daß Y dies und das ist, oder man kann sie auf die Form eines solchen "Ist-Satzes" bringen, ohne ihnen einen Zwang anzutun. Ich nenne solche Sätze theoretische Aussagen. Von ihnen unterscheiden wir solche Sätze wie: "Ach, wer sich doch ein Auto leisten könnte!" (Wunschsatz), oder "Du sollst nicht lügen!" (Forderungssatz), oder "Oh, über die Grausamkeit des Schicksals!" (Gefühlsausbruch), oder "Laß meinen Hund in Ruhe!" (Befehlssatz) und andere Arten verbaler Äußerung.

Eine theoretische Aussage, d. h. ein Ist-Satz, verbindet zwei Begriffe durch das Zeitwort "ist", indem dieses nicht als Hilfsverbum gebrauccht wird, sondern entweder A als identisch mit B oder A als gleich B bezeichnet, oder in dem Sinne, daß A unter den weiteren Begriff B fällt, oder daß B eine der kennzeichnenden Eigenschaften von A ist. Solche Aussagen genügen der im vorigen Abschnitt aufgestellten Bedingung -: sie sind durch logische Verarbeitung von Beobachtungen gewonnen und ihr Aussage-Inhalt kann auf gleiche Weise nachgeprüft, d. h. verifiziert oder entkräftet werden.

Gewisse Sätze haben zwar die gleiche sprachliche Form "A ist B", genügen aber den erwähnten Anforderungen nicht. Solche Sätze sind z. B. die Werturteile. Sie sind im Folgenden auf ihren Inhalt, ihre Struktur und ihren Ursprung hin eingehender zu untersuchen. Leider muß ich hierin mich selbst wiederholen (1). Es wäre aber wenig praktisch, hier einfach auf die an anderer Stelle gegebene Auseinandersetzung des Sachverhalts zu verweisen und dem Leser die Mühe des Nachschlagens zuzumuten.

Hier folgt ein Beispiel für das Werturteil: "Hyazinthen sind wohlriechend" ("riechen gut"). Was hier ausgesagt wird, ist Folgendes:
    1) Es gibt Pflanzen, Hyazinthen genannt, und als solche durch gewisse sie von anderen Pflanzen unterscheidende Merkmale bestimmt. -

    2) Die Blüten dieser Pflanze haben die Eigenschaft, "wohlriechend" zu sein.
Der erste Inhalt ist richtig, der zweite steht hier zur Debatte. Wenn es wahr ist, was gezeigt werden wird, daß es die Eigenschaft "wohlriechend" oder "Wohlgeruch" nicht gibt, so ist damit festgestellt: das genannte Werturteil gehört zur weiter oben an zweiter Stelle angeführten Art ideologischer Aussagen. Es behauptet nämlich von dem in der raum-zeitlichen Wirklichkeitswelt gegebenen Gegenstand Hyazinthe, er habe die in der raumzeitlichen Wirklichkeit nicht vorfindbare Eigenschaft des Wohlgeruchs.

Man könnte sich die Arbeit leicht machen und kurz und gut feststellen: es gibt Leute, den den Geruch von Hyazinthen verabscheuen, sogar Kopfschmerzen davon bekommen. Sie teilen das positive Werturteil nicht. Wie soll man entscheiden, wer recht hat? Die Blume sagt dem Geruchssinn des einen zu, stößt den des anderen ab, aber sie kann offenbar unmöglich zu gleicher Zeit wohlriechend und das Gegenteil davon sein. Das mag als müßige Wortklauberei erscheinen, jedermann weiß ja, daß "über den Geschmack nicht zu streiten" ist. Wenn es sich nur darum handeln würde, wäre allerdings jede ernsthafte Diskussion der Sache überflüssig. Fürs Erste wird aber gezeigt werden, daß andere, sehr heiß umstrittene Werturteil ebenso sinnlos sind wie die geschmacklichen. Diese letzteren wurden hier nur als Ausgangspunkt gewählt, eben weil sie ohne Beteiligung tieferer Gefühle und ohne psychische Widerstände erörtert werden können. Zweitens ist es nicht genug, sich darüber einig zu sein, daß die Geschmäcker verschieden sind. Es ist vielmehr von großer erkenntnis-psychologischer Bedeutung zu durchschauen, wie es zugeht, daß die geschmackliche Vorliebe sich dennoch in generalisierend-sachlichen Aussagen äußert, mit anderen Worten: wie das sinnlich-geschmackliche Werturteil (und jedes andere Werturteil) zustande kommt, und welche Aussagestruktur es hat.

Was bei der Fällung des Werturteils vor sich geht, ist dies: Eine Person A steht einem wirklichen Objekt O gegenüber. Das Objekt O betrachtend stellt A eine Reihe von objektiven Kennzeichen fest, die zusammen das bestimmen, was die Sprache kraft allgemeiner Übereinkunft eine Hyazinthe nennt. Der Satz "Dieses Ding ist eine blaue Hyazinthe" ist die theoretische Aussage, die der Augenscheinprüfung des Objektes entspricht. Daß die meisten Menschen mit der Erscheinung der Hyazinthe vertraut genug sind, um "auf den ersten Blick" ihren unmittelbaren Gesamteindruck im obigen Satz ausdrücken zu können, spielt hier keine Rolle. Falls es eine der Hyazinthe sehr ähnliche andere Pflanze gibt, mag der erste Gesamteindruck trügen, und die vorschnelle Identifizierung eines Objekts als Hyazinthe wird dann durch einen Hinweis auf feinere Unterscheidungsmerkmale falsifiziert.

Gleichzeitig mit der Wahrnehmung des Objekts und seiner richtigen Zuordnung zur Kategorie geht aber noch etwas anderes, völlig a-theoretisches vor sich. A hat eine ihm angenehme (widerwärtige) Geruchsempfindung. Er schnuppert und sagt "Ah!" oder rümpft die Nase und sagt "Pfui!" Das sind keine Aussagen über den Gegenstand Hyazinthe, sondern Reaktioinen auf den Sinneseindruck, den sie macht. So weit so gut. Es ist nun aber so, daß jedesmal, wenn A ein Objekt vor sich hat, das er nach objektiven Merkmalen als Hyazinthe erkennt, sich die gleiche Geruchssensation einstellt. Dieses Begleitverhältnis ist so invariabel, daß die Geruchsempfindung des A von ihm unversehens aus der Sensationsebene in die Erkenntnisebene übertragen wird. Gründe, längliche Blätter, steifer Stengel, eine Blütentraube, bestimmte Form und - verschiedene - Farbe usw. und eine angenehme (unangenehme) Geruchssensation treten unabänderlich gemeinsam auf. Anstatt zu sagen: "Die Hyazinthe hat die und die objektiven Eigenschaften - außerdem ist mir ihr Geruch angenehm", sagt A: "... und wohlriechend." B sagt, aufgrund eines ebensolchen invariablen Begleitverhältnisses zwischen den wahrgenommenen objektiven Merkmalen der Blume und seiner unangenehmen Geruchssensation: "Die Hyazinthe ist ... und hat einen unangenehmen Geruch." Unmöglich können A und B recht haben. Aber nicht: der eine hat recht, der andere unrecht, sondern: beide reden, wörtlich genommen, Unsinn.

Drücken wir das nunmehr etwas wissenschaftlicher aus: Die sinnlich-geschmackliche Empfindung ist etwas zur Person Gehöriges, Subjektives. Dieses subjektive Verhältnis der Person zum Objekt wird im Werturteil objektiviert, in etwas sachlich Gegebenes umgedeutet, dem Objekt als eine seiner Eigenschaften zugeschrieben, und damit zum Gegenstand einer ihrer Form nach theoretischen Aussage "X ist Y" gemacht. Dieses Vorgehen ist erkenntniskritisch unzulässig. Die Aussage ist illegitim.

Heißt das, daß es illegitim ist, Dinge und andere Erscheinungen zu bewerten? Gewiß nicht. Es heißt nur, daß Werturteile erkenntnis-illegitim sind. Der Unterschied zwischen beiden ist nunmehr an einer Reihe verwandter Art deutlich zu machen.

1. Nehmen wir an, daß Sie, mein Leser (gleich mir), mit Vorliebe beim Erwachen auf nüchternen Magen eine Zigarette rauchen und sie sehr vermissen, wenn Sie keine haben können. Dieser Sachverhalt ist eine primäre Bewertung Ihrerseits. Es wäre sinnlos, den Sachverhalt als illegitim zu bezeichnen. Er ist ganz einfach Ihre unmittelbare Gefühlsreaktion ("Gefühl" in einem sehr weiten Sinn gebraucht), für die Sie nicht können. Der Moralist oder der Arzt mögen erklären, es sei verwerflich oder schädlich, der Versuchung zu folgen. Jeder mag auf seine Weise durch einen Appell an andere Bewertungen, z. B. Gesundheitsrücksichten, den von der sinnlich-geschmacklichen Bewertung ausgehenden Handlungsantrieb bei Ihnen zu überwinden suchen. Ihre primäre Bewertung bleibt davon ansich unberührt, sie wird nur als Antrieb unterdrückt. Ferner ist aber offenbar, daß ohne primäre Bewertung das Dasein stillstünde. Jede Handlung setzt eine bewußte oder unbewußte Wahl zwischen Handlungsmöglichkeiten voraus, und die Wahl ist eine vergleichende, abwägende Primärbewertung. Insoweit ist gar nich von Aussagen die Rede, sondern von psychischen Vorgängen.

2. Morgen früh, noch im Bett liegend, zünden Sie eine Zigarette an, tun einen tiefen Zug und fallen mit einem genießerischen "Ah!" in die Kissen zurück. Sie haben nichts "ausgesagt", sondern Ihrer Primärbewertung der Morgenzigarette Ausdruck verliehen. Warum sollten Sie nicht? Solche, den Grammatikern unter dem Namen Interjektion bekannte Äußerungen mögen hier bezeichnet sein als Expektoration der Primärbewertung. Man macht seinem Wohlbehagen (oder Mißvergnügen) durch einen Ausruf Luft.

3. Über Ihre Lebensgewohnheiten sprechend sagen Sie: "Für mich ist der höchste Genuß die erste Zigarette am Morgen." Das ist eine "Ist-Aussage", und als solche völlig legitim. Vielleicht sagen Sie die Wahrheit. Vielleicht - wahrscheinlich sogar - übertreiben Sie ein wenig. Im Mund des einen oder anderen könnte es sogar eine glatte Unwahrheit sein. Ein junger Mensch mag z. B. den kindlichen Ehrgeiz haben, "lasterhaft" zu erscheinen. Das alles ist hier gleichgültig. Der Aussage-Inhalt betrifft Erscheinungen in der raum-zeitlichen Wirklichkeit: den Sprechenden selbst, die Ding-Gattung Zigarette und die wiederkehrende Genußempfindung des Sprechers. Hier liegt eine reflektive Bewertungs-Aussage vor. In ihr wird mitgeteilt, welcher Art das subjektive Verhältnis des Sprechenden zum Objekt ist, nachdem der Sprecher sich über dieses sein Verhältnis zum Objekt Rechenschaft abgelegt hat. Es wird eine echte theoretische Aussage gemacht, und zwar nicht eigentlich über das Dinge, sondern über den Sprecher: "Ich bin ein Liebhaber der Morgenzigarette."

4. Jetzt erst kommen wir zum Werturteil. Ein solches geben Sie in folgender Weise ab: "Es gibt nichts Besseres als die Morgenzigarette auf nüchternen Magen." Diese Aussage ist illegitim, denn durch ihre allgemeine und sachliche Fassung wird Ihre Genußreaktion in eine dem Gegenstand selbst innewohnende, an ihm gegebene Eigenschaft übersetzt. Die Zigarette hat aber keine solche Eigenschaft "gut". Bei anderen ruft sie andere Sensationen hervor. Was man sagen kann ist etwa dies: das Objekt hat die oder jene objektive Eigenschaft, die bei mir die oder jene Sensation weckt. Auf die Hyazinthe zurückgreifend: sie strönt einen stark aromatischen, ja betäubenden Geruch aus, und der ist mir angenehm (oder nicht).

Das Werturteil also objektiviert ein subjektives Verhältnis des Sprechenden zu einem Gegenstand und macht dieses Pseudo-Objektive zum Aussagebestandteil eines Satzes von der Form theoretischer Sachaussagen. Dies ist illegitim.

Wiederum mag man einwenden: Du drischst leeres Stroh. Das alles wissen wir schon lange. Und was für einen Unterschied macht es denn schon, ob ich sage "sie schmeckt mir" oder "sie ist wohlschmeckend"? Jedermann weiß, was ich meine und daß ich nur für mich spreche.

Gerade das Letzte ist gar nicht so sicher. Haben Sie nie gehört, wie eine Mutter ihren Kindern, die ein Gericht nicht essen wollen, lang und breit erzählt "es schmeckt doch köstlich"? Oder wie A den B einen sonderbaren Kauz nennt, er könnte Austern nicht leiden, er "wisse nicht, was gut ist"? Lassen wir aber die sinnlich-geschmacklichen Werturteile, über deren Sinnlosigkeit zumindest grundsätzlich alle einig sind, wenn auch in der Praxis die Vorstellung ihrer objektiven Gültigkeit immer noch unbewußt wirksam ist.

Was für die sinnlich-geschmacklichen Werturteile gilt, kann vor anderen Werturteilen nicht Halt machen. Sobald wir aber zum künstlerisch-ästhetischen Werturteil übergehen, ist die "Duldsamkeit" (es gibt da gar nichts zu tolerieren!) schon sehr viel zweifelhafter. Wenn es mir beikommt, die sixtinische Madonna "geleckten Kitsch" zu nennen, fallen die "gebildeten Leute" über mich her und erklären mir, wie "wunderbar schön" das Gemälde ist und daß ich "einen schlechten Geschmack" habe oder "von Kunst nichts verstehe". Ich möchte wissen, warum. Ich kann nun einmal diese Madonna nicht leiden, mir ist jeder beliebige EL GRECO lieber und wenn mir jemand einwendet, ihm seien die ausgemergelten, verrenkten Gliedmaßen zuwider, da seien doch die rundlichen Weiber des RUBENS eine ganz andere Augenfreude - so lasse ich ihm das Seine.

Warum aber werden ästhetische Werturteile so viel ernster genommen als sinnlich-geschmackliche? Ich glaube eine Erklärung dafür anbieten zu können. Es ist - in unseren Gesellschaften jedenfalls - ohne weiteren Belang für die Umwelt, ob ich Kaviar oder Kalshaxen vorziehe, ob ich lieber Rotwen oder Bier trinke, Rosen oder Nelken auf meinen Tisch stelle. Mit Kunst, Musik, Literatur ist das anders. Innerhalb einer geschichtlich gegebenen Kulturgesellschaft herrscht eine gewisse Gleichartigkeit der ästhetischen Bewertungen, zum Teil wohl geradezu erzeugt durch eine propagandistische Verkündigung von Werturteilen. Eine tonangebende Bildungsschicht standardisiert gewisse ästhetische Bewertungsweisen. Ein Stil der Themenbehandlung, aber auch eine Richtung der Themenwahl finden Beifall und der durch diesen Beifall einer engeren Elite gesteuerte Auslesevorgang auf dem Kulturmarkt führt zu einer ästhetischen Gewöhnung des breiteren Publikums. Für diese Kreise der nicht selbst Kunstverständigen spielt dabei die Autorität teils der Experten, teils der "Gebildeten" eine erhebliche Rolle. Ja, im Bereich dieser Wertungen darf auch der Einfluß des Snobismus nicht unterschätzt werden. Durch die Äußerung eines bestimmten Geschmackes gesellt man sich zu den "besten Kennern" und das davon erwartete soziale Prestige mag sehr wohl zu Geschmacksheuchelei Anlaß geben. In zweiter Linie bewirkt dann die Gewöhnung an Werke einer vorherrschenden Stilrichtung geradezu eine gewisse Unempfänglichkeit für das Abweichende, Neuartige. Es sind immer die sehr engen Kreise in ihrem sozialen Ansehen von Orthodoxie unabhängiger Kenner, die den Bann des Herkömmlichen brechen.

Sofern eine allgemeine Bewertungsattitüde sich einmal durchgesetzt hat, findet der Anspruch des sie ausdrückenden Werturteils auf objektive Geltung eine weitere Stütze eben in der allgemeinen Übereinstimmung. Wenn die meisten anderen das Objekt so bewerten wie A, schließt A hieraus, daß der Wert im Objekt selbst begründet sein muß. Kollektive Übereinstimmung mag objektive Gültigkeit vortäuschen - begründet sie aber sicherlich nicht. Andere Zeiten und andere Gesellschaften - heute sogar andere Kreise in der gleichen Gesellschaft - werten ästhetisch anders.

Auch das Werturteil "schön" und "unschön" ist nichts anderes als eine Umdeutung des Gefallens oder Mißfallens in eine dem Kunstwerk selbst innewohnende Qualität. Ich spreche da nicht von der kunstwissenschaftlichen Analyse, die heute zumeist andere, sehr viel sachlicher begründete Maßstäbe anlegt. Geht man nun aber gar zu den sittlichen Werturteilen über, so erregt der Widerspruch gegen sie oder die Zerpflückung ihrer Gültigkeit geradezu ein Ärgernis. Darum wurde ja die gegenwärtige Analyse beim gefühls-indifferenten sinnlichen Werturteil angesetzt. Am sittlichen Werturteil sind stärkste soziale Interessen beteiligt. Das moralische Verhalten des A - und die moralischen Primärbewertungen, die ihm motivisch zugrunde liegen - sind für seine Mitmenschen von vitaler Bedeutung. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind durch gesellschaftliche Institutionen geregelt. Der überpersönliche Druck, den die Gesellschaft auf den Einzelnen ausübt, um ihn zur Innehaltung gewisser Handlungsmuster zu bewegen, erweckt hier im höchsten Grad den Eindruck, die Handlungen seien ansich gut oder böse. Die beifällige oder abfällige Reaktion der öffentlichen Meinung oder einer Gruppenautorität, aber auch die Erziehung von Jugend auf tun das ihre dazu.

Nun wissen wir aber sehr wohl, daß es kaum eine irgendwo verpönte Handlungsweise gibt, die nicht in irgendeiner anderen, vergangenen oder gegenwärtigen, Gesellschaft zugelassen, ja vielleicht geboten wäre. Das gilt vom Lügen bis zur Blutrache, vom Inzest bis zum Kannibalismus. Und es läßt sich mit logischen Gründen wahrhaftig nicht beweisen, daß die eine Moral richtig, die andere falsch ist. Die Handlung selbst kann also nicht gut oder böse sein. Sie wird nur hier so, dort anders bewertet. Heute bewerten sogar die öffentlichen Meinungen verschiedener Schichten der gleichen Gesellschaft gewisse Handlungsweisen verschieden, ja widersprechend. Kurzum: eine Gesellschaft verpönt nicht eine Handlungsweise, weil sie schlecht, prämiiert nicht eine andere, weil sie gut ist, sondern: die Gesellschaftsglieder legen einer von der Gesellschaft verpönten Handlungsweise die negative Werteigenschaft "böse", der prämiierten aber die Werteigenschaft "gut" bei.

Auch dem moralischen Werturteil liegt also dies zugrunde: Handlung X wird sozial mißbilligt. Statt zu sagen: "Wir mißbilligen die Vernichtung von Menschenleben durch Menschenhand" (reflektive Bewertungskundgabe), sagt man "Mord ist verwerflich". Wohlgemerkt: "Mord". Das ist schon eine suggestive Bewertung, nicht etwa die sachliche Kennzeichnung eines Tatbestandes. Als "Mord" bezeichnet man allenthalben die Gesamtheit der sozial mißbilligten Fälle einer Vernichtung fremden Lebens. Der Scharfrichter dagegen "tut seine Pflicht", der Soldat "ist ein Held" - wenn er Menschenleben vernichtet. Um freiwilliges Ausscheiden aus dem Leben vom moralischen Makel zu befreien, mußte man daher den Ausdruck "Selbstmord" durch "Freitod" ersetzen. Die Menschen sind eben sehr verschiedener Meinung darüber, wann und unter welchen Umständen die Vernichtung von Menschenleben verwerflich, wann zulässig, wann sogar löblich ist.

Indem man eine Handlungsweise als gut oder schlecht bezeichnet, denkt man sich entweder, daß gut und schlecht Eigenschaften sind, die der Handlung als solcher innewohnen, sie in ihrer Tatsächlichkeit kennzeichnen, oder daß es einen Wert des Guten (und den Unwert des Bösen) gibt, an dem die Handlung teilhat, oder den sie verkörpert. Weder das eine noch das andere ist in der Erkenntniswirklichkeit vorfindbar. Alles Versuche der Moralphilosophie, ein allgemein und objektiv gültiges Moralsystem zu begründen, sind daher kläglich fehlgeschlagen (2).

Stellen wir also zunächst Folgendes als Ergebnis fest. Werturteile aller Art beruhen darauf, daß persönliche oder kollektiv gleichartige Primärbewertungen, d. h. Gefühlsverhältnisse von Personen zu einem Gegenstand in Eigenschaften des Gegenstandes umgedeutet, d. h. objektiviert werden. Dinge sind nicht schön oder häßlich, Handlungen sind nicht gut oder böse, usw., sondern Personen oder Personenkreise finden Gefallen oder Mißfallen an ihnen, billigen oder mißbilligen sie. Man beachte wohl: wenn hier gesagt wird, es sei nicht wahr, daß die Vernichtung von Menschenleben verwerflich ist, so heißt das nicht, daß die Vernichtung von Menschenleben erlaubt oder gar löblich ist. Die Umkehrung eines Werturteils wäre ebenfalls ein (entgegengesetztes) Werturteil, und also ebenso erkenntnis-illegitim.

Das in diesem Kapitel bisher Gesagte stimmt seinem wesentlichen Inhalt nach mit der Lehre der als Uppsala-Philosophie bekannten schwedischen Schule AXEL HÄGERSTRÖMS und seiner Nachfolger überein, wenn auch das Ergebnis in anderer Weise entwickelt ist. Von nun an aber trenne ich mich entschieden von dieser Gruppe.

Nachdem nämlich die Uppsala-Philosophen den Ursprung des Werturteils aufgedeckt haben, räsonnieren sie wie folgt: Eine theoretische Aussage ist eine Aussage über ein Etwas. Das Werturteil ist eine Äußerung über ein Nichts. Denn dem Wort "Wert" entspricht keinerlei in der raum-zeitlichen Wirklichkeit Gegebenes. Das Werturteil ist daher nichts anderes als eben der Ausdruck für das Gefühl (der Billigung, des Gefallens usw.), auf das es zurückgeht. Es besagt um kein Haar mehr, als wenn der Urteilendes "Ah!" oder "Pfui!" ausrufen würde. Das Werturteil ist somit eine theoretisch sinnlose Aussage. Sie enthält keine theoretische Meinung. Die Vertreter der Schule, und an ihrer Spitze HÄGERSTRÖM, ziehen daraus die erstaunliche Konsequenz, daß sie selbst leidenschaftliche Werturteile abgeben. "Warum", sagen sie, "sollten wir das nicht tun, da wir doch wissen, daß wir damit nicht das Geringste aussagen?"

Es ist nun aber nicht wahr, daß das Werturteil ohne theoretischen Sinn ist. Seine Genesis ist keineswegs entscheidend für seine Struktur und seinen intendierten Sinn. Was dem Werturteil zugrunde liegt, ist allerdings nur ein sensuelles oder emotionales Verhältnis des Urteilenden zum Urteilsgegenstand. In seiner Einbildung hat er aber dieses subjektive Verhältnis in eine dem Gegenstand innewohnende Eigenschaft umgedeutet. Tatsache ist, daß er die Lüge verabscheut, aber er sagt, daß die Lüge selbst schlecht ist. Am Beispiel moralischer Werturteile läßt sich das gelegentlich sehr klar aufweisen. XY erklärt: "Ich verabscheue Lügen." Nach dem Grund befragt, antwortet er: "Weil Lügenhaftigkeit ein schlechter Charakterzug ist", oder: "Weil die Lüge verwerflich ist." Was geht hier vor? Die genetische Analyse des Werturteils hat gezeigt, daß die Kennzeichnung der Lüge als "schlecht" oder "verwerflich" nichts anderes ist als eine Objektivierung des persönlichen Abscheus oder der gesellschaftlichen Verpönung des Lügens. Zuerst also wird das Mißbilligungsgefühl objektiviert. Hierauf aber wird diese Schein-Objektivierung als rationaler Grund für die Mißbilligung angeführt.

Wenn XY sagt: "Fremdes Leben ist heilig" oder "Tierquälerei ist verwerflich", meint er wirklich, was er sagt. Oder, um mich in der Sprache auszudrücken, die ich mir durch die Beschränkung auf eine Kritik von Aussagen selbst auferlegt habe: die Aussage ist ihrer Struktur gemäß zu beurteilen. Ihrer Genesis nach mag die Aussage aus der Gefühlssphäre stammen und insofern theoretisch sinnlos sein. Indem aber der Sprechende sein subjektives Verhältnis zum Urteilsgegenstand in ein Werturteil kleidet, gibt er ihm die Form einer Ist-Aussage. Als solche tritt das Werturteil mit dem Anspruch auf objektive Geltung auf. Sie gibt sich als Erkenntnisaussage. "Wer das Gegenteil oder auch nur etwas anderes behauptet, hat unrecht" - dies ist in diesem Werturteil impliziert. Es prätendiert [gibt vor - wp], eine theoretische, als Erkenntnis gültige Aussage zu sein. Als solche ist es aber illegitim, weil das, woraus es sich bezieht, keine Erkenntniswirklichkeit hat. Die Objektivierung von Bewertungen in einer Wertidee ist illusionär. Das Werturteil ist eine Ist-Aussage über ein nur vermeintliches Etwas. Ihre Illegitimität beruth auf der Unvereinbarkeit ihrer Struktur mit ihrem Inhalt.

Dies ist der Sachverhalt der Ideologie. Sie liegt in der Objektivierung des Nicht-Objektiven, der Theoretisierung des A-Theoretischen. Sie ist Pseudo-Theorie, besser vielleicht als Para-Theorie zu bezeichnen. Darum ist sie "nicht falsch im gewöhnlichen Sinn". Sie ist logisch gesprochen weder wahr noch falsch. Da gar nicht von etwas Wirklichem die Rede ist, sondern von der Jllusion einer Wirklichkeit, liegt hier nichts vor, das durch eine logische Verarbeitung von Beobachtungen berichtigt oder widerlegt werden könnte. Die Kritik setzt da tiefer an. Sie erklärt die Aussage für erkenntnis-illegitim oder para-theoretisch und insofern für unvereinbar mit der Wirklichkeitserkenntnis.
LITERATUR: Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, Stuttgart/Wien 1953
    Anmerkungen
    1) "Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts", Kopenhagen 1947, Seite 255f.
    2) Genaueres über das sittliche Werturteil und die Folgen der hier entwickelten Theorie für Rechtsordnung und Gesellschaftsmoral findet sich in meinen "Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts", 1947.