ra-2E. BoutrouxW. HerrmannSimmelW. JamesE. FrankJ. F. Fries    
 
RUDOLF OTTO
Naturalistische und
religiöse Weltansicht

[1/2]

"Glauben hat immer geheißen gegen den Schein gehen. Er ging dagegen nicht aus Halsstarrigkeit oder unverbesserlichem Unverstand, sondern weil er starke, unaufhebbare Gründe hatte, den Anschein wirklich als Schein zu nehmen."

"Man will nichts anderes sein als schlechthin exakt und rechnet doch eben Goethe und Bruno  unter die großen Heiligen des eigenen Glaubens und setzt ihre Verse und Aussprüche als Credo und Motto der eigenen Meinung voran. Auf diese Weise entsteht eine Weltanschauung so kautschukartig und so proteusmäßig, daß mit ihr sich auseinanderzusetzen ebenso schwierig wie undankbar ist. Versucht man, sie bei ihrem Stimmungsrand und mitaufgenommenen Idealismus zu fassen, so zieht sie sich in ihre exakte Hälfte zurück. Will man sie auf diese einschränken, um so eine Möglichkeit der Auseinandersetzung zu finden, so breitet sie alle Herrlichkeiten eines großen Naturpantheismus aus, bis hinauf zu den Ideen des Guten, Wahren und Schönen. Und nur eines unterläßt sie, nämlich zu zeigen, wie so verschiedene Hälften zusammenkommen und innerlich zusammenhängen können."


Fromme Weltansicht

Die Aufschrift dieses Buches, indem sie die naturalistische und die religiöse Weltansicht nebeneinanderstellt, will als Inhalt und Gegenstand des Folgenden das Verhältnis angeben, nämlich den Widerstreit beider zueinander festzustellen, um dann zu versuchen, diesen Widerstreit aufzulösen und Recht und Freiheit der frommen Weltansicht gegenüber der naturalistischen Bestreitung zu erweisen. Dabei ist ohne weiteres vorausgesetzt, aß es überhaupt ein Verhältnis und die Möglichkeit eines Zusammentreffens beider gibt. Ist das zuzugeben? Wäre es nicht möglich und für beide Teile das erwünschteste, wenn gar kein solches Beziehungsverhältnis und damit auch kein Widerstreit stattfände oder stattfinden könnte? Und liegt es nicht wirklich so? Wir sind doch wohl heute weit genug abgerückt von jenen Anfangsstufen einer religiösen Vorstellungsweise, die sich in einer Erschaffung der Welt in sechs Tagen fing und in der Bildung Evas aus Adams Rippe, im Paradiesmythus und den engelhaften und dämonischen Kräften, in den nachhelfenden Wundern und mitfolgenden Zeichen, in denen die göttliche Weltleitung sich offenbaren sollte. Wir haben doch wohl gelernt, den schlichten mythischen oder legendären Vorstellungsstoff religiöser Urkunden zu unterscheiden von ihrem religiösen Stimmungswert und ihrem moralischen Gehalt. Wir können der Naturwissenschaft geben, was der Naturwissenschaft, und dem frommen Empfinden, was ihm gebührt, und sind damit des ermüdenden apologetischen Streitens ledig. - Gut, wenn wir soweit wirklich sind. Aber die Beziehungen und deswegen die möglichen Konflikte zwischen Religion und Welterkennen sind damit nicht aufgehoben. Keine wirklich vorhandene Frömmigkeit ist so sehr  Gefühl  oder  ganz Innerlichkeit  oder Stimmung, daß sie nicht doch irgendwelche Ansprüche an Wesen und Wert der Welt machen müßte und bei genauerer Innenschau irgendein festeres oder loseres Gerüst von Überzeugungen, theoretischen Annahmen und Voraussetzungen über Mensch und Welt und Dasein in sich fände, irgendeine einfachste Form von  Weltansicht  also, die sich zu vergleichen hätte mit den Ansichten der Dinge, wie sie uns ein allgemeines Welterkennen in Natur- und Geschichtswissenschaft, in Einzelwissenschaft, Erkenntnislehre und etwa in Metaphysik vorträgt, die sich an ihm und mit ihm messen müßte, von ihm vielleicht Unterstützung und Bestätigung, vielleicht aber auch Widerspruch und Aufhebung erfahren könnte. Keine Frömmigkeit, auch nicht die sublimierteste und anspruchs- weil inhaltsloseste gibt es, ohne ein ganz schmales Credo, ohne einen Glauben, der ein Fürwahrhalten einer Reihe von Begriffen und Sätzen - und wären es verschwindend wenige - in sich schließen würde. Und daß diese Sätze für wahr gehalten werden dürften, daß sie mit anderen andersweitig über Natur und Welt erkannten Sätzen und Wahrheiten nicht streiten, das zu erweisen bliebe ihr immer übrig. Reden wir aber nicht von allerhand Sublimaten und Kunsterzeugnissen von Frömmigkeit, sondern von ihr selbst, so ist gewiß, daß solange es solche gibt und geben wird, es auch um sie her einen bestimmten Rand und Hof frommer  Weltansicht  gibt, mit dem sie zwar nicht einfach einerlei ist, ohne den sie aber nicht gedacht werden kann: das heißt, eine Reihe bestimmter eigentümlicher Überzeugungen von Welt und weltlichem Sein, von ihrem Sinn, ihrem Woher und Wozu, vom Menschen und vom Menschengeist, von seiner Stellung in der Welt, von seiner Aufgabe und seiner eigentümlichen Würde und seiner Bestimmung, von Zeit und Raum, von Ewigkeit und Unendlichkeit, von der Tiefe und dem Geheimnis des Seins überhaupt. Diese Überzeugungen und ihre Grundzüge lassen sich im Einzelnen und Ganzen genau genug präzisieren und wir werden es unten tun. Und viel liegt der Frömmigkeit daran, daß solche ihre Voraussetzungen und Überzeugungen frei und Recht bestehen können. Sie sind gleichsam ihre Grund- und Mindestforderungen, die sie an eine Weltanschauung überhaupt zu stellen hat, wenn sie existieren können soll. Und sie sind so beschaffen, daß sie, auch wenn man sie aus ihrer altväterlichen und naiven Form und Gebundenheit löst und sie zu spekulativer Entfaltung und Freiheit führt, dennoch, eben weil sie immer eine Weltanschauung in sich enthalten, freundlich oder feindlich, aber irgendwie immer, in Vergleich, in Berührung, in ein Verhältnis zu einem anders erwachsenen Weltverständnis geraten müssen. Je nachdem sich das letztere gestaltet, kann das Verhältnis freundlich oder feindlich sein. Es ist keine fromme Weltanschauung vorstellbar, deren Begriffsnetz so weitmaschig, deren Bestandteile so elastisch oder luftig und leicht gegeneinander zu verschieben wären, daß schlechterdings jede theoretisch erkannte Ntur und Welt ohne Druck und Reibung durch sie hindurchginge und darum für sie annehmbar wäre. Es ist zwar oft genug erklärt worden, daß Religion ohne Besorgnis um sich selber die theoretische Welterkenntnis ihre Wege gehen lassen kann. Der stille Rückhalt dabei war immer der, daß diese doch nie die eigentliche Tiefe und den Sinn der Dinge erreichen kann. Vielleicht ganz mit Recht. Aber dann bestand doch eben diese Voraussetzung. Und wenn kein anderes so hatte Religion doch eben dieses - eminente - Interesse an einer allgemeinen Weltsicht, daß sich an ihm seine Schranken aufzeigen und sich als unaufhebliche nachweisen lassen, sie selber aber hinter jenen Schranken sicher wohnt. In Wahrheit hat sie nie aufgehört, ihren niemals ruhenden und oft besorgten Blick den Veränderungen, den Fortschritten, den wirklichen Erfolgen und den hypothetischen Versuchen auf dem Gebiet einer allgemeinen Weltanschauung zuzuwenden und den Ausgleich mit ihr immer neu zu vollziehen.

Gar nicht das einzige und nicht einmal das hauptsächlichste aber allerdings ein großes Interesse hat sie dabei am besonderen Gebiet des Weltverstehens und theoretischen Begreifens, das die Naturwissenschaften umfassen. Und im Folgenden wollen wir eben dieses Interesse zu dem unseren machen, indem wir versuchen, zu prüfen, ob und wie unser heutiges Naturerkennen in zu jenen  Mindestforderungen  einer frommen Weltansicht (die wir unten näher kennenlernen) in Spannung steht oder ob es sich ihnen und einer frommen Weltansich überhaupt freundlich einfügt. Eine solche Betrachtung bräuchte nicht notwendig  apologetisch  [rechtfertigend - wp], nämlich auf Abwehr gerichtet zu sein, sondern könnte rein prüfend verfahren. Denn in Wahrheit sind die reinen Ergebnisse der Forschung weder heute noch früher  aggressiv,  sondern an und für sich gegen religiöse so gut wie gegen jede idealistische Betrachtung in der Tat ganz neutral und sie überlassen es sozusagen den höheren Betrachtungsweisen, wie diese den Stoff in ihre Fächer und unter ihre Gesichtspunkte aufnehmen wollen. Zur Abwehr und Verteidigung wird unser Unternehmen erst dadurch, daß nicht aus Willkür oder Gottlosigkeit, sondern mit einer noch zu beschreibenden relativen Notwendigkeit die naturwissenschaft Erkenntnisse, im Bund mit anderen Überzeugungen und Motiven, sich leicht zu einem eigentümlichen, selbständigen Ganzen von Weltbedeutung zusammenzuschließen trachten, das, wenn es richtig und ausreichend wäre, eine fromme Weltansicht in die Enge treiben oder unmöglich machen würde. Dieses selbständige Ganze ist der Naturalismus. Seiner Angriffe hat sich die fromme Weltansicht verteidigend zu erwehren.

Mittelpunkt

Dabei sind nun von vornherein und für immer folgende Gesichtspunkte ins Auge zu fassen und immer festzuhalten, wenn nicht alle unsere Bemühungen ganz in die Irre gehen und sich nicht auf ganz falsche Ziele richten sollen.

Erstens nämlich. Worauf alles ankommt und allein ankommen kann, das ist, Recht und Freiheit der frommen Weltansicht gegenüber einem allgemeinen Welterkennen zu erweisen, nicht aber jene ohne weiteres aus diesem abzuleiten. Soll Frömmigkeit leben können, so muß sich zeigen lassen und läßt sich auch zeigen, daß ihren Überzeugungen von Welt und Menschendasein von anderer Seite keine Hemmung widerfährt, daß sie möglich sind und als wahre geglaubt werden dürfen. Es läßt sich vielleicht auch zeigen, daß ein ruhiges und unvoreingenommenes Betrachten der Natur und ein physisches und metaphysisches Nachdenken über die Dinge ihren Deutungen vielfach entgegenkommen, ihren von ihr zuvor schon besessenen Glaubensüberzeugungen somit Bestätigung und Bewährung leihen. Aber ganz falsch wäre es, zu meinen, daß man die fromme Weltansicht aus der Natur selber ablesen und erstmalig ablesen muß als Quelle und Beweis der frommen Welterkenntnis. Eine Apologetik, die darauf ausginge, würde ihre Kräfte weit überschätzen und nicht nur einen zu großen Einsatz wagen, sondern die Sache der Religion selber schädigen und die ganze Fragestellung verderben. Es ist wohl oft so verfahren worden. Und die alte Praxis der  Gottesbeweise  ging ganz in dieser Richtung. Hier glaubte man ernsthaft, mehr und anderes leisten zu können als freie Fahrt und Bahn für die fromme Überzeugung im Zusammenhang der Erkenntnis. Man meinte ernsthaft, die Gotteserkenntnis selber gewinnen und ablesen zu können aus Natur, Welt, irdischem Dasein, und so die Sätze frommer Weltansicht nicht sowohl in Freiheit zu setzen und etwa zu bewähren, sondern auch gründlich zu beweisen und erstmalig zu gewinnen. Die Kraft des Beweismaterials wurde sehr überschätzt, die Natur allzusehr nach den Seiten ihrer Harmonie, ihres staunenswerten Reichtums und ihrer planvollen Weisheit, ihrer sinnvollen Einrichtungen und endlosen Zweckmäßigkeiten geschätzt, und zu wenig auf die Menge des Unvernünftigen und Sinnlosen, des Rätselhaften, Verworrenen und Dunklen geachtet, das sie ebensosehr enthält. Allzubehende wurde von endlichen Dingen auf eine unendliche Ursache geschlossen und allzuwenig wurde das Recht oder die Notwendigkeit eines solchen Schlusses geprüft. Vor allem aber übersah man die Hauptsache. Denn selbst wenn diese Beweise noch viel besser vonstatten gegangen und so zulänglich gewesen wären, wie sie unzulänglich waren, so ist doch sicher, daß Frömmigkeit und fromme Weltansicht niemals durch sie in die Welt gekommen sind, sondern immer schon da waren, bevor man solche Erwägungen anstellte. Lange vor ihnen entsprang sie und aus ganz andere Quellen. Diese Quellen liegen tief in Gemüt und Geschichte. Ihnen nachzudenken, ihren Ort aufzuweisen, ist eine Arbeit für sich, die ins Gebiet der Religionspsychologie, Religionsgeschichte und -Philosophie hineingehört und hier nicht geleistet, sondern vorausgesetzt werden muß. Aus diesen Quellen kommend, lebt Frömmigkeit längst ihr Leben für sich, gestaltet ihre Glaubensüberzeugungen von Welt und Dasein, besitzt sie als ihre Erkenntnisse und Wahrheiten und führt ihre Beweise für ihre Gültigkeit und gewinnt ihre Gläubigen zur Anerkennung und inneren Annahme ihrer Wahrheiten aus ganz anderem Grund und mit anderen Mitteln als denen der  Gottesbeweise.  Begriffe und Erkenntnisse, die nicht so entstanden sind, würden wir schwerlich überhaupt zu den religiösen rechnen, auch wenn sie solchen ähnlich sehen. So erwachsen kommt dann fromme Weltansicht mit allgemeinem Erkennen in Berührung, und nun kann ein Verhältnis von Bewährung oder auch Widerstreit entstehen. Nun läßt sich fragen, ob die Überzeugungen und Begriffe, die bisher rein von innen her und auf ihre Weise sich etwa vor Gemüt und Gewissen als Erkenntnisse und Wahrheiten behauptet hatten und anerkannt waren, sich behaupten und möglich bleiben gegenüber den Einsichten, welche die Forschung und eine Naturerkenntnis uns geben. - Um ein Beispiel zu geben und gleich das höchste: die fromme Erkenntnis vom Walten einer ewigen Vorsehung kann gar nicht wirklich durch einen Beweis aus einer Betrachtung von Natur oder Geschichte direkt abgelesen und nachgewiesen werden. Hatten wir sie nicht zuvor, so schafft sie uns kein Gottesbeweis und keine Apologetik. Aufgabe einer Apologetik, die ihre Grenzen und eigentlichen Ziele kennt, kann nur sein zu prüfen, ob für diese religiösen Erkenntnis Raum und Freiheit ist im natürlichen Welterkennen, zu zeigen, daß dieses um seiner natürlichen Schranken willen kein Vermögen hat, den höchsten Sinn der Welt abzusprechen, und an der Welt und der Natur solche Merkmale nachzuweisen, die uns in Freiheit setzen, das Geschehen in ihr einer Betrachtung nach Zwecken und höchsten Ideen zu unterwerfen. Es ist so mit allen Begriffen und Erkenntnissen der frommen Weltansicht überhaupt. Wirklich erweisen aus einer Betrachtung der Natur läßt sich von ihnen kein einziger, schon deswegen nicht, weil sie viel zu tief sind, als daß ein gewöhnliches Räsonnement an sie heranreichen könnte und von viel zu eigentümlichen Inhalten und Begleitwerten, als daß etwa eine Naturbetrachtung oder Weltdeutung sie nach ihrer Eigenart treffen könnten. Damit ist abe auch gleich klar, daß alle Apologetik immer der Frömmigkeit nur nachkommen, niemals ihr voraufgehen kann. Frömmigkeit läßt sich nur erwecken, nicht anbeweisen. Die schon erweckte kann sich besinnen auf ihr Recht und ihre Freiheit. Aber sie allein wird beides wirklich einsehen. Und abgelesen von ihr oder von ihrem Vorhandensein ist alle derartige Bemühung ziemlich eitel und obendrein von ihren eigenen höchsten Autoritäten nachdrücklichst verboten worden (Matthäus, 23,15).

Fast noch wichtiger ist das zweite. Frömmigkeit hält und führt ihre Weltansich und ihre Auffassungen von Wesen und Sinn der Dinge wahrlich nicht so, wie etwa Poesie ihre luftigen feinen Gespinste und Träume, die allen ihren Wert darin haben, daß sie Stimmungen wecken und ein Spielen des Gemütes erregen, die nur heiter oder traurig, elegisch oder idyllisch, lieblich oder großartig sein wollen, aber ganz gleichgültig sind gegen wahr und falsch. Dies ist vielmehr der bezeichnendste Unterschied der Frömmigkeit gegen alles  Gestimmtsein  und alle poetische oder phantastische Naturbetrachtung, daß sie von der Gewißheit ihrer Vorstellungen lebt, an ihrer Ungewißheit leidet und an ihrer Unmöglichkeit stirbt, sie mögen übrigens so lieblich oder so tröstlich, so grandios oder so schlicht sein wie sie wollen. Ihre Weltansichten sind nicht Gedichte, sondern Überzeugungen, und diese müssen nicht in erster Linie gefällig, sondern wahr sein können. (Daher kommt es, daß aus der Frömmigkeit auch Kritik geboren werden kann. Denn sie sucht, um ihrer selbst willen, sichere Gründe.) Und in dieser Hinsicht ist die fromme Weltansicht ganz in einer Linie mit einer Weltansicht überhaupt. Beide wollen durchaus etwas sagen, was wirklich ist. Sie wollen nicht bunte Ränder und Kränze um die Wirklichkeit legen, um sie in Stimmungen getauch zu genießen, sondern meinen, sie ihrem Wesen nach zu verstehen und anzugeben. Dabei aber fällt sogleich doch ein eigentümlicher Unterschied auf zwischen Sätzen und Aussagen frommer Weltansicht und denen der profanen, ein Unterschied nicht nur dem Inhalt ihrer Aussagen nach, der sich ja von selbst versteht, sondern der Form, der ganzen Art und Weise, dem Klang beider nach.  Ihr gebt nie zu, daß sie mit dem festen Tritt einhergeht, - kann man mit  Schleiermacher  sagen - dessen das allgemeine Erkennen fähig und an dem es kenntlich ist. Die Weise religiöser Gewißheit ist viel feiner, zarter gewebt, verletzlicher als die robustere der gewöhnlichen Erkenntnis. Auch wo eine fromme Gewißheit in einem gläubigen Gemüt die vollste Sicherheit erreicht hat und der Gewißheit des sinnlich wahrgenommenen und täglich erlebten an Stärke eher überlegen ist als weicht, und gerade da am meisten, weiß man um den eigentümlichen Unterschied. Der Gläubige weiß vielleicht viel zuversichtlicher um die  Fürsorge seines himmlischen Vaters  oder um  das ewige Leben  als er um dieses hiesige und seine undeutlichen und schwankenden Erfahrungen und Inhalte weiß. Aber er weiß um jenes in anderer Weise als um dieses. Die Wahrheiten der frommen Weltansicht lassen sich mit den allgemeinen und tagtäglichen nicht auf eine Schnur ziehen. Und wenn die Seele von der einen zur andern übergeht, so merkt sie, daß sie dabei in eine neue und andere Art tritt. Das Wissen um Gott und Ewigkeit und um der inneren Welt und Zeit überragenden Wert des eigenen inneren Wesens läßt sich, auch seiner Form nach, nicht vermischen mit den Trivial-Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes oder den Lehrsätzen der Wissenschaft. Die Wahrheiten der Frömmigkeit teilen vielmehr auf eine besondere Weise den Charakter aller idealen Wahrheiten, die für den Alltag eigentlich gar nicht wahr, sondern ganz die Sache eines erhobenen Gemütszustandes sind. Es ist, was der alte Satz ausdrücken will:  Deus non scitur sed creditur.  [Ein Gott wird nicht gewußt, sondern geglaubt. - wp] Und die Sorbonne hatte ganz recht und schützte ein wesentliches Interesse der Frömmigkeit, als sie die Gegenbehauptung, man könne Gott  wissen,  als Ketzerei verwarf. So, wie ich  weiß,  daß ich an diesem Schreibtisch sitze, oder daß es gestern regnete, oder daß die Winkelsumme im Dreieck gleich zwei Rechten ist, soll ich gar nicht um Gott wissen. Sondern so etwa wie ich weiß, daß die Wahrheit sagen recht und Treue halten Pflicht ist: Erkenntnisse, die wahrhaftig Wirkliches und Gültiges zu sagen meinen und gewiß sind, die aber ohne mein williges Beipflichten und ohne eine stille Erhebung meines Gemütes gar nicht zustande kommen. Nur noch gesteigerter gilt dasselbe und besonders der zweite Umstand von allen religiösen Erkenntnissen. Sie weben sich aus den innersten und zartesten Erlebnissen, aus Eindrücken, die schon vergröbert sind, wenn sie nur ausgesprochen werden. Sie hängen ganz an Wertung und Schätzung nach den Maßstäben des Gewissens und Gemütes, am eigenen Taugen und der Selbstschätzung. Ihr bestes Teil liegt in der Innigkeit und Lebendigkeit des inneren Erlebens und in der freien Bejahung und Anerkennung. Nüchtern-profanen Geistes können sie gar nicht besessen werden, und was so besessen wird, ist höchstens ein gleichgültiges Analogon ihrer oder überhaupt eine Täuschung. Nur in der Begeisterung, nur im stillen Enthusiasmus leben sie auf und dringen sie durch, und nur in dem Maße wird uns die religiöse Wahrheit zu einer immer und auch am Alltag gültigen und besessenen, wie es möglich ist, jene Gemütszustände der Entprofanisierung und Erhobenheit dauernd zu machen, den Enthusiasmus als eine währende Lebensstimmung und Haltung zu behaupten. Wie dieser aller Grade und Intensitäten fähig ist, vom vollen Ausbruch und vereinzelten Höchsterhebungen herab bis zur leise fortklingenden dauernden Spannung und Erhobenheit des Gemüts, so eben auch die Gewißheit und Gegenwart unserer Erkenntnisse sei es vom Walten der göttlichen Allmacht, sei es von der höheren Natur und Bestimmung unserer selbst, sei es von welcher religiösen Wahrheit auch immer. Dies ist des PAULUS  Beten ohne Unterlaß  und sein  im Geiste sein  als dauernder Zustand und hier liegt das Recht der  schwärmerischen  Behauptung, daß Wahrheit nur in der Entzückung gefunden wird. Frömmigkeit und fromme Weltansicht ist in Wirklichkeit nichts, wenn sie nicht  merus enthusiasmus  [reiner Enthusiasmus - wp] ist, nämlich die Kunst einer dauernden inneren Erhobenheit. Und wer zu einem solchen inneren Aufschwung gar nicht oder zu wenig fähig ist, der ist für beides schlecht qualifiziert. Die  Schwarmgeister  werden im  Reich Gottes  jedenfalls immer eine bessere Figur machen und einen leichteren Eingang haben als die Hausbackenen. - Von hier fließt das Verdrießliche aller apologetischen Bemühungen und eigentlich allen Theoretisierens über Religion, sobald man von der Peripherie etwas nach innen kommen will. Denn da, um den behandelten Gegenstand nur zu verstehen, schon etwas  Schwärmerei  dazu gehört, so trifft man sich meistens gar nicht, weil eben einer oder beide nicht mitschwärmen. Oder sie schwärmen schon, und dann ist es mit der Dialektik wieder aus.

Schließlich ist zu merken, daß - mit LUTHER zu reden -  der Glaube immer wider den Schein gehet.  Die fromme Weltansicht, nicht nur nie unmittelbar aus einer natürlichen und allgemeinen Betrachtung der Dinge erwachsend, wird auch niemals einfach und glatt mit ihr zur Deckung bringen sein. Unendliche Strecken und Gebiete von Welt, Natur und Geschehen werden wir in eine fromme Betrachtung schon deswegen nicht einbeziehen können, weil sie überhaupt keiner Deutung nach höheren oder allgemeinen Gesichtspunkten fähig sind, weil sie nach Sinn und Zweck unverstanden und unbeziehbar daliegen als ewige Rätsel. Auch eine fromme Weltansicht kann niemals sagen oder sagen wollen, was Welt überhaupt und die Meinung ihres Daseins ist. Genug, wenn sie unser Dasein erhellt und unseren Platz und Zweck und uns den Sinn unserer Existenz sagt. Genug, wenn sich in dieser Beziehung die Wirklichkeit ihrer Deutung fügt, ihr Recht und Raum läßt, ihr in bedeutsamen Zeichen und Momenten entgegenkommt. Sie tut es wirklich, und es läßt sich zeigen, daß sie es tut. Und eben darin, und darin allein besteht die Arbeit einer ihre Grenzen kennenden Apologetik. Daß auch diese nur gelingen kann, wenn ein mutiger Wille zum Glauben und Freude am Glauben dahinter steht, daß viele Lücken und tausend Rätsel liegen bleiben, daß das Letzte und Höchste in der Frage nach der Weltanschauung der Entschluß und die eigene Wahl ist, die letztlich daran hängt,  was für ein Mensch man ist  und was man taugt, sollte ihr bekannt sein, wenn ihr das Wesen der Frömmigkeit, wie es  von altersher ist,  bekannt wäre. Denn zum Wesen der Frömmigkeit hat es nie gehört, daß ihr die bitteren Fragen nach der Theodizee und Gottesrechtfertigung, nach den quälenden und unlöslichen Rätseln im Geschick der Völker und des einzelnen, nach den Undurchdringlichkeiten der Naturordnung fremd waren, sondern vielmehr daß sie ohne Aufhören damit bedrängt war. Glauben hat immer geheißen gegen den Schein gehen. Er ging dagegen nicht aus Halsstarrigkeit oder unverbesserlichem Unverstand, sondern weil er starke, unaufhebbare Gründe hatte, den Anschein wirklich als Schein zu nehmen. Er litt unter dem Schein, oft bis zum Verlöschen, und zog aus ihm und dem Widerstreit doch wieder seine beste Kraft. Daß sie den Schein bezwangen, machte Glaubenshelden zu den größten aller Helden überhaupt. Und so lebt die Frömmigkeit doch wieder von denselben Rätseln, an dnen sie so oft gestorben ist, und sie sind ein Erbe und Bestandteil ihrer selbst. An ihrer Lösung fortzuarbeiten, ist ein Bemühen, das sie nie aufgeben wird. Bis sie ihr gelungen ist, liegt viel daran, zu zeigen, daß es nichts Neues oder Unerhörtes ist, was durch solche Rätsel etwa gerade heute dem Glauben zustößt. Wo ein Glaube an ihnen gestorben ist, da findet man ja fast immer die Meinung, daß vielleicht früheren naiven Zeiten das Frommsein möglich gewesen ist, uns aber, die wir gründlichere Einsichten haben in die dunklen Rätsel von Natur und Schicksal, nicht mehr. Das ist töricht, Wo Frömmigkeit so stirbt, da stirbt sie an einer ihrer Kinderkrankheiten. Denn von  Hiobs  und  Jeremias'  Schicksalen bis zum Turm von Siloah und zu den Schrecken des Mont-Pelée-Ausbruchs geht eine gerade Linie des gleichen Rätsels. Es hat eine entwickelte Frömmigkeit überhaupt nicht gegeben ohne diesen ihren Schatten und diesen Prüfstein ihrer selbst.


Naturalismus

Der Naturismus ist nicht erst von heute oder gestern, sondern uralt, eigentlich so alt wie die Philosophie und wie menschliches Zweifeln und Nachdenken selber. Er ist schier überall mit am Werk gewesen, wo Menschen überhaupt anfingen, sich über das Woher und Wie der sie umgebenden Wirklichkeit Gedanken zu machen. Und in den philosophischen Systemen des LEUKIPP und DEMOKRIT und EPIKUR liegt er schon fertig zutage. Er ist und bleibt der latente und im stillen gefürchtete Gegner auch in Zeiten, in welchen  gläubige,  anti-naturalistische und supranaturalistische Systeme die offiziell herrschenden und scheinbar allgemein anerkannten waren, und er ist in den neueren Systemen des Materialismus oder Positivismus, im  Systéme de la nature  und dem  l'homme machine,  im materialistischen Rückschlag gegen die idealistische Naturspekulation der SCHELLING und HEGEL, im Materialismusstreit des vergangenen Jahrhunderts, in den naturalistischen Schriften der MOLESCHOTT, CZOLBE, VOGT, BÜCHNER, HÄCKEL und in der bis heute währenden naturalistischen Grundrichtung und Stimmung, wie sie durch den Darwinismus neu und eigentümlich geformt worden ist, nicht erstmalig entstanden, sondern nur besonders kräftig aufgeblüht. Dieses sein Alter ist kein Tadel und Beweisgrund gegen ihn, als ob er eine längst abgetane Sache sei, sondern viel eher ein Beweis dafür, daß er keine zufällige, sondern ein in gewissem Sinne notwendige Erscheinung ist. Die öfters beliebte Methode, ihn zu behandeln, als ob er nur eine Ausgeburt moderner Zweifelsucht, Bosheit oder Verstocktheit sei, ist ebenso absurd, wie wenn die Naturalisten die Überzeugungen ihrer Gegner aus einer unbegreiflichen Borniertheit, aus Priesterbetrug, aus Senilität oder aus einer Verkalkung der Gehirnzellen verstehen zu können meinen. So alt der Naturalismus ist, so ähnlich ist er sich in seinen verschiedenen geschichtlichen Formen und Phasen, nach seinen Motiven, seinen Methoden, seinen Zielen und Beweisgründen, wie nach den ihn begleitenden Stimmungen, Sympathien und Antipathien. Auch seinen am meisten ausgebildeten Formen merkt man noch an, daß er ursprünglich nicht ausgeht von einem fertigen einheitlichen Prinzip, sondern in erster Linie eine Kritik und Opposition ist gegen andere Anschauungen. Er erwächst aber überall als Opposition gegen das, was man ganz allgemein  supranaturale  Zumutungen nennen kann, anfänglich tastend, dann immer deutlicher dieses seines inneren Antriebes sich bewußt werdend, seien es die einer naiv-mythologischen Erklärung des Weltgeschehens der primitiven Religionen, seien es die der supranaturalistischen Populär-Metaphysik, die jede höhere Religion zu begleiten pflegt. Dabei regt sich in ihm einer der achtungswertesten Triebe menschlicher Natur, der Trieb nach Erklären und Begreifen und zwar nach Erklären aus einfachen, vertrauten und gewohnten Ursachen. Der gesunde Menschenverstand sieht um sich her ein Gebiet des alltäglichen ihm völlig vertrauten Geschehens. In ihm ist er ganz daheim, hier glaubt er sich alles wohl bekannt, klar, durchsichtig und sicher faßlich, hier findet er einsichtige Ursachen und sichere Regeln des Geschehens und eine feste Verknüpfung von Wirkungen mit Ursachen. Hier ist alles im einzelnen wohl zu kontrollieren und zu prüfen, und alles geht  mit natürlichen Dingen zu.  Die Dinge regeln sich selber. Nichts Unerwartetes, nichts, was nicht seine klaren Ursachen hätte, nichts Mysteriöses oder Verwunderliches findet hier statt. Schroff ihm gegenüber steht das angebliche Gebiet des Unerklärlichen, des Übernatürlichen und seiner Einflüsse und Bewirkungen, seiner Wesen und Ereignisse. Breit und tief scheint es dem naiven, dem gläubigen oder abergläubischen Vorstellen hineinzuragen in das Gebiet des Alltäglichen. Aber mit erwachender Prüfung, mit Nachdenken und Erforschen der Dinge zieht es sich immer mehr zurück, verliert Stück um Stück an das andere Gebiet und weckt dadurch den Zweifel und den Argwohn. Mit beidem regt sich früh eine schlichteste Überzeugung von einer durch alle Dinge hindurchgehenden, gleichen Weise des Zusammenhangs, eine Ahnung von Gesetzlichkeit und Naturnotwendigkeit, alles beschließend und begreifend und im letzten Grund erklärend. Und diese anfänglich noch selber kindlich und halb mythologisch gedacht, sind doch bei ihrem frühesten Auftreten und ihren noch ganz unsicheren Formulierungen bisweilen schon Vorausnahmen der späteren deutlicheren wissenschaftlichen Vorstellungen. Ein solches naturalistisches Anfangsbewußtsein kann ganz naiv bleiben und bei einem bloßen stillen aber zähen Protest verharren. Es hilft sich mit Ausdrücken, die uns wohl bekannt sind:  "Es kommt alles von selber", "es geht alles mit natürlichen Dingen zu", "Es ist alles nur Natur"  oder  Entwicklung.  Es kann sich aber auch zu gewaltigen Naturkonstruktionen und Spekulationen auswachsen, zu naturalistischen Systemen mannigfaltigster Art, von denen der ionischen Naturphilosophen angefangen bis zu denen neuer und neuester Zeiten herunter. Ihre Zeichen bleiben, wenn schon in einem veränderten Duktus, dieselben:  Natur  und  natürliches Geschehen,  Ablehnung eines  Dualismus,  das  eine  Prinzip,  Monismus,  Allgenügsamkeit der Natur, kein Über oder Außer der Natur mit hereinwirkenden Einflüssen. Und schnell und innerlich notwendig verwandelt dieser letzte Zug sich immer sogleich auch in eine  Abweisung der Teleologie:  nicht Wille und Zweck, sondern Gründe und Folgen kennt die Natur. In ihnen schaltet und treibt sie. Schon im einfachsten naturalistischen Verdacht, es gehe  alles von selber,  steckt diese Abneigung gegen den Zweck, die alle naturalistischen Systeme bezeichnet. - Ein so entstehender und wachsender Naturalismus hat noch nichts mit einem wirklich exakten Naturerkennen zu tun. Er kann eine Menge von Momenten in sich haben, die der  Wissenschaft  scharf entgegengesetzt sind, die selber mythologisch sind und bleiben, oder poetisch, oder geradezu mystisch. Denn was eigentlich  Natur  selber ist in ihrem Grund, wie sie sich bewegt, entfaltet, treibt, und wie  natürlich  es zugeht, im Grunde gemacht wird, darüber ist noch gar nicht nachgedacht. Ja, ein so erwachsender Naturalismus will sich auch meistens keineswegs, wenn er sich dem  Dualismus  entgegenstellt, der Frömmigkeit selber entgegensetzen. Vielmehr nimmt er sie bei einer weiteren Entwicklung in Form der Naturvergötterung und Naturverehrung in sich selber auf. Fast regelmäßig entwickelt sich ein so anhebender Naturalismus zu keinem Atheismus, sondern zu einem Pantheismus. Zwar ist alles Natur und geht natürlich zu, aber sie ist selber, wie schon THALES sagt, ganz  voll der Götter,  voll göttlichen Lebens. sie ist die Alllebendige, die unermüdet und unerschöpft Gestaltung auf Gestaltung aus sich gebiert und ihre Fülle ausgießt. Sie ist GIORDANO BRUNOs  Ursache, Prinzip und Eines  in unendlicher Schönheit und hinreißender Pracht, und sie ist GOETHEs  große Göttin,  selber ein Gegenstand hingerissener Bewunderung, Verehrung und Andacht. Diese Stimmung kann leich selbst in eine Art Gottesverehrung und -Glauben umschlagen, indem  Gott  nun eben die Seele und Vernunft, der  Logos  wie bei HERAKLIT und der Stoa, der innere Sinn und Rat dieser alllebendingen Natur ist. Und so wird der Naturalismus auf seiner letzten Stufe bisweilen selber ganz andächtig und versichert, daß er nur den transzendenten aber nicht den immanenten, den isoliert über der Welt thronenden Gott aber nicht den ihr lebendig einwohnenden ablehnen muß und zitiert immer neu die Verse GOETHEs:
    "Was wär' ein Gott, der nur von außen stieße,
    Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
    Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,
    Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
    Sodaß was in ihm lebt und webt und ist,
    Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermißt."
Mittelpunkt

Auf das Gründlichste verändert wird ein solcher Naturalismus, wenn er nicht stehen bleibt bei den naiv oder phantasievoll aufgefaßten Begriffen von "Natur" und "natürlich zugehen", und wenn anstelle von Poesie oder religiösen Stimmungen etwas anderes in ihn hineinfährt, nämlich eine exakte Naturwissenschaft und das Ideal einer mathematisch-mechanischen Berechenbarkeit der natürlichen Zusammenhänge. "Natur" und "natürlich zugehen" im naiven Verstand und Gebrauch sind halb animistische Begriffe und Vorstellungsweisen, die Leben und Beseeltheit, Trieb und eine Art Willen in die Natur selber tragen oder in ihr belassen. Und jene spekulativen und frommwerdenden Naturalismen dehnen diese Fehler vollends aus. Aber eine solche "Natur" ist kein möglicher Gegenstand der Naturwissenschaft und exakter Methoden, kein Gegenstand für das Experiment, für die Berechnung und feste Gesetze, für ein eigentliches Einsehen und Verstehen aus einfachen rationalen Prinzipien. Anstelle des naiven und des poetischen, halb mystischen Naturbegriffs gilt es, einen wirklich wissenschaftlichen zu setzen, so gewissermaßen das Übernatürliche aus der Natur selber zu entfernen und das Irrationalscheinende in ihr zu rationalisieren, das heißt, alle ihre Erscheinungen auf so einfache, eindeutige und ohne weiteres verständliche Vorgänge zurückzuführen, daß wirklich das Warum und Wieso aller Dinge begriffen und somit eingegeben wird, daß in der Tat alles "mit natürlichen Dingen" zugeht. -  Ein  Gebiet und Bereich von Vorgängen in der Natur nun gibt es, das diesen Anforderungen offenbar ganz entspricht, das wirklich "natürlich" im vollen Sinn, nämlich ganz durchschaubar, ganz rational, ganz strenger und formulierbarer sogar in Zahl und Berechnung formulierbarer Gesetzlichkeit unterliegend ist, das sind die Vorgänge der Physik und Chemie, und in noch höherem Grad die allgemeinen Bewegungsvorgänge überhaupt, die Vorgänge der Mechanik. Und in dieses Gebiet und seine Gesetzlichkeit alles einbeziehen, was in der Natur vorkommt, ihm und seiner Gesetzlichkeit alles Werden und Vergehen und Verändern, alle Entwicklung, Wachstum, Ernährung, Fortpflanzung, Erstehen des einzelnen und der Arten und Geschlechter, der Tiere wie der Menschen, des Lebendigen wie des Unlebendigen, ja auch Empfindung und Vorstellung, Trieb, Begehren und Instinkt, Wille und Denken unterwerfen, das erst heißt wirklich die Dinge "natürlich zugehen" machen. Das heißt erst aus natürlichen Gründen erklären. Und die Überzeugung, daß dies gelingen wird, ist erst wirklicher Naturalismus.

Ein solcher ist im Grunde gänzlich anders gestimmt und geartet als jener naive und poetisierende, ja eigentlich ihm auf das Schärfste entgegengesetzt. Wogegen er streitet, das sind gerade Motive, die in jener Naturverehrung und -Vergötterung am allerlebendigsten sind. Und wo beide "Naturalismen" sich in ihrer Eigenart erkennen, kann gar nichts anderes erfolgen als schärfste Ablehnung. Von drüben muß man dieses exakte, dieses gemüts- und verehrungslose, dieses ganz kalte und mathematische Sezieren und Auflösen der "großen Göttin" als Frevel und Gewalttat verdammen. Und hüben muß man jene Ansicht, die sich schließlich in dem Bekenntnis zusammenfaßt:
    "Ist nicht Kern der Natur Menschen im Herzen"
als Romantik von Grund aus ablehnen.

Das lehrreichste Beispiel ist hier GOETHE: seine Naturverehrung einerseits und sein ausgesprochener Gegensatz gegen den Naturalismus sowohl des Materialismus wie der Mathematiker andererseits. Mit Vorliebe suchen moderne Naturalisten ihre Frieden und ihre geistige Erholung in GOETHEs Weltansichten, meinend, daß ihnen das von ihren eigenen Anschauungen aus am besten und sichersten zusteht. Daß sie so tun, spricht für ihre innere Stimmung und für ihren Geschmack, aber nicht ebensosehr für ihr Unterscheidungsvermögen und ihre Konsequenz. Es ist noch gedankenloser, als wenn sie, die Empiristen und Sensualisten, auf SPINOZA, den strengen reinen Rationalisten, den Verächter der Empirie und der Sinneserkenntnis, sich als auf ihren Heros berufen. Für GOETHE ist Natur schlechterdings nicht dieser wohl durchzurechnende, unter eine mathematische Formel zu fassende Gegenstand der Mechanik, dieses ewige  Perpetuum mobile  und diese grandiose All-Maschine. Vielmehr mit dem allem und am meisten mit dem Wort  Maschine  bezeichnet man gerade dasjenige, was GOETHEs Auffassung am allerentgegengesetztesten ist. Ihm ist Natur wirklich die Göttin, die "große Diana von Ephesus", die ewige Zier, die geniale nicht rastende erfindende schaffende Künstlerin, in Lebensfluten, in Tatensturm, ein ewiges Meer, ein wechselndes Weben, ein glühendes  Leben Das Höchste wie das Niedrigste umfassend ist sie in allem dieselbe, in allem Wechsel und Wandel die sich gleiche, im Einfachsten schon das Vollendetste vordeutend, im Höchsten auch nur entfaltend, was sie im Geringsten schon zeigt. Darum haßt GOETHE alle Scheidungen und Rubriken, alle Gegensätze und Grenzen, die die gelehrte Scheidekunst in die Natur eintragen will. Mit Glut ergreift er von HERDER den Entwicklungsgedanken, und ihn zu bewähren, darauf richtet er alle seine botanische, zoologische, morphologische, osteologische Bemühung. Er entdeckt den Zwischenkieferknochen im tierischen Skelett, diesen "Schlußstein zum Menschen", und hat daran "eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen". Er deutet die Schädelkapsel aus drei entwickelten, umgebildeten Wirbeln des Rückgrates. Er entwirft seine Hypothese von der Urpflanze und seine Lehre, daß alle Organe der Pflanze Umwandlungen und Entwicklungen des Blattes sind. Er wird der Freund GEOFFROY SAINT HILAIREs, der die  unité de composition organique  in den Bildungen der Natur und die stufenmäßige Entwicklung verteidigt, und der erregte Gegner CUVIERs, der die Lebewelt nach streng geordneten "Bauplänen" und nach unveränderlichen Klassen auseinanderreißen will. Und was ihn bei all dem innerlich treibt, das faßt er zusammen mit dem Motto seiner Morphologie mit dem Spruch  Hiobs: 
    "Siehe er geht vor mir über, ehe ich's gewahr werde
    Und verwandelt sich, ehe ich's merke",
und er erklärt es weiter im Leitvers der Osteologie [Knochenlehre - wp]:
    "Freudig war vor vielen Jahren Eifrig so der Geist bestrebt
    Zu erforschen zu erfahren, Wie Natur im Schaffen lebt,
    Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart,
    Klein das große, Groß das Kleine, Alles nach der eignen Art.
    Immer wechselnd, fest sich haltend, Nah und fern und fern und nah,
    So gestaltend, umgestaltend - Zum Erstaunen bin ich da."
In all dem aber ist schlechterdings nichts vom eigentlichen Sinn und Geist des Mechanisch und mathematisch interessierten, des  exakten  Naturalismus. Es ist dabei noch das wenigste, daß GOETHE mit seinen Evolutionsgedanken keine eigenliche Deszendenz [Abstammung - wp] und keinen "Darwinismus" im Sinn hat, sondern jene Entwicklung großen Stils und hohen Sinnes, die sich in den Naturphilosophien der SCHELLING und HEGEL auswirkte. Die Hauptsache ist vielmehr, daß ihm die Natur die  all- und urlebendige  ist, die sich in ihrem Schaffen und Walten am wenigsten der nüchternen Zahl, der mathematischen Formel einfügt, die mit Anschauung mehr als mit Rechnung, aus dem Ganzen mehr als aus dem Einzelwerk genial erfaßt mehr als ausgetüftelt sein will. Eine andere Naturerfassung hat er früh und für immer von sich gewiesen. Und seinen kräftigen Protest gegen sie hat er uns selber in  Dichtung und Wahrheit  aufbehalten:
    "Wie hohl und leer wurde uns in dieser tristen atheitischen Halbnacht zumute ... Eine Materie sollte sein, von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen ..."

    "... Indem er einige allgemeine Begriffe hineingepfahlt, verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder (was) als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben ..."

    "... (Das Buch) kam uns so grau, so chimärisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten."
Und in einem Werk mit seltsamem Titel und Inhalt hat sich GOETHEs Gegensatz gegen die "Mathematiker" und gegen ihr Haupt, den Entdecker und Gründer der neuen mathematisch-mechanischen Naturbetrachtung, gegen NEWTON, zusammengefaßt: in der "Farbenlehre". Und die Anschauung der Dinge, die hier mit soviel Aufwand von Mühe, von Geist und zum Teil von Ungerechtigkeit bestritten wird, ist gerade die Anschauung derjenigen, die sich bis heute mit soviel Emphase und mit so wenig Verständnis auf GOETHE berufen.

Doch kehren wir zu unseren beiden oben geschilderten Arten von Naturalismus zurück. So sehr sie tatsächlich voneinander unterschieden sind, so sehr und so leicht werden sie ineinander gewirrt und miteinander gehegt. Und was als Naturalismus unter unseren Gebildeten oder Halbgebildeten umzulaufen pflegt, hat in einer solchen Vermischung gerade seine Haupteigentümlichkeit. Unbesehens verbindet man die Stimmungen des einen mit den Gründen und Methoden des anderen, kommt sich darin noch als besonders konsequenter und einheitlicher Denker vor und ist glücklich, so die Bedürfnisse des Kopfes und des Gemüts zugleich zu befriedigen. Man dehnt einerseits die mathematisch-mechanistische Betrachtung nach Möglichkeit von unten nach oben aus und möchte womöglich auch die Lebens- und Bewußtseinsleistungen als Leistungen verwickelter Reflexmechanismen erklären. Und andererseits versenkt man Wille, Seele, Trieb bis in die untersten Stufen des Daseins und ist ganz Animist. Man will nichts anderes sein als  schlechthin exakt  und rechnet doch eben GOETHE und BRUNO unter die großen Heiligen des eigenen Glaubens und setzt ihre Verse und Aussprüche als Credo und Motto der eigenen Meinung voran. Auf diese Weise entsteht eine  Weltanschauung  so kautschukartig und so proteusmäßig, daß mit ihr sich auseinanderzusetzen ebenso schwierig wie undankbar ist. Versucht man, sie bei ihrem Stimmungsrand und mitaufgenommenen Idealismus zu fassen, so zieht sie sich in ihre  exakte  Hälfte zurück. Will man sie auf diese einschränken, um so eine Möglichkeit der Auseinandersetzung zu finden, so breitet sie alle Herrlichkeiten eines großen Naturpantheismus aus, bis hinauf zu den Ideen des Guten, Wahren und Schönen. Und nur eines unterläßt sie, nämlich zu zeigen, wie so verschiedene Hälften zusammenkommen und innerlich zusammenhängen können. Um sich mit ihr auseinanderzusetzen, müßte man erst alle in ihr verbundenen sich einander fremden Bestandteile auseinander ordnen, sich dann mit Pantheismus und Naturbelebung, mit den Fragen nach der Möglichkeit des  Wahren, Guten, Schönen  auf naturalistisch-empirischer Grundlage auseinandersetzen, und würde endlich als festes greifbares Stück jenen Naturalismus zweiter Form übrig behalten, mit dem sich auseinanderzusetzen notwendig und lehrreich ist. Wir halten uns im folgenden ganz an diesen selber, indem wir ihn nicht erst aus jenen verworrenen Mischbildungen herausschälen und mühsam konsequent machen, sondern indem wir ihn uns von vornherein nach seinen klaren Grundsätzen und Zielen vor Augen halten. Als solcher hat er ganz reine Horizonte. Er ist erschreckend in seiner völligen Armut an ideellem Gehalt, Wärme oder Reiz, aber imponierend und großartig in seiner Beharrlichkeit und Zähigkeit, einen obersten Gesichtspunkt durchzusetzen. Er ist eigentlich gegen nichts oppositionell sondern gegen alles kalt und gleichgültig, aber gerade deswegen viel gefährlicher als alle erregten Proteste und Verdikte jenes Begeisterungsnaturalismus, der in seiner Prinzipienlosigkeit sicherer Angriffe gar nicht fähig ist und in seiner pathetisch vorgetragenen Naturverehrung nur lebt von den Anleihen, die er bei der frommen Weltansich zuvor gemacht hat.

Ziel und System dieses strengen Naturalismus sind leicht zu zeichnen. In seinen Einzelheiten wird er deutlicher werden durch die Auseinandersetzung selber. Für sein Ganzes läßt sich sagen, daß er ein Unternehmen konsequenter Vereinfachungen und stufenweiser  Rückführungen  großen Stils ist. Nämlich so: Weil er auf erklären und verstehen ausgeht, und zwar, nach dem Grundsatz  principia non temere esse multiplicanda  [nominal] auf ein Erklären aus den möglichst wenigen, möglichst einfachen und möglichst durchsichtigen Prinzipien, so obliegt es ihm zunächst zu versuchen, alles Geschehen zurückzuführen auf  ein  einheitliches, mit sich selber gleiches Allgeschehen überhaupt, das kein Außer-sich oder Über-sich zuläßt, das sich regelt nach seiner einen, im Grunde gleichen, Gesetzlichkeit. Weiter obliegt ihm, dieses eine Allgeschehen zurückzuführen auf die möglichst einfache und möglichst klare Form und diese seine Gesetzlichkeit zurückzuführen auf möglichst wenige und möglichst durchsichtige, das heißt letztlich auf durch Rechnung und Formel zu bestimmende Gesetze. Diese Rückführung ist gleich mit einer Ausscheidung aller inkommensurablen Ursachen, aller  causae finalis,  d. h. der Endursachen und "Zwecke", die auf nicht anzugebende Weise in das Geflecht der Ursachen einschießen und sie dirigieren, aber damit auch ihren Zusammenhang unterbrechen und das klare Verständnis des Warum verwirren würden. Und diese Ausscheidung ist also wieder eine  Rückführung,  nämlich der  teleologischen  Betrachtung, der Betrachtung nach Zwecken, auf die rein kausale Betrachtung, auf die Betrachtung nur nach Ursachen und zureichenden Gründen. - Nun klafft aber alles Sein und Geschehen in zwei große Reiche auseinander: das der  Natur  und das des  Geistes  oder des Bewußtseins und der Bewußtseinsvorgänge. Und zwei, wie es scheint, zunächst gründlichst verschiedene Formen des Erkennens beziehen sich auf sie: die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften. Soll wirklich ein einheitliches Erklären, und ein  natürliches  Erklären möglich sein, so muß aller Anfang und alles Ende der  Rückführungen  darin bestehen, diese Kluft zu schließen, das aber heißt im Sinne des Naturalismus notwendig, die Geisteswissenschaft irgendwie  rückzuführen  auf Naturwissenschaft, die Erscheinungen, Vorgänge, Regeln und Gesetze des Bewußtseins gleichfalls  kommensurabel  zu machen, sie anzugliedern der, wie es scheint, einfacheren klareren Erkenntnis der Natur, und wenn es geht, sie ihren Erscheinungen und Gesetzen unterzuordnen oder gar aus ihr abzuleiten. Da es unmöglich ist, das Bewußtsein selber als Körperliches oder als einen Bewegungsvorgang zu fassen, so muß hier der Naturalismus doch jedenfalls versuchen, die Bewußtseinserscheinungen möglichst zu einfachen Begleit- und Folgeerscheinungen der körperlichen zu machen, die dann als solche zwar nicht selber zu körperlichen werden würden, aber doch nach den Gesetzen des Körperlichen und Physischen streng reguliert und mit ihm berechenbar und zugänglich wären. - Aber auch das Gebiet des Natürlichen selber ist keineswegs von vornherein einfach und einheitlich und einem einheitlichen Verständnis unterliegend. So bedarf es auch hier der Rückführungen. Vor allem erscheint die Natur auf dem Gebiet der organischen Wesen, der Tier- und Pflanzenwelt, angefüllt mit allen Wundern der Zweckmäßigkeit, mit allen Rätseln der Entwicklung und Formgestaltung, mit allen Geheimnissen des Lebendigen überhaupt. Hier gilt es am meisten Rückführung der  teleologischen Betrachtung  auf rein kausale, und den Nachweis, daß alles, auch die Entwicklung des Lebendigen zu seinen höchsten Erscheinungen hinauf und in seine feinsten wundervollsten Zweckmäßigkeiten hinein, rein  von selber  kam, nämlich ganz verständlich ist aus klar verfolgbaren Ursachen. Hier gilt es eine Rückführung der physiologischen und morphologischen und aller Lebensvorgänge auf die Vorgänge des Physikalischen und Chemischen überhaupt, und damit eine Rückführung des Lebendigen auf das noch nicht Lebendige und eine Ableitung des Organischen aus den Kräften und Substanzen der unorganisierten Materie. Und schließlich ruht auch hier noch nicht die Rückführung. Denn wirklich eingesehen sind auch physikalische und chemische Prozesse erst, wenn sie aufzulösen sind in einfachste Bewegungsvorgänge überhaupt und wenn alles qualitative sich Verändern zurückgeht auf ein rein quantitatives Geschehen und wenn sich schließlich in der Mechanik sowohl der großen wie der unendlich kleinen Massen, der Atome, die mathematische Betrachtung alles unterworfen hat.

Auch ein solcher Naturalismus ist keineswegs eine reine Naturwissenschaft, sondern auch seinerseits eine bewußte und gewollte spekulative Überschreitung des bloß naturwissenschaftlich Gegebenen. Insofern gleicht auch er etwa der Naturphilosophie des Naturalismus erster Richtung. Aber er hat ein in seiner Armut umso fester gezeichnetes Programm. Er weiß genau was er will. Und mit ihm kann man sich unterreden. Die fromme Weltansicht muß es, denn das scheint ohne weiteres einzuleuchten, daß so gleichgültig ein solcher Naturalismus gegen alles außer ihm ist und so wenig aggressiv er aus sich zu sein braucht, umso beengender für die Frömmigkeit das Weltbild ist, das er zu zeichnen versucht. Wo es mit dem der Frömmigkeit zusammentrifft, mag im folgenden klar werden.

LITERATUR Rudolf Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 1904 [Dissertation]