ra-2Paul TillichTheodor Rohmer    
 
GEORG SIMMEL
Die Religion

"Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Übergewalt - jenes, indem uns auf einmal durchsichtig und zugängig erscheint, was wir eigentlich als ein Fremdes und ewiges Gegenüber fühlen, dieses, indem das bloß Physische und uns als solches ganz Indifferente und Verständliche eine schreckhaft undurchdringliche Dunkelheit annimmt -, bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl, das ich nur als Erschütterung ansich zu bezeichnen wüßte: wenn wir plötzlich im Tiefsten ergriffen und bewegt werden, nicht durch außergewöhnliche Schönheit oder Erhabenheit der Naturerscheinung, sondern oft durch einen Lichtstrahl, der ein Laub durchzittert oder durch Biegung eines Astes im Wind, durch irgendetwas scheinbar gar nicht besonders Ausgezeichnetes, das wie durch eine geheime Konsonanz mit unserem Wesensgrund diesen in leidenschaftlichen Eigenbewegungen schwingen läßt. Alle diese Empfindungen können verlaufen, ohne über ihre unmittelbare Zuständlichkeit hinauszugreifen, also ohne jeden religiösen Wert; sie können diesen aber auch annehmen, ohne ihren Inhalt irgendwie zu ändern. Wir fühlen bei solchen Erregungen manchmal eine gewisse Spannung oder einen Schwung, eine Demut oder Dankbarkeit, ein Ergriffensein, als spräche durch ihren Gegenstand eine Seele zu uns, - was alles nur als  religiös  zu bezeichnen ist. Das ist noch nicht Religion, aber es ist derjenige Vorgang, der Religion wird, indem er sich ins Transzendente fortsetzt, sein eigenes Wesen zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen scheint."

Es ist keine ganz seltene Erfahrung, daß Mächte persönlicher und sachlicher Art, in unser Leben in einem gewissen Maße eingreifend, als Störungen und Unangebrachtheiten empfunden werden, diesen Wirkungscharakter aber in dem Augenblick verlieren, in dem sie das Maß ihres Sichanbietens und ihrer Ansprüche erheblich steigern. Was sich als Teil und relative Größe nicht mit den anderen Elementen des Lebens, in die es sich verflicht, vertragen wollte, kann als Absolutes und Herrschendes ein organisches, befriedigtes Verhältnis zu ihnen gewinnen. Einer Liebe, einem Ehrgeiz, einem neu auftauchenden Interesse wollen sich oft die bereits bestehenden Lebensinhalte nicht koordinieren; sobald aber Leidenschaft oder Entschluß sie in das Zentrum der Seele stellen und die Gesamtheit ihrer Existenz auf sie abstimmen, so ist auf dieser ganz neuen Basis überhaupt ein neues Leben gegeben, dessen Tonart wiederum eine einheitliche sein kann. Theoretische Verhältnisse zu den Dingen nehmen diese Erscheinung der Praxis auf. Als das Problem des Durcheinanderwirkens des körperhaften und geistigen Daseins die Denker zu beunruhigen begann, löste SPINOZA jene Unverträglichkeit so auf, daß die Ausdehnung der einen Seite, die Bewußtheit auf der anderen das ganze Dasein je in ihrer Sprache ausdrückt; sie vertrugen sich, sobald sie nicht mehr als relative Elemente ineinandergriffen, sondern jedes die Totalität der Welt für sich beanspruchte und auf seine Art lückenlos darstellte. Vielleicht führt diese Entwicklung ebenso aus gewissen theoretischen Schwierigkeiten der Religion heraus, wie sie schon den Konflikten des realen religiösen Lebens oft zur Auflösung geworden ist. Wo die Ideale und Forderungen der Religion nicht nur mit Trieben niederer Art, sondern auch mit Normen und Werten geistigen und sittlichen Wesens in Widerspruch geraten, da ist der Ausweg aus solchen Verschiebungen und Verwirrungen oft nur so gefunden worden, daß jene ersteren Ansprüche ihre relative Rolle immer weiter und bis zu einer absoluten steigerten; erst in dem die Religion den entscheidenden Grundton für das Leben gab, gewannen dessen einzelne Elemente wieder das rechte Verhältnis zueinander oder zum Ganzen. Und wenn sich die Betrachtung des Religiösen entsprechend formt, kann sie die Widersprüche lösen, in die die Kategorien des übrigen Lebens sie zu verwickeln pflegen. Damit kann freilich keine Alleinherrschaft des religiösen Gedankens, unter Herabdrückung dieser anderen Interessenprovinzen, gemeint sein, sondern  jede  der großen Formen unserer Existenz muß als fähig erwiesen werden, in ihrer Sprache die Ganzheit des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Die Organisierung unseres Daseins mittels der absoluten Herrschaft eines Prinzips auf Kosten aller anderen, würde so auf eine höhere Stufe gehoben werden: jedes würde innerhalb des von ihm souverän geformten Weltbildes keine Störung durch das andere zu fürchten haben, weil es diesem anderen das gleiche Recht der Weltformung einräumt. Sie könnten sich nun prinzipiell so wenig kreuzen, wie Töne mit Farben. Daß sie dennoch nicht auseinanderfallen, wird einerseits von der Einheit des Inhalts verbürgt, der sich all diese differenzierten Formen gestaltet, andererseits vom einreihigen Verlauf des seelischen Lebens. Denn dieses ergreift aus der Vielheit jener Welten, die sozusagen als ideelle Möglichkeiten vor uns, in uns liegen, immer nur Bruchstücke, um sich aus ihnen zusammenzuleben, wobei es freilich in seinen wechselnden Zwecken und seinem labilen Gesamtgefühl jene zu harten Konflikten aneinanderstoßen läßt.

Für den naiven Menschen ist die Welt der Erfahrung und der Praxis die Wirklichkeit schlechthin, als sinnlich wahrnehmbar und behandelbar existieren die Inhalte der Welt; wenn sie unter den Kategorien der Kunst oder der Religion, der Gefühlswerte oder der philosophischen Spekulation geformt werden, so werden sie teilweise jenem allein wirklichen Dasein gegenübergestellt, um sich mit ihm wieder zu einer Mannigfaltigkeit des Lebens zu verweben - wie sich dem Lauf des individuellen Dasein Fragmente fremder oder gar feindlicher Reihen einmischen, um sein Ganzes zu ergeben. Damit entspringen Unsicherheiten und Wirrungen in den Vorstellungen von Welt und Leben, die sich sogleich heben, wenn man sich entschließt, auch die sogenannte "Wirklichkeit" als eine Form anzuerkennen, in die wir gegebene Inhalte ordnen, - eben dieselben Inhalte, die wir auch künstlerisch oder religiös, wissenschaftlich oder im Spiel anordnen können. Die Wirklichkeit ist keineswegs  die  Welt schlechthin, sondern nur  eine,  neben der die Welt der Kunst wie die der Religion stehen, aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen aus zusammengebracht. Die erfahrbare wirkliche Welt bedeutet wahrscheinlich diejenige Ordnung gegebener Elemente, die für die Erhaltung und Entwicklung des Gattungslebens die praktisch zweckmäßigste ist. Als handelnde Wesen erfahren wir von der umgebenden Welt Reaktionen, deren Nützlichkeit oder Verderblichkeit von den Vorstellungen abhängt, auf die hin wir handeln. Als Wirklichkeit bezeichnen wir nun diejene Vorstellungswelt oder Vorstellungsart, die zugrunde liegen muß, damit wir nach der Besonderheit unserer gattungsmäßigen psycho-biologischen Organisation förderlich, lebenerhaltend handeln; für anders eingerichtete, anders bedürfende Wesen würde eine andere "Wirklichkeit" bestehen, weil für ihre Lebensbedingungen ein anderes, d. h. von anderen Vorstellungen fundamentiertes Handeln das nützliche wäre. So entscheiden die Zwecke und prinzipiellen Voraussetzungen darüber, welche "Welt" von einer Seele geschaffen wird und die wirkliche Welt ist nur eine von vielen möglichen. In uns selbst aber liegen noch andere Grundforderungen als die generellen Bedürftigkeiten der Praxis und von ihnen aus erwachsen andere Welten. Auch die Kunst lebt von den elementaren Inhalten der Wirklichkeit; aber sie wird zur Kunst, indem sie diesen von den artistischen Bedürfnissen des Anschauens, des Fühlens, der Bedeutsamkeit her Formen gibt, die ganz jenseits derer der Wirklichkeit stehen: sogar der Raum innerhalb des Gemäldes ist eine ganz andere Gestaltung als der Raum der Realität. Die anschauliche Geschlossenheit und der seelische Ausdruck sind in der Kunst so, wie die Wirklichkeit sie nie darbietet, - da sonst nicht einzusehen wäre, weshalb wir neben der Wirklichkeit noch eine Kunst brauchten. Man könnte von einer besonderen Logik, von einem besonderen Wahrheitsbegriff der Kunst sprechen, von einer besonderen Gesetzlichkeit, mit der sie neben die Welt der Wirklichkeit eine neue, aus demselben Material gestaltete und ihr äquivalente setzt.

Nicht anders dürfte es sich mit der Religion verhalten. Aus dem anschaulichen und begrifflichen Stoff, den wir auch in der Schicht der Wirklichkeit erleben, erwächst in neuen Spannungen, neuen Maßen, neuen Synthesen die religiöse Welt. Die Begriffe von Seele und Dasein, von Schicksal und Schuld, Glück und Opfer bis zum Haar auf dem Kopf und dem Spatz auf dem Dach bilden zwar auch  ihren  Inhalt - aber nun werden sie von Wertungen und Gefühlstönen begleitet, die sie wie in andere Dimensionen einordnen, ihnen ganz andere perspektivische Verschiebungen zuteil werden lassen, als wenn eben dasselbe Material die empirische oder die philosophische oder die künstlerische Ordnung bildet. Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht widersprechen kann, - so sehr das Leben des einzelnen Menschen durch all diese Schichten traversieren [durchqueren - wp] und, weil es nicht ihre Ganzheiten, sondern nur jeweils Teile von ihnen erfaßt, sie zu Widersprüchen durcheinanderwirren mag. Darauf zielte die an den Anfang dieser Erörterung gestellte Reflexion: daß man für ein Lebenselement, das sich mit den übrigen nicht friedlich in das Leben teilen will, oft einen widerspruchslosen Sinn erhält, sobald man es zu einer letzten und absoluten Instanz des Lebens macht. Erst wenn man einsieht, daß die Religion eine Totalität des Weltbildes ist, koordiniert seinen anderen theoretischen oder praktischen Totalitäten, gewinnt sie und mit ihr diese anderen Systeme des Lebens, die Ungestörtheit inneren Zusammenhangs. Vielleicht realisiert der Mensch in der Beschränktheit seiner Kräfte und Interessen diese möglichen, sozusagen ideell vorhandenen Welten überhaupt nur zu geringen Teilen. Wie er nicht alle unmittelbar gegebenen Inhalte zu wissenschaftlicher Erkenntnis formt, wie nicht alle ihm zu Kunstgebilden werden, so treten auch nicht alle in den Aggregatzustand der Religion; schon weil dieser Formungsprozeß, obgleich prinzipiell überall vollziehbar, doch nicht an allen Bestandteilen von Welt und Geist ein immer gleich bildsames Material findet. Es sind vielleicht drei Segmente des Lebenskreises, an denen die Transponierung in die religiöse Tonart vor allem hervortritt: am Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal, zur umgebende Menschenwelt. Indem das letztere zu entwickeln hier unsere Aufgabe ist, wird diese durch eine Andeutung der beiden anderen Verhältnisse den Rahmen für eine allgemeine Auffassung des Religiösen und seine rechte Stellung innerhalb desselben gewinnen.

Es ist eine längst triviale Wendung, daß Religion nichts anderes ist als eine gewisse Übertreibung empirischer Tatsachen. Der weltschaffende Gott erscheint als eine Hypertrophie [Überhöhung - wp] des Kausaltriebes, das religiöse Opfer als eine Fortsetzung der erfahrenen Notwendigkeit, für jedes Erwünschte einen Preis daranzugeben, die Furcht vor Gott als die Zusammenfassung und vergrößerende Spiegelung der Übergewalt, die wir fortwährend von der physischen Natur erfahren. Mag dies die Erscheinung äußerlich beschreiben, so läßt es sie noch nicht von innen her begreifen. Dazu bedarf es vielmehr der Wendung: daß die religiösen Kategorien schon zu Grunde liegen, das Material von vornherein mitwirksam gestalten müssen, wenn dieses als religiös bedeutsam empfunden werden, wenn sich aus ihm religiöse Gebilde ergeben sollen. Wie die Gegenstände der Erfahrung eben dadurch  erkennbar  sind, daß die Formen und Normen der Erkenntnis zu ihrer Bildung aus dem bloßen Sinnesmaterial gewirkt haben; wie wir deshalb z. B. das Kausalgesetz aus unseren Erfahrungen abstrahieren können, weil wir unsere Erfahrungen von vornherein ihm gemäß, das sie überhaupt erst zu "Erfahrungen" macht, geformt haben, - so sind die Dinge religiös bedeutsam und steigern sich zu transzendenten Gebilden, weil und insofern sie von vornherein unter der religiösen Kategorie aufgenommen und diese ihre Bildung bestimmt hat, bevor sie bewußt und vollständig als religiös gelten. Wenn wirklich Gott als Weltschöpfer dem Fortsetzungszwang der Ursachenreihe entspringt, so liegt das religiöse, zum Transzendenten aufstrebende Element schon gleich in den niederen Stufen des Kausalprozesses. Einerseits freilich verbleibt dieser innerhalb der konkreten Erkenntnis und verbindet ein gegebenes Glied mit dem nächsten; allein außerdem bringt der rastlose Rhythmus dieser Bewegung einen Ton von Unbefriedigung an allem Gegebenen mit sich, von Degradierung jedes einzelnen zu verschwindender Nichtigkeit in einer unermeßlichen Kette, - kurz, ein Klang aus der religiösen Tonart schwebt von vornherein in der Kausalbewegung mit. Es ist die gleiche Gedankenbewegung, die je nach der Schicht, in der wir sie verlaufen lassen, je nach den Gefühlsakzenten, mit denen wir sie ausstatten, auf eine Welt erkennbarer Natur oder auf einen im Transzendenten liegenden Punkt hinausgeht. Gott als Weltursache bedeutet, daß aus diesem, von vornherein in einer religiösen Kategorie verlaufenden Prozesse sein innerer Sinn gleichsam auskristallisiert ist, wie das abstrakte Kausalgesetz bedeutet, daß aus dem Kausalprozeß, soweit er unter der Kategorie des Erkennens erfolgt, seine Formel extrahiert ist. Niemals würde die endlose Fortsetzung der Ursachenreihe, wie sie die empirisch erkennbare Welt ordnet, zu einem Gott aufgestiegen sein, niemals wäre von ihr allein aus der Sprung in die religiöse Welt zu begreifen, - wenn eben diese Reihe nicht zugleich auch unter der Ägide des religiösen Empfindens ablaufen könnte, wofür dann der weltschaffende Gott der abschließende Ausdruck ist, die Substanz, in der die an einer Seite und im Sinn jenes Pronzesses lebende Religiösität sich niederschlagen kann. Leichter durchschaubar ist es, wie unsere Gefühlsverbindung mit der äußeren Natur sich unter dem religiösen Zeichen entwickeln kann und wie diese Entwicklung sich im Gegenstand der Religion gleichsam sich selbst gegenübergestellt. Die Natur um uns erregt uns bald zu ästhetischem Genießen, bald zu Schreck und Grauen und der Empfindung des Erhabenen ihrer Übergewalt - jenes, indem uns auf einmal durchsichtig und zugängig erscheint, was wir eigentlich als ein Fremdes und ewiges Gegenüber fühlen, dieses, indem das bloß Physische und uns als solches ganz Indifferente und Verständliche eine schreckhaft undurchdringliche Dunkelheit annimmt -, bald zu jenem schwer analysierbaren Grundgefühl, das ich nur als Erschütterung ansich zu bezeichnen wüßte: wenn wir plötzlich im Tiefsten ergriffen und bewegt werden, nicht durch außergewöhnliche Schönheit oder Erhabenheit der Naturerscheinung, sondern oft durch einen Lichtstrahl, der ein Laub durchzittert oder durch Biegung eines Astes im Wind, durch irgendetwas scheinbar gar nicht besonders Ausgezeichnetes, das wie durch eine geheime Konsonanz mit unserem Wesensgrund diesen in leidenschaftlichen Eigenbewegungen schwingen läßt. Alle diese Empfindungen können verlaufen, ohne über ihre unmittelbare Zuständlichkeit hinauszugreifen, also ohne jeden religiösen Wert; sie können diesen aber auch annehmen, ohne ihren Inhalt irgendwie zu ändern. Wir fühlen bei solchen Erregungen manchmal eine gewisse Spannung oder einen Schwung, eine Demut oder Dankbarkeit, ein Ergriffensein, als spräche durch ihren Gegenstand eine Seele zu uns, - was alles nur als  religiös  zu bezeichnen ist. Das ist noch nicht Religion, aber es ist derjenige Vorgang, der Religion wird, indem er sich ins Transzendente fortsetzt, sein eigenes Wesen zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen scheint. Was man als den teleologischen Gottesbeweis bezeichnet hat: daß die Schönheit, Formung, Ordnung der Welt auf eine zweckmäßig bauende absolute Macht hinwiese, ist nichts als die logische Gestaltung dieses religiösen Prozesses. Gewisse Empfindungen der Natur gegenüber werden eben außer in der rein subjektiven oder der ästhetischen oder metaphysischen Kategorie auch in der religiösen erlebt; und wie der empirische Gegenstand für uns den Schnittpunkt bedeutet, in dem sich eine Anzahl sinnlicher Eindrücke treffen, bzw. bis zu dem hin sie verlängert werden, so ist der Gegenstand der Religion ein solcher Punkt, in dem Gefühle wie die angedeuteten ihre Einheit finden, indem sie sich gleichsam aus sich heraus setzen. Sie lassen ihn aus sich zusammenrinnen und weil er so das Produkt ihrer aller ist, scheint er dem  einzelnen  gegenüber den Ausstrahlungspunkt der religiösen Linien, ein zuvor bestehendes Sein darzustellen.

Das zweite Gebiet, zu dem die Seele in religiösen Verhältnisse treten kann, ist das Schicksal. Als dieses wird man im allgemeinen die Einwirkungen bezeichnen, die die Entwicklung des Menschen durch das, was nicht er selbst ist, erfährt, - gleichviel, ob sein eigenes Tun und Sein in diese bestimmenden Mächte gemischt ist; indem hier das Innere und ein ihm Äußeres sich begegnen, enthält von jenem aus gesehen der Schicksalsbegriff ein Moment von Zufälligkeit, das seine prinzipielle Spannung gegen den von innen kommenden Sinn unseres Lebens auch dann zeigt, wenn das Schicksal einmal als der genaue Vollstrecker dieses letzteren auftritt. Wie sich nun auch unser Gefühl zum Schicksal stellen möge: ergeben oder rebellierend, hoffend oder verzweifelnd, fordernd oder befriedigt - es kann völlig irreligiös, aber auch völlig religiös verlaufen. Wegen jenes Momentes der Äusserlichkeit ist in allem "Schicksal" etwas, was von uns aus nicht begreiflich ist, und das ist eine Stelle, wo ihm das religiöse Cachet [Siegel - wp] zuwächst. Nicht weniger dadurch, daß alles Zufällige, insoweit man es als "Schicksal" empfindet, doch einen  Sinn  hat. Tritt uns das Zufällige unter die Kategorie des Schicksals, so wird es, trotz alles leidvollen Inhaltes, erträglicher, denn nun scheint es auf uns eingestellt, seiner Gleichgültigkeit entkleidet. Der Zufall bekommt damit eine Würde, die zugleich die unsere ist. Es ist eine Erhöhung des Menschen, ein Schicksal zu haben, d. h. eine Summe von Zufällen nach einem wenn auch noch so problematischen, aber immerhin auf uns bezüglichen Sinn zu formen. Damit ist der Schicksalsbegriff, seiner Struktur nach, wie zur Aufnahme der religiösen Stimmung disponiert, die sich dann etwa, über ihn weg, aber ihn gewissermassen mit sich tragend, in der Idee der Prädestination verfestigt. Es kommt hier darauf an, dass die religiöse Färbung nicht von einer geglaubten transzendenten Macht auf das Erleben ausstrahlt, sondern eine besondere Qualität des Gefühls selber ist, eine Konzentration oder ein Schwung, eine Weihe oder eine Zerknirschung, die in sich religiös ist: jenen Gegenstand der Religion erzeugt sie als ihre Objektivation oder ihr Gegenbild, wie die Sinnesempfindung ihr Objekt, das ihr doch gegenübersteht, aus sich entlässt. Auch in den Dingen des Schicksals, das seinem Begriff nach das von uns Unabhängige ist, wird das Erleben, soweit es in dem Sondergebiet der Religion verläuft, durch die produktiven, in uns zum Grunde liegenden religiösen Kräfte geformt; es stimmt mit den Kategorien der religiösen Gegenständlichkeit deshalb überein, weil diese es von sich aus gestaltet haben. So z. B., wenn "denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten gereichen müssen". Nicht gerade so, daß die Dinge da wären und die Hand Gottes dann aus den Wolken griffe und sie für seine lieben Kinder so einrichtete, wie es für sie gut ist. Sondern der religiöse Mensch erlebt die Dinge von vornherein so, daß sie gar nicht anders können, als ihm die Güter gewähren, nach denen er als religiöser begehrt. Wie auch die Schicksale innerhalb der Ebenen irdischen Glückes, äußeren Erfolgs, intellektueller Begreifbarkeit verlaufen mögen: innerhalb der religiösen werden sie sogleich von solchen Gefühlsspannungen begleitet, in solchen Wertskalen angeordnet, von solchen Deutungen verklärt, dass sie eben in den Sinn der Religion, die Fürsorge Gottes für das Beste seiner Kinder, hineinpassen müssen; - wie die Welt für die Erkenntnis kausal verlaufen muss, weil sie, in die Ebene des Erkennens gefaßt, a priori durch die in dieser wirksamen Kategorie der Kausalität geformt wird. Nicht weniger macht die formale Weite, die unter all unseren Lebenskategorien gerade die des Schicksals besitzt, sie geeignet, die Schwingung des religiösen Lebens aus dem virtuellen in den aktuellen Zustand über - und zum Begriff des Göttlich-Absoluten aufzuführen.

Ein Moment der deutschen Mystik mag dies erläutern. Für ECKART ist Gott schlechthin einfach und unterschiedslos, aber er schliesst doch alle unterschiedlichen Wesen in sich; sie sind Gott selbst und doch zugleich "als ein Nicht" in ihm; er hat die Welt geschaffen und doch auch eigentlich nicht, da die Schöpfung eine ewige ist; Gott "fliesst in alle Kreatur und bleibt doch von allem unberührt"; er ist in den Dingen, aber eben "so viel" auch über ihnen; die Seele ist durch Gott und ohne ihn nichts, aber doch auch Gott nichts ohne die Seele; Gott sehen ist dasselbe, wie von Gott gesehen werden. Alles dieses und vieles ähnliche hat man als Widersprüche und unvereinbare Gedankenströmungen bezeichnet - und sieht nicht, welches ungeheure Gedankenmotiv all dem zugrunde liegt: daß es kein ausdenkbares Verhältnis zwischen Gott und Welt gibt, das nicht wirklich wäre! Diese Form nimmt das Ensrealissimum [Grund aller Realität - wp] für die Mystik an, die an die Stelle des objektiven Gottes das Verhältnis zu Gott setzt - gewissermassen dasjenige religiöse Faktum, das sich als die nächste, die unmittelbarste Objektivierung des subjektiven religiösen Lebensprozesses an diesen ansetzt. So mag es oft genug gerade die  Spannweite  unserer Schicksale sein, die, von der innerlich religiösen Lebensfunktion aufgenommen, ihr den Weg zu der unbegrenzten Weite des Göttlichen zeigt. Wie nicht die Erkenntnis die Kausalität schafft, sondern die Kausalität die Erkenntnis, so nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion. In dem Schicksal, wie es der Mensch bei einer gewissen inneren Stimmung erlebt, weben Beziehungen, Bedeutungen, Gefühle, die für sich noch nicht Religion sind, deren Tatsachengehalt auch für anders gestimmte Seelen nie etwas mit ihr zu tun bekommt; die aber von diesen Tatsächlichkeiten gelöst und gewissermassen von der sie durchströmenden Religiosität zusammengekittet, damit ein Reich des Objektiven für sich bilden, so "die Religion", das heisst hier: die Gegenstandswelt des Glaubens, zustande bringend. Und nun komme ich endlich auf die Beziehungen des Menschen zur Menschenwelt und die Quellen der Religion, die in ihnen fließen; auch in ihnen wirken Kräfte und Bedeutsamkeiten, die nicht von schon bestehender Religion eine religiöse Färbung zu Lehen tragen, sondern diese als die Lebensstimmung ihrer Träger in sich haben und nun, umgekehrt, die Religion als geistig-objektives Gebilde aus sich entwickeln.

Die Religion in ihrem Vollendungsstadium, der ganze seelische Komplex, der sich an das transzendente Sein knüpft, erscheint als die absolute, zur Einheit zusammengeschlossene Form von Gefühlen und Impulsen, die schon das soziale Leben, soweit es - als Stimmung oder Funktion - religiös orientiert ist, in Ansätzen und gleichsam versuchsweise entwickelt. Um dies einzusehen, bedarf es eines Blickes auf das Prinzip der soziologischen Struktur, wie vorher auf das der religiösen. Das Leben der Gesellschaft besteht in den Wechselbeziehungen ihrer Elemente, - Wechselbeziehungen, die teils in momentanen Aktionen und Reaktionen verfließen, teils sich in festen Gebilden verkörpern: in Ämtern und Gesetzen, Ordnungen und Besitzstücken, Sprache und Kommunikationsmitteln. Alle diese sozialen Wechselwirkungen nun erheben sich auf Grund bestimmter Interessen, Zwecke, Triebe. Solche bilden gleichsam die Materie, die sich in dem Nebeneinander und Miteinander, in dem Füreinander und Gegeneinander der Individuen gesellschaftlich realisiert. Jener Stoff des Lebens kann beharren, während eine Mannigfaltigkeit dieser Formen ihn abwechselnd aufnimmt; und umgekehrt, in die ungewandelte Form der Wechselwirkungen können die allerverschiedensten Inhalte eingehen. So können manche Normen und Resultate des öffentlichen Lebens gleichmässig von dem freien Spiel konkurrierender Kräfte wie von der reglementierenden Bevormundung niederer Elemente durch höhere getragen werden; so werden vielerlei soziale Interessen zu Zeiten von der Familienorganisation gewahrt, um später oder anderswo von den rein beruflichen Vereinigungen oder der staatlichen Verwaltung übernommen zu werden. Eine der typischsten Formen des gesellschaftlichen Lebens, eine jener festen Lebensnormen, durch die sich die Gesellschaft das für sie zweckmäßige Verhalten ihrer Mitglieder sichert, ist die Sitte, - in niederen Kulturverhältnissen die typische Form des sozial erforderlichen Tuns und Lassens überhaupt. Eben dieselben Lebensbedingungen der Gesellschaft, die später einerseits als Recht kodifiziert und von der Staatsgewalt erzwungen werden, andrerseits der Freiheit des kultivierten und gezüchteten Menschen überlassen sind, - werden in engeren und primitiven Kreisen durch jene eigentümliche und unmittelbare Aufsicht der Umgebung über den Einzelnen garantiert, die man Sitte nennt. Sitte, Recht, freie Sittlichkeit des Einzelnen sind verschiedene Verbindungsarten der sozialen Elemente, die alle ganz dieselben Gebote zum Inhalt haben können und bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten auch haben. Zu diesen Formen, mit denen die Gesamtheit sich eine Sicherheit für das richtige Verhalten des Individuums verschafft, gehören auch die Religionen. Das Religiöswerden von Verhältnissen charakterisiert vielfach eines ihrer Entwicklungsstadien. Ebenderselbe Inhalt, der vorher und nachher von anderen Formen der Beziehung zwischen Menschen getragen wird, nimmt in einer Periode die Form der religiösen Beziehung an. Am deutlichsten wird dies bei Gesetzgebungen, die zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten einen theokratischen Charakter zeigen, völlig unter religiöser Sanktion stehen, um anderwärts von der Staatsgewalt oder von der Sitte garantiert zu werden. Ja, es scheint, daß die notwendige Ordnung der Gesellschaft vielfach von einer ganz undifferenzierten Form ausgegangen wäre, in der die moralische, die religiöse, die juristische Sanktion noch in ungeschiedener Einheit geruht hätten, - so das Dharma der Inder, die Themis der Griechen, das Fas der Lateiner - und daß dann je nach den verschiedenen historischen Umständen bald die eine, bald die andere Bildungsform sich zum Träger solcher Ordnungen entwickelt habe.

LITERATUR Georg Simmel, Die Religion, Frankfurt/Main 1906