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CARL VOGT
Köhlerglaube und Wissenschaft
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"Wir erkennen mit Freuden an, daß die Naturwissenschaften und zwar namentlich die physiologischen Wissenschaften, jetzt aus jenem vornehmen Indifferentismus herausgetreten sind, mit welchem man früher gewisse Fragen auf die Seite schob, deren wissenschaftliche und tatsächliche Erörterung dem vorurteilsfreien Forscher das Schicksal eines Galilei hätte zuziehen können. Trotz des Widerstrebens jener älteren Schule, welche ihre aus der Forschung gewonnenen Resultate nur bis zu einer gewissen konventionellen Grenze verfolgen und die weiteren Folgerungen in den engsten Kreis der Fachgenossen bannen wollte, hat sich die Naturwissenschaft jetzt dennoch gewappnet und gerüstet den Kampfplatz betreten müssen, auf welchen einzelne Stimmen sie schon seit längerer Zeit berufen wollten. Wie mächtig aber ihr Eingreifen schon jetzt gewesen sei, geht aus dem Schrecken hervor, den sie in gewissen Kreisen einflößt. Schon wird die höhere Staatspolizei aufmerksam gemacht auf diese verderbliche Richtung; schon werden rücksichtslose Bekenner derselben in Folge ärmlicher Denunziationen erbärmlicher Gottesgelehrter von ihren Lehrstühlen hinweggemaßregelt; schon schreien die Gegner nach Beschränkung der Öffentlichkeit, um desto ungestörter in der Wüste ihr Gekrächze ertönen zu lassen! Vergebens werden diese Anstrengungen sein! Wenn auch einzelne Bekenner der Wahrheit eingeschüchtert schweigen, um ihre Stellung und ihre Zukunft besorgt, wenn auch andere ihre Überzeugung hinter Klauseln verbergen, die ihnen gestatten, ihre Nadel aus dem gefährlichen Spiel zu ziehn; es wird doch der freien Kämpfer noch genug geben, welche rücksichtslos und unbeiirrt die Resultate ihrer Forschung darlegen und damit der Wahrheit eine neue Stütze bringen werden."

I. Historisches und Persönliches

Herrn RUDOLPH WAGNER in Göttingen läßt es keine Ruhe. Er glaubt vom selig verstorbenen RADOWITZ die Mission überkommen zu haben, den schwachen Rest der Gläubigen in der Wissenschaft gegen den stets anwachsenden Materialismus in den Kampf führen. Zwar mit geringer Siegeshoffnung und gesenkter Fahne, denn er sieht schon selbst das Überfluten der gegnerischen Grundsätze voraus; aber gerade deshalb mit unmso größerer Galle, mit umso heftigerem Ingrimm. Hängt ja doch an diesem Kampf die Zerstörung des eigenen, früher erworbenen, Rufes! Wo Herr WAGNER hinsieht unter seinen Fachgenossen, findet er nur laute oder stillschweigende Mißbilligung; er muß es selbst eingestehen, daß mehr und mehr unter den Naturforschern und insbesondere unter den Physiologen die materialistischen Ansichten Verbreitung und Boden gewonnen haben, daß mehr und mehr der Glaube an eine substantielle, unsterbliche Seele geschwunden ist und daß die Auflösung der Psychologie in die Naturwissenschaft der nächste Fortschritt der Zukunft ist. Wir nehmen diese Prophezeiung umso lieber an, als wir selbst für deren Verwirklichung uns eifrigst bemüht haben und nur in diesem Gang der Wissenschaft einen wahren Fortschritt zu erkennen vermögen; wir erkennen mit Freuden an, daß die Naturwissenschaften und zwar namentlich die physiologischen Wissenschaften, jetzt aus jenem vornehmen Indifferentismus herausgetreten sind, mit welchem man früher gewisse Fragen auf die Seite schob, deren wissenschaftliche und tatsächliche Erörterung dem vorurteilsfreien Forscher das Schicksal eines GALILEI hätte zuziehen können. Trotz des Widerstrebens jener älteren Schule, welche ihre aus der Forschung gewonnenen Resultate nur bis zu einer gewissen konventionellen Grenze verfolgen und die weiteren Folgerungen in den engsten Kreis der Fachgenossen bannen wollte, hat sich die Naturwissenschaft jetzt dennoch gewappnet und gerüstet den Kampfplatz betreten müssen, auf welchen einzelne Stimmen sie schon seit längerer Zeit berufen wollten. Wie mächtig aber ihr Eingreifen schon jetzt gewesen sei, geht aus dem Schrecken hervor, den sie in gewissen Kreisen einflößt. Schon wird die höhere Staatspolizei aufmerksam gemacht auf diese verderbliche Richtung; schon werden rücksichtslose Bekenner derselben in Folge ärmlicher Denunziationen erbärmlicher Gottesgelehrter von ihren Lehrstühlen hinweggemaßregelt; schon schreien die Gegner nach Beschränkung der Öffentlichkeit, um desto ungestörter in der Wüste ihr Gekrächze ertönen zu lassen! Vergebens werden diese Anstrengungen sein! Wenn auch einzelne Bekenner der Wahrheit eingeschüchtert schweigen, um ihre Stellung und ihre Zukunft besorgt, wenn auch andere ihre Überzeugung hinter Klauseln verbergen, die ihnen gestatten, ihre Nadel aus dem gefährlichen Spiel zu ziehn; es wird doch der freien Kämpfer noch genug geben, welche rücksichtslos und unbeiirrt die Resultate ihrer Forschung darlegen und damit der Wahrheit eine neue Stütze bringen werden.

Herr WAGNER hat mir die Ehre erzeigt, mich als Vorkämpfer in diesem Streit speziell herauszufordern. In Zeitungen und Broschüren, in öffentlichen Versammlungen hat er bei jeder Gelegenheit schimpfend und polternd den Kreuzzug gegen mich gepredigt. Ich könnte auf seine neueren Angriffe schweigen, da er durchaus kein neues Argument in den Streit hineingebracht hat; aber da nur Wenigen der Verlauf dieses Streites, nur Wenigen die Fragen bekannt sind, um deren Entscheidung es sich handelt, so sehe ich mich genötgit, noch einmal auf den Gegenstand einzugehen. Leit tut es mir, eine Seite berühren zu müssen, die Herr WAGNER zuerst angeschlagen hat - ich meine die persönliche; ich kann sie heute nicht mehr vermeiden, da mein Gegner trotz des Nachweises der Lügen, die er sich erlaubt hat, noch einmal willentlich auf denselben Punkt zurückkommt.

Als ich meine wissenschaftliche Laufbahn begann, stand Herr WAGNER auf der Höhe des Rufes. Er hatte das Glück gehabt, einen bisher noch nicht beachteten Punkt der mikroskopischen Struktur des Eies ausführlicher zu verfolgen und seinen Namen daran zu knüpfen. Er hatte über viele Details der mikroskopischen Anatomie, die gerade damals Zeitfragen waren, Untersuchungen veröffentlich, die zwar  alle  fragmentarisch waren, aber den Ruf des Beobachters umso mehr in die Höhe brachten, als mikroskopische Untersuchungen damals noch zu den selteneren Ausnahmen gehörten. Die Kritik schwieg noch vor der Bewunderung. Das Mikroskop erschien damals uns Jüngeren wie eine Art Heiligtum; diejenigen, die sich seiner zu Untersuchungen bedienten, hatten einen gewissen priesterlichen Nimbus, dem man nur mit Ehrfurcht nahte. Zudem hatte Herr WAGNER seine bekannten Lehrbücher der Physiologie und der Zootomie [Anatomie der Tiere - wp] geschrieben und war dadurch auch namentlich den Studierenden geläufig und bekannt. Damals schon war in mir der Vorsatz erwacht, die Physiologie in ähnlicher Weise für einen größeren Leserkreis zu bearbeiten, wie dies der Verfasser der geologischen Briefe in der Allgemeinen Zeitung getan hatte. Die Redaktion der Allgemeinen Zeitung kam mit mir über diese Publikation überein, welche aber später bei allzugroßer Häufung des Materials von der COTTAschen Buchhandlung als eigene Schrift gedruckt wurde. Damals konnte ich noch Herrn WAGNER unter den Koryphäen der physiologischen Wissenschaft nennen; - heute würde ich vergeblich nach Gründen zu besonderer Hervorhebung suchen müssen.

Denn Herr WAGNER war es selbst, welcher den leicht erworbenen Ruf mehr und mehr befleckte und das wissenschaftliche Piedestal [Postament - wp] zertrümmerte, auf das er sich erhoben hatte. Dem naiven Anfänger konnte er als reiner Mann der Wissenschaft gelten. Aber je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr trat beim früher eifrigen Forscher eine stets wachsende Tendenz der Marktschreierei hervor, verbunden mit leichtfertiger Büchermacherei und mit übermäßiger Benutzung anderer und namentlich jüngerer Kräfte, die endlich einen wahren Ekel am Treiben dieses heuchlerischen Gesellen erzeugen mußte. Jede Buchhändlermesse brachte die pomphafte Ankündigung eines neuen WAGNERschen Werkes; jeder Prospekt, jede Vorrede überraschte mit dem Versprechen einer unerhörten Arbeit, die der Herausgeber eben unter den Händen habe und den Leistungen der Anderen zufügen wolle, jedes Schlußheft enttäuschte durch die fast gänzliche Abwesenheit WAGNERscher Arbeit. Leichtsinniges Versprechen, prahlerische Vorspiegelung und endliche Täuschung des vertrauenden Publikums wiederholte sich bei jeder neuen Unternehmung. So sank dieser Mensch von Stufe zu Stufe. Je mehr er aber die eigene Arbeit durch die Arbeit Anderer ersetzte, desto größer wurden seine Ansprüche, desto pomphafter sein Auftreten. Was er in der Wissenschaft verlor, gewann er im Glauben; was er bei den Fachgenossen einbüßte, suchte er bei den Frömmlern zu gewinnen. Es ist vielleicht interessant, diesen Krebsgang in seinen Hauptabschnitten zu verfolgen.

Der bekannte Anatom SÖMMERING hatte ein Lehrbuch der menschlichen Anatomie geschrieben, das, im Jahre 1800 erschienen, nach vierzig Jahren gewiß vollkommen veraltet war. Herr WAGNER wurde dafür gewonnen, eine neue Bearbeitung dieses Lehrbuches zu unternehmen; - es war ihm vielleicht gerade damals Bedürfnis, zu zeigen, daß er auch etwas von menschlicher Anatomie verstehe. Er verband sich mit mehreren namhaften Anatomen zur Herausgabe seines Handbuchs. Jeder dieser Mitarbeit übernahme einen Teil; - Herr WAGNER teilte sich die Knochen- und Bänderlehre, sowie die Anatomie der menschlichen Rassen zu, welche letztere er, als BLUMENBACHs Nachfolger, auf ganz neue und vielfache Untersuchungen gestützt, zu liefern versprach. Die übrigen Mitarbeiter taten, wie sie als gewissenhaften Männer tun mußten; - sie arbeiteten das Buch so vollkommen um, wie die Fortschritt der Wissenschaft seit vierzig vollen Jahren es verlangten; sie erfüllten mit Treue die Verpflichtung, welche sie dem Publikum gegenüber eingegangen waren, das Buch auf die Höhe der Zeit zu heben. Herr WAGNER machte es anders. Neben dem Hauptzweck, seinen Namen auf dem Titel eines Lehrbuchs der menschlichen Anatomie paradieren zu sehen, galt es ihm offenbar darum, mit möglichst geringer Mühe möglichst viele Bogen drucken und honorieren zu lassen. So wurde denn der SÖMMERINGsche Text unverändert abgedruckt, die Noten, welche SÖMMERING in seinem Handexemplar angemerkt hatte, unverändert beigefügt, die Zitate älterer Tafeln und Werke, die SÖMMERING gegeben hatte, frischweg wiederholt. Von SÖMMERINGs Tod an schien die Wissenschaft gänzlich still gestanden zu sein. Nicht einmal die Literatur, nicht einmal die Kupferwerke, die so zahlreich seit jener Zeit erschienen waren, wurden erwähnt; wo SÖMMERING die Knochen- und Bänderlehre gelassen hatte, blieb sie stehen. Nur an einigen wenigen Orten, wo Vernachlässigung unmöglich oder Herr WAGNER zufällig auf ein betreffendes Werk gestoßen war, wurden Hinweise oder dürftige Auszüge beigefügt und auch diese letzteren nur durch den Sekretär als Exzerpte und Zitate, wie z. B. über das Sehen. An eine Verarbeitung dieser aus einer weitläufigen Monographie genommenen Darstellung mit dem notwendig kürzer gehaltenen Handbuch war nicht zu denken; der Purpurlappen wurde ohne weiteres auf den Bettlermantel angeflickt. Ich habe mir die undankbare Mühe genommen, das WAGNERsche Fabrikat mit der SÖMMERINGschen Ausgabe von 1800 zu vergleichen und bin bereit, Seite für Seite, Satz für Satz den Beleg zu diesen unglaublich scheinenden Behauptungen zu liefern. Aber selbst diese schamlose Bogen- und Honorarfabrikation genügte Herrn WAGNER noch lange nicht. Völlig nutzlose Papierschnitzel wurden abgedruckt, wie z. B. ein Verzeichnis SÖMMERINGs von älteren Schriften über Knochenkrankheiten, das zu dem übrigen paßte wie die Faust aufs Auge, da sonst im ganzen Buch die pathologischen Beziehungen weggelassen waren; wie ferner der Katalog der SÖMMERINGschen Sammlung, wo sich unter einigen brauchbaren Präparaten eine Menge alten Trödels befand und der ohnedem nur für den Besucher der Sammlung oder für den speziellen Fachforscher, aber wahrlich nicht für das Publikum des Handbuches Interesse haben konnte; - ja die Liederlichkeit und Gewissenlosigkeit dieser Fabrikation ging so weit, daß seitenlange Beschreibungen desselben Gegenstandes doppelt abgedruckt wurden, indem Herr WAGNER im Laufe des Druckes vergaß, daß er einige Seiten aus der alten Ausgabe schon vorher an eine andere Stelle versetzt hatte. So wurde der ehrlichen Arbeit ehrenwerter Männer das Resultat einer schmutzigen Geldspekulation als Einleitung vorgesetzt und das ganze Werk geschändet! Die versprochene Rassenanatomie des Menschen, die jedenfalls neue und mühselige Untersuchungen gefordert hätte, blieb gänzlich in jenem embryonalen Zustand des Versprechens. Kein Mensch hat je eine Spur davon erblickt und alles ,was Herr WAGNER jemals in dieser Richtung vorgebracht hat, beschränkt sich auf Wiederkäuung des von BLUMENBACH und PRITCHARD Gesagten; nirgends findet man auch nur eine Spur eigener Untersuchungen über die Anatomie der verschiedenen Menschenarten.

So handelt dieser Mensch, der von sich selbst schreibt: "Als Christ glaube ich, daß ich werde Rechenschaft geben müssen von jedem unnützen Wort."

Ganz ähnlich war das Verfahren WAGNERs bei der Bearbeitung seines Lehrbuches der Zootomie, was im Jahre 1843, volle neun Jahre nach dem Erscheinen des "Lehrbuches der vergleichenden Anatomie" als dessen "zweite, völlig umgearbeitete Auflage" erschien. Bei der ersten Auflage schon hatte Herr WAGNER dasselbe Verfahren eingehalten, was ihm später ganz zur Gewohnheit wurde - nämlich in der Vorrede ganz neue Dinge zu versprechen, von denen er im Schlußwort bedauert, sie nicht gebracht zu haben. So verspricht Herr WAGNER im Vorwort zur ersten Auflage Seite XI eine Abteilung, in welcher "die Gesetze der tierischen Morphologie erläutert werden sollen" und läßt sich auf mehr als vier Seiten über seinen Plan dazu aus, während er am Schluß ganz einfach erklärt, er müsse dieses Versprechen "schuldig bleiben":

Doch kehren wir zur "zweiten, völlig umgearbeiteten Auflage" der Zootomie zurück. Bei der ersten Auflage waren die organischen Systeme Hauptmotiv der Einteilung, die einzelnen Klassen bildeten untergeordnete Abschnitte und waren in aufsteigender Abteilung abgehandelt. So bildeten z. B. die Organe der Verdauung ein Kapitel, das von den Insurien [Einzellern - wp] bis zu den Säugetieren aufstiegt, die Kreislauforgane ein zweites usw. Der Haupttext war in größerer Schrift gedruckt, die Einzelheiten in kleinerer Schrift beigegeben. Herr WAGNER nahm die einzelnen Paragraphen auseinander, ordnete sie nach den Klassen, verwebt die Einzelheiten in den Text, gewann durch den größeren Druck desselben an Bogenzahl, lies das so Auseinandergerissene und wieder Zusammengeflickte frischweg abdrucken, fügte hie und da, wo die Dissonanz allzu schneiden gewesen wäre, einige magere, die neueren Arbeiten betreffende Sätze zu und nannte dies eine völlig umgearbeitete Auflage! Als ob innerhalb neun Jahren die Wissenschaft nicht fortgeschritten wäre! Nichts desto weniger erwartete Herr WAGNER für solche Art zu handen den "Dank der werdenden Generation." Er wußte freilich wohl, daß die Gewordenen, welche Kritik zu üben imstande waren, ihm keinen zollen konnten! Aber dieses Verfahren konnte höchstens bei den Wirbeltieren Platz greifen. Für die wirbellosen Tiere mußten andere Kräfte gewonnen werden, die denn auch in zwei willigen jungen Männern gefunden wurden, welche, wie die Mitherausgeber des SÖMMERING, die Aufgabe so faßten, wie sie gefaßt werden mußte, indem sie eine vollständige Umarbeitung lieferten. Man findet in der Vorrede das Selbstbekenntnis der Unfähigkeit des Herrn WAGNER, eine zweite Auflage seines Werkes zu besorgen ("Meine Versetzung nach Göttingen hat meinen Studien eine andere Richtung gegeben und ich vermag die Masse des sich in der Zoologie und Zootomie anhäufenden Materials nicht länger mehr im ganzen Umfang zu bewältigen.") und man kann nach so einem Bekenntnis fragen, warum der dennoch diese Auflage besorgte? Die darauf folgende Stelle der Vorrede antwortet nur halb auf diese Frage, sie bedarf umso mehr einer Erläuterung, da diese das literarische Treiben und die Unsauberkeit des Herrn Hofrats darlegt. "Der Versuch, mit mit einigen ausgezeichneten Zootomen zu einer neuen Ausgabe des Lehrbuchs der vergleichenden Anatomie zu verbinden, scheiterte an verschiedenen Umständen." Dieser Versuch scheiterte nicht an verschiedener Auffassung, er scheiterte nicht an verschiedenen Prinzipien, er scheiterte ganz einfach daran, daß den "ausgezeichneten Zootomen" ein zu geringes Honorar geboten wurde und diese auf Reklamation dagegen erst hören mußten, daß Herr WAGNER sich noch ein Spezialhonorar, sowie ein Recht für sich und seine Nachkommenschaft auf die von ihnen gelieferte Arbeit ausbedungen habe und daß der Verleger deshalb unmöglich ein höheres Honorar bezahlen könne. Daß Herr WAGNER Ansprüche dieser Art, die jedenfalls einen bedeutenden Nachgeschmack nach Harpagon [Der Geizige von MOLIERE - wp] haben. In der Tat erhebe, erfuhr wirklich einer dieser ausgezeichneten Zootomen erst durch den Buchhändler, nicht aber durch Herrn WAGNER selbst. Aber nichts desto weniger ist man ein frommer Mann und bleibt einer der Vorkämpfer für die moralische Weltordnung und bedauert die "ethischen Verirrungen" anderer Physiologen!

Herr WAGNER, dessen eigentümliche Arbeiten bis jetzt nur das spezielle Fach der vergleichenden Anatomie beschlagen hatten, war nach Göttingen als Professor der Physiologie an BLUMENBACHs Stelle berufen worden. Er hatte sich unmittelbar nach dieser Berufung ein Armutszeugnis als Zootome ausstellen müssen, wie wir eben gesehen haben; er fühlte jetzt das Bedürfnis, sich wirklich als Physiologe zu betätiten, was bisher durch sein kleines Lehrbuch der Physiologie nicht vollständig gelungen war. Er faßte also nach Einsicht der Cyclopaedia of Anatomy von TODD den Plan eines großen deutschen Wörterbuchs der Physiologie. Alle Kräfte in Deutschland wurden zu diesem Nationalwerk berufen, Herr WAGNER versprach wieder im Prospekt eine Menge eigener Arbeiten; - wie er sein Versprechen hielt, mag er selbst sagen.

"Meine Tätigkeit dabei war nicht viel anders, als die des Geschäftsführers eines großen, auf Aktien gegründeten Unternehmens, welcher sich bemüht, einzelne Kapitalisten zur Teilnahme zu bewegen. Einige Mühe und Umsicht und einiges Glück gehören aber auch zu einem bloßen Geschäftsführer." Herr WAGNER war ein Geschäftsführer besonders honoriert, er bezog ein Spezialhonorar von jedem Bogen, den die übrigen MItarbeiter lieferten, wie das für so eine Mühewaltung gewiß recht und billig ist. - Man begreift in der Tat, daß die Herstellung eines Wörterbuches in der Art, wie das LIEBIGsche der Chemie, das ORBIGNYsche der Naturwissenschaft z. B., der angestrengtesten Tätigkeit eines Redakteurs bedarf, da eine Menge von Artikeln und Worten gefunden, geordnet, den einzelnen Bearbeitern zugeteilt und mit diesen besprochen werden müssen. Das WAGNERsche Handwörterbuch hat einen durchaus verschiedenen Charakter. Es zählt zwar 4 Bände engen Druckes, jeglicher über 1000 Seiten stark, besteht aber nur aus etwa 60 Monographien, die unter 37 Mitarbeiter verteilt sind, von welchen Viele in Göttingen selbst anwesend waren. Kann sich die Arbeit, welche der Redakteur hatte, mit derjenigen an einem anderen Wörterbuch vergleichen? Zehn Jahre lang wurde an demselben gedruckt, zehn Jahre lang bezog Herr WAGNER eine Rente dafür, daß andere arbeiteten und der von Zeit zu Zeit einen Mahnbrief schrieb oder einen anderen Mitarbeit für einen verlassenen Artikel zu gewinnen suchte.

Unter diesen und ähnlichen Bestrebungen kam das Jahr 1848 heran. Herr WAGNER sah sich überall genannt, sein Name mußte jedem Studierenden, jedem Fachgelehrten und damit auch vielen Laien beständig unter die Augen kommen, dieser Name stand auf dem Titel der SÖMMERINGschen Anatomie, von WAGNER herausgegeben, von anderen gemacht; - auf dem Titel des Handwörterbuchs der Physiologie, von WAGNER herausgegeben, von anderen gemacht; - auf dem Titel des Lehrbuchs der Zootomie, von WAGNER herausgegeben, von anderen gemacht. Das Jahr 1848 unterbrach auf kurze Zeit viele wissenschaftliche Publikationen; - die Nation erhob sich nach einem anderen Ziel; - sie hatte keine Zeit, die Wissenschaft zu pflegen. Herr WAGNER hat die Vermessenheit, auch hieran in seiner Anrede an die in Göttingen versammelten Naturforscher zu erinnern: "Wir, die wir das Ringen unserer Nation in seinen letzten Kämpfen mitgesehen, mitgefühlt, zum großen Teil selbst teilnehmend durchgemacht haben." Erbärmlicher Wicht! wo hast denn Du mitgerungen, mitgefühlt, mit Teil genommen auf der einen oder der anderen Seite. Was hast  Du  in die Waagschale gelegt, als sich dieser Kampf ausfocht und jeder berufen war, an ihm Teil zu nehmen, jeder an seinem Platz: Dieser mit dem Wort, jener mit dem Arm? Wir haben Dich nicht gesehen, weder in den Reihen unserer Feinde, noch in denjenigen unserer Freunde und können Dir mit dem Dichter zurufen: "Pfui über Dich Buben hinter dem Ofen!" Damals hieltest Du Dich stille, kein Laut ward von Dir vernommen, keine Lippe nannte Deinen Namen! Erst, als der Sturm sich gelegt, das Gewitter verzogen hatte, als es bei Gothaern Mode geworden war, Tränen um Schleswig-Holstein und die deutsche Flotte zu weinen, "schwitzest" Du auch der Mode fröhnend einige Seufzer aus und jetzt, wo Du die Hilfstruppen des Rauhen Hauses und HENGSTENBERGs hinter Dir zu haben wähnst, jetzt kriechst Du hervor, giftgeschwollene Viper und nimmst ein großartig antikes Wesen an, drapierst Dich in die Toga des "Patrioten", sprichst von Pflichten, welche das Altertum schon vom Bürger verlangt habe und tust, als seist Du berufen, das Volk zu retten und als seist Du mit dieser Aufgabe schon seit längerer Zeit beschäftigt. Mußte die 500, die damals in Göttingen versammelt waren, nicht ein tieferl Ekel überkommen, als sie diesen Prahlhans auf der Tribüne hörten, von dessen Untätigkeit bei jenem "Ringen" ihnen jeder Stein in Göttingen erzählten konnte? Noch einmal:  Wo hast Du gerungen? Gegen Wen hast Du gerungen?  Die Grundsätze, welche wir heute verfechten, waren seit Jahren in die Öffentlichkeit übergegangen, sie wurden im Jahre 1848 offen und frei, jedem vernehmlich, aufs Neue verkündet. Bist Du  damals  gegen sie aufgetreten, als der Mann nur den Wert hatte, den ihm seine Intelligenz und seine Tätigkeit gaben? Hast Du sie  damals  bekämpft in "jenem Ringen", wo wir freilich tatsächlich unterlegen sind, aber wahrlich nicht durch Dich und Deine Genossen! Wir haben uns niemals überhoben dessen, was wir getan; denn wir taten es, weil wir es für das Rechte erkannten; wir haben den Dank, den unsere Freunde uns freiwillig zollten, nicht herausgefordert, wohl aber den Haß unserer Feinde, denn er war uns das Maß unserer Erfolge; wir haben gelitten je nach unserem Schicksal in uns selbst oder in unseren Freunden und haben diesen Schmerz bei uns im Stillen zu tragen gesucht, ohne ein Wort darüber zu verlieren, eingedenk der Worte des Dichters:
    Die echte Träne bleibt im Auge stille steh'n,
    Sie rinnet nicht herab, kein Andrer kann sie seh'n; -
wir haben willig dahingegeben, was einem jeden das Schicksal abforderte, diesem seine Stelle, jenem sein Brot, einem andern sogar seine Freiheit oder sein Leben; - wir, die Überbleibenden, wir haben gearbeitet nach unseren Kräften, um uns auf dem Strom des Lebens schwimmend zu erhalten, die einen schlagen und irrend in fremden Ländern, die andern, glücklicher vielleicht, eine Stätte findend in der Nähe der Heimat; - wir haben überall dieses geschwiegen, denn es waren unsere persönlichen Angelegenheiten und nicht die des Volkes; - ja wir haben sogar oft Heiterkeit und Spott gezeigt und die Falten des Grams in unserem Antlitz geglättet, nur um Euch hämischen Gesellen die Freude nicht zu gönnen, Euch an unserem Kummer zu weiden; - aber weil wir selbst mitgekämpft, mitgestritten, mitgerungen und mitgefühlt haben, deshalb sprechen wir auch das Recht an, Euch Heuchlern gegenüber zu treten, die Ihr nichts gelitten, nichts gefühlt, nichts getan habt und die Ihr jetzt hervorkriecht, um Krokodilstränen zu weinen, Euch mit falschen Federn zu schmücken und von erlogenen Taten und erheuchelten Schmerzen zu prahlen!

Wir kehren zu Herrn WAGNER zurück, der aus dem Strudel der Revolution glücklich Leben, Stelle, Amt und Besoldung, kurz alles gerettet hat, was er mit hineingebracht hatte. LANGENBECK starb, nachdem er lange Jahre hindurch die vereinigten Professuren der Chirurgie und der Anatomie versehen hatte. Herr WAGNER, dem der Wirkungskreis der Physiologie nicht genügte, empfand das Bedürfnis, die reichlichen FRIEDRICHsdore [von Louisdor - wp] zu verdienen, welche eine Stelle der Anatomie in Göttingen einbringt. Jeder Anfänger der Medizin muß wenigstens zwei Jahre hindurch dem Professor der Anatomie zinsen, einmal für die Vorlesung, einmal für die praktischen Übungen im Präparieren; alles wird doppelt bezahlt, denn es sind praktische Fächer. Herr WAGNER ruhte und rastete nicht, bis ihm LANGENBECKs Vorlesungen übertragen wurden.

Ein dumpfes Murmeln ging bald nach Eröffnung seiner Vorlesungen über menschliche Anatomie durch die Studierenden der Medizin. Die Unzufriedenheit schwoll mehr und mehr an; sie machte sich endlich vollständig Luft, was selten in Göttingen geschieht, wo man daran gewöhnt ist, die Unfähigkeit mit dem Mantel christlicher Liebe zu decken, damit der Ruf der Universität nicht leide; - aber diesmal war dann doch zu arg. Sogar zu uns in die Ferne drang die geflügelte Kunde. Man war bald in allen Kreisen darüber einig, daß Herr WAGNER vollkommen unfähig sei, menschliche Anatomie zu lehren, vollkommen unfähig, Sezierübungen an der menschlichen Leiche zu leiten; vollkommen unfähig, den Studierenden diejenigen Kenntnisse der Anatomie beizubringen, welche nötig sind, um Medizin und Chirurgie mit Erfolg studieren zu können. Herr WAGNER wußte, geradezu gesagt, die einfachsten Sachen nicht und war imstande, zum Skandal der schon einigermaßen Unterrichteten, halb auswendig gelernte Brocken, die auf den einen Muskel sich bezogen, herzusagen, während er mit Messer und Pinzette einen anderen Muskel zeigte. Die Studierenden im Hörsaal, die Präparanten auf dem anatomischen Theater überzeugten sich bald von der vollständigen Unwissenheit des berühmten Herausgebers des SÖMMERING und Herr WAGNER mußte das goldene Kalb, welches er schon gepackt zu haben glaubte, wieder aus den Fingern lassen und zur Berufung HENLEs nicht nur seine Zustimmung geben, sondern sogar notgedrungen die Initiative ergreifen.

Man wird uns vielleicht der Übertreibung bezichtigen und behaupten, es sei unmöglich, daß ein Professor der Physiologie in der gewöhnlichen Anatomie so unwissend sei, wie wir das von Herrn WAGNER behaupten. Wer aber den wissenschaftlichen Entwicklungsgang des Herrn WAGNER aufmerksam betrachtet, wird dieses sogar wahrscheinlicher finden, als das Gegenteil. Die gewöhnliche hausbackene Anatomie, wie sie der Chirurg namentlich bedarf, beschäftigt sich mit einer Menge von Einzelheiten, mit welchen der Physiologe und der vergleichende Anatom im Laufe seiner Studien nicht mehr in Berührung kommt, die aber namentlich für die praktische Chirurgie von höchster Wichtigkeit sind. Alle diese Einzelheiten, die der Physiologe und Zootome mehr oder minder vergißt, deren Wichtigkeit ihm sogar bei einer anderen Studienrichtung nicht mehr bedeutend scheinen kann, muß der Professor der Anatomie sozusagen am Schnürchen haben. Wenn wir demnach Herrn WAGNER einen Vorwurf machen, so ist es nicht der, diese Details nicht mehr zu wissen, sondern der, sich zum Vortrag von Dingen vorgedrängt zu haben, von denen er wußte, daß er sie nicht wußte.

Herr WAGNER ging infolge dieses Fiasco, das ihn körperlich angegriffen hatte, nach Italien. Schon früher hatte er in Pisa einen verdienstvollen Forscher, PAUL SAVI, kennen gelernt, der sich mit mikroskopischen Untersuchungen der Nerven des Zitterrochens beschäftigt und die wichtigste Tatsache gefunden hatte, daß die Primitivfasern sich verästelten: Herr WAGNER warf sich ebenfalls auf den Zitterrochen und fand eine neue Tatsache, die Verbindung der Ganglien mit bipolaren Primitivfasern, eine Tatsache, die zu gleicher Zeit von ROBIN in Paris entdeckt wurde. Man muß die Anmerkung auf Seite 361 des dritten Bandes erste Abteilung des Handwörterbuchs der Physiologie nachlesen, um zu sehen, welches Gegacker Herr WAGNER über diesen seinen Fund anstellt. Jedesmal, wenn er in das Mikroskop geguckt hat, schreibt er nach Göttingen, nach Parin an zwei verschiedene Adressen, in CANNSTATTs Jahresbericht, läßt die Sachen noch extra drucken in Leipzig, macht Nachträge und Anhänge und Anhänge zu den Anhängen, damit man ja inne werde, Herr WAGNER beschäftige sich mit Nervenuntersuchungen. Er liefert Fragmente zu Fragmenten, Aphorismen zu Aphorismen, abgerissene Tatsachen zu abgerissenen Tatsachen, ohne eine Untersuchung zu Ende zu führen und ärgert sich nebenbei ingrimmig, daß sich andere mit dem gleichen Gegenstand beschäftigen; ja er geht später so weit, einen der verdienstvollsten Forscher, der ihm in einzelnen Punkten widerspricht, deshalb "ethischer Verirrung" zu bezichtigen und in der Allgemeinen Zeitung, vor dem großen Leserkreis des gesamten Publikums denselben gerade so anzupacken, wie wenn er durch seinen Widerspruch gegen den Herrn Hofrat die moralische Weltordnung angegriffen hätte. Wir setzen den Angriff WAGNERs, sowie die Worte, womit KÖLLIKER ihn abwehrte, hierher, um zu zeigen, welche Bedeutung es hat, wenn Herr WAGNER von Frivolität und Lüge spricht, wenn er verspricht, in würdigem Ton zu kämpfen, ohne persönliche Gereiztheit, aber ohne der erlaubten Waffe des Humors zu entsagen. Jene Jämmerlinge, welche BÖRNE schon längst mit dem Namen der Hofräte bezeichnete und zu denen auch Herr WAGNER gehört, haben die allgemeine Eigentümlichkeit ansich, daß sie die Schimpfreden, welches sie ausstoßen, als Ausbrüche des Humors, die Plattheiten und Geschmacklosigkeiten, in welchen sie sich erghen, als großartige Ausbrüche gereifter Studien und jeden Widerspruch gegen das von ihnen Gesagte als persönlichen Angriff ausschreien, sich gegen sie mit äußerster Erbitterung im Namen der beleidigten Wissenschaft und der in ihrer Zukunft bedrohten Menschheit wehren. Der Humor des Gegners ist für sie Frivolität, sein Widerspruch Gemeinheit ansich und bei jeder Gelegenheit rufen sie, sobald sie dem Unterliegen nahe sind, die Staatsgewalt, die Weltordnung und das Nationalgefühl an die, wie sie glauben, nur dann bestehen können, wenn man lles, was sie sagen, mit dem Stillschweigen der Verehrung hinnimmt. Sie gebärden sich selbst stets als Priester, als integrierende Partikel desjenigen, was ihrer Ansicht nach allen heilig sein sollte und erklären somit jeden Widerspruch gegen ihre Ansicht als die höchste Frivolität. DAHLMANN fand jeden Zweifel an der Gliederung der drei Gewalten und am Konstitutionalismus im äußersten Grad als frivol und konnte seine sittliche Entrüstung darüber nicht zitternd genug an den Tag legen; - die Heidelberger Theologen und Prediger der inneren Mission fanden das Streben MOLESCHOTTs, dem doch in der Form gewiß niemand den leisesten Vorwand machen kann, so entsetzlich frivol, daß sie nicht ruhten, bis der vorurteilsfreie Forscher von seinem Lehrstuhl hinweggemaßregelt war; - Herr WAGNER fand in ähnlicher Weise den wahrlich gemessenen und rein wissenschaftlichen Widerspruch KÖLLIKERs so himmelschreiend frivol, daß er diesen ethischer Verirrung bezichtigte. Über meine Frivolität gerät er gar so vollständig außer sich, daß er sich nur noch in Schimpfreden, prophetischen Ergüssen über meine Zukunft und Anrufungen der rohen Gewalt Luft machen kann. Wenn man die nachfolgenden Stellen liest, so wird man finden, daß eine Diskussion in "würdigem Ton", wie Herr WAGNER sie verlangt, mit diesem Menschen durchaus ebenso unmöglich ist, wie überhaupt mit der ganzen Klasse, zu der er gehört. Jede solche Diskussion müßte etwa so eingeleitet werden: Sie haben vollkommen Recht, Herr Hofrat, aber ich hoffe doch, Sie werden es nicht ungütig nehmen, wenn ich es wage ... O, das wußte ich im Voraus, als ich mit ihnen anband; - ich wußte, daß man ihnen nur dann den Pfahl zwischen Haut und Fleisch treiben kann, wenn man diejenigen Rücksichten beiseite nimmt, die sie selbst zwar nicht üben, aber doch von ihren Gegnern verlangen. Sie haben hundertmal und hundertmal geschrien, ob der "gemeinen Schmähung deutscher Ehrenmänner", die ich mir erlaubt hätte und Herr WAGNER verlangt aufs Neue in seiner blinden Tollwut die Anwendung der Prügelstrafe gegen den Schuldigen. So sind sie alle; - nachdem man ihnen die Diplome, die sie sich wechselseitig als die "Edelsten der Nation", als die "besten Männer" ausgestellt haben, zerrissen und mit Füßen getreten, rufen sie nach irgendeiner Gewalt, die den unbequemen Störenfried stumm und unschädlich machen soll. So haben sie im Großen gehandelt, als die betörte Nation unter der Löwenhaut das Eselsfell noch nicht gesehen hatte, so handeln sie jetzt, wo sie wissen, daß ihnen die Maske abgerissen ist. Herr WAGNER ist wie die andern. Nachdem er früher und jetzt zum wiederholten Mal vergebens den Polizeischutz aufgerufen hat, damit er mir die Presse und die Öffentlichkeit verschließe, weiß Herr WAGNER im letzten Taumel seines ohnmächtigen Grimmes nichts anderes mehr zu tun, als mit Prügeln zu drohen. Ich kenne keinen ärmlicheren Ausbruch ärmlichen Zornes als diesen. Doch zurück zu seinem in "würdigen Ton" gehaltenen Streit mit KÖLLIKER.

In der Allgemeinen Zeitung vom 19. Februar 1852 sagt Herr WAGNER, indem er auf einen höchst speziellen Punkt in der feineren Anatomie der Nerven eingeht und darüber gegen KÖLLIKER polemisiert:
    "Ich würde diese Bemerkung hier unterdrückt haben, wenn ich es nicht für Pflicht hielte, auch auf  ethische Verirrungen unter den Physiologen  aufmerksam zu machen. Dahin rechne ich die jetzt immer häufiger werdende Sitte, Beobachtungen anderer von vornherein diskreditieren zu wollen. Herr KÖLLIKER konnte sich überzeugen und wird sich fortwährend überzeugen, daß niemand aufrichtiger als ich seinen Eifer schätzt. Seine Entdeckungen in der feineren Anatomie sind so zahlreich, sein Lehrbuch ist so reichhaltig, daß ich durch ihn vielfach belehrt worden bin. Indessen ist unser Wissen eben Stückwerk, wie sich der geschätzte Mann am besten überzeugen wird, wenn er bemerkt, welcher Erweiterung und Berichtigung gleich seine Darstellung des Baus der Haut fähig ist, mit welcher er seine mikroskopische Anatomie eröffnet hat."
KÖLLIKER antwortet darauf (Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Bd. IV, Seite 50:
    "Zum Schluß möchte ich jedoch noch einige Worte an Herrn RUDOLPH WAGNER richten, der sich in der neuesten Zeit bewogen gefunden hat, meine Einsprache gegen verschiedene seiner Behauptungen unfreundlich, nicht  gentlemanlike,  nicht zart zu nennen und mich sogar in einem öffentlichen Blatt "ethischer Verirrungen" zu bezichtigen. Ich habe meine diesbezüglichen Publikationen wiederholt durchgelesen, ohne imstande zu sein, etwas anderes in denselben zu finden, als ein allerdings ganz entschiedenes und auch von mir so beabsichtigtes Entgegentreten gegen manche nicht begründet erscheinende, jedoch mit großer Zuversicht ausgesprochene Behauptungen Herrn WAGNERs und muß daher dessen Äußerungen als auf subjektiver Auffassung beruhend ansehen, deren Wert ich anderen zur Beurteilung überlasse. Was Herrn WAGNERs Auftreten in der Allgemeinen Zeitung betrifft, so kann ich dagegen nicht umhin, dasselbe als  nicht ganz im Einklang mit den Anforderungen zu finden, welche derselbe an andere stellt.  Wenn wissenschaftliche Fragen vor dem großen Publikum besprochen werden sollen, so ist das meiner Meinung nach nur in ganz allgemeiner Weise und bei vollkommen festgestellten Materien erlaubt; geschieht das nicht, werden noch unreife Gegenstände, strittige Fragen oder gar persönliche Beziehungen vor dieses Forum gebracht, so erweckt der Vertreter derselben nicht nur kein günstiges Vorurteil für sich, sondern schadet der Wissenschaft und sich selbst."
Wir sind genötigt, noch einen letzten Zug zu diesem Bild hinzufügen, welches die obigen Tatsachen von Herrn WAGNER zusammensetzen. Viel war in den letzten jahren die Rede von WAGNERschen Körperchen der Haut, von den Tastkörperchen, über die Herr WAGNER selbst so überschwengliche Berichte in die Allgemeine Zeitung geschickt hatte, von dieser großen Entdeckung, die Herr WAGNER selbst der Entdeckung des Neptun verglich und die er, noch ehe sie nur irgendwie reif war, in eiligster Fieberhitze dem Leserkreis der Allgemeinen Zeitung stückweise in fünf oder sechs aufeinander folgenden Briefen in das erstaunte Gesicht warf. "Wir haben hier eine Entdeckung gemacht von der folgenreichsten Wichtigkeit", heißt es im ersten Brief, der von diesen sogenannten Tastkörperchen handelt, "aber das nähere Detail wird mein nächster Brief erzählen, denn es bedarf noch einiger Überlegung, wie ich den Gegenstand auch dem Laien deutlich machen soll." Liest man namentlich diesen ersten Brief, vom Januar 1852, so ist für den arglosen Leser gar kein Zweifel, daß Herr WAGNER diese staunenswerte Entdeckung gemacht hat. Er hat durch Vorlesungen das Bedürnis gefühlt, diesen Gegenstand zu bearbeiten,  er  hat die früheren Beobachtungen verglichen,  er  hat über Mittel und Wege nachgedacht - endlich wurden "unsere Bemühungen vom schönsten Erfolg gekrönt." Wie edel vom Entdecker, daß er auch nebenbei eines jüngeren Freundes und Zuhörers gedachte, der an den gemeinsamen Untersuchungen Teil genommen, eines Herrn MEISSNER aus Hannover! Solche edelmütige Einführung eines jungen Menschen konnte natürlich den viel berühmteren älteren Forscher nur in den Augen der Menge heben, ohne seinem Recht auf die Entdeckung zu schaden. Die große Masse der Gebildeten, die bis in die fernsten Teile der Welt hinein die Allgemeine Zeitung lesen, wurde aufs Neue mit dem Namen WAGNERs erfüllt, des planetarischen Entdeckers, der sogar bei dem so vielfach durchsuchten Menschen ganz neue Sinnesorgane entdeckt hatte, die selbst mit bloßem Auge noch sichtbar waren; man harrte mit Ungeduld acht Tage lang der genaueren Angabe der Einzelheiten entgegen; man frug sich, warum der berühmte Hofrat von Göttingen so lange zögere, den Neptun der Nervenphysiologie ganz zu enthüllen und mit ihm die Rätsel zu lösen versprach und die dennoch stets ungelöst blieben! Wie kommt es nun aber, daß heute der berühmte Zootome von SIEBOLD Herrn MEISSNER "den rühmlichst bekannten Entdecker der Tastkörperchen" nennt! Wie kommt es, KÖLLIKER diese Körperchen "MEISSNERsche Körperchen" nennt und daß andere, wie ich höre, seinem Beispiel folgen? haben denn nicht "Wir" die Entdeckung gemacht? Haben nicht "Wir" die Tastkörperchen gefunden? Ist es nicht "unser gemeinsamer" Fund? Haben sich etwa die beiden genannten Naturforscher so weit vermessen, die Hälfte einer Perle - und zwar der schönsten Perle aus der wissenschaftlichen Krone WAGNERs - zu entwenden, um sie in den Stirnreif eines junges Mannes einzusetzen, der zur Zeit der Entdeckung der Tastkörperchen noch völlig unbekannt war, der sich seitdem durch Arbeiten bekannt gemacht hat von solch staunenswerter Vollendung, daß gewiß nur wenige jetzt lebende Naturforscher und ganz sicherlich nicht Herr WAGNER, imstande wären, ihm gleich zu tun?
LITERATUR - Carl Vogt, Köhlerglaube und Wissenschaft - Eine Streitschrift gegen Hofrat Rudolf Wagner in Göttingen, Giessen 1855