ra-1ra-3cr-2NietzscheA. RapoportW. MackensenMauthnerOgden/Richards    
 
PAUL SZENDE
Die soziologische Theorie
der Abstraktion

[4/4]

"Die Schreckgespenster appellieren an die Furcht, rufen die Angst vor Strafe wach. Da aber die Furcht ein viel intensiveres Gefühl ist als die Hoffnung und eine ständige Furcht biologisch schwerer zu ertragen ist als eine unausgesetzte Hoffnung - die Furcht unterbindet die Lebensfunktionen, die Hoffnung belebt sie, - so ist leicht einzusehen, daß zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung die Schreckgespenster mehr beitragen als die Ideale."

"Eine dauernde Beeinflussung der Mitmenschen ist am besten dadurch zu erreichen, wenn sie dasjenige, was in Wirklichkeit nur den Interessen Einzelner oder Weniger dient, als  allgemeingültige  Wahrheit annehmen. An dem Tag, wo es gelang, den partiellen Interessen absolute Geltung zu verschaffen, entwickelte sich bereits die Minoritätsherrschaft, worin das Wesen auch der heutigen Gesellschaft besteht. Der Abstraktionsprozeß gibt den Mechanismus dieser Verabsolutierung ab."

"Eine Moral, deren Gebote jeden Menschen gleichmäßig ohne Rücksicht auf seine Klassenzugehörigkeit verpflichten, ist in einer Gesellschaft, die aus Klassen besteht, von denen eine über die anderen herrscht, eine nicht realisierbare Abstraktion."

"Die  Sophisten  und mit ihnen  Nietzsche  meinten, daß das Recht eine Erfindung der Schwachen ist, um sich dadurch vor den Stärkeren zu schützen. Das gleiche wurde auch von der Moral gesagt, doch ist es dort ebenso falsch wie hier, die Funktion des Rechts besteht meistens darin, daß die Starken noch stärker werden."


VI. Die soziale Rolle der Abstraktion

Die bisherigen Ausführungen trachteten die sozialen Einflüsse zu erforschen, die beim Werdegang der Abstraktionen tätig sind. Wir wollen nun gewissermaßen die Richtung der Behandlung umkehren, die soziale Rolle der fertigen, bereits vorhandenen Abstraktionen klarlegen. Auch über dieses Thema wurde schon ausführlicher gesprochen, da alle wissenschaftlichen und politischen Begriffe unter dem Einfluß fertiger Abstraktionen entstanden sind. Um Wiederholungen zu vermeiden, besprechen wir in diesem Kapitel nur die Rolle, die den Abstraktionen in Bezug auf die bestehende Gesellschaftsordnung zukommt.

1. Gesellschaftsordnung. Es wäre verfehlt, im allgemeinen von richtigen und unrichtigen Abstraktionen zu sprechen.  Jede Abstraktion muß von dem Zweck aus betrachtet werden, in dessen Dienst sie entstanden oder später benützt wurde und der den Maßstab für ihre Beurteilung liefert.  Nur denjenigen gegenüber, die an die Allgemeingültigkeit der Abstraktionen glauben oder eine solche vortäuschen wollen, ist die Einwendung gestattet, ist die Einwendung gestattet, daß ihre Abstraktionen unrichtig oder falsch sind.

Wir untersuchen die führenden Abstraktionen von dem Standpunkt aus, ob sie  für  oder  gegen  die bestehende Gesellschaftsordnung wirken.

GOETHE sagt, daß wir naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten sind. Er stellt nicht die Frage, was wir sozial sind! Die Beantwortung dieser Frage würde feststellen, daß GOETHEs Ausspruch nicht zutrifft; es hängt von den Zeitumständen, sozialen Verhältnissen, von der Gesellschaftsordnung und nicht vom Gegenstand des Denkens ab, welchem abstrakten Gottesbegriff die Menschen huldigen. Die Geschichte zeigt, daß in der Entwicklung der Naturwissenschaften der Pantheismus eine geringe Rolle gespielt hat, der Poly- und Monotheismus hingegen eine umso gröere, weil die letzteren den anthropomorphistischen Hand mehr befriedigen. GOETHE liefert damit ein Beispiel für unsere Ausführungen, er verleiht einer Abstraktion und Einteilung, die er von der eigenen inneren Erfahrung abgezogen hat, Allgemeingültigkeit. Die Unrichtigkeit dieser Abstraktion erhellt sich sofort, wenn man sie von dieser neuen Perspektive aus betrachtet.

NIETZSCHE ersetzt die kantische Frage: "Wie sind synthetische Urteile apriori möglich? "durch eine andere: "Warum ist der Glaube an solche nötig?", warum muß an sie geglaubt werden, obwohl sie falsche Urteile sein könnten? Die Korrektur NIETZSCHEs stellt das Problem in ein anderes Licht, das auch den Weg zeigt, der KANT zur Aufstellung dieser Frage führte. Durch diese Korrektur begreifen wir sofort, daß die transzendentale Fragestellung KANTs ein Scheinproblem war, während NIETZSCHEs Frage den Kern des Problems aufzeigt. Die höchsten Abstraktionen und die ewigen Wahrheiten führen zu unauflöslichen Widersprüchen, wenn man sie rein methodologisch, formallogisch oder erkenntnistheoretisch behandelt.  Warum ist der Glaube an solche Abstraktionen nötig?  fragen auch wir. In Beziehung zur Gesellschaftsordnung gebracht, stehen die bisherigen Probleme entlarvt, enthüllt, als Scheinprobleme da.

Unmittelbar wirken für die Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung die meisten herrschenden Abstraktionen der Religion, Ethik, Rechtswissenschaft, Geschichte, Politik usw., über die wir noch eingehend sprechen wollen. Indirekte Wirkung über die den anderen Wissens- und Tätigkeitsgebieten angehörenden Abstraktionen aus. Wir haben bereits mehrfach hervorgehoben, daß die Einrichtung der Gesellschaftsordnung einen absolutistischen und apriorischen Charakter haben.  Jeder apriorische Begriff, jede apriorische Wissenschaft dient letzten Endes der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung,  weil sie auf assoziativem Weg die festgewurzelten Gedankengänge stärkt, die zu einer autoritären Weltanschauung führen. Je höher die naturwissenschaftliche Abstraktion steht, desto absolutistischer ist ihr Charakter, desto stärker ihr assoziativer Einfluß.

Wir müssen jedoch bemerken, daß manche naturwissenschaftliche Abstraktionen, wie z. B. die Absolutheit des Raumes, die Substanzvorstellung, manche monistische Systeme, das Autoritätsprinzip mehr stärken als gewisse Rechtsbegriffe oder politische Schlagwörter, deren Umfang und Zugkraft keine übergroße ist. Selbst in den Natur- und exakten Wissenschaften kann man nicht von  indifferenten  Begriffen oder Hypothesen sprechen; unter Umständen entfalten sie eine politische Wirkung, wenn auch der Zusammenhang nur mittels schwieriger Untersuchungen entdeckt werden kann.

Die führenden Begriffe stammen meist aus uralten Zeiten; ihre damalige Formulierung war die Folge der Unwissenheit der primitiven Menschen. Schwindet die Unwissenheit, so verschwinden darum diese Abstraktionen noch nicht, weil  die Wissenden allmählich die Entdeckung machen, daß die Beibehaltung derselben ihre Herrschaft über die Unwissenden fördert.  Die Einrichtungen der Gesellschaftsordnung sorgen dafür, daß die vernachlässigten Elemente nicht zum Vorschein kommen. Auch die Methoden der Wissenschaft, mag ihr Ursprung welcher auch immer ein, werden später zu dieser Verhüllung eifrig verwendet. Die "intellektuelle Fremdherrschaft" (STAMMLER), die Übertragung der Terminologie einer Wissenschaft in ein Gebiet, wo sie eigentlich nicht anwendbar wäre, ist - wie wir oben mit zahlreichen Beispielen belegten - die Folge sozialer Einflüsse.

2. Ideale und Schreckgespenster. F. A. LANGE ist der Meinung, daß der Mensch der Ergänzung der Wirklichkeit durch eine von ihm selbst geschaffene Idealwelt bedarf. Es steht außer Zweifel, daß diese Tendenz auf psychophysiologischen Notwendigkeiten beruth. Untersuchen wir aber den Idealschatz der Vergangenheit und Gegenwart, so müssen wir feststellen, daß sie - Schlagwörter revolutionärer Perioden ausgenommen - für die Erhaltung, sogar für die Verknöcherung der bestehenden Zustände wirken. Wenn wir diese Ideale dem Beispiel HEGELs folgend, zu einer Totalität zusammenfassen, erhalten wir als höchste Idee die bestehende Gesellschaftsordnung.

Die Idealisierung spielt in der Geometrie und in der Mechanik eine große Rolle, weil die Schaffung einfacher, logisch leicht zu beherrschender Begriffe die Erfassung der Wirklichkeit erleichtert. Die Nachteile dieser Methoden äußern sich teils unmittelba, indem die betreffende Wissenschaft sich von der Wirklichkeit entfernt, teils indirekt, indem die Vorliebe für dieses Verfahren auf solche Gebiete des sozialen Lebens übertragen wird, wo die Idealisierung wirklich verheerende Wirkungen zeitigt.

Zur Erhaltung der Gesellschaftsordnung sind nicht nur Ideale, sondern auch ihr Widerspiel,  Schreckgespenster  notwendig. Der Abstraktionsvorgang, der zu ihrer Bildung führt, ist folgender: Die unvollkommenen Züge eines aus der Erfahrung gewonnenen Begriffes werden generalisiert, er wird all seiner Vollkommenheiten und guten Eigenschaften beraubt. Durch die Verabsolutierung einer Beziehung, eines partiellen Urteils wird der Begriff allgemeingültig. Im Unterschied zu den Idealen haben die Schreckgespenster eine  defensive  Bestimmung, sie dienen dazu, die auf die Abänderung der Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen zu brandmarken. Auf der Gefühlsseite regt das Ideal die Hoffnung an, es besteht die Erwartung, daß eine den Idealen gemäße Handlung im Diesseits oder im Jenseits belohnt wird. Die Schreckgespenster appellieren an die Furcht, rufen die Angst vor Strafe wach. Da aber die Furcht ein viel intensiveres Gefühl ist als die Hoffnung und eine ständige Furcht biologisch schwerer zu ertragen ist als eine unausgesetzte Hoffnung - die Furcht unterbindet die Lebensfunktionen, die Hoffnung belebt sie, - so ist leicht einzusehen, daß  zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung die Schreckgespenster mehr beitragen als die Ideale. 

Wir wollen diesen Gegensatz an einigen Beispiele veranschaulichen: Gott - Teufel, Luzifer, der Antichrist, Himmel - Hölle, ewiger Lohn - ewige Verdammnis, Patriotismus - Vaterlandsverrat, Ordnung - Anarchie, Tugend - Laster, Pflicht - Willkür, Idealismus - Materialismus usw. Jedes Ereignis, jede soziale Bestrebung wird unter ein Schreckgespenst subsumiert, mit gewaltsamer Unterdrückung der widerstreitenden Merkmale. In den letzten hundert Jahren wurden mit besonderem Erfolg als Schreckgespenster solche Abstraktionen verwendet, die zugleich als Sammelbegriffe der gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gerichteten Abänderungs- und Umsturzbestrebungen galten, wie Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus. Die Erfahrungstatsachen, welche die Allgemeingültigkeit des Schreckgespenstes widerlegen, werden unterdrückt, Erscheinungen, die mit diesen Bestrebungen in keinem Zusammenhang stehen, werden unter sie subsumiert. Dieser Tendenz verdankt auch das Freimaurertum seine Bedeutung, die hoch über seiner wirklichen Machtstellung steht. Es sei noch der Antisemitismus bzw. das Judentum erwähnt, das wirkungsvollste Schreckgespenst, über das die Reaktion verfügt und dessen Fangkraft nach dem Krieg vervielfacht wurde. Allerdings muß man zugeben, daß die Erfahrungsgrundlage des Antisemitismus viel größer ist, als die der meisten, üblichen, politischen Schreckgespenster.

Ideale und Schreckgespenster sind  polare  Begriffe, die ohne einander nicht zu existieren vermögen.

3. Relativität. Die bestehenden moralischen, religiösen und juristischen Gesetze, die den Menschen eine bestimmte Handlung vorschreiben, die Ideale, denen sie sich anzunähern haben, sind insgesamt Abstraktionsprodukte, daher relativ, dennoch maßen sie sich Allgemeingültigkeit an. Das Leben besteht aus unausgesetzten Anpassungen, jeder dieser Akte ist das Produkt eines Abstraktionsvorganges, folglich auch relatvi. Es besteht zwischen diesen allgemeingültigen Gesetzen und Idealen und zwischen den menschlichen Handlungen, zwischen der "reinen und praktischen Vernunft" ein unlösbarer Gegensatz. Die Relativität kommt in den Handlungen der Individuen und der Klassen überall zum Durchbruch. Nich in jedem Fall geschieht diese Übertretung bewußt, Autosuggestion und soziale Hypnose sind eifrigt an der Arbeit, doch selbst der primitive Mensch, der völlig unter dem Einfluß autoritärer Ideologien steht, ist in den meisten Fällen darüber im Klaren, daß er durch seine Handlung oder Unterlassung diese Gesetze und Ideale verletzt hat. Wir haben bereits erwähnt, welche grundlegende Bedeutung die Entdeckung hatte, daß eine dauernde Beeinflussung der Mitmenschen am besten dadurch zu erreichen ist, wenn sie dasjenige, was in Wirklichkeit nur den Interessen Einzelner oder Weniger dient, als allgemeingültige Wahrheit annehmen. An dem Tag, wo es gelang, den partiellen Interessen absolute Geltung zu verschaffen, entwickelte sich bereits die Minoritätsherrschaft, worin das Wesen auch der heutigen Gesellschaft besteht.

Der Abstraktionsprozeß gibt den Mechanismus dieser Verabsolutierung ab.  Wir wollen nur an einigen wichtigen Beispielen untersuchen, wie dieser Mechanismus funktioniert.

4. Religion. Alle positiven Religionen sind aus den Bedürfnissen ihrer Zeit entstanden. Um die Herrschaft über die Seelen zu erhalten, müssen sie sich den geänderten Umständen anpassen, die räumlich-zeitlichen Verhältnisse berücksichtigen. Das Christentum - sagt MÜLLER-LYER, - wurde in den Köpfen der Barbaren eine Barbarenreligion, in den Köpfen der Schwarzafrikaner eine Afrikanerreligion. Es liegt im höchsten Interesse jedes Priestertums und jeder Kirche, daß die Dogmen und Vorschriften der Religion der Form nach unabänderlich bleiben, denn eingestandene Reformen würden auch den Abänderungsbestrebungen der Massen Vorschub leisten. Die Anpassung wirkt unausgesetzt, doch wird mit Hilfe des Abstraktionsmechanismus jede neue kirchliche Institution, jede neue Vorschrift als mit den Dogmen übereinstimmend hingestellt. Ihrer großen Anpassungsfähigkeit verdankt die katholische Kirche ihre Erfolge. Die Massen, ja auch die gebildeten Schichten leben vielfach in dem Glauben, daß die Praxis der Kirche ein adäquater Ausdruck der evangelischen Lehren sei. Die wichtigsten Apparate des Abstraktionsmechanismus zur Erreichung dieses Zieles sind: der  Probabilismus [Wahrscheinlichkeitslehre - wp], der den Umständen und Machtverhältnissen die notwendigen Zugeständnisse macht und die  Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp], welche Gott gegenüber dem Übel, das trotz seiner Allmacht und Liebe auf der Erde herrscht, zu rechtfertigen sucht. Die  jüdischen  und  mohammedanischen  Verhaltens- und Speiseregeln sind von den südlichen klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen abgezogen worden. Juden und Mohammedaner leben jetzt massenhaft unter ganz anders gearteten Verhältnissen. Es ist bekannt, mit welcher Spitzfindigkeit Rabbinerkunst und Imamweisheit für die Anpassungen den Weg frei machten, ohne die Allgemeingültigkeit der Regeln nur im Geringsten aufzugeben. Der Abstraktionsmechanismus der römischen Kirche verfügt über einen glänzenden Ventilapparat, über das  Sakrament der Beichte,  die es jedem Gläubigen ermöglicht, den praktischen Relativismus der alltäglichen Handlungen mit der Verehrung der allgemeingültigen Prinzipien, den praktischsten Materialismus mit dem hochfliegendsten Idealismus zu vereinigen. Die päpstliche  Infallibilität [Unfehlbarkeit - wp], die praktisch zur Unfehlbarkeit eines jeden Priesters führt, beruth auf einer Abstraktion; die Tatsache, daß der Papst, wenn er  ex cathedra [vom Papststuhl herunter - wp] spricht, ebenso menschliche Unvollkommenheiten besitzt, als wenn er einen gewöhnlichen Ausspruch tut, wird vernachlässigt.

Dank diesem glänzenden Mechanismus kann sich die katholische Kirche erlauben, viel entschiedener als irgendeine andere Kirche oder Konfession für die Klassenherrschaft, für den Kapitalismus, für die Arbeitgeber einzutreten. Keine irdische Einrichtung hat je mehr für die Befestigung der in der Erfahrung erkennbaren wirtschaftlich-sozialen Ungleichheit der Menschen beigetragen als die katholische Kirche und doch genießt sie das Vertrauen großer Massen, die unter dieser Ungleichheit auf das Bitterste zu leiden haben. Diesen Einfluß verdankt sie ihren abstrakten Prinzipien, welche alle Menschen als gleichmäßig zur Unsterblichkeit berufen betrachten und damit die restlose Verwirklichung der Gleichheit in ein Gebiet verlegen, das der Erfahrung nicht zugänglich ist.  Die Kirche, die den besten Mechanismus für praktische Relativität abgibt, tritt immer als oberste Beschützerin und alleinige Inhaberin allgemeingültiger Wahrheiten auf.  Sie ist an der Erzeugung der Schreckgespenster vornehmlich beteiligt, jeder ihrer Bannflüche ist eine Abstraktion, die einen ihr gefährlich erscheinenden Vorgang unter ein Schreckgespenst subsumiert. Doch zeigt ihre Geschichte, daß selbst dieser untrügliche Mechanismus oft versagt, weil die Inanspruchnahme infolge des äußeren Drucks so übermäßig wird, daß sie die Leistungsfähigkeit des Apparates übersteigt. Es mehren sich die Erfahrungstatsachen, welche die Allgemeingültigkeit der Ideale und der Schreckgespenster erschüttern, die bisher vernachlässigten Elemente kommen stürmisch zum Vorschein. Die Rolle der Engel und der Teufel wird vertauscht, LUTHER erklärt das Papsttum für Teufelshandwerk. Die früheren Revolutionen entsprangen sozialen Ursachen, doch hatten sie alle eine religiöse Färbung, die als Gegenwirkung gegen den Mißbrauch des religiösen Abstraktionsmechanismus entstanden ist.

5. Moral. Die herrschende Moral stützt die bestehende Gesellschaftsordnung teils mittelbar, indem sie solche Gebote und Ideale aufstellt, welche von den Interessen der herrschenden Klasse abgezogen und für allgemeingültig erklärt wurden, teils indirekt, indem sie dem handelnden Menschen unerreichbare Ideale setzt. Diese Moral hat einen ähnlichen Doppelmechanismus wie die Kirche, nur daß seine Leistungsfähigkeit eine geringere ist, weil er nicht von solchen elementaren und triebartigen Gefühlen gespeist wird.  Der Abstraktionsapparat der Moral besitzt auch einen Doppelboden und hat besondere Sicherheitsventile für die privilegierte Klasse.  Es entsteht ein Dualismus zwischen dem Relativismus der menschlichen Handlungen und einer Allgemeingültigkeit der moralischen Gesetze. Die herrschenden Klassen können sie straflos verletzen, weil ihre Autorität, die Macht der Tradition, die Weihe durch die Kirche und letzten Endes die Strafgesetze sie schützen und entlasten. Die Massen stehen wehrlos da, weil sie vom Besitz des Abstraktionsapparates ausgeschlossen sind und ihre Handlungen nicht und die allgemeingültigen Regeln zu subsumieren vermögen.

Eine Moral, deren Gebote jeden Menschen gleichmäßig ohne Rücksicht auf seine Klassenzugehörigkeit verpflichten, ist in einer Gesellschaft, die aus Klassen besteht, von denen eine über die anderen herrscht, eine nicht realisierbare Abstraktion.

Rigorismus, Formalismus, Idealismus sind die herrschenden ethischen Ideale; Eudämonismus, Utilitarismus, Materialismus - die ethischen Schreckgespenster.

Bei der Beurteilung jeder Handlung werden zahlreiche Abstraktionen begangen; hauptsächlich aber in der Beurteilung der Handlungen der herrschenden Klassen, die ganz und gar so betrachtet werden, als ob ihr Verhalten immer den allgemeingültigen Moralgesetzen entspräche. Den Massen gegenüber wirkt der Abstraktionsapparat viel schärfer, die widerstreitenden Elemente ihrer Handlungen werden nicht vernachlässigt, sondern ihnen streng aufgerechnet. Es ist ein großer Irrtum NIETZSCHEs, wenn er meint, daß die christliche Moral eine Schranke im Kampf ums Dasein ist, die die Schwachen vor den Starken schützt. Er vernachlässigt den Unterschied zwischen den abstrakten Lehren des Evangeliums, besonders der Bergpredigt, und zwischen der tatsächlichen, durch die Kirche geförderten praktischen Moral. Die letztere dient zur Befestigung der bestehenden Zustände und schützt eigentlich die "sozial" Stärkeren vor den Schwächeren, denn sie hält diese davon zurück, daß sie sich mit vereinten Kräften gegen die Gesellschaftsordnung auflehnen. Die Moral der Evangelien bildet ein unteilbares Ganzes mit der Heilslehre und die Vertröstung auf das Jenseits mildert die Empörung der Massen, wenn sie auch bemerken, daß das Verhalten der herrschenden Klassen einen bitteren Hohn auf die evangelische Moral spricht.

NIETZSCHEs Morallehre beruth auf einer Abstraktion, deren er sich nicht bewußt war. Er sieht als höchstes Ziel die Entwicklung des Übermenschen, eine neue höhere Menschengattung an. Der Weg, der zu diesem Ideal führt, ist der DARWINsche Kampf ums Dasein, die natürliche Auslese. Der Kampf muß jenseits von Gut und Böse geführt, alles Schwache muß erbarmungslos vernichtet werden. Er ersetzt die von ihm falsch gedeutete christliche Moral durch die Herrenmoral, die allein zur Züchtung des Übermenschen dienen soll. Er läßt außer acht, daß die Begriffe "stark" und "schwach" mehrfacht, körperlich, seelisch und sozial gedeutet werden können und daß nur die sozialen Machtverhältnisse einer privilegierten Gruppe der Menschen, die eben nach NIETZSCHEs Auffassung minderwertig ist, die Gloriole der Stärke verleihen. Es ist kein Wunder, daß die Übermenschtheorie zur willkommenen Beute der Reaktion geworden ist, welche die Vernachlässigung des oben angeführten Unterschiedes mißbrauchend, der Herrschaft der sozial Stärkeren mit Hilfe von NIETZSCHEs Ideal Allgemeingültigkeit zu verleihen sucht.

6. Weltanschauung und Lebensführung.  Die Weltanschauung der Massen ist ein eigenartiges Gemisch von krassem Materialismus und überschwänglichem Idealismus, ein Konglomerat von praktischem Relativismus und theoretischer Absolutheit.  Die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, die Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen zwingen die Menschen relativistisch zu handeln, denn eine vollständige Unterdrückung der biologischen Bedürfnisse würde die Massen in hellen Aufruhr treiben. Andererseits empfangen die Massen durch Kirche, Schule und Überlieferung Ideen und höchst gesteigerte Abstraktionen über Sinn und Wert des Lebens, über die letzten Gründe des Seins. Diese sind alle transzendent und durch die Erfahrung nicht kontrollierbar. Dieser ihnen aufgedrängte Idealismus läßt sie die Gebrechen der Gesellschaftsordnung nicht erkennen, ja er erzieht sie zum Gehorsam und gibt den sozialen Einrichtungen die nötige Autorität. Die mittlere Linie, eine mehr positivistische Weltanschauung mit erreichbaren und kontrollierbaren Idealen fehlt beinahe vollkommen, der Abstraktionsapparat der Klassenherrschaft unterdrückt sie schonungslos. Erst seit der Erstarkung der Sozialdemokratie ist ein Fortschritt auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Das ist der tiefere Grund der Tatsache, die bereits F. A. LANGE erkannt, doch nicht nach ihren sozialen Auswirkungen gewertet hat, daß die Spekulation es überhaupt liebt, auf dem Gebiet des menschlichen Denkens das Niedrigste und das Höchste in Verbindung zu bringen, gegenüber der relativistischen Mitte.

Die herrschende Klasse und ihre geistigen Helfershelfer waren stets bemüht, den Massen solche Prinzipien der Lebensführung aufzuerlegen, die zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung beitrugen. Ein folgerichtiger Zug geht durch die ganze Geschichte, die den Interessen einer feudal-militaristischen Kaste entspringenden Ideale wurden der ganzen Gesellschaft aufgezwungen. Wie dieser Zug noch heute wirksam ist, zeigt die Neubelebung des militaristischen Geistes in allen europäischen Ländern. Jahrhundertelang beherrschte die Ideologie de Rittertums das Denken der Menschen. Das Streben in der Lebensführung, das vom Adel geschaffene Idealmaß zu erreichen, sicherte dem Adel einen übermäßigen Einfluß selbst in den Zeiten, wo bereits die industriell-kaufmännische Bourgeoisie den Staat wirtschaftlich beherrschte. Noch vor kurzer Zeit war es das sehnlichste Bestreben der bürgerlichen Jugend, das Ideal eines Duellhelden oder des Reserve-Offiziers in ihrer gesamten Lebensführung zu verwirklichen. In Amerika ist das gesellschaftliche Ideal der verwegene, rücksichtslos, geriebene  business-man,  der nur das Geschäft im Auge hat und mit allen Mitteln reich zu werden trachtet. Dieses Ziel spornt auch die amerikanischen Arbeitermassen an und macht sie blind gegen die Schattenseiten dieses Typus und die schrankenlose Ausbeutung, ohne die der  business-man  seine Ziele nicht erreichen kann. Die  Nachahmung  der Ideale der herrschenden Klasse stärkt die Gesellschaftsordnung, denn die Grundlage der Nachahmung ist die Autorität und Bewunderung der Mächtigen. Diesem Ziel dient auch der  Traditionskult,  die Verherrlichung der Vergangenheit, wobei selbstverständlich von den Gebrechen und Unvollkommenheiten der führenden Männer der Vergangenheit möglichst abstrahiert wird. Die von der herrschenden Klasse zur Schau getragene Religiosität dient auch der Erhaltung der Gesellschaftsordnung als Domestikationsmittel (MAX WEBER).

Es war ein bewußtes Streben METTERNICHscher Regierungskunst, die Aufmerksamkeit der Wiener Bevölkerung von der Politik abzuleiten und auf Belustigungen, Unterhaltungen, Amusements zu lenken. Dieses Bestreben war lange Zeit von Erfolg begleitet, das "gmütliche Wien", "sgibt nur a Kaiserstadt" wurden zu den Idealen der Lebensführung, das Amüsieren, das "Drahn" des Lebens höchstes Ziel. Bürger und Arbeiter stürzten sich mit allen Kräften in die Unterhaltungen und durch die "geistige" Konzentration verdrängen sie aus ihrem Bewußtsein die politische Willkür, die Polizei- und Spitzelwirtschaft, die wirtschaftliche Ausbeutung. Als dann unter dem Druck der politischen und wirtschaftlichen Zustände die Vernachlässigung nicht mehr möglich war, brach die Märzrevolution aus. Die METTERNICHsche Methode wurde auch später fortgesetzt, doch vermochte sie den politischen Sturz der Großbourgeoisie, das Emporkommen des Kleinbürgertums und das Vorwärtsdrängen der Sozialdemokratie nicht mehr hintanzuhalten. Man kann für die geistige Seichtheit der franko-josephinischen Ära kaum eine würdigeren Ausdruck finden, als die Figur des Wiener  Fiakerkutschers,  der das Idol mehrerer Generationen war, die keine Mühe scheuten, um sich an Ausdrucksweise, Gehaben, "Hamur" [wienerisch für Humor - wp], "Blödeln" und Kulturfeindlichkeit dem Fiaker anzunähern. Der Sturz des Kaisertums räumte endgültig mit diesen Abstraktionen auf, alle Neubelebungsversuche scheitern kläglich.

Mit jedem Ideal wird sein polares Schreckgespenst in die Welt gesetzt.  Solange ausschließlich der Adel den Staat beherrschte, wurden Bauer, Bürger und Arbeiter als Inbegriff aller Laster, Gemeinheit und Unwürdigkeit typisiert. An diesen Zerrbildern wollte man den unteren Volksklassen zeigen, wohin es führen kann, wenn die Macht vom Adel, vom Inbegriff aller Tugenden, Vornehmheit und Würde auf diesen minderwertigen Menschentypus übergeht. Die Geschichte beweist, daß es immer und immer wieder gelang, die Massen zu diesem Geständnis zu bringen, sie erlagen dem Blendwerk der Abstraktion.

7. Recht. Das Recht ist nach KANT die Einschränkung der Freiheit der Mitglieder einer Gemeinschaft zwecks Zusammenstimmung mit der Freiheit der übrigen. Diese Definition, die das Hauptgewicht auf einen partiellen Tatbestand, auf den formalen Standpunkt legt, vernachlässigt vollkommen die tatsächlichen Verhältnisse. Wenn auch für die Majorität der Gesellschaft diese Bindung tatsächlich besteht, läßt sich die herrschende Minorität erst binden, wenn dies ihren Interessen entspricht. Die Massen unterwerfen sich der Rechtsordnung in dem anerzogenen Glauben, daß diese Einschränkungen der herrschenden Klasse auch auferlegt werden. Die Rechtsgleichheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, mag sie in allen Verfassungen noch so hervorgehoben werden, ist nirgends verwirklicht, weil eben die herrschende Klasse im Besitz der Gesetzgebung und der bewaffneten Macht mit Unterstützung der ihr botmäßigen Gerichte und Rechtswissenschaft immer zu verhindern vermag, daß die Rechtsgleichheit aus einer Allgemeingültigkeit vortäuschenden Abstraktion in Wirklichkeit umgewandelt wird. Die Sophisten und mit ihnen NIETZSCHE meinten, daß das Recht eine Erfindung der Schwachen ist, um sich dadurch vor den Stärkeren zu schützen. Das gleiche wurde auch von der Moral gesagt, doch dort ebenso falsch wie hier, die Funktion des Rechts besteht meistens darin, daß die Starken noch stärker werden.

Jedes Gesetz ist der Ausdruck der Machtverhältnisse der Gesellschaft,  niemals wird es gegen die Interessen der herrschenden Klasse verstoßen, außer daß die unteren Klassen die notwendige Macht haben, ihren Willen durchzusetzen.  Die Gesetzgebung ist auch ein Abstraktionsapparat;  die Aufgabe, die es zu lösen hat, ist folgende: Man finde eine Formel, welche die Interessen der Gesetzgeber in einem konkreten Fall befriedigt und doch allgemeingültig gefaßt ist. Nicht immer handelt es sich um die ganze herrschende Klasse, manchmal sind kleine Gruppen oder einzelne Personen bevorzugt. Die Bedingungen der durch die Rechtsregel gewährten Vorteile sind zwar allgemein, aber doch so formuliert, daß sie nur Wenigen zugute kommen. Jeder Zoll- und Eisenbahntarif ist das Ergebnis langwieriger Beratungen und heftiger Kämpfe, welche die Interessierten gegeneinander und die Regierung, jedenfalls aber gegen die konsumierende Bevölkerung führen. Der Ausgleich geschieht meistens auf Kosten der letzteren. Es wird aber nicht ausgesprochen, daß die Fabrik  X,  das Bergwerk  Y,  oder der Großgrundbesitzer  Z  und alle, die denselben Kategorien angehören, von Staats wegen Zollschutz, Tarifermäßigung, Exportprämien, Refaktien als Geschenk bekommen. Dies würde böses Blut machen, daher erteilt man die Begünstigungen in einer allgemeingültigen Form, nur die Eingeweihten und Schriftkundigen wissen Bescheid.  Jeder  Tarifsatz ist eine kondensierte Abstraktion, die bevorzugten Elemente sind in eine allgemeingültige Form eingekleidet.

Solange die unteren Volksklassen ohnmächtig sind, werden nur diejenigen Verfügungen der Gesetze eingehalten, die den Interessen der Gesetzgeber dienen; die sie verpflichtenden Regeln, welche sie, um den Schein der Rechtsgleichheit zu wahren, in den Text aufgenommen haben, bleiben unvollstreckt. Infolge dieser immanenten Verlogenheit des Rechtslebens mehren sich die Widersprüche, bis der Druck der vernachlässigten Elemente unwiderstehlich wird; die irregeführten Massen setzen Reformen durch oder treten in Revolution.

Ist die herrschende Klasse gezwungen, in den Gesetzen Zugeständnisse zu machen, dann zieht sie sich auf die zweite Verteidigungslinie, in das Gebiet der Rechtsanwendung zurück, wo sie durch die ausgezeichneten Dienste der Gerichte unterstützt, einen zähen Stellungskampf führt.  Die Rechtsanwendung ist ein vielfältiger Abstraktionsprozeß  und besteht darin, daß der konkrete Tatbestand unter eine Rechtsregel subsumiert wird. Bereits die Feststellung unter eine Rechtsregel geschieht durch Abstraktion, eine Reihe von Umständen wird vernachlässigt, andere hervorgehoben. Jede Rechtsregel enthält einen typisierten Tatbestand und ist das Ergebnis - da sie meistens mehrere Begriffe enthält - mehrerer Abstraktionen. Die normierten Tatbestände spiegeln die Verhältnisse und die Interessen der herrschenden Klasse wieder. Dann folgt die  Subsumtion,  es werden der gesetzliche und tatsächliche Tatbestand zur Deckung gebracht, was immer unter Vernachlässigung gewisser Elemente erfolgt. Je weniger die Gesetze den wirtschaftlichen und sozialen Interessen der großen Massen entsprechen, desto gewaltsamer muß die Abstraktion sein. Ändert sich die wirtschaftliche Lage zu ungunsten der herrschenden Klasse, dann legen die Gerichte auf kühnste Weise die Gesetze aus, mit gewaltsamer Abstraktion subsumieren sie den bevorzugten Tatbestand unter eine andere vorteilhafte Gesetzesregel oder greifen zur freien Rechtsfindung, zur Schaffung neuer Regeln. So entsteht die Gerichtspraxis, das Gewohnheitsrecht. Diesen Gang nahm in Rom die Entwicklung des Prätorenrechts, in England das  judge made law,  in beiden Fällen vermied man es einzugestehen, daß das bisherige Recht abgeändert wurde, weil dieses Geständnis die Massen ermutigt hätte, auch ihrerseits Veränderungen zu verlangen. Das alte Gesetz blieb weiter in Geltung, es wurde nur "richtiger" ausgelegt und angewendet.

Die Tätigkeit der Gerichte ist weniger kontrollierbar als die der Gesetzgebung. Durch die Anwendung der juristischen Formeln, die die Laien nicht verstehen, wird der Schein der Allgemeingültigkeit gesichert. Diese Tätigkeit steht unter dem Schutz einer allmächtigen Abstraktion, der  Unabhängigkeit der Gerichte,  an die blind geglaubt wird. Überall sind die Richter Mitglieder der herrschenden Klassen, in deren Mentalität und Ideologien erzogen. Infolge ihrer gesicherten Stellung sind sie in dem Sinne unabhängig, daß sie der Änderung des Zeitgeistes und der demokratischen Entwicklung weniger Zugeständnisse zu machen gezwungen sind, als die Gesetzgebung und die Regierungen. Wir sehen jetzt, wie die Gerichte der neuentstandenen Republiken diese Staatsform sabotieren. Das unabhängige Richtertum ist einer der vornehmsten Abstraktionsapparate der Klassenherrschaft.

Die Schematisierung, Bürokratisierung, die Formularanwendung, die Entscheidung nach Präzedenzfällen im Gerichts- und administrativen Verfahren sind Abstraktionsvorgänge und dienen meistens dazu, den Rechtsunkundigen Allgemeingültigkeit in der Rechtsanwendung vorzutäuschen.

8. Politik. Sie umfaßt verschiedene Betätigungen, vornehmlich auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung. Sie ist des weiteren eine auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Interesse eines bestimmten Programmes gerichtete Tätigkeit, eine  Agitation.  Die Politik ist auch eine  massenpsychologische Experimentierkunst,  um zu erforschen, welche Wirkung die Durchführung oder Unterlassung gewisser Maßregeln auf die Massen ausübt.

Die politische Agitation besitzt gleichfalls ihren Abstraktionsapparat, dem die Aufgabe zukommt, einem partiellen Interesse Allgemeingültigkeit zu verschaffen, Ereignisse und Tatsachen hervorzuheben, solche zu vernachlässigen, Ideale und Schreckgespenster zu bilden. Solange die Gesellschaftsordnung noch nicht erschüttert ist, befindet sich dieser Apparat im Alleinbesitz der herrschenden Klassen. Jede politische Tätigkeit ist zugleich eine Subsumtion, jedes neu erbrachte Gesetz, jede geplante politische Maßnahme wird unter das herrschende Ideal subsumiert. Man will den Massen, den aus dem Vollbesitz der politischen Macht ausgeschlossenen Schichten die Überzeugung suggerieren, daß das Zustandekommen und die Funktionierung der politischen Einrichtungen, die Tätigkeit der führenden Politik und Parteien diesem Ideal gemäß sind. Ein Hauptgrundsatz der parlamentarischen Verfassung ist, daß der parlamentarischen Majorität das Recht zukommt, die Regierung zu stellen und ihren Willen durchzusetzen, während die Minderheit verpflichtet ist, sich diesem Willen zu fügen. Dieser Grundsatz hat zur Voraussetzung, daß die Mehrheit der wirkliche Ausdruck des unverfälschten Volkswillens aufgrund eines allgemeinen Wahlrechts ist. Im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung war jede Partei bemüht, dieses Prinzip zu verfälschen. Sie errang die Majorität mit den verwerflichsten Mitteln, doch verlangte sie die Herrschaft für sich, als ob die Mehrheit der wirkliche Ausdruck des Volkswillens wäre. Ein klassischer Vertreter dieser Abstraktion war der ungarische Ministerpräsident Graf STEPHAN TISZA, der sich eine parlamentarische Majorität mit allen Mitteln des bewaffneten Terrors und der Korruption erwarb und als glühender Verfechter des Mehrheitsprinzips die Obstruktion der empörten Opposition, welche die Majorität der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt und nur durch eine gekünstelte Wahlkreiseinteilung in der Minderheit blieb, mit blanker Gewalt und durch die Vernichtung sämtlicher Freiheitsrechte niederwarf.

Je rücksichtsloser in einem Land die Klassenherrschaft waltet, desto größer ist die Kluft zwischen den politischen Schlagwörtern und den wirklichen Zuständen,  weil sie schonungslos alle Mittel verwendet, um die Aufdeckung dieses Gegensatzes zu verhindern.  Die Rückständigkeit eines Landes kann am Grad der herrschenden politischen Abstraktionen gemessen werden.  MARX verspottet die deutschen Literaten, daß sie die ziemlich konkret gefaßten Ideen der französischen sozialistisch-kommunistischen Literatur in eine äußerst abstrakte, philosophische Sprache übersetzten und sie so förmlich entmannten, "hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie  Entäußerung des menschlichen Wesens,  hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie  Aufhebung der Herrschaft des Abstrakt-Allgemeinen  usw." Der Grund dieser Tatsache ist hauptsächlich darin zu finden, daß in der Zeit des Julikönigtums in Frankreich bereits eine gewisse politische Freiheit herrschte, während in Deutschland noch schrankenlos die Reaktion waltete. Ein Teil der Gelehrten bediente sich bewußt der abstrakten Formeln, um alle Zusammenhänge mit den bestehenden Zuständen zu verhüllen; doch befahl eine instinktive Vorsicht selbst den fortschrittlichen deutschen Literaten, sich abstrakter zu fassen, um nicht mit dem Polizeistaat in Konflikt zu geraten.

In Deutschland und Österreich sind seit der Revolution politische Schlagwörter in Mode gekommen, die trotz ihrer scheinbar allgemeingültigen Fassung gegen die Republick, besonders aber gegen den Hauptträger der neuen Staatsform, gegen das Industrieproletariat gerichtet sind. Einige seien hier erwähnt. Es werden überall Rufe nach der  "starken Hand"  laut, die mit unbeugsamer Energie den verfahrenen Staatskarren wieder ins Geleis zu bringen vermöchte. Verlangt man nach einer detaillierteren Ausführung dieses Wundermittels, dann stellt sich heraus, daß diese Energie nur gegen die Arbeiterschaft gewünscht wird. Ebenso laut ist das Verlangen nach den  "unpolitischen Fachleuten".  Auch die Baltikumtruppen, als sie im März 1920 gegen Berlin marschierten, um die gesetzliche Regierung zu stürzen, haben die gleiche Forderung gestellt. Man hätte es rührend finden können, wie diesen schlichten Soldaten der Triumph des Fachwissens am Herzen gelegen war, wenn man nich wüßte, daß diese Forderung in Wirklichkeit die Absetzung der erwählten Vertrauensleute des Volkes und ihre Ersetzung durch Fachleute bedeutete, die insgesamt der alten Bürokratie, der Schwerindustrie und dem Finanzkapital angehörten. Das Schlagwort  "Arbeiten und sparen"  ist ein versteckter Angriff gegen den Achtstundentag und das höhere Lohnniveau; seinen Verkündern fällt es gar nicht ein, von den Besitzenden gleich hohe Opfer zu verlangen.

Das russische Rätesystem ist die denkbar folgerichtigste Verwirklichung des Machtprinzips und hat einen durchaus absolutistisch-apriorischen Charakter.  Sein Abstraktionsapparat muß mit der größten Kraftanwendung arbeiten, weil der Kommunismus eine neue Gesellschaftsordnung abgibt, der eine ihr entsprechende Mentalität, welche bisher das Produkt einer langwierigen geschichtlichen Entwicklung war, in wenigen Jahren hervorzaubern will. Da er bei dieser Umschaltung nicht auf die Überlieferung, die Religion und die freiwillige Unterwerfung der Massen rechnen kann, muß er diese Einflüsse durch eine gesteigerte Abstraktionstätigkeit ersetzen. Es wird im Namen des Proletariats und des Bauerntums regiert und dabei unterdrückt, daß die Sowjetrepublik in der Tat nur die Herrschaft der von der Roten Armee getragenen kommunistischen Partei, daher wieder einer Minorität ist. Man will die Ziele, die Praxis und die Methoden des Bolschewismus dem westländischen Proletariat aufzwingen und vernachlässigt dabei, daß dieselben keine allgemeingültigen Gesetze, sondern nur von den spezifisch russischen Verhältnissen, besonders aber von den Wechselfällen der russischen Revolution seit dem Jahr 1917 abgezogen worden sind.

9. Öffentliche Meinung. Bei ihrer Gestaltung und Beeinflussung ist die bestehende Macht stets bemüht, das Denken der Menschen im Interesse der Erhaltung der Gesellschaftsordnung in ein autoritäres Schema hineinzupressen, in dem die überlieferten Ideologien das Übergewicht haben, sämtliche Vorstellungen und Begriffe, welche die bestehende Macht erschüttern könnten, aus dem Bewußtsein der Massen zu verdrängen.

Ein verläßlicher Abstraktionsapparat in der Gestaltung der öffentlichen Meinung ist die  Presse.  Sie erteilt schematisiertes Wissen, die enthüllenden Tatsachen werden entweder ganz unterdrückt, oder in einer der Klassenherrschaft günstigen Einkleidung aufgetischt, als Bestätigung der von einem Blatt verkündeten Wahrheiten und Ideale erklärt. Jedes Blatt tritt als Organ der öffentlichen Meinung, als Vertreter des Gemeinwohls auf, wobei geflissentlich davon abstrahiert wird, daß die meisten Blätter, wenn sie nicht ausgesprochene Parteiblätter sind - und diese sind die weniger gefährlichen, - im Dienst mächtiger Kapitalistengruppen stehen und nur die einzige Bestimmung haben, den Sonderinteressen dieser Gruppen den Schein der Allgemeingültigkeit zu sichern.

10. Nationalökonomie. Die Schlagwörter des Merkantilismus, des Liberalismus, der Freihandels- und Schutzzollbewegung sind Abstraktionen, die alle auf das Interesse der wirtschaftlich Stärkeren zugespitzt sind. Freihandel klingt allgemeingültig, die ganze Menschheit umspannend, es wird dabei vernachlässigt, daß er bisher Hand in Hand mit der Ausbeutung der Arbeiterklasse ging, wie es zuerst MARX aufdeckte. Auch BISMARCK sah, daß die durch den Freihandel hervorgerufene Billigkeit der Waren durch die elende Lebenshaltung der Arbeiter erreicht wird, allerdings erst dann, als er dem Druck der Schwerindustrie und der ostelbischen Grundbesitzer weichend, in das Lager der Schutzzöllner übergegangen war. Die Schutzzollbewegung verkündet den Schutz der nationalen Produktion, wobei selbstverständlich auch die Arbeiterklasse mit inbegriffen ist. Doch in der Wirklichkeit bedeutete dieses System immer nur die staatliche Unterstützung der Industriellen und niemals den Schutz der Arbeiter. Manche volkswirtschaftliche Theorie ist auch ein Abstraktionsapparat, "um die herrschende Produktionsweise in Einklang mit der herrschenden Aneignungsweise erscheinen zu lassen, sieht sie von den eigentümlichen und wesentlichen Eigenschaften der modernen Produktionsweise ab und stellt diese so dar, als wäre sie die einfache Warenproduktion" (KAUTSKY).

11. Geschichtsschreibung. Wer Geschichte schreibt und nicht in der Fülle des Materials ersticken will, muß eine Auswahl unter den Tatsachen treffen, eine abstraktive Tätigkeit entfalten. Mag bei dieser Auswahl die Unkenntnis auch ihren Beitrag leisten, doch entscheiden darüber hauptsächlich soziale Einflüsse, in welcher Richtung die Auswahl geschieht.

Die ältere Geschichtswissenschaft, deren Methoden noch heute vielfach in Verwendung stehen, schrieb eine Geschichte der Kriege, Dynastien und herrschenden Klassen. Sie abstrahierte vollkommen von den sozialen und wirtschaftlichen Tatsachen, von den Massenbewegungen. Erst nachdem die unteren Volksklassen zur politischen Geltung gelangten, berücksichtigte man auch diese Tatsachen. Allerdings bringt manche Richtung der "ökonomischen" Geschichtsschreibung das Kunststück zustande, daß sie trotz Berücksichtigung der ökonomischen und sozialen Faktoren eine glänzende Apologie [Rechtfertigung - wp] der Klassenherrschaft liefert. Die Geschichtsschreibung wird zu oft in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt, ihre Bestrebungen werden günstig gedeutet, alle Ereignisse und Personen unter die Ideale oder Schreckgespenster subsumiert, deren sich diese Klassen gegenwärtig bedienen.

12. Krieg. Der Krieg wurde von jeher als Stahlbad, als die Entfaltung und der Inbegriff aller nationalen Tugenden gepriesen, seine furchtbaren Folgen und Begleiterscheinungen vernachlässigt. In diesem Weltkrieg erlangte aber dieser Begriff eine Steigerung, die jedes bisherige Maß überschritt. Der Abstraktionsapparat funktionierte unter dem Schutz des Belagerungszustandes, des Standrechts, der Zensur und der Terrorisierung der öffentlichen Meinung beinahe untrüglich. Das Phrasenheldentum des Hinterlandes wurde mit den unsäglichen Blutopfern der Front identifiziert, eine Reihe von Schreckgespenstern: Schwarzseher, Flaumacher, Drückeberger, Defätismus [Mutlosigkeit, Schwarzseherei - wp] usw. in die Welt gesetzt.  Zwei Kriege wurden geführt,  der eine in der Wirklichkeit, der andere in den Berichten der Heeresleitungen und der Zensurbehörden, die Ereignisse des ersten wurden gewaltsam unter die erfundenen oder zurechtgestutzten Ereignisse des zweiten subsumiert. Ein englischer Kapitän WRIGHT, der im Krieg beim Obersten Kriegsrat der Alliierten in Diensten stand, sagt in seinem Memoiren darüber solche treffende Worte, daß ich nicht umhin kann, sie anzuführen:
    "Die Generäle brauchen keine Siege zu erringen, keine Schlachten zu gewinnen, das unterjochte Pressebüro und die zahme Herde der Sonderberichterstatter tun es für sie. Es wird für Generäle sogar überflüssig, Kriege zu gewinnen, sie gelten fast ebensosehr als Sieger auch wenn sie sie verlieren."
Dieser Abstraktionsapparat wirkt aber darum so fieberhaft, weil die reaktionären Parteien diese Legende noch mehr brauchen als die geschlagenen Generäle.

13. Literatur und Kunst. Ihre Schöpfungen sind Produkte einer idealisierenden Abstraktion, ihre Ausdrucksmittel symbolisch. Als durch und durch anthropomorphistisch, kommen sie der menschlichen Psyche viel näher als die Wissenschaften, weil sie die im Unterbewußtsein schlummernden Vorstellungen und Gefühle erwecken und assoziieren, die mit den Mitteln der begrifflichen Sprache nicht angerecht werden können. Sie stehen meist im Bann autoritärer Ideologien und gaben bisher den vornehmlichsten Abstraktionsapparat der Klassenherrschaft ab.  Die Ideale und Schreckgespenster, welche Kunst und Literatur schufen, sind an Wirkungsintensität nicht zu übertreffen.  Daß ihnen auch in der Vorbereitung der Revolutionen eine große Rolle zukommt, will durchaus nicht geleugnet werden.

14. Revolution. Es klingt vielleicht metaphysisch, doch müssen wir sagen, daß  die Revolution die Erhebung und Auflehnung der vernachlässigten Elemente gegen die hervorgehoben ist,  deren unerträglich gewordenes Übergewicht die Sprengung veranlaßt. Der Zusammenbruch geschieht meist allmählich, stufenweise, so daß die Machthaber sich dem Druck anzupassen, Veränderungen vorzunehmen, den Inhalt der herrschenden Abstraktionen zu erweitern vermögen. Sind diese Zugeständnisse ernst und ausgiebtig, dann kann die bestehende Gesellschaftsordungung mit erheblichen Abänderungen aufrechterhalten werden. Beruth aber diese Anpassung auf Täuschung, dann wird zwar die Krise vertagt, doch die Eruption bricht umso ungestümer los.

Die Geschichte vieler Staatswesen ist nichts als eine schleichende Krise, die sich manchmal jahrundertelang fortschleppt. Der österreichische Staat war eine Abstraktion auf den Leib der habsburgischen Monarchie zugeschnitten, die durch eine zeitweilige Erweiterung ihrer Grundlagen mühselig am Leben erhalten wurde. In den letzten Jahrzehnten litt er an einer unheilbaren  Obstruktionskrankheit. [Verstopfung - wp] Die vernachlässigten Elemente, die "ungeschichtlichen" Nationen und Klassen zu neuem Leben erwacht, ließen sich nicht mehr in den enggezogenen Rahmen der Doppelmonarchie einpressen und wollten denselben um jeden Preis sprengen. Als die militärische Macht zusammenbracht, hörte wie mit einem Schlag die habsburgische Monarchie auf.

In primitiven Gesellschaften, wo die Klassengliederung eine einfache, die Bedürfnisse undifferenziert und leicht zu befriedigen sind, is die Grundlage der Abstraktionen eine breite, nur wenige Merkmale werden vernachlässigt. Diese Gesellschaften zeigen eine ungeheure Stabilität.

Die bisherigen religiösen und bürgerlichen Revolutionen zeigten alle dasselbe Bild; die vernachlässigten Merkmale verabsolutieren sich nach erfochtenem Sieg, sie erkämpfen sich ein selbständiges, reales und absolutes Sein; die Herrschaft neuer Klassen mit Hilfe neuer Abstraktionen nimmt ihren Anfang. Diesen Weg schlug auch die bolschewistische Revolution in Rußland ein.

Jede Gesellschaftsordnung zwingt ein bestimmtes Verhalten, ein Seinsollen den Untergebenen auf. Ist diese Ordnung geeignet, die Befriedigung der Bedürfnisse der Massen zu gewährleisten, dann ist ihr auch ohne die Anwendung von Gewaltmitteln eine längere Dauer beschieden. In solchen Fällen kann man sagen, daß sich die Gesellschaftsordnung für die Erfassung der "sozialen" Wirklichkeit eignet. Doch zeigt die Geschichte, daß solche Fälle selten zu verzeichnen sind; meistens ist die Gesellschaftsordnung das Produkt einer übertriebenen Abstraktion mit einer äußerst schmalen Grundlage. Sie täuscht zwar Allgemeingültigkeit vor, doch befriedigt sie nur die Interessen einer kleinen Minderheit. Um den Ansturm der vernachlässigten Elemente aufzuhalten, bedarf diese Herrschaft des Schutzes einer bewaffneten Macht, die umso mehr aus ihrem Zusammenhang mit der Volksgemeinschaft gelöst wird, je kleiner die Gruppe ist, die über die Mehrheit der Bevölkerung herrscht. Das Volksheer beschützt nur diejenige Gesellschaftsordnung, die über eine breitere Grundlage verfügt, bricht eine Revolution aus, so versagt es meistens. Willkürregimente, zugespitzte Klassenherrschaften stützen sich auf Prätorianertruppen, Janitscharen, auf eine künstlich gezüchtete Soldateska. Diese rekrutiert sich meistens aus den vernachlässigten Elementen, aus den unterdrückten Volksklassen, doch werden sie von ihnen abgezogen, abstrahiert, die Verbindungen unterbrochen, ihre Interessen unter die der herrschenden Gruppe subsumiert, mit diesen zur Deckung gebracht.  Je übertriebener die wirtschaftlich-politische Abstraktion ist, desto mehr muß sie sich auf die höchst gesteigerte militärische Abstraktion stützen.  Die Revolution fegt mit der bestehenden Gesellschaftsordnung auch die sie stützende Soldateska weg.

15. Auferstehende Abstraktionen. Eine bekannte Erscheinung der Geschichte ist die Wiederkehr bestimmter Abstraktionen (Anschauungen, Theorien, Hypothesen, Bilder), die man längst als durch Erfahrung und Wissenschaft erledigt betrachtete. Jede Abstraktion ist das Produkt des sozialen Milieus, kehren ähnliche Verhältnisse zurück, dann werden auch die alten Formen, die infolge eines Traditionskults einen gewissen Gefühlswert haben, mit neuem Inhalt erfüllt, der ebenso verabsolutiert wird, wie früher der alte. Diese Abstraktionshüllen bergen  potentielle Energien [hypno] in sich, die unter günstigen Umständen in  kinetische [bewegungs- | wp] umgewandelt werden können. Seit der Zuspitzung der sozialen Gegensätze ist die politische und wissenschaftliche Reaktion eifrig auf der Suche, solche alten Abstraktionen ausfindig zu machen, die dem Sturm der vernachlässigten Elemente mehr trotzen können als die gegenwärtigen. Nur einige schrecklich klingende Schlagwörter: Neothomismus, Neohegelianismus, Neoschellingianismus, sämtliche Spielarten der Neomystik, des Neoromantizismus, Neovitalismus usw. Die Übersetzung der Lehren von BUDDHA, KONFUZIUS, LAOTSE, des Brahmanismus in die abendländische Mentalität sind  teilweise  durch diese Bestrebungen zu erklären. Dieses nervöse Herumtasten, die fortwährende Änderung der bevorzugten Abstraktionen, die fieberhafte Wiederholung der Neubelebungsversuche zeigen am Besten, daß diese Mittel immer mehr und mehr versagen und daß jede Zeit aus sich heraus die geistigen Mittel gebären muß, welche über die Aufrechterhaltung oder Abänderung der Gesellschaftsordnung entscheiden. Reichen dafür die konservativen Kräfte einer Epoche nichtaus, dann kann der Umsturz durch solche Neubelebungsversuche nicht endgültig aufgehalten werden. Es taugen für solche Neubelebungen am Besten die religiösen Abstraktionen, die ungemeine Erstarkung der Stellung der Kirche kann als Zeichen der Anerkennung dieser Verdienste gelten.

Die vorhandenen Abstraktionshüllen, wenn sie nicht von der Reaktion mißbraucht werden, fördern sehr oft den Fortschritt der Wissenschaften. Die Theorie der imaginären Zahlen - lange Zeit nur eine theoretische Spekulation - gelangte zu großer Bedeutung, als es sich herausstellte, daß sie sich zur Darstellung derjenigen physikalischen Tatsachen vorzüglich eignen, die auf die Richtung einen Bezug haben. So entstand die Vektoranalyse, der die physikalischen Wissenschaften, besonders die Elektrodynamik viel zu verdanken haben. Die Differentialgeometrie RIEMANNs und der Tensorkalkül, die bisher einen mehr theoretischen Wert hatten, gelangen durch die EINSTEINsche Relativitätstheorie zur praktischen Anwendung.

16. Hygiene der Abstraktion. Die sozialen Krisen, Krankheiten und Katastrophen stammen alle aus der Vernachlässigung gewisser Tatsachen. Welche Elemente und in welchem Maß vernachlässigt werden, darüber entscheiden die wirtschaftlichen Machtverhältnisse, deren Ausdruck die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung ist. Diese Abstraktionskrankheit bedarf einer eigenen  hygienischen Soziallehre,  welche sowohl die Entstehung dieser Krankheit zu verhüten, als auch die Mittel ausfindig zu machen hätte, welche zur Bekämpfung der bereits eingetretenen Erkrankungen geeignet sind.  Prophylaxe, Diagnostik  und  Therapie  sind gleichmäßig wichtige Abteilungen dieser Wissenschaften. Unsere bisherigen Ausführungen enthalten die meisten Elemente dieser Hygiene und es erübrigen sich nur noch einige Bemerkungen.

"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern", sagt MARX. Die Interpretierung ist aber die Voraussetzung und zugleich das Hindernis der Abänderung. Die Massen raffen sich erst dann zur Tat auf, der Klassenkampf nimmt einen zielbewußten Verlauf, wenn in den Massen die Überzeugung über die Abänderungsbedürftigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung aufkommt. Die Herausbildung dieser Überzeugung wird durch die "Interpretierung" der herrschenden Klassen verhindert, ihre vom Isolationszentrum der eigenen Interessen geschaffenen Abstraktionen unterdrücken diejenigen Merkmale, welche die Überzeugung fördern und heben solche hervor, deren psychologische Wirkung eben darin besteht, das Denken der Massen in falsche Bahnen zu lenken. Jeder Veränderung muß eine den Interessen der unteren Volksklassen entsprechende Interpretierung vorausgehen.

Im Kampf gegen die bestehenden Zustände bedienen sich die emporstrebenden Klassen der Schlagworte und Programme, die auch - wie es anders nicht möglich ist - Produkte eines Abstraktionsvorganges sind. Doch der grundlegende Unterschied besteht darin, daß  diese Abstraktionen eine breitere Grundlage als die hergebrachten haben, der Kontrolle der Erfahrung zugänglich sind, den Zusammenhang mit den sie hervorbringenden sozialwirtschaftlichen Zuständen nicht verloren haben,  von ihnen nicht völlig losgerissen sind. Sie sind keine Abstraktionen in einem engeren Sinn, sondern mehr  Determinationen.  Klasse und Klassenkampf sind auch Abstraktionen, doch der Umfang dieser Begriffe ist kleiner, der Inhalt hingegen reicher als der des klassenlosen Staates. Der letztere Begriff ist erfahrungstranszendent, hingegen die Tatsache, daß es einen Klassenkampf gibt und daß der Staat die Machtorganisation der besitzenden Klasse ist, konnte jeder Arbeiter täglich am eigenen Leib verspüren. Der Klassenbegriff gewährt Orientierung. Wer ihn innerviert [Nervenimpulse - wp] hat, der kann der Täuschung durch autoritäre allgemeingültige Ideologien nur selten verfallen. Daher die größte Anstrengung der Reaktion, aus diesem Begriff ein Schreckgespenst zu machen, ihn als Inbegriff aller Laster, der Selbstsucht und böser Instinkte hinzustellen. Die Enthüllung des klassenlosen Staates macht ihr mehr Sorgen als die Aufdeckung der Tatsache, daß der Gottesbegriff ein Abstraktionsprodukt ist. Diese Aufdeckung ist nur eine negative Tat, der Gottesbegriff wird durch keinen Gegenbegriff ersetzt; daher besteht die Möglichkeit, daß er wieder einmal die Herrschaft über die Seelen erlangt. Die Ersetzung des allgemeingültigen Rechtsstaates durch den Klassenstaat räumt aber mit dem ersteren auf.

Der Achtstundentag ist auch kein fest umschriebener Begriff und läßt besonders in den Detailfragen eine vielfache Deutung zu, doch ist er für die Arbeiter unvergleichlich wertvoller als die schwankenden Phrasen der gelben Arbeiterorganisationen, wie z. B. "ausgiebiger Schutz der Arbeiter", "angemessene Arbeitszeit" usw. Es ist eine Gewohnheit der sozialdemokratischen Partei, ihre Forderungen in sehr ausführlichen Resolutionen niederzulegen. Darüber wurde gelegentlich viel gespottet und darauf hingewiesen, daß die bürgerlichen Parteien über dieselben Gegenstände gewöhnlich kürzere und knapper gehaltene Beschlüsse fassen. Doch diese Langatmigkeit der Resolutionen verfolgt auch einen praktischen Zweck, ein ausführlich umschriebenes Programm kann niemals unter eine irreführende allgemeine Formel gebracht werden. Unter dem Schlagwort des allgemeinen Wahlrechts verstand man gemeinhin auch die Gleichheit des Wahlrechts und die geheime Abstimmung. Die ungarische Regierung wurde im Jahre 1906 durch die Krone verpflichtet, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Doch unterbreitete der Innenminister Graf ANDRASSY dem Parlament einen Wahlrechtsentwurf, der die öffentliche Abstimmung aufrechterhielt, hingegen das Plural- und das indirekte Wahlrecht einführte, da diese Maßnahmen nach Auslegung des Ministers die Allgemeingültigkeit des Wahlrechts nicht beeinträchtigen. Später vertrat Graf TISZA den Standpunkt, daß ein mäßiger Vermögens- und Intelligenzzensus dem allgemeinen Wahlrecht keinen Abbruch tut. Infolge dieser Mißbräuche waren die Parteien der Wahlreform gezwungen, die Inhalt ihrer Forderungen immer ausführlicher zu gestalten, zu - determinieren.

Dies ist der Weg, den die Verhütung, die Prophylaxe gegen künftig entstehende Abstraktionen einzuschlagen hat. Schwieriger und verflochtener ist die  Therapie,  mittels deren die schädlichen Folgen der bereits vorhandenen Abstraktionen geheilt werden können. Nur einige Bemerkungen:

Eine planmäßige Enthüllung soll aufzeigen, welche Merkmale beim Zustandekommen der religiösen, ethischen, politischen Ideen und Begriffe hervorgehoben und vernachlässigt worden sind.  Es soll die Perspektive, der Standort enthüllt werden, aus welchen diese Ideen bisher betrachtet wurden, alle sollen der Kontrolle der Erfahrung unterzogen werden. Diese  Generalrevision der Abstraktionen  soll periodisch durchgeführt werden, sie wird auch die eingefleischten Fehlschlüsse und einseitigen Analogien zutage fördern. Diese genetische Methode räumt auch mit dem Formaberglauben auf. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften soll sie auch eifrig verwendet werden. Die Vernichtung der Substanzvorstellung - wie PETZOLDT es verlangt - würde ihre Wirkung auf politischem Gebiet auch nicht verfehlen.

Neue Perspektiven sollen den Mneschen die Möglichkeit geben, den Sinn und Wert des Lebens, den Zusammenhang der Dinge, die bestehende Gesellschaftsordnung nicht allein von einem einseitigen Standpunkt der herrschenden Klassen aus zu betrachten. Wie anders ist heute die Auffassung der Arbeiterschaft von der geschichtlichen Entwicklung, seitdem der Mittelpunkt des Geschehens durch die materialistische Geschichtsauffassung aus den idealen Sphären in die Produktionsverhältnisse verlegt wurde. Auch die Anwendung neuer  Analogien welche die Ähnlichkeiten hervorhebt, die für die unteren Volksklassen von Belang sind, wird dazu beitragen, sie von der Herrschaft der überlieferten Ideologien zu befreien.
LITERATUR - Paul Szende, Die soziologische Theorie der Abstraktion, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 50, Tübingen 1923