ra-1ra-3cr-2NietzscheA. RapoportW. MackensenMauthnerOgden/Richards    
 
PAUL SZENDE
Die soziologische Theorie
der Abstraktion

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"Kant verlieh allen Begriffen, die dem damaligen Stand der Wissenschaften entsprechend die Stützen des autoritären Prinzips waren, die Weihe der Apriorität und trug dadurch mächtig bei, daß dieser Glaube auch auf sozialem Gebiet seine Herrschaft über die Seelen behielt."

"Der Dogmatismus bedient sich solcher Mittel, wie sie in den religiösen, wirtschaftlichen und politischen Kämpfen üblich sind. Die Gleichheit aller erkennenden Subjekte, die Gleichheit der Bewußtseinsfunktionen sind  Abstraktionen, sie vernachlässigen die widerstreitenden Erfahrungstatsachen, die individuellen und sozialbedingten Unterschiede. In Bezug auf die tatsächlichen Bewußtseinsfunktionen besteht eine große  Ähnlichkeit - nicht Gleichheit, - die für  praktische, sogar für theoretische Zwecke genügt, doch keine Apriorität der Erkenntnis begründen kann."

"Die transzendentale Methode ist die Verkörperung des Autoritätsprinzips, die Geltung gewisser Tatsachen steht außer Zweifel, nur ihre Gründe und Voraussetzungen dürfen erforscht werden. Was besteht, beruth immer auf Voraussetzungen; gelingt es nicht dieselben aufzufinden, so darf nach dieser Auffassung nicht die Folgerung gezogen werden, daß die behauptete Geltung vielleicht doch nicht besteht, sondern, daß die Untersuchung eine fehlerhafte war. Eine rückläufige Begründung mit Unterdrückung jedes Zweifels ist aber auch die Methode, deren sich jede bestehende Macht bei der Legitimierung ihrer Geltung bedient."


V. Erkenntnisquellen und Abstraktion

1. Die Erfahrung als plebejisch-demokratisches Prinzip. Die Erfahrung schöpft aus der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung, aus dem unmittelbaren Erlebnis. Die Verknüpfung und Verarbeitung der Wahrnehmungen wird bereits durch die vorhandenen Denkprodukte beeinflußt. Die Einwirkung dieser "sozialen Verdichtungen" (JERUSALEM) nimmt mit dem Fortschritt der Kultur allmählich zu. Die Begriffe und Prinzipien sind dem erkennenden Menschen gewissermaß  apriori  gegeben, doch stammen sie letzten Endes alle aus der Erfahrung, bedürfen fortwährend ihrer Kontrolle und werden nach den Ergebnissen der Erfahrung beseitigt, durch andere ersetzt.

Diejenigen erkenntnistheoretischen Richtungen, welche die Erkenntnis auf die schöpferische Tätigkeit eines höheren geistigen Vermögens, hauptsächlich auf die der  Vernunft  zurückführen, verfahren auf abstraktive Weise. An der Erkenntnis sind sämtliche Funktionen der psychophysischen Organisation beteiligt; die nicht-empirischen Erkenntnistheorien greifen aber aus diesem Zusammenhang gewisse Vorgänge heraus, isolieren sie unter der Benennung  Vernunft, Verstand, Intution  usw. und leiten alle Erkenntnis aus diesen ab. Der Erfahrung wird eine untergeordnete Rolle zugesprochen, sie wird entweder als Material, Hilfsmittel oder Notbehelf betrachtet. Die höheren Prinzipien entnimmt die Vernunft sich selbst. Gewiß ist  die Erfahrung auch ein abstraktiver Vorgang, doch ist ihre Grundlage unvergleichlich breiter als die der Vernunfterkenntnis.  Der Empirismus leugnet nicht, daß die Erfahrung von den geschichtlich entstandenen Denkprodukten geleitet und beeinflußt wird; die gegenteiligen Richtungen aber treiben die Abstraktion auf die Spitze, verabsolutieren ihre Produkte und behaupten, daß Vernunfterkenntnisse unabhängig von der Erfahrung a priori entstehen können.

 Die Erfahrung,  die sich immer auf die sinnliche Wahrnehmung stützt, hält die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht, sie  ist eine sichere Führerin des Menschen,  der sich mit ihrer Hilfe in der Natur zurechtzufinden vermag. Sie orientiert unmittelbar über die Änderungen, die in einem Milieu vor sich gehen und regt die zweckmäßigen Anpassungen an. Als Inbegriff unmittelbarer Einwirkungen liefert sie ausnahmslos jedem Menschen gleichmäßig verläßliche Mitteilungen, die sinnliche Wahrnehmung in ihrer elementaren Beschaffenheit ist unverfälscht.  Darin besteht ihr demokratischer Zug.  Der Fälschung unterliegt sie erst im Prozeß der Deutung und Verwertung.

Man wird gegen unseren Standpunkt einwenden, daß jeder Mensch ein vernünftiges Wesen ist, daß Vernunft, Verstand, die Stammbegriffe des Denkens zum Besitzstand jedes menschlichen Bewußtseins gehören und infolgedessen die Vernunft ein nicht minder demokratisches Prinzip abgibt, als die Erfahrung. Diese Einwendung wäre stichhaltig, wenn das Denken schlechthin zugleich ein richtiges Denken bedeuten würde, wenn jede Erkenntnis wahr und jeder Irrtum ausgeschlossen wäre, was eben von den Anhängern der nichtempirischen Erkenntnistheorien geleugnet wird. Wie die Logik auch diese Richtungen scharf zwischen höherer und minderwertiger Erkenntnis. Sie sind zugleich  normative  Wissenschaften, welche die Regeln der höheren, der Vernunfterkenntnis vorschreiben und die auf andere Weise gewonnene Erkenntnis als nicht gleichwertig betrachten. Zu diesen höheren Erkenntnissen können nur diejenigen gelangen, die Zeit und Muße haben, sich diese Prinzipien anzueignen.  Die richtige Erkenntnis wird das Privilegt der gebildeten Schichten und der Philosophenkaste.  Auch die kantische Erkenntnistheorie bildet keine Ausnahme, ihre Bestrebung war eben darauf gerichtet, die im Erkenntnisprozeß begangenen Fehler (Schein, Amphibolien [Mehrdeutigkeiten - wp], Paralogismen, Antinomien usw.) aufzudecken, um die Erkenntnis in richtige Bahnen zu lenken.

Wer demgegenüber behauptet, daß das Aneignen der richtigen Prinzipien jedermann freisteht, der will nicht einsehen, daß die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft, unter bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben und die Gleichheit in der Erlangung in Bezug auf bestimmte Kenntnisse eine irreführende Abstraktion ist.  Enrichissez-vous, - rief GUIZOT im Jahr 1843 der Opposition zu, welche die Herabsetzung des Wahlzensus forderte - und Sie werden auch Wähler werden! Schafft Euch Muße und Vorbildung - sagen die Rationalisten und Idealisten, - dann könnt auch Ihr der höheren Erkenntnis teilhaftig werden!

Das Erfahrungsmaterial wird unter die strenge Kontrolle der Vernunftobrigkeit gestellt, unter die Prinzipien und Kategorien der Vernunft subsumiert. Nach der kantischen Philosophie muß diese Materie, wenn sie überhaupt den Rang eines Erfahrungsurteils erlangen will, in die Formen der Anschauung und des Verstandes  "eingehen".  In jedem Staat kann die Majorität der Bevölkerung erst dann ihre Bedürfnisse befriedigen, wenn sie in die Formen der Gesetze, die ohne Rücksicht auf sie und ohne ihre Mitwirkung entstanden sind, "eingeht". Die Kirche schreibt den Gläubigen die Formen vor, die sie befolgen müssen, wenn sie ins Himmelreich gelangen wollen. Die Funktion der Vernunft (des Verstandes) ist die logische Ordnung des Stoffes, doch die Formen und Prinzipien dieser Ordnung stammen nach dieser Auffassung nicht aus der Erfahrung. Der Neukantianismus (besonders COHEN und NATORP) treibt diese Abstraktionen und die Verabsolutierung noch weiter; die Anschauung, die mit der erfahrbaren Wirklichkeit noch eine unmittelbare Beziehung hat, wird als Erkenntnisquelle fallen gelassen, das Denken, die Vernunft erzeugt das Sein. Sie wandeln mehr in den Fußstapfen HEGELs als in denen KANTs.  Der Sieg der Vernunft in der Erkenntnistheorie bedeutet den vollständigen Sieg des apriorischen Autoritätsprinzips, auf dem sich ohnehin die ganze Gesellschaftsordnung aufbaut. 

Diese scharfe Unterscheidung zwischen Vernunft und Erfahrung ist zugleich ein rangordnungsbegründendes Werturteil, das für die Erfahrung  ungünstig  ausfällt. Die empirische Erkenntnis muß als minderwertig sublimiert, in den Rang einer Vernunfterkenntnis erhoben werden, wobei sämtliche Spuren der niedrigen Abstammung sorgfältig abgestreift werden. DESCARTES, SPINOZA, LEIBNIZ heben diesen Rangunterschied stark hervor. Der Standpunkt DESCARTES' steht eigentlich dem Empirismus näher; offenkundig fühlte er dies selbst und um das Autoritätsprinzip nicht zu verletzen, stellte er die ganze Erfahrung unter göttlichen Schutz. Die Existenz Gottes ist die Bürgschaft für die Richtigkeit der durch die Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse, unsere sinnlichen Wahrnehmungen täuschen uns nicht, eine so grobe Täuschung wäre mit der Güte und Wahrhaftigkeit Gottes unvereinbar. Hierher gehört auch die von LEIBNIZ besonders scharf formulierte Unterscheidung zwischen  denknotwendigen Wahrheiten  und  Erfahrungserkenntnissen,  die noch heute wirkt und eine Degradierung der Erfahrung darstellt. Ebenso evident und allgemeingültig wie die denknotwendigen Wahrheiten werden auch die religiösen Dogmen und die Grundsätze der Sitten- und Rechtsordnung betrachtet.

Besonders scharf äußert sich dieser Standpunkt bei KANT. Die eigentliche Erfahrung tritt bei ihm als Gewühl der Empfindungen auf, in welches die weise Obrigkeit, der Verstand mit seinen unverrückbaren, apriorischen Formen Ordnung bringt. Wo KANT die Erfahrung gelten läßt, macht er dieselbe einer Rangerhöhung teilhaftig. Den Begriff "Erfahrung" wendet er nicht im gewöhnlichen Sinn an, sondern will darunter eine allgemeine und notwendige Erkenntnis verstehen; Erfahrungsurteile werden mit Hilfe der geeichten Verstandeskategorien erzeugt. Da die Sinnlichkeit in seinem System die räumlich-zeitliche Ordnung der Empfindungen schafft, wird dieselbe auch in den Adelsstand erhoben und dadurch apriorisch, allerdings nicht ganz ebenbürtig gemacht, da die Sinnlichkeit, um mit den Kategorien eine Ehe einzugehen, die Weihen durch die Schemata braucht. Ihre rechtliche Stellung ist aber so schwankend, daß es COHEN und NATORP keine Schwierigkeiten verursachte, die Sinnlichkeit in den plebejischen Stand zurückzustoßen und die Alleinherrschaft der Verstandeskategorien herzustellen. Die Hochpreisung der Vernunft und die Geringschätzung der Sinnlichkeit, die ein herrschender Zug der rationalistisch-idealistischen Erkenntnistheorie überhaupt ist, entstand unter dem Einfluß des Autoritätsprinzips und kirchlich-religiöser Erwägungen. Die Einteilung und Rangordnung der Geistesvermögen und der Wissenschaften bei PLATO ist die Folge derselben Einwirkungen.  Diese Abstraktionen haben auf allen sozialen Gebieten eine überragende Bedeutung, die Vernunft symbolisiert das gute Prinzip (Gott, Engel), die Sinnlichkeit ist der Teufel, das Radikalböse.  In Bezug auf die Gesellschaftsordnung stellt erstere die weise Obrigkeit, die tugendvolle herrschende Klasse, die letztere den lasterhaften Pöbel dar, der durch die erstere im Zaum gehalten werden muß.

"Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung." Dieser oberste Grundsatz der kantischen Philosophie ist das Spiegelbild der Weltanschauung, Gesellschafts- und Sittenordnung des Zeitalters, das sie gebar: ein adäquater Ausdruck des Autoritäts- und Ordnungsprinzips. Die Inhalte der Erscheinungen und die menschlichen Handlungen, alles Materielle müssen sich in den Rahmen einer a priori, von allen möglichen Inhalten unabhängig bestehenden Ordnung einfügen, durch dieselbe umgeformt, zu einer höheren Existenz erhoben werden.

Ob diese Ordnung durch göttliche Gesetze oder durch Vernunftprinzipien bestimmt, ob ihre Superiorität [Höherrangigkeit - wp] durch Theologen oder kritische Philosophen verkündet wird, ob sie die Ergebnisse der Naturwissenschaften verachtet, oder für den eigenen Gebrauch zurechtstutzt, kann den gemeinsamen Ursprung dieser Auffassungen nicht verhüllen. Von allen Tatsachen, die bezeugen, daß an der Gestaltung der Ordnung auch die materiellen Elemente teilhaben, wird abstrahiert, daß ohne die letzteren überhaupt keine Ordnung möglich wäre, geflissentlich unterdrückt. In Bezug auf die Gesellschaftsordnung, deren Formen ebenso a priori gegeben sind wie die des Denkens, bringt dieser Standpunkt jene Auffassung zum Ausdruck, die hundert Jahre später etwas drastischer, doch wesensähnlich so formuliert wurde, daß die Volksmassen nur Objekte und niemals Subjekte der Gesetzgebung sein können. Der rationalistischen Philosophie gegenüber anerkennt KANT mehr die Bedeutung der Erfahrung. Er  ist eben eine Zeitgenosse des aufgeklärten Absolutismus,  welcher den früheren Regierungsmethoden gegenüber auch für die Bevölkerung sorgen wollte, "für das Volk" aber "ohne das Volk". Ohne die Arbeit der Massen, ohne die Handlungen der Arbeiter und Bauern kann keine Gesellschaft bestehen. Die Funktionierung dieser Gesellschaft "hebt" mit dieser Arbeit "an", doch diese Handlungen müssen sich in den Rahmen des Willens der apriorischen Elemente der Gesellschaft: Gott, König, Kirche, Adel, Obrigkeit, haute finance, Bürokratie, Militär, Polizei fügen.

NIETZSCHE nennt den menschlichen Intellekt mit seinen festen Formen einen  Fälschungsapparat.  Er sieht nicht, daß die ausgiebigste Kraftquelle, die den Motor dieses Fälschungsapparates speist, das Bestreben zur Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung ist und daß dieser Abstraktionsapparat die verheerendesten Wirkungen auf sozialem Gebiet zeitigt. Der empirisch-positivistische Standpunkt zerstört und enthüllt diese Abstraktionen und unterstützt dadurch die Massen in ihrem Kampf gegen die apriorischen Institutionen.  Jede Philosophie, welche den Menschen den Glauben an durch die Erfahrung nicht verifizierbare apriorische Prinzipien beibringen will, dient letzten Endes der Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung,  obwohl sie meistens keine unmittelbare Anspielung auf die bestehenden Machtverhältnisse enthält, allen sozialen Fragen sorgfältig aus dem Weg geht und sich ausschließlich mit abstrakten Ableitungen und logischen Spekulationen befassen will.

Ohne die Kontrolle und aufklärende Wirkung der Erfahrung wäre nicht nur der wissenschaftliche Fortschritt unmöglich, sondern auch die Gesellschaftsordnung würde verknöchern.  Die Sinnesempfindungen und die durch sie ausgelösten Reaktionen treten oft mit solcher Intensität auf, daß ihnen gegenüber die täuschende Wirkung des Abstraktionsapparates vollständig versagt.

2. Determination. Dem plebejisch-demokratischen Erfahrungsstandpunkt entspricht jene Art der Begriffsbildung, die in der Logik  Determination  genannt wird. Sie wird meistens als Gegensatz der Abstraktion betrachtet, doch ist sie auch ein abstraktiver Vorgang, wobei man den Zusammenhang mit der Wirklichkeit derart aufrechtzuerhalten sucht, daß man durch eine Eingengung des Begriffsumfanges den Begriffsinhalt erweitert. Einem bereits vorhandenen Begriff werden neue Merkmale hinzugefügt. Es kommen meistens die vernachlässigten Elemente zum Vorschein, doch kann das ergänzende Merkmal auch aus einem anderen Gebiet genommen werden. WUNDT unterscheidet zwei Formen der Determination:  Kolligation  und  Spezifikation.  Die erstere betrachtet er als Umkehrung der Isolation; man ermittelt die Veränderungen, die an den zuerst isoliert untersuchten Teilerscheinungen infolge der Verbindung mit anderen Elementen entstehen. Die Spezifikation dient zur Einengung der durch eine generalisierende Abstraktion gewonnenen Gattungs- und Artbegriffe. Was VOLKMANN Superposition  nennt, ist lediglich auch eine Determination, welche die durch Isolation gewonnenen Elemente verbindet.

Die Determination steht unter der Kontrolle der Erfahrung, sie ist die Korrektur übertriebener Abstraktionen.  Als Erkenntnismittel hält sie den Zusammenhang mit der Wirklichkeit aufrecht und verhütet die Verdeckung der Denkwege. Ihr fällt die Rolle des  Antäus  zu (GRUPPE, VAIHINGER); wenn man sich ihrer bedient, kommt man immer auf den Boden der Tatsachen zurück und schöpft daraus neue Kraft für den Kampf gegen irreführende Abstraktionen. Die herrschenden Begriffe und Institutionen beruhen auf einer höchst gesteigerten Abstraktion. Jede Erweiterung ihres Inhalts erschüttert ihre Geltung, weil dadurch ihr Umfang, ihre Herrschaft eingeengt wird. Es ist selbstverständlich, daß die "reine" Wissenschaft einer solchen  Plebejisierung der Begriffe  zähen Widerstand leistet. MARX hat an vielen Beispielen gezeigt, welch anderes Gesicht die politisch-ökonomischen Begriff:  Bevölkerung, Staat, Kapital, Arbeit usw.  bekommen, wenn man diese dünnen Abstrakta durch ein umgekehrtes Verfahren, welches die Totalität der Bestimmungen und Beziehungen umfaßt, konkretisiert und gewissermaßen aufs Neue definiert.

3. Der erkenntnistheoretische Optimismus und Skeptizismus. Dieser Optimismus artet meistens in Dogmatismus aus, bringt den Denkprodukten unbegrenztes Vertrauen entgegen und bekundet eine große Intoleranz gegen abweichende Meinungen (VAIHINGER). Mutet man dem Denkorgan vieles zu, dann ensteht als Reaktion der erkenntnistheoretische Skeptizismus, der in Pessimismus umschlägt.

Dieser Optimismus beruth auf Abstraktion.  Es wird absolutes, apriorisches Wissen, das sich niemals vorfindet, postuliert, seinen Gesetzen und Formen Allgemeingültigkeit zugemutet. Den rationalistischen Philosophen ist die Existenz der reinen Vernunft - eine "reine" Abstraktion - a priori gegeben. Für KANT steht die Möglichkeit der apriorischen Erkenntnisse der Mathematik und Naturwissenschaft, der synthetischen Urteile a priori außer Frage. Ihre Möglichkeit wird durch ihre Existenz verbürgt. Alle Tatsachen die zeigen, daß diese Erkenntnisse, Begriffe und Wissenschaften im Laufe der Entwicklungen geworden sind, vernachlässigt und unterdrückt er. KANT verlieh allen Begriffen, die dem damaligen Stand der Wissenschaften entsprechend die Stützen des autoritären Prinzips waren, die Weihe der Apriorität und trug dadurch mächtig bei, daß dieser Glaube auch auf sozialem Gebiet seine Herrschaft über die Seelen behielt.

Die kantische und überhaupt jede apriorische Philosophie stellt eine absolute rationale Wissenschaft einer absoluten Unwissenheit gegenüber, während in der Wahrheit verschiedene Grade des Denkens vorhanden sind (ENRIQUES). Die Möglichkeit der Erkenntnis fordert nur relative, nicht strenge Unveränderlichkeit der Dinge, während der kantische Standpunkt einen theoretisch absoluten Grad der Unveränderlichkeit voraussetzt und die Änderungen der Dinge vernachlässigt. Ebensowenig postuliert die Möglichkeit der Erkenntnis einen vollkommenen Grad der logischen Formen, der in der Erfahrung überhaupt nicht aufzuzeigen ist. ENRIQUES fällt dasselbe Urteil über die kantische Erkenntnistheorie, wie EINSTEIN über die Mathematik schlechthin:
    "Die Kategorien bilden nicht die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung wie sie ist, in ihren unvollkommenen und unstrengen Formen, sondern nur für eine typische Erfahrung, der eine streng beweiskräftige Bedeutung zukommt, deren Möglichkeit aber nicht besteht."
Dasselbe gilt auch für die Möglichkeit der apriorischen ethischen Gesetze und Rechtsgrundsätze.

Die Sätze, die an der Spitze der kantischen Philosophie stehen, sind nicht allgemeingültig-notwendige Wahrheiten, sondern nur Definitionen und Voraussetzungen und haben nur für diejenigen Gültigkeit, die sie anerkennen.

Der erkenntnistheoretische  Dogmatismus  übertreibt sowohl den eigenen, als auch den entgegengesetzten Standpunkt. Dem eigenen verleiht er die Allgemeingültigkeit durch eine idealisierende Abstraktion; dem Skeptizismus, der die Möglichkeit einer strengen allgemeingültigen Erkenntnis in Zweifel zieht, mutet er zu, daß der letztere jedwede Möglichkeit der Erkenntnis bezweifelt, macht aus ihm ein  Schreckgespenst.  Beim eigenen Standpunkt vernachlässigt er die unvollkommenen Züge, bei den Gegnern unterschlägt er den Umstand, daß sie an einem relativ hohen Grad und an ein approximativen Gültigkeit der Erkenntnis festhalten. Der Dogmatismus bedient sich solcher Mittel, wie sie in den religiösen, wirtschaftlichen und politischen Kämpfen üblich sind.  Die Gleichheit aller erkennenden Subjekte, die Gleichheit der Bewußtseinsfunktionen sind Abstraktionen,  sie vernachlässigen die widerstreitenden Erfahrungstatsachen, die individuellen und sozialbedingten Unterschiede, worüber bereits gesprochen wurde. In Bezug auf die tatsächlichen Bewußtseinsfunktionen besteht eine große Ähnlichkeit - nicht Gleichheit, - die für praktische, sogar für theoretische Zwecke genügt, doch keine Apriorität der Erkenntnis begründen kann. Ein Teil der Neukantianer trachtet diese strenge Allgemeingültigkeit nicht als eine Tatsache, sondern als eine ideale Forderung und einen obersten Maßstab hinzustellen, dem sich das erkennende Subjekt anzunähern hat. Diese Wendung gleicht einem taktischen Rückzug in eine Stellung, die der Kontrolle der Erfahrung noch weniger ausgesetzt ist als die frühere. Mit Recht bemerkt dazu SCHLICK, daß dieser Standpunkt mit dem der absoluten Erkenntnis unvereinbar ist.

4. Genetische und transzendentale Methode. Die erstere behandelt das Erkennen als psychologischen Vorgang und jede Erkenntnis als ein Entwicklungsprodukt. Die apriorischen Bestandteile unserer Erkenntnis betrachtet sie als in der menschlichen psychophysischen Organisation begründet. Die genetische Methode [winban] begnügt sich nicht damit, die Geltung bestimmter Erkenntnisformen und Prinzipien zu konstatieren, sie will die Wurzel ihrer Geltung aufdecken.

Die transzendentale Methode, die mit dem Namen KANTs unlöslich verbunden ist, nimmt die Existenz und Geltung gewisser Erkenntnisformen, Prinzipien und Wissenschaften als feststehende Tatsachen hin, an denen nicht gerüttelt werden darf. Sie verschmäht es, ihre Geltung genetisch zu untersuchen, sie geht durch ein regressives Verfahren auf die Gründe der Erkenntnis zurück und sucht zu diesen feststehenden Tatsachen die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit. Für sie steht außer Zweifel, daß es eine streng notwendig-allgemeingültige Erkenntnis gibt. Dieses Voraussetzungen, welche die Grundlagen unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen abgeben, begründen nach dieser Auffassung keine psychologische Priorität. Sind sie gefunden - und sie müssen gefunden werden, - dann ist das transzendentale Apriori aufgedeckt. Durch dieses Apriori wird die Geltung der tatsächlich existierenden Formen, Gesetze und Wissenschaften rückwirkend legitimiert.

Wie man sieht, ist die erste Methode in einer untrennbaren Verbindung mit der Erfahrung, sie wird durch sie belebt und gespeist, unter ihre Kontrolle gestellt.  Die transzendentale Methode hingegen ist die Verkörperung des Autoritätsprinzips, die Geltung gewisser Tatsachen steht außer Zweifel, nur ihre Gründe und Voraussetzungen dürfen erforscht werden.  Was besteht, beruth immer auf Voraussetzungen; gelingt es nicht dieselben aufzufinden, so darf nach dieser Auffassung nicht die Folgerung gezogen werden, daß die behauptete Geltung vielleicht doch nicht besteht, sondern, daß die Untersuchung eine fehlerhafte war.  Eine rückläufige Begründung mit Unterdrückung jedes Zweifels ist aber auch die Methode, deren sich jede bestehende Macht bei der Legitimierung ihrer Geltung bedient. 

Wir wollen nun sehen, welchem Abstraktionsprozeß die transzendentale Methode mit ihrer vorgetäuschten Allgemeingültigkeit entspringt.

Die Wiener Philosophin KONSTANZE ERMERS-GLASER hat unserer Ansicht nach den Beweis geliefert, daß der kantische Standpunkt eine Verwechslung der psychologischen Notwendigkeit mit dem logischen Apriori darstellt. Sie zeigt, daß KANT bei der Versenkung in die innere Erfahrung von einem Teil der Bewußtseinstatsachen abstrahiert, sie als nicht zum Ich gehörig betrachtet, während er die anderen, - die Urerlebnistatsachen - als Unmittelbarstes zum Subjekt Gehörendes auffaßt und hervorhebt. Diese letzten Tatsachen, welche nach der Eliminierung aller übrigen Bewußtseinsinhalte verbleiben, sind die  kinästhetischen Elemente,  die Bewegungsstricker1bwg.html- und Allgemeinempfindungen, die rhythmisch-periodischen Vorgänge in den einzelnen Körperorganen, die unbestimmten Dämmer- und Zwielichtzustände, das Minimum des empirischen Ichs. Von diesen letzten Erlebnistatsachen kann der Mensch, solange er lebt und denkt, nicht abstrahieren, daher treten sie im Erlebnis mit einem solchen Zwang und einer solchen psychologischen Notwendigkeit auf, daß KANT dieselben mit dem logischen, in der Vernunft begründeten Apriori verwechselte. Er hat der inneren Erfahrung, die nur aposteriori feststellt, eine apriorische Bedeutung beigemessen. Diese Verwechslung geschieht bei KANT durch vielfach nicht bewußt gewordene Abstraktionsvorgänge. Nur auf diese Weise gelang es ihm, die transzendentale Frage zu beantworten.

Mag die eben dargelegte Beweisführung noch so erschöpfend sein, auf die Fanatiker der transzendental-regressiven Methode wird sie keinen Eindruck ausüben. Ihnen fehlt der mildernde Umstand, der KANT entschuldigt, sie verquicken die beiden Standpunkte bewußt. Ihre Glaubensformel, die am schärfsten WINDELBAND geprägt hat, steht unverrückbar da, in allen diesen Beweisführungen und psychologischen Untersuchungen sehen sie nichts anderes, als "einen hoffnungslosen Versuch durch eine empirische Theorie dasjenige zu begründen, was selbst die Voraussetzung dieser Theorie bildet." Die Gültigkeit der apriorischen Erkenntnisformen - sagen sie weiter - steht bereits vor ihrer psychologischen Entdeckung fest und nur dieser Umstand befähigt uns zu genetischen Untersuchungen. Mit denselben Argumenten bekämpfen auch die Theologen diejenigen, die den empirischen Werdegang des Gottesbegriffes aufzeigen wollen. Sie sagen mit ebensolcher Standhaftigkeit, daß die Existenz Gottes die Voraussetzung jedes Denkens ist und daß die durch den göttlichen Willen geschaffenen Erkenntnisformen und Prinzipien nicht nur zeitlich, sondern auch logisch der menschlichen Erfahrung vorausgehen. Der Standpunkt von DESCARTES, sogar des "Atheisten" SPINOZA und LEIBNIZ, steht vielfach der theologischen Auffassung nahe.

Die transzendentale Methode bedient sich eines Verfahrens, das VOLKMANN in einem anderen Zusammenhang "rückwirkende Verfestigung" nennt.  Die Kategorien sind Entwicklungsprodukte, nachdem sie aber da sind, werden sie als apriori verkündet, ein typischer Fall der Verdeckung der Forschungswege.  Man ist geneigt, die Denkformen, die in mühsam erarbeitetes Erbgut vergangener Geschlechter abgeben, für einen Urbesitz des Menschengeistes zu halten (JERUSALEM).

Das Bestehen ist infolge des psychischen Zwanges, den es auf uns ausübt, immer a priori, hingegen das Werdende, das vor unseren Sinnen dahinfließt, unbeständig, a posteriori.  Die autoritäre Weltanschauung ist geneigt, auf allen Gebieten des menschlichen Wissens und Handelns die von der Erfahrung unabhängige Geltung von gewissen Stammformen und Prinzipien anzunehmen. Die Anhänger dieser Weltanschauung protestieren immer gegen die genetische Untersuchung der apriorischen Formen; sie wissen es wohl, daß die meisten derselben sich nicht mehr Geltung verschaffen könnten, wenn ihr Ursprung klar vor den Augen derjenigen stünde, die sie binden wollen. SCHELER sagt, daß die genetische Ableitung der soziologischen Kategorien, weil die Soziologie ebenso durch diese Kategorien bedingt ist, wie jede andere Erkenntnis. STAMMLER behauptet, daß die Berechtigung von Bestrebungen auf soziale Umänderungen (gemeint ist der Sozialismus) niemals durch die Notwendigkeit ihres Entstehens dargetan werden kann. Ebenso verwerfen die ganzen und halben Neukantianer die Behandlung der Frage, wie die apriorischen Formen des Sittengesetzes und der Rechtsordnung zustande gekommen sind.  Viele führenden Ideologien und Einrichtungen der bestehenden Gesellschaftsordnung würden durch eine genetische Untersuchung ihre Autorität und somit ihre Geltung einbüßen. 

Genetische Untersuchungen haben festgestellt, daß auf den untersten Stufen der Entwicklung keine festen Formen des Denkens obwalten und daß das menschliche Bewußtsein nur eine sichere Stütze in der Beurteilung der empirischen Tatsachen hat, nämlich die Lust- und Unlustgefühle. Die Ethnologie zeigt, daß auf diesen Stufen Pflichtgefühl, Neugier, Geschmack usw. vollständig fehlen und sich als Abstraktionsprodukte erst im Verlaufe der Geschichte entwickeln. Die Geschichte des menschlichen durchläuft eine Phase, welche LEVY-BRUHL die prälogische Denkweise nennt, wo das Denken noch nicht durch den Satz des Widerspruchs beherrscht wird, was auch bei Kindern beobachtet werden kann. Die Formen des Erkennens sind weder konstant noch allgemeingültig, sie sind eine Funktion der jeweiligen Kultur (SPENGLER).  Die Kategorien sind historisch bedingt  und zwar auf zweifache Weise. Erstens gab es eine Periode des menschlichen Denkens, wo dasselbe noch keine fest herausgebildeten Stammbegriffe hatte. Zweitens  wechselt die Bedeutung und Anzahl dieser Kategorien nach dem sozial bedingten Stand der menschlichen Erkenntnis.  VAIHINGER zeigt, daß alle Kategorien, Abstraktionen, Fiktionen, Produkte einer natürlichen Auslese und Anpassung sind, und daß bei deren Bildung anthropomorphistische Einflüsse, sogar Analogien des primitiven Eigentumsverhältnisses wirksam waren. Auch NATORP anerkennt, - selbstverständlich handelt es sich nicht um die Kategorien von KANT, sondern um die von ARISTOTELES - daß sie Abstraktionen von Sinnendingen sind. SCHELER betont, daß die Kategorien KANTs nur die Kategorien des europäischen Denkens sind. Daß KANT der Geometrie Apriorität beimißt, ist darauf zurückzuführen, daß er unsere historisch entwickelte und biologisch bedingte Raumanschauung mit dem euklidischen Raumbegriff, also mit einem Abstraktionsprodukt identifizierte.  Die euklidische Geometrie ist aber auch eine historische Kategorie,  die nur in der Zeit KANTs absolute Geltung hatte; jetzt, wo wir eine große Anzahl nichteudklidischer und doch widerspruchsloser Geometrien kennen, erscheint die transzendentale Beweisführung hinfällig.

Alle bewußten Denkinhalte betrachtet KANT als minderwertig, als Elemente, aposteriori  die animalisch-vegetativen Funktionen der Körperorgane, die dumpfen Empfindungen, die mit denselben verbunden sind, erhebt er hingegen in den Rang einer apriorischen Gültigkeit.  In dem Bestreben, die Kontrolle der Erfahrung auszuschalten, gelangt er zu solchen physiologischen Zuständen, die infolge ihres mechanischen Verlaufes der bewußten Kontrolle weniger zugänglich sind.  Jede Macht, die sich behaupten will, ist bestrebt, diese elementaren Vorgänge für die eigenen Zwecke dienstbar zu machen,  durch die Hilfe bestimmter Abstraktionen sie zu festen Prinzipien zu gestalten. Eine Apriorität, die sich nicht auf die elementarsten Vorgänge des menschlichen Organismus stützt, ist keine lange Dauer beschieden. Die Polarität des menschlichen Denkens bringt es mit sich, daß sowohl das Bestehen als auch der Umsturz der Gesellschaftsordnung in diesen elementaren Vorgängen, in diesen Kinästhesien ihren Ursprung haben. Eine Gesellschaft, die für die großen Massen der Bevölkerung die elementaren Lustgefühle, welche die Begleiterscheinungen dieser Kinästhesien bilden, ständig unterbindet, bricht zusammen, sobald die Lehren der Erfahrung zeigen, daß diesem Zustand durch eine Abänderung der bestehenden Einrichtungen ein Ende bereitet werden kann.

Das Resultat unserer Ausführungen ist, daß gewisse elementare Vorgänge, die für das Leben von entscheidender Wichtigkeit sind, sich in geschichtlich-bedingten Formen dem menschlichen Denken, Fühlen und Handeln aufdrängen. Nur in diesem Sinne sind sie a priori.

5. Der Formaberglauben. Die Hochschätzung der Form hat reale Ursachen. Ohne eine bestimmte Ordnung, mangels festgefügter Rahmen verläuft das Erkennen und Handeln äußerst unzweckmäßig. Jede Form ist das Produkt einer Klassifikation und Rangordnung, daher einer Abstraktion. Die veränderlichen  fluktuierenden  Bestandteile werden eliminiert, die festen, beständigen, die Formen hervorgehoben. KONSTANZE ERMERS zeigt, daß bei KANT die Trennung von Form und Inhalt überall als  petitio principii [was erst bewiesen werden muß wird vorausgesetzt - wp] auftritt. Das psychologische Motiv dieses Vorganges liegt auch im Urerlebnis, von einem Teil der Bewußtseinstatsachen abstrahierte er, den anderen Teil, der kinästhetische Elemente enthält, faßte er als zum Subjekt gehörend, als feste Formen auf.

Wir haben bereits erwähnt, daß  die Überschätzung der Form auf politisch-juridische Einflüsse zurückzuführen ist.  Das Bestehende ist die Form, das Neue, das Werdende muß sich in ihren Rahmen einfügen.  Über die Form verfügen immer die Herrschenden.  Die Materie drängt sich unabhängig dem Bewußtsein auf, sie wird durch eine Einfügung in die bestehenden Formen verfälscht. WEININGER, der die Verachtung des Weibes mit einer Anbetung der Werturteile des Autoritätsprinzips verband und in dessen Augen das Weib (auch der Jude) ein qualitätsloses Nichts ist, identifizierte es mit der Materie, den Mann aber mit der Form. In der Auffassung der politischen und wissenschaftlichen Reaktion steht die Materie, die Masse der die Form gebenden und sie zugleich verkörpernden, herrschenden Klasse gegenüber.

Die Rangpriorität der Form ist maßgebend für alle Philosophen und Juristen, die in KANTs Fußstapfen wandeln. Nach STAMMLER stehen die ökonomischen Phänomene unter der Erkenntnisbedingung der rechtlichen Regelung, die Produktivkräfte sind die Materie, die bestehende Gesellschaftsordnung hingegen die Form des sozialen Lebens. MAX ADLER erklärt, daß das sittliche Ideal eine bloße Form ist, die ursächlich nicht erklärt werden kann; sie ist vielmehr selbst das Prinzip jeder Ursacherklärung für das Aufkommen eines bestimmten gesellschaftlichen Ideals.

Die letzte metaphysische Verankerung des kantischen Systems, die transzendentale Freiheit beruth auf einem Erlebnis, das Sollen und die Willensfreiheit werden erlebt (KONSTANZE ERMERS).  Der kategorische Imperativ  ist letzten Endes die erlebte Spontaneität des Handelns und des Denkens. Er entspringt also auch ein Abstraktion, er  ist nicht das Produkt der schöpferischen Wirkung höherer Geistesvermögen, sondern entsprang dem unabweisbaren Drang der kinästhetischen Elemente. 

6. Intuition. Sie liefert die Erkenntnisse nicht durch Erfahrung oder Religion, sondern durch geistiges Schauen, durch unmittelbares Erleben der Wirklichkeit. Sie wurde von jeher als die vornehmste Erkenntnisquelle nach der Inspiration betrachtet. In der letzteren Zeit hat ihr BERGSON zu einer noch größeren Wertschätzung verholfen, seine Lehre unterscheidet sich von den früheren nur durch ihre moderne Fassade. Nach ihm liefert die Intuition höhere Erkenntnisse als der Verstand, der im Dienst praktischer Zwecke steht, sie erfaßt das Wesen des Geschehens, erreicht das Absolute, "sie versetzt sich in das sich Bewegende hinein und macht sich das Leben der Dinge zu eigen."

Diese intuitiven Erkenntnisse stammen eigentlich aus dem  Unterbewußtsein tauchen infolge von Assoziationseinwirkungen, die nicht bewußt werden, blitzartig auf. Dadurch erwecken sie den Eindruck höherer Geistigkeit, obwohl sie nur  bewußtgewordene Produkte der im Unterbewußtsein verankerten, früheren Erfahrungen, vernachlässigten und unterdrückten Merkmale, aufgespeicherten Empfindungen und ererbten Dispositionen sind.  In diesem Prozeß ist angeblich sowohl das begriffliche Denken, wie auch die sinnliche Wahrnehmung ausgeschaltet. Wäre dies richtig, dann ist die Intuition ein Abstraktionsvorgang. Dieser Widerspruch hindert aber ihre Anhänger nicht, die von der Intuition gelieferten Erkenntnisse für absolut zu halten. Auch BERGSON verfährt nicht anders. Er betont, daß die wissenschaftliche Erkenntnis infolge ihrer abstrakt-symbolischen Natur nur eine relative ist. Von diesem richtigen Pfad weicht er aber im weiteren Verlauf ab und vom Entdeckereifer mitgerissen, erklärt er die von ihm befürwortete Intuition als Quelle absoluter Erkenntnis. Alle Ausdrücke, deren er sich zur näheren Kennzeichnung dieser Intuition bedient, wie z. B. Dauer, Werden, Veränderlichkeit, Strebung, Verfließen, Beweglichkeit zeigen unfehlbar, daß auch er keine neue integrale Erkenntnis, sondern nur neue (teilweise sehr alte) Abstraktionen, Perpektiven und Symbole bringt. Die Intuition ist nach ihm die Quelle der uninteressierten Erkenntnis, doch die Ausschaltung des Interesses ist nur durch eine äußerst gesteigerte Abstraktion, nur auf dem Gebiet der Kinästhesien und in den Dämmerzuständen möglich. Seine dynamische Metaphysik ist das Produkt unseres dynamischen Zeitalters, in dem das rastlos und fieberhaft pulsierende Leben des kapitalistischen Getriebes den Zeitgenossen diese Betrachtungsweise unwiderstehlich aufdrängt.

Diese Rangordnung und diese Lobpreisungen haben ihre sozialen Ursachen. Daß die Erfahrung den Anhängern des Autoritätsprinzips nicht genehm ist, haben wir schon öfters erwähnt. Die Verstandeserkenntnis verfälscht zwar meistens die sinnlichen Wahrnehmungen, doch besteht immer die Möglichkeit, daß sich das begriffliche Denken in den Dienst des Fortschritts, der Revolution stellt. Man braucht daher noch eine höhere Instanz, gegen deren Erkenntnis keine Berufung zulässig ist. Für religiöse Gemüter erfüllt diesen Zweck die Offenbarung, die Inspiration, für wissenschaftlich gerichtete Menschen die Intuitioni, die sich vollständig der Kontrolle der Erfahrung entzieht. Ihre Produkte sichern eine absolut-apriorische Erkenntnis;  ein Prinzip, ein Ideal, das seine Quelle in der Intuition hat, wird als unangreifbar betrachtet. 

Die Intuition ist in jedem Menschen wirksam und das Unterbewußtsein, aus dem sie schöpft, ein mächtiges Reservoir für jeden Fortschritt und alle Abänderungsbestrebungen. Doch wird diese Erkenntnisquelle als Privileg erwählter Geister erachtet und dem plebejisierenden Einfluß der Erfahrung entgegengestellt. Die Verfechter dieses Prinzips landen meist in der Religion. Auch die BERGSONsche Intuition ist esoterisch. Ihre Funktionierung setzt eine "mühevolle und schmerzhafte" Anstrengung der Einbildungskraft, die Umkehrung des gewöhnlichen Denkverfahrens, und den Besitz der Gesamtheit der durch die positiven Wissenschaften gesammelten Erfahrungen voraus.

7. Die Erkenntnis der Geheimwissenschaften. Sie versprechen alle eine höhere Erkenntnis, darin stimmen sie mit den Religionen überein. Diese Erkenntnis ist nur durch eine lange und anstrengende geistige Schulung oder durch physiologische Übungen erreichbar. Der Weg, der zu ihr führt, ist daher nur für diejenigen gangbar, deren Lage es ermöglicht, sich vollständig der höheren Erkenntnis zu widmen. Obgleich in letzterer Zeit alle Geheimwissenschaften erklären, daß durch eine Aneignung ihrer Methoden jedermann zur Erfassung übersinnlicher Wahrheiten befähigt wird, so dient diese Behauptung doch mehr Werbungszwecken. Der oberste Teil der Erkenntnis wird geheim gehalten, weil dafür angeblich nicht alle Menschen reif sind. Wer der letzten Erkenntnisse teilhaftig werden will, braucht eine Anleitung, Führung, Unterweisung seitens der Eingeweihten, denen sich die Wahrheit bereits offenbart hat, er muß sich der Autorität der Adepten unterwerfen.

Die Behauptung der Geheimwissenschaften, daß durch seelische Konzentration und physiologische Übungen Erkenntnisse erlangt werden können, die uns bisher verschlossen waren, hat einen berechtigten Kern, weil in unserer psychophysischen Organisation noch viele Kräfte schlummern, die geweckt und gesteigert werden können. Ihre Methode ist nichts anderes, als die Verlegung des Standortes der Betrachtung in andere psychische Gebiete, im Grunde genommen auch ein Abstraktionsvorgang. Geschieht dies mit Mäßigung und Umsicht, so wird dadurch eine Korrektur der gewöhnlichen Erkenntnisweisen erlangt, viele bisher als übersinnlich mißachteten Tatsachen werden erfaßt. Wird aber diese Abstraktion, die Steigerung der Seelenkräfte übertrieben, dann geht der Zusammenhang mit der sinnlich-begrifflichen Wirklichkeit verloren. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß je  mehr eine Geheimwissenschaft diese Abstraktionsvorgänge auf die Spitze treibt, desto höhere, umfassendere und vollständigere Erkenntnis verspricht sie.  Jede übermäßige Inanspruchnahme eines Organs stört das Gleichgewicht und führt zu Einseitigkeiten. KEYSERLING, ein Verehrer und gründlicher Kenner der Yogakunst sagt:
    "Allzuviel Yoga schadet, die Vergewaltigung des Naturprozesses kann eine dauernde Lähmung zur Folge haben. Das ständige Fixieren des Geistes nimmt diesem seine Eigenbeweglichkeit; er arbeitet nicht mehr von selbst."
Auch in der geheimwissenschaftlichen Erkenntnis wiederholt sich die Tendenz, die wir auf allen Gebieten des Denkens aufgezeigt haben, je weiter die Abstraktion geht, desto mehr wird ihren Produkten Allgemeingültigkeit beigemessen.

Die höchste Erkenntnis wird erreicht, sei es durch ein verfeinertes geistiges Organ, sei es in der Ekstase, wenn durch Abstraktion das Ich von allen Wahrnehmungsinhalten entleert wird. Das normale Selbstbewußtsein schwindet, die Kinästhesien werden auf das Intensivste erlebt.  Auf diesem Umweg erheben auch die Geheimwissenschaften die animalisch-vegetativen Empfindungen auf Thron der höchsten intuitiven Wahrheit. 
LITERATUR - Paul Szende, Die soziologische Theorie der Abstraktion, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 50, Tübingen 1923