ra-2E. BernheimErnst WachlerTroeltschvon RümelinNietzschevon Sybel    
 
ARVID GROTENFELT
Die Wertschätzung in der Geschichte
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"Es ist wahr, daß die Erkenntnis einmaliger Vorgänge nicht so unmittelbar praktischen Nutzen bringt, wie die Kenntnis allgemeiner Gesetze. Warum sollten aber nur sichtlich nutzbringende Kenntnisse Wissenschaft heißen? Eher müßte wohl dieser Name eben dem von der unmittelbaren Beziehung auf praktischen Nutzen losgelösten Wissen zukommen."

Die vorliegende Schrift sucht zur Lösung der Frage, inwiefern der Historiker eine Wertschätzung der geschichtlichen Erscheinungen zu vollziehen hat, beizutragen. Sie faßt diese Frage in dem Sinne auf, daß die ausdrücklichen Äußerungen der Billigung oder Mißbilligung, die allerdings von fast allen Historikern in ihrer Darstellung geschichtlicher Taten und Persönlichkeiten häufig ausgesprochen werden, dabei nur nebenher in Betracht kommen. Das Hauptproblem ergibt sich mir aus der Erwägung, daß der Geschichtsschreiber, auch wenn er sich möglichst strenge Objektivität, unter Zurückhaltung des eigenen Urteils, zur Regel macht, doch eine gewisse Würdigung des Geschehenen insofern vornehmen muß, als er das Wichtige, Bedeutungsvolle auswählt und betont, das Bedeutungslose beiseite läßt und jeder Erscheinung ihren mehr oder weniger hervortretenden Platz im Gesamtbild der Vergangenheit zuweist.


Erster Abschnitt
Allgemeine Aufgabe und
Methode der Geschichtswissenschaft


1. Die Geschichte als Erkenntnis einmaliger Vorgänge

Es ist oft ausgesprochen worden, daß die Geschichte eine zentrale Stellung in der wissenschaftlichen Weltanschauung und Forschungsarbeit der Gegenwart einnimmt. (1) Niemals zuvor hat man mit gleichem Eifer alle Lebensäußerungen der Menschheit von den entlegensten Zeiten bis auf die jüngste Vergangenheit durchforscht. Die Erscheinungen des sozialen und geistigen Lebens werden begriffen und erklärt aus ihrer Geschichte, ihrer Entwicklung; es wird anerkannt, daß sie auf diesem Boden auch beurteilt werden sollen. Sogar in der Naturwissenschaft macht sich in gewissem Sinne eine "historische", entwicklungsgeschichtliche Betrachtungsweise geltend; auch dort herrscht die "genetische Methode" und gewährt unserem Erklärungsbedürfnis volle Befriedigung. Beinahe alle Forschungsarbeit wendet sich dem Ziel zu, die allmähliche  Entstehung  der Gestaltungen der Wirklichkeit klarzulegen. Älteren Kulturperioden gegenüber fühlt sich die Wissenschaft der Gegenwart stolz auf ihr "historisches Verständnis". Sie meint, daß sie, trotz der großartigen Fortschritte und trotz des gewaltigen Abstandes, der sie vom Wissen älterer Zeiten trennt, doch der Vergangenheit ein unvergleichlich tieferes, innigeres Verständnis entgegenbringe, als frühere Zeitalter es taten. Besonders wird dieser historische Geist hervorgehoben im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts und zu den politischen Anschauungen des älteren Liberalismus im 19. Jahrhundert, welche bekanntlich in dieser Hinsicht die "Prügelknaben" unserer Zeit darstellen.

Der eigentliche Sinn jener "historischen" Geistesrichtung bleibt aber unklar und zweifelhaft, so lange über Wesen und Aufgaben der Geschichte selbst eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit herrscht. Darüber sind bekanntlich in den letzten Jahrzehnten wiederholt heftige Meinungskämpfe entbrannt. Forderungen wurden laut, welche auf eine völlige Neugestaltung der Geschichtswissenschaft ausgingen.

Besonders seit dem Hervortreten COMTEs und BUCKLEs zogen die Reformbestrebungen allgemeine und lebhafte Aufmerksamkeit auf sich. Die Angriffe der heißblütigen Reformatoren gipfelten in der Behauptung, daß die seitherige Form der Geschichtsforschung nicht den Anspruch, als Wissenschaft zu gelten, erheben könne. Das Ziel aller Wissenschaft nur dadurch erheben, daß sie ihre Aufgabe in dem Sinn auffasse, Gesetze des geschichtlichen Lebens nachzuweisen. Zu diesem Zweck müsse sie sich die Methoden der Naturwissenschaften aneignen oder nach ihrem Vorbild neue Methoden schaffen.

Die heftigen Angriffe BUCKLEs und seiner nächsten Geistesverwandten gegen die gesamte bisherige Geschichtswissenschaft sind kräftig abgewehrt worden. Nach jener erschöpfenden Diskussionn kann es meines Erachtens dem unbefangenen Sachkundigen nicht zweifelhaft sein, daß sie weit über das Ziel hinausschossen. Hervorragende Geschichtsforscher der alten Schule wiesen einleuchtend nach, daß die eigentümliche Natur des geschichtlichen Forschungsgebietes eigenartige Aufgaben stellt und daß es daher durchaus unstatthaft ist, die naturwissenschaftliche Auffassung von den Zielen der Wissenschaft und die naturwissenschaftlichen Methoden unmittelbar auf die Geschichte zu übertragen. Während die Naturwissenschaft hauptsächlich darauf abzielt, Allgemeinbegriffe zu bilden, allgemeine Sätze und allgemeingültige Gesetze aufzustellen, während sie im Hinblick auf diesen Endzweck die einzelnen Objekte und Vorgänge beobachtet und untersucht, erweist es sich als durchaus sachgemäß und wohlbegründet, daß in der Geschichte die genaue Untersuchung und Darstellung  einmaliger  Ereignisse und Tatsachen,  individueller  Erscheinungen und Persönlichkeiten eine viel größere Bedeutung beansprucht.

Hiermit berühren wir allerdings Punkte, über die mmer noch ein heißer Kampf geführt wird. In der Tat, auch jene von COMTE und BUCKLE vertretenen Reformbestrebungen hatten ihre berechtigte Seite. Daher sind sie zum Teil immer wieder aufs neue aufgetaucht. Nachdem der Streit über BUCKLEs Umsturzforderungen in ihrer ursprünglichen radikalen Form einigermaßen ausgetobt hatte und die Schwäche vieler seiner Behauptungen nachgewiesen worden war, sind doch immer wieder Versuche zu einer Erneuerung der Geschichtsmethode aufgetaucht, welche teilweise dieselben Tendenzen wieder aufnahmen. Hierher gehören z. B. die Diskussionen über kollektivistische und individualistische Geschichtsauffassung, über die sogenannte materialistische Geschichtsanschauung, über die relative Bedeutung der Kulturgeschichte und der politischen Geschichte.

So muß dann alles aufgeboten werden, um endlich zur Klarheit und zu einem gegenseitigen Verständnis über die grundwesentliche Begriffsbestimmung und Aufgabe der Geschichte zu gelangen. Schon J. G. DROYSEN äußert sich in seiner scharfen Kritik über BUCKLE:
    "Ein Werk wie das BUCKLEs ist sehr geeignet daran zu erinnern, in welchem Maß unklar, kontrovers, beliebigen Meinungen ausgesetzt die Fundamente unserer Wissenschaft sind. Und der tiefe Eindruck, den dasselbe nicht bloß in den weiten Kreisen der Liebhaber jeder neuesten Paradoxie, mag sie Tischklopfen oder Phalanstere oder das Ölblatt der Friedensfreunde heißen, sondern auch auf manche jüngeren Genossen unserer Studien gemacht hat, darf und wohl eine Mahnung sein, endlich auch für unsere Wissenschaft die Begründung zu suchen, um die uns die Naturwissenschaften seit BACON - wenn anders er diesen Ruhm verdient - voraus sind." (2)
Immer noch gehen die Ansichten weit auseinander und der Streit wird oft mit großer Gereiztheit geführt.

Nach allen Meinungskämpfen bleibt es meines Erachtens dabei, daß die allgemeine Aufgabe der Geschichtsforschung im Sinne der "alten Schule" zu bestimmen insofern, als ihre Hauptaufgabe die Erkenntnis des  einmaligen Entwicklungsganges der Menschheit  sein muß. Die Aufstellung historisch-soziologischer Gesetze ist nicht die eigentliche Aufgabe der Geschichte, sondern muß im wesentlichen anderen Wissenschaften, der Soziologie oder wenn man so sagen will, der Geschichtsphilosophie, überlassen werden. Aber eben um dieser Wahrheit zu möglichst allgemeiner Anerkennung zu verhelfen, müssen wir uns umso energischer bemühen, die Wahrheitsmomente, die in den entgegenstehenden Theorien und Richtungen liegen, klar zu erkennen und in unsere Betrachtungsweise aufzunehmen. Nur so können wir auf eine Milderung der Gegensätze hoffen.

Wir haben, wie gesagt, anzuerkennen, daß die Bestrebungen, eine auf die Geschichte sich stützende Sozialwissenschaft zu begründen, ihre tiefe Berechtigung hatten, und daß daher das große Interesse, ja die Begeisterung, womit diese Ideen von vielen aufgenommen wurden, durchaus verständlich ist. Sogar der Versuch, den "gesetzeswissenschaftlichen" Methoden und Tendenzen Eingang in die eigentliche Geschichtswissenschaft zu bereiten, ist nicht einfach als  völlig  verkehrt und unsinnig zurückzuweisen. Die neue Richtung war tatsächlich geeignet und berufen, einen bedeutenden Einfluß auf das Studium der Geschichte zu gewinnen, das Verständnis für den Verlauf geschichtlicher Dinge in mancher Beziehung zu vertiefen und zu vervollständigen. Die Geschichte muß in der Tat, um ihrer eigensten Aufabe immer vollständiger zu genügen, auf soziologische und kollektive Verhältnisse, auf kausale Zusammenhänge allgemeiner und gesetzmäßiger Natur in weitem Umfang  Rücksicht nehmen.  Der Fortschritt, der während des 19. Jahrhunderts in der Methode der Geschichtswissenschaft geschehen ist, besteht vor allem in einer vollständigeren Berücksichtigung und Erforschung der soziologischen Seiten des geschichtlichen Lebens. Nichtsdestoweniger war es eine schwere Übertreibung, eine unmögliche und verkehrte Forderung, daß die bisherige Geschichte einfach abzudanken habe zugunsten der neuen, zu gründenden geschichtlichen "Gesetzeswissenschaft"; daß die Geschiche, wie sie bisher betrieben wurde, nicht mehr als eine selbständige Wissenschaft zu gelten habe, sondern nur als Materialsammlung für jene neue Disziplin.

Als die natürlich, selbstverständliche Aufgabe der Geschichte, - so wie dieser Begrff in der allgemeinen Denkweise und dem geläufigen Sprachgebrauch aufgefaßt wird -, erschien von jeher: das vergangene Leben, den bisherigen Entwicklungsgang des Menschengeschlechts zu erforschen und darzustellen. Wenn ich durch eine kurze Definition ihre Aufgabe genauer feststellen soll, so kann ich mich darin der von ERNST BERNHEIM gegebenen Formulierung anschließen; nach ihm ist die Geschichte  "die Wissenschaft von der Entwicklung der Menschen in ihrer Betätigung als soziale Wesen."  Mir ist keine andere Definition bekannt, die zutreffender in größter Kürze doch die wichtigsten charakteristischen Eigentümlichkeiten des Gebiets, worauf sich die tatsächlich vorliegende, bisherige Geschichtswissenschaft bezieht, bezeichnet oder wenigstens andeutet. Indem wir die Geschichte als "Wissenschaft von der Entwicklung" bezeichnen, wollen wir damit sagen, daß sie nicht zusammenhanglose Einzeltatsachen, sondern den menschlichen Entwicklungsgang als  einheitliches Ganzes  erforschen und darstellen soll und daß für sie ein ganz besonderes Gewicht auf die Erkenntnis des  Zusammenhangs  des Verlaufes fällt. Der Ausdruck "Betätigung der Menschen als soziale Wesen" bezeichnet meiner Ansicht nach richtig das Gebiet geschichtlicher Forschung, indem er nicht nur eigentliche "Handlungen", "Taten", sondern auch mehr passive Lebensäußerungen und die "zuständliche" Seite des menschlichen Daseins umfaßt und zugleich andere engere Auffassungen, z. B. die Beschränkung der Geschichte auf die staatlichen Verhältnisse, ausschließt. (3)

BERNHEIM hebt hervor, daß, wenn er hier besonders auf die soziale Seite des menschlichen Wesens hinweist, damit keineswegs gemeint ist, der Zweck der Geschichte sei die Ermittlung "sozialer Gesetze". Im Gegenteil sei dieser Gedanke eben durch die gegebene Definition schon abgelehnt. Aufgabe der Geschichte sei die Erforschung und Schilderung des tatsächlichen, einmaligen Werdegangs als solchem, nicht die Auffindung ihrer Gesetze oder ihrer "letzten Gründe".

In der Tat, wenn wir uns dazu verstehen, die Geschichte einfach hinzunehmen, so, wie sie ist, wie sie von so vielen der größten Geister der Wissenschaft gepflegt worden ist, wenn wir uns unbefangen in den Geist und das methodische Verfahren der bestehenden Wissenschaft hineinversetzen und darauf verzichten, sie allzu kühn meistern oder umschaffen zu wollen, so erkennen wir unschwer die zwingenden Gründe, welche sie zu dem gemacht haben, was sie ist, nämlich im wesentlichen zu einer Erforschung  einmaliger  Tatsachen und Vorgänge. Dieselben, teils prinzipiellen, teils praktischen Gründe werden es notwendig machen, daß die Geschichte in alten Sinne in absehbarer Zukunft fortbestehen wird als ein gesonderter Forschungszweig, der nicht mit der Erforschung soziologischer Gesetze zu einer Disziplin zusammengeworfen werden darf.

Einige Verfasser erklären allerdings kurzweg, daß ihnen eine Untersuchung, die auf die Ermittlung singulärer Tatsachen ausgeht, bar an Interesse, gleichgültig und wertlos sei. Der Wert aller Wissenschaft liege darin, daß sie das Wirkliche durch ein System allgemeiner Gesetze und Wahrheiten begreifen lehre, wodurch sie die Vorausberechnung des Künftigen möglich mache und praktischen Nutzen bringe, -  interpretatio naturae sive regnum hominis  [Interpretation der Natur oder Herrschaft des Menschen - wp],  savoir pour prévoir  [Wissen um vorherzusehen - wp]. Auf Ausführungen dieser Art kann aber einfach geantwortet werden, daß die Menschheit im allgemeinen offenbar das Wissen nicht ausschließlich aus solchen Gesichtspunkten bewertet. Das menschliche Gemüt und der menschliche Intellekt bringen der geschichtlichen Erkenntnis im alten Sinne, d. h. der Untersuchung und Darstellung singulärer geschichtlicher Erscheinungen in ihrer vollen Eigentümlichkeit und Lebendigkeit, die lebhafteste Teilnahme entgegen. Warum sollten wir nicht dieses Interesse an einer genauen Erkenntnis des Besonderen und Individuellen gelten lassen? Wenn der menschliche Geist sich darin gefällt oder ein eigentümliches Bedürfnis empfindet, auf dem Gebiet der Geschichte einer derartigen Erkenntnis in vollerem Sinne und ausgedehnterem Maße nachzustreben, als auf anderen Wissensgebieten, so wäre es ein verkehrtes Beginnen, es verbieten zu wollen, diesem Streben gewisse Schranken, eine Art "Zensur", entgegenzustellen. Diejenigen, die eine Jahrtausende hindurch, unter lebhaftester Teilnahme aller Denkenden, gepflegte Disziplin verwerfen, hätten jedenfalls den Beweis zu liefern, daß das Interesse am Besonderen unberechtigt sei.

Andere wiederum bestehen hartnäckig darauf:  "Wissenschaft dürfe jedenfalls nur die systematische Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten heißen, nicht ein Wissen von Einzeltatsachen oder einmaligen Vorgängen. Die Frage, was man "Wissenschaft nennen will, ist ja streng genommen eine bloße Frage der Definition, ohne unmittelbare oder notwendige sachliche Bedeutung. Indessen verbindet sich mit so einem Sprachgebrauch fast immer eine Tendenz zur Geringschätzung derjenigen Wissenszweige, denen der Name Wissenschaft vorenthalten wird. Wir werden weiter unten Ansichten dieser Art näher berühren. Hier begnügen wir uns mit der Bemerkung, daß eine solche Abgrenzung des Begriffs der Wissenschaft eine willkürliche, unmotivierte Einschränkung desselben bedeutet. Auch die Erkenntnis eines einmaligen Entwicklungsganges ist "Wissen". Der natürliche, ungekünstelte Sprachgebrauch fordert, daß wir eine Disziplin, die  gesichertes, zusammenhängendes, einheitliches Wissen  vermittelt, "Wissenschaft" nennen. Da es zum Wesen der Geschichte, wie sie die großen Geschichtsschreiber auch schon älterer, besonders aber der neueren Zeit ausgeübt haben, eben gehört, daß sie den  Zusammenhang  der Menschheitsentwicklung erforscht, so hat sie einen wohlbegründeten Anspruch darauf, "wissenschaftlich" genannt zu werden. (4)

Es ist wahr, daß die Erkenntnis einmaliger Vorgänge nicht so unmittelbar praktischen Nutzen bringt, wie die Kenntnis allgemeiner Gesetze. Warum sollten aber nur sichtlich nutzbringende Kenntnisse Wissenschaft heißen? Eher müßte wohl dieser Name eben dem von der unmittelbaren Beziehung auf praktischen Nutzen losgelösten Wissen zukommen.

Es ist auch wahr, daß das lebhafte, gewaltige Interesse, welches erfahrungsgemäß der historischen Schilderung des Individuellen und einmaliger Begebenheiten entgegengebracht wird,  zum Teil  wirklich aus Motiven entspringt oder durch kräftige Hilfsmotive unterstützt wird, die nicht wissenschaftlicher Natur sind. Große geschichtliche Persönlichkeiten und Taten, gewaltige, "dramatische" Ereignisse des Völkerlebens, fesseln durch ästhetischen Zauber den Zuschauer. Auch sonstige Gefühlsinteresse dürfen jedoch nicht die Wege und Arbeitsrichtungen eines wissenschaftlichen Forschungszweiges bestimmen, - das betrachte ich als selbstverständlich. Trotz aller zufälligen, an einzelnen Punkten möglichen und wünschenswerten Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst oder zwischen Wissenschaft und ethisch-erzieherischen Zwecken, soll ein Forschungsgebiet im Grunde sein Verfahren rein nach den Interessen des Erkennens einrichten. (5) Ich verstehe daher unter Geschichtswissenschaft das Streben nach geschichtlichem Wissen rein ansich, losgelöst von allen Nebeninteressen irgendwelcher Art, von aller Rücksicht auf Nutzanwendungen. Nur wenn die Forschung ihrer eigenen Aufgabe treu und unbestechlich nachgeht, wenn sie sich durch keine Parteiinteressen, keine Lockungen etwa eines patriotischen Enthusiasmus oder der künstlerischen Phantasie von diesem Weg abbringen läßt, kann sie der Menschheit dienen, ihren wahren Vorteil und wahre Erhebung bringen. Heterogene Interessen enthalten immer eine Gefahr für das Forschen nach reiner Wahrheit (6). Solche Gesichtspunkte sind folglich für die Geschichte kein wirklicher Grund, sich in das Individuelle zu vertiefen.

Aber auch aus rein wissenschaftlichen Gesichtspunkten erweist sich das an die eingehende Untersuchung des Individuellen geknüpfte hohe Interesse als in der Geschichte durchaus wohlbegründet und notwendig. Der große Zusammenhang der Lebensentwicklung der Menschheit kann nicht allseitig begriffen werden, wenn nicht auch das Besondere und Einmalige der genauen Untersuchung würdig geachtet wird. Nicht ohne Grund hat man hervorgehoben, daß an großen geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignissen eben diejenigen Seiten geschichtlich bedeutungsvoll sind, worin sie sich als individuell eigenartig erweisen. Was RAFFAEL und SHAKESPEARE, was NAPOLEON und BISMARCK mit allen oder mit sehr vielen anderen Menschen gemein hatten, das hat keine geschichtliche Bedeutung; lediglich dasjenige an ihnen, was individuell eigentümlich war, - die nur in diesem einen Fall verwirklichte eigentümliche Verknüpfung geistiger Fähigkeiten und Erlebnisse -, ist die Quelle hoher Kulturleistungen oder gewaltiger Eingriffe in das politische Leben geworden. Darin liegt das wesentliche, innere Recht der Darstellungs- und Forschungsweise der "älteren" Schule, die sich vor allem in die einzelnen Erscheinungen der Vergangenheit in ihrer konkreten Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit hineinzuleben sucht und die ganz besonders auf scharf, eingehende Charakteristik der individuellen Persönlichkeiten sowie der einmaligen Verknüpfungen von Umständen und Ursachen abzielt. Es ist nicht zu leugnen, daß die "neue", soziologische und kollektivistische Richtung in der Geschichtsbehandlung oft die Bedeutung jener scharfen Charakteristik des Individuellen vernachlässigt und sich dadurch ins Unrecht gesetzt hat. Nur durch liebevolles Eingehen auf das Individuelle erreichen wir ein volles Verständnis für viele der Höhepunkte und der wertvollsten Erzeugnisse des Kulturlebens, sowie auch für manche entscheidende Ereignisse der politischen Geschichte. Um die feinsten, eigenartigsten Kultur- und Geistesgüter, die die Menschheit geschichtlich errungen hat, voll zu verstehen und zu würdigen, müssen wir in der Weise der alten geschichtlichen Methode uns in das vertiefen, was große Staatsmänner und Patrioten, Dichter und Denker, ethische und religiöse Genies geleistet und durchlebt haben. Mit einem gewissen Recht hat man daher gesagt, daß bei einer einseitigen Übertragung der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise auf die Geschichtsbehandlung "recht eigentlich das Beste, Feinste und Höchste der Kultur" verloren gehe. (7)

Hier muß jedoch unmittelbar hervorgehoben und betont werden, in welchem Sinne und zu welchem Zweck der Historiker sich in die Einzeltatsachen zu versenken hat. Es geschieht nicht, um bei der Betrachtung der singulären Tatsachen in ihrer Isoliertheit zu verweilen, nicht um dieselben etwa als reine Erzeugnisse der unbedingten Freiheit der Individuen hinzustellen und sie aus diesem Gesichtspunkt zu würdigen; sondern es geschieht, um sie in den großen Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung einzuordnen und ihre Bedeutung für ihn zu zeigen. Einmalige Vorgänge sind geschichtlich beachtenswert, weil und insofern sie für die Kulturentwicklung im ganzen Bedeutung besitzen. Weil solche Vorgänge in vielen Fällen in der Tat die höchsten und reichsten Blüten des Kulturlebens darstellen, fühlen kommende Generationen das Bedürfnis, immer aufs neue zu ihnen zurückzukehren, sie sozusagen immer aufs neue zu durchleben; deshalb üben sie einen gewaltigen Einfluß auf die folgende Entwicklung aus. Und weil in den höchsten Erzeugnissen des Denkens, der Kunst, der ethischen und religiösen Intuition, auch im Wirken großer Männer der Tat, z. B. nationaler Helden, eine Tiefe und ein Reichtum liegen, die sich keineswegs dem ersten besten, oberflächlichen Betrachter offenbaren, sondern im Gegenteil bei der Popularisierung der Ideen und bei den Nachfolgern immer mehr oder weniger verloren gehen oder sich abstumpfen, so wird es eine wichtige Aufgabe der Geschichte, durch eine eindringliche Erforschung jener Höhepunkte des geistigen Lebens das volle Verständnis derselben zu vermitteln und lebendig zu erhalten. Aus solchen Gründen wird das Eingehen auf das Individuelle ein charakteristischer, eigentümlicher Zug in der Arbeitsmethode der geschichtlichen Wissenschaften, der ihnen ein von anderen Forschungsgebieten abweichendes Gepräge gibt.
LITERATUR Arvid Grotenfelt, Die Wertschätzung in der Geschichte, Leipzig 1903
    Anmerkungen
    1) So z. B. E. GOTHEIN, Die Aufgaben der Kulturgeschichte, 1889, Seite 1f. - FRIEDRICH JODL, Die Kulturgeschichtsschreibung, 1878, Seite 1. - W. MAURENBRECHER, Über Methode und Aufgabe der historischen Forschung, 1868, Seite 3f. - D. SCHÄFER, Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, 1888, Seite 27. - A. D. XENOPOL, Les principes fondamentaux de l'histoire, 1899, Seite 22. - FRIEDRICH PAULSEN, Einleitung in die Philosophie, Vorwort Seite VIIf. - zum Teil abweichend: HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1902, Seite 1f.
    2) Historische Zeitschrift, Bd. 9, 1863, Seite 5; der Aufsaz wieder abgedruckt in DROYSENs Grundriß der Historik, 3. Auflage, 1882
    3) Vgl. die nähere Begründung und Erläuterung bei ERNST BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, 3. Auflage, 1903, Seite 6f
    4) BERNHEIM, Lehrbuch usw., Seite 142f. - PAUL BARTH erhebt in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Seite 328f, Einspruch gegen BERNHEIMs Ausführungen, indem er behauptet, daß die allgemein übliche geschichtliche Darstellung nicht oder doch "nur in beschränktem Maße"  zusammenhängendes  und  einheitliches  Wissen gebe. Ich kann seine Begründung nicht für entscheidend halten; denn, wenn auch die Geschichte fortwährend gegebene, tatsächliche Data aufnehmen muß, die nicht ohne Rest kausal erklärt, aus vorausgegangenen, nachweisbaren, voll begriffenen Ursachen abgeleitet werden können, so findet dies im Grund in jeder induktiven Wissenschaft statt. Vgl. hierzu RICKERTs Ausführungen darüber, was überhaupt aus allgemeinen Gesetzen ableitbar ist und was in der Wissenschaft als tatsächlich gegeben angenommen werden muß (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 249f)
    5) Ähnlich WILHELM FREYTAG, Archiv für systematische Philosophie VI, 1900, Seite 339
    6) Über ethisch-erzieherische und andere Nebenzwecke in der Geschichtsschreibung vgl. Kap. 4 dieses Abschnitts.
    7) Worte von C. WACHSMUTH in seiner Rektoratsrede "Über Ziele und Methoden der griechischen Geschichtsschreibung", 1897, Seite 3. Vgl. GEORG von BELOW, Historische Zeitschrift, Bd. 81, Seite 195. Über die oben erörterte Richtung in der Auffassung der Geschichte vgl. überhaupt WILHELM WINDELBAND, Geschichte und Naturwissenschaft, 2. Auflage 1900. - HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und ders. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899. Anregungen zur Würdigung dieser Richtung verdanke ich auch einer akademischen Vorlesung von Herrn Professor HENSEL über Probleme der Geschichtsphilosophie, die ich - leider nur zum Teil - im Jahre 1900 in Heidelberg zu hören Gelegenheit hatte.