Schubert-SoldernF. Tönniesvon Gebsattel | ||||
Wesen und Wert der öffentlichen Meinung
I. Die öffentliche Meinung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung BLUNTSCHLI hat bei verschiedenen Gelegenheiten seine Ansicht über die öffentliche Meinung dargelegt, und sich im "Staatswörterbuch" mit folgenden Sätzen geäußert:
Es ist eine radikale Übertreibung, wenn die öffentliche Meinung für untrüglich erklärt und geradezu von Rechtswegen ihr die Herrschaft zugeschrieben wird. Sie kann von momentanen Leidenschaften der Menge getrübt, sie kann sogar künstlich irre geleitet werden. Nicht minder töricht aber ist die hochmütige Verachtung der öffentlichen Meinung. Sie darf schon deswegen nicht verachtet werden, weil sie eine geistige Macht ist. Ihr Wert beruth auf dem Gemeinbewußtsein der Völker. Es ist gut, daß diese sich ein sittliches Urteil und eine verständige Meinung bilden können, über das Gerechte und Ungerechte, über das, was der Gemeinschaft nötig und nützlich und was ihr verderblich und schädlich ist. Die öffentliche Meinung läßt sich dem Chor der antiken Tragödie vergleichen. Sie ist im Großen und Ganzen dasselbe, was der Wahrspruch der Geschworenen im Strafverfahren ist. Sie entsteht aus unzähligen Eindrücken und Wahrnehmungen und äußert sich in den mannigfaltigsten Formen, in der freien Rede, in der Familie, im Salon und im Wirtshaus, in Versammlungen aller Art und vor allem in der Presse und der Volksvertretung. Die öffentliche Meinung ist in hohem Grad abhängig vom Zeitgeist, der sie stimmt und bewegt. Es ist nicht wahr, daß die öffentliche Meinung herrscht, da sie weder herrschen kann, noch herrschen will. Sie ist eine öffentliche Macht, aber sie ist keine öffentliche Gewalt." Schon früher hatte NIEBUHR (3) der öffentlichen Meinung die Eigenschaft einer "Gottesstimme" für den Fall zuerkannt, wenn sie ein allgemein ausgesprochenes und nicht nachgesprochenes Urteil sei, wobei von ihm eine Art von Einstimmingkeit vorausgesetzt gewesen zu sein scheint. Wesentlich anders, als NIEBUHR, hatte zu seiner Zeit HEGEL geurteilt, nach dessen Ansicht die öffentliche Meinung ebenso sehr geachtet, wie verachtet zu werden verdient, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, dieses nach ihrem konkreten Bewußtsein. Da der öffentlichen Meinung der Maßstab der Unterscheidung fehlt, so sei die Unabhängigkeit von ihr die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem, in der Wirklichkeit wie in der Wissenschaft. (4) Von BLUNTSCHLIs Auffassung der öffentlichen Meinung und ihres Zusammenhanges mit der Bedeutung der Mittelklassen dürften überall diejenigen stark abweichen, welche, wie FERDINAND LASSALLE (5) in Deutschland und PIETRO ELLERO (6) in Italien, die Behauptung einer ökonomischen, politischen und geistigen Überlegenheit der Mittelklassen im Vergleich zur Volksmasse grundsätzlich angefochten haben. Unter einem anderen Gesichtspunkt, als die Mehrzahl der Politiker, würdigt SCHÄFFLE die öffentliche Meinung. Sie bedeutet für ihn eine psychische Tatsache des sozialen Lebens oder ein Phänomen des Volksgeistes, wobei von ihm die geistige Koordination der sozialen Massen um leitende Mittelpunkte (Autoritäten) dargestellt wird. Dies geschieht sowohl hinsichtlich der die geistige Führung der Massen aktiv leitenden Kräfte, als auch hinsichtlich der Rückwirkung der Massen auf jene leitenden Kräfte in passiver Richtung. Die Öffentlichkeit, das Publikum, die öffentliche Meinung und die Presse werden von SCHÄFFLE systematisch nebeneinander gestellt. (7) Die öffentliche Meinung erscheint in SCHÄFFLEs Augen als "Reaktion des Publikums, des Volksverstandes, Volksgemüts, Volkswillens auf bestimmte leitende Ansichten, Urteile oder Neigungen. Ohne die öffentliche Meinung lasse sich, so meint er, schwer eine soziale Wirkung erzielen, welche durch die allgemeine geistige Teilnahme des Volkes oder eines bestimmten gesellschaftlichen Kreises bedingt sei; der Wert der öffentlichen Meinung wird bald über- bald unterschätzt; dieselbe sei überhaupt keine einheitliche Strömung, sondern eine Vielheit besonderer Strömungen, welche einander oft völlig entgegengesetzt sind. Schon diese wenigen Hinweise auf die Ansichten solcher, die die öffentliche Meinung im Zusammenhang mit dem gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Leben gewürdigt haben, machen es begreiflich, warum die öffentliche Meinung in den gelegentlichen Äußerungen der Staatsmänner, in der Parteipresse und den Parlamentsdebatten von ein und derselben Person bald gelobt, bald getadelt, als Richterstuhl bald anerkannt, bald abgelehnt wird. Alle Ansichten, die seit Jahrhunderten über die öffentliche Meinung ausgesprochen worden sind, stimmen jedenfalls darin überein, daß ihr in neuerer Zeit, ohne Rücksicht auf den einzelnen Fall, eine tatsächliche Macht zuerkannt wird, die zumindest aus Gründen der Staatsklugheit Beachtung verdient, und ferner auch darin, daß der reale Wert der öffentlichen Meinung sich in einem Durchschnitt nicht feststellen läßt. Im Übrigen zeigen sich in der allgemein staatsrechtlichen und politischen Literatur älterer und neurerer Zeit mancherlei Abweichungen, inbesondere:
2) bezüglich der Entstehungsweise der öffentlichen Meinung; 3) bezüglich der berechtigten Subjekte des Meinens, je nachdem dabei gewisse Klassen der Bevölkerung oder die Massen als Meinende überhaupt vorausgesetzt werden. Achtung oder Mißachtung in ihren sehr verschiedenartigen Abstufungen scheinen bei denjenigen, die sich öffentlich darüber vernehmen ließen, wesentlich von den subjektiven Momenten der Abneigung und der Furcht, der Zuneigung oder Hoffnung und nicht zum geringsten Teil vom Maß des eigenen Selbstgefühls bestimmt zu sein. Auch außerhalb Deutschlands ist im Verlauf des letzten Jahrhunderts die Wichtigkeit des Problems anerkannt worden, das in der richtigen Erkenntnis der öffentlichen Meinung gestellt ist. VICO glaubte, daß es nicht die Weisheit einzelner Männer sei, wodurch, wenn sie von einer unwissenden und teilnahmslosen Menge umgeben sind, der Fortschritt menschlicher Kultur bestimmt werden kann, sondern vielmehr die Einsicht des Volkes und dessen durchschnittliche Auffassungsgabe (9). ROMAGNOSI scheint sich nicht imstande geglaubt zu haben, die von ihm als wichtig anerkannte Aufgabe einer Lösung näher zu führen. (10) Unter den neuerer Rechtsphilosophen Italiens urteilt GABBA, wie folgt:
Wie verhält sich die öffentliche Meinung im Vergleich zum Volksrechtsbewußtsein? Ist die öffentliche Meinung, die sich gegenständlich auf bestimmte Gesetzgebungsfrage richtet oder in Laiengerichten konsequent durch eine allgemein festgehaltene und betätigte Auslegung des Gesetzes offenbart, verschieden vom Rechtsbewußtsein des Volkes, aber mit ihm in seinem Ursprung identisch? Daß die öffentliche Meinung in manchen Ländern sehr erheblich in den Gang der Strafrechtspflege eingreift und sich entweder unmittelbar durch das Schwurgericht in Gestalt bedenklicher Verdikte beteiligt oder doch mittelbar auf die Richtenden einwirkt, wird sich schwerlich in Abrede stellen lassen. In der deutschen Strafgesetzgebung hat der unbestimmt gelassene Begriff der öffentlichen Meinung positive Rechtsqualität erlangt.
Keiner der Kommentatoren des deutschen Strafgesetzbuches hat es für erforderlich erachtet, das Verhältnis des Strafrichters zur öffentlichen Meinung einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Dennoch können dabei mancherlei Zweifel entstehen. Ob in irgendeinem einzelnen Fall das Vorhandensein einer öffentlichen Meinung bestritten werden kann und alsdann zum Gegenstand der Beweisführung zu machen sein würde, könnte Sache der näheren Erwägung sein. Ist ein Irrtum in der Beurteilung der öffentlichen Meinung von Seiten des Angeklagten als ein Irrtum in einer tatsächlichen Richtung aufzufassen? Es ist denkbar, daß ein Ausländer, der den tatsächlichen Stand einer angeblichen öffentlichen Meinung nicht kannte, sich wegen des Vorwurfs einer Handlung zu verantworten hat, die nach der in seinem Land geltenden Auffassungsweise nicht als eine ehrenrührige erscheint. Unter den heutigen Verhältnissen bleibt überdies möglich, daß plötzliche Umwandlungen in der öffentlichen Meinung zwischen dem Zeitpunkt der verleumderischen Beleidigung und dem Zeitpunkt der Urteilsfällung vor sich gehen. Wären solche Veränderungen im Stand der öffentlichen Meingung vom Richter zur berücksichtigen oder nicht? Welches sind für den Richter die Erkenntnisquellen der öffentlichen Meinung? In weitaus den meisten Fällen scheint es, als ob die Richter ihre eigene individuelle Auffassung über die Ehrenrührigkeit eines als Beleidigung verfolgten Vorwurf ohne weiteres für gleichbedeutend nehmen mit einem Präjudikat der öffentlichen Meinung. Auch in der strafprozeßlichen Entwicklung mancher Gesetzgebungen kann die öffentliche Meinung einflußreich werden. Dies gilt vorzugsweise hinsichtlich der Wirksamkeit der Strafverfolgungsprinzipien. Wo die öffentliche Sicherheit zu einem erheblichen Teil der Privatanklagetätigkeit des Staatsbürgers anvertraut ist, wie in England, ist die Handhabung des Strafgesetzes vom Stand der öffentlichen Meinung abhängig. Privatankläger pflegen sich danach zu richten. Was das Völkerrecht anbelangt, so hat HEFFTER die Bedeutung der öffentlichen Meinung anerkannt, indem er zu den anzuwendenden Versuchen der Beilegung entstandender internationaler Streitigkeiten auch die
Es ist somit irrtümlich zu glauben, daß die öffentliche Meinung nur in den politischen Bewegungen unseres Zeitalters wirksam war. Sie bezeichnet, obschon ihre politische Qualität überwiegt, doch auch eine Tatsache, die in die Rechtspflege hemmend oder fördernd einzugreifen vermag und darum von der Gesetzgebung notwendig beachtet werden muß. Neben der Aufmerksamkeit, die ihr der Staatsmann immer zuwenden muß und der Jurist nicht völlig versagen darf, steht auch die Erwägung, daß das wirtschaftliche Leben in starkem Maße vom Stand der öffentlichen Meinung beherrscht wird, insofern als der Staatskredit, der Wert vieler Staatspapiere und der Verlauf ökonomischer Krisen davon abhängig erscheint. Die großen Börsenplätze des europäischen und amerikanischen Kontinents stehen unter ihrem Einfluß. Diese Herrschaft der öffentlichen Meinung über das moderne Geldwesen und den internationalen Wirkungskreis des Kredits würde sogar allein genügen, um darzutun, in welchem Maß der moderne Staat in wichtigen Verwaltungszweigen, in der Ordnung seiner Finanzen, bei der Bestreitung seines Staatsaufwandes und folglich schließlich auch in der Erreichbarkeit gewisser Kulturziele von einem außer ihm selbst liegenden Machtfaktor beeinflußt wird. Auf internationalem Gebiet beeinflußt die öffentliche Meinung, die sich in einer übereinstimmenden Auffassungsweise großer Börsenplätze kund tut, die auswärtige Politik kreditbedürftiger Staaten. Nach allen Seiten hin das Wesen und die Betätigung der öffentlichen Meinung darzustellen, wäre eine höchst wichtige aber auch ebenso umfassende Aufgabe. Für die nachfolgenden Ausführungen ist es unmöglich, ein so hohes Ziel zu verfolgen. Es soll aber versucht werden, der Reihe nach den allgemein geschichtlichen Entwicklungsgang, den Begriff, die Wertmessung und den Entstehungsprozeß der öffentlichen Meinung zu veranschaulichen, um daran zum Schluß die Frage zu knüpfen, welches Verhalten dem modernen Staat gegenüber der öffentlichen Meinung geziemt. Die öffentliche Meinung im Altertum und im Mittelalter Dem klassischen Altertum war, wie BLUNTSCHLI angedeutet hat, die öffentliche Meinung und ihre Berechtigung nicht unbekannt. In den freistaatlichen Gemeinden mit demokratischer Verfassungsform war freilich ihre örtliche Basis verhältnismäßig beschränkt, ihre politische Bedeutung überall da gering, wo die Volksmeinung sich auf dem Marktplatz durch Abstimmung, oder in der Volksversammlung unmittelbar zu Taten gestalten oder in Gesetze verwandeln konnte. Die öffentliche Meinung, außerhalb ihrer regelmäßigen Betätigung durch die Demokratie vorgestellt, war bei den Griechen die schnell verfliegende Laune des Demos, die sich in aristophanischen Lustspielen nach ihrer heiteren Seite offenbarte oder die vom Volk gebilligte Anschauung der Weisen, die sich in der Stimme des tragischen Chors vernehmbar machte. Jedenfalls waren Theater und Rednerbühne die beiden Stätten, wo es für Dichter und Rhetoren leicht war, neue Gedanken und Auffassungen zum Gemeingut einer versammelten Volksgemeinde zu machen, wobei das persönliche Bewußtsein großer Männer meistenteils soweit zurücktritt, daß sie ihr Genie gleichsam absichtlich verhüllen, indem sie ihre Gedanken, bereits bevor dieselben völlig verstanden waren, geschickt als Meinung des Demos darstellen. Eine eigene Meinung als solche oder unter dem Stempel der persönlichen Ursprünglichkeit vorzutragen, wäre angesichts eines eifersüchtigen Demos gefährlich gewesen, da dieser den Ostracismus [Volksgericht - wp] (13) zur Verfügung hatte. Ein Philosoph, wie SOKRATES, dem es unmöglich war, seine Lehren als Volksmeinung auszugeben oder unbemerkt zur Volksmeinung auswachsen zu lassen, mußte daher, um den antiken Verzicht auf persönliche Eigenartigkeit aufrechtzuerhalten, die Eingebung seines Daimonion herbeirufen. Die Meinung des griechischen Demos ar naturgemäß der Meinung des Einzelnen gegenüber so sehr alleinberechtigt, daß diese überhaupt nur in der Fiktion einer Götterstimme oder eines Orakels oder im Mund der vom Dichter geschaffenen Gestalten zum Ausdruck gelangen konnte. ARISTOTELES hat sich der Macht dieser demokratischen Überlieferung nicht entziehen können, als er sich in günstigem Sinn über die Volksmeinung äußerte; im dritten Buch seiner Politik heißt es:
Was von der griechischen Demokratie zu sagen ist, gilt in der Hauptsache auch von der römischen Republik während der späteren Jahrhunderte ihrer Entwicklung. Als eigentümlich erscheint jedoch jedenfalls, daß im römischen Verfassungsrecht dem Magistratus gegenüber der Volksmeinung eine ganz andere Bedeutung gegeben war, als in den demokratischen Staatsverfassungen der Griechen. Tatsächlich und rechtlich war die Autorität leitender Staatsmänner eine größere, die Festigkeit der bestehenden Institutionen dauernder, der Widerspruch der murrenden Menge gegen unbeliebte Maßregeln des Senats oder der Heerführer seltener erfolgreich. Ohne eine im Volk einflußreiche Literatur, ohne die Bundesgenossenschaft der dramatischen Dichtung, war die Volksmeinung in der republikanischen Blüte der selbständigen Initiative in den Volksversammlungen durch die für die jus concionis [Recht der öffentlichen Versammlung - wp] geltenden Grundsätze beraubt. Andererseits waren bei den Römern der öffentlichen Meinung bestimmte Organe der Betätigung in der negativen Wirksamkeit des Tribunen-Veto und im positiven Eingreifen das censura morum [Zensur - wp] gegeben. Die Zensur muß, soweit ihre sittenrichterliche Macht in Betracht kommt, als ein Organ der auf die politische und bürgerliche Moral gerichteten Volksmeinung angesehen werden, wodurch die Sitten auf denjenigen Gebietsstrecken gewahrt wurden, die der strengen Rechtsordnung des Staates von Haus aus nicht unterworfen waren und sich hinterher der überlieferten Macht des im judicium domesticum tätigen Hausrechts entzogen hatten. Vornehmlich auf dem Gebiet des ehelichen Lebens und der häuslichen Zucht, deren politische Wichtigkeit den Römern weitaus klarer einleuchtete, als den Griechen, war die censura morum eine Darstellung der in den gesunden Volksschichten lebendigen Anhänglichkeit an die von altersher überlieferte Staatssittlichkeit. Von der öffentlichen Meinung galt in alter Zeit dasselbe, (15) was ULPIAN von den Sitten selber sagte: sie waren ein tacitus consensus longa consuetudine inveteratus [stillschweigende Zustimmung nach altem Brauch - wp]. Daß die Römer dem subjektiven Urteil gegenüber den Rechten des magistratus wenig Spielraum gönnten, beweisen die strengen Strafbestimmungen für das occentare [Spottlied - wp]. Verschieden von der griechischen Denkweise, ist die Römische Volksmeinung, in ihrer treffenden Bezeichnung als existimatio, der Maßstab für die staatsbürgerliche Ehre in ihrer Geltung sowohl gegenüber der Gesamtheit, wie in ihrer Aufrechterhaltung gegenüber den rechtswidrigen Verletzungen durch Einzelne. Die öffentliche Meinung, im Zusammenhang mit der wenigstens in der älteren Zeit der Republik gegebenen Tatsache, daß auf dem Forum, in den Centurien, im Tribus, in der Wehrverfassung, überall ein Urteil der Gesamtheit über den Wert des einzelnen Bürgers gewonnen werden konnte, beruhte nicht, wie in den Voraussetzungen unserer modernen Strafgesetzbücher, auf abstrakter Reflexion über die sittliche Qualität menschlicher Handlungen, sondern auf der vollen Würdigung der wirklich erkannten Persönlichkeit des Einzelnen. Außerdem spielte die Volksmeinung im letzten Jahrhundert der Republik, wie die Ciceronianischen Reden und Schriften deutlich erkennen lassen, eine einflußreiche Rolle gegenüber den ständigen Richterkommissionen, in denen Kriminalprozeß-Entscheidungen, Freisprüche und Verurteilungen ebenso oft unter dem Einfluß der Gunst und Ungunst einer umstehenden Menge, wie in strenger Anwendung des bestehenden Gesetzes ausgesprochen wurden. Eine völlig verschiedene Gestaltung mußte die öffentliche Meinung nach dem Untergang der römischen Republik annehmen. Der Gegensatz zwischen kaiserlicher Gewalt und kaiserlichem Beamtentum auf der einen Seite, und der alten Überlieferung der Senatsrechte, neben einer schattenhaft erscheinenden, völlig verpöbelten Volksmenge, gaben der Meinungsbildung auf dem Boden der Staatsangelegenheiten ganz andere Richtungen und Antriebe. Die Voraussetzung jeder öffentlichen Meinung war mit der Möglichkeit ihrer Betätigung und Äußerung geschwunden, seitdem auch der Senat die letzten Reste seines Ansehens verloren hatte. Schon die Äußerung einer politischen Meinung vor der Öffentlichkeit, konnte in Beziehung auf Staatsangelegenheiten und die kaiserliche Person leicht verbrecherisch erscheinen. Durch ihr Verhalten gegen die unabhängigen Männer im Senat, durch den Gang der Majestätsstrafgesetzgebung und durch die Strafandrohungen gegen libellus famosus [verleumderische Anklagen - wp] beweisen die schlechten Kaiser, daß sie in ihrer innersten Natur ebenso feige wie gewalttätig waren, und jeden Versuch einer öffentlichen Meinungsbildung als schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und ihrer persönlichen Herrschaft fürchteten. Noch am Schluß der römischen Rechtsentwicklung gehen die römischen Juristen von der Tatsache einer existimatio [Leumund - wp] bei der Beurteilung der Beleidigungen aus, obwohl im ursprünglichen Sinn von der existimatio der römischen Volksgemeinde in Bezug auf einen in einer entlegenen Provinz geborenen oder ansässigen Staatsbürger gar keine Rede mehr sein konnte. Was das christliche Mittelalter anbelangt, so ergibt sich für die Betrachtung der der Volksmeinung zukommenden Bedeutung ohne Schwierigkeit ein sicheres Resultat, sobald man die Faktoren der Meinungsbildung, die Mittel des geistigen Verkehrs, die territoriale Gliederung der Staatenwelt, die Schichtung der Gesellschaft in Ständen, die Abscheidung des Laientums vom Klerus und die Beziehungen von Staat und Kirche erwägt. Die Kirche beherrscht die Meinungen der Menge lange Zeit ausschließlich, und zwar nicht bloß auf religiösem Gebiet. Selbstverständlich ist das festgestellte Dogma der Kirche der Berechtigung des subjektiven Meinens völlig entrückt. Für weltliche Angelegenheiten oder gegenüber dem Einzelnen, kann eine kollektive Meinung sich nur innerhalb standesgenossenschaftlicher Beziehungen geltend machen. Die Meinungen der einzelnen Stände bekämpfen sich wechselseitig entweder mit dem Schwert, oder mit den Mitteln der Satire. Nur ausnahmsweise kann während des Mittelalters von allgemeinen Offenbarungen der Volksmeinung im großen Stil die Rede sein. Es wäre erlaubt zu sagen, daß die Kreuzzüge in ihrem Ursprung von einer aus einer religiösen Triebfeder hervorgegangenen, zur Begeisterung emporgestiegenen Volksmeinung getragen wurden; und ebenso verhielt es sich in geradezu entgegengesetzter Richtung gegen den Schluß des Mittelalters, als nach der Meinung aller geistig selbständigen Laien der Verfall der Kirchenordnung, die Entsittlichung des Klerus und die Reformbedürftigkeit der Kirche feststand.
1) "Staatswörterbuch", hg. von J. C. BLUNTSCHLI und BRATER, Bd. VII, Seite 345 - 347 2) BLUNTSCHLI, Politik, 3. Teil, Lehre vom Staat, Seite 186 und 187 3) B. G. NIEBUHR, Über geheime Verbindungen im preußischen Staat und deren Denunziation (1815), Seite 10 4) HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von GANS, Berlin 1833, Seite 411 5) FERDINAND LASSALLE, Bastiat-Schulze, 1864,Seite 249 6) PIETRO ELLERO, La Tirannide Borghese, Bologna 1879 7) ALBERT SCHÄFFLE, Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd. 1, Tübingen 1875, Seite 452f. Über die psychologische Seite der öffentlichen Meinung siehe auch CATTANEO, "Della psicologica delle menti associate" in den "Atti del Regio Istituto Lombardo, Bd. 3, 1862 8) Diesen Gesichtspunkt verwertete inbesondere JOHN STUART MILL in seinen "Considerations on Representative Government, 2. Ausgabe, London, Seite 1 - 43 9) Vgl. VICO, Scienza nuova V, 2,2, wo er die sapienza volgare, das heißt "il senso commune di ciascun popolo o nazione" [der gesunde Menschenverstand eines Volkes oder Nation - wp] als hauptsächlichstes Organ der Kulturentwicklung betrachtet. 10) GIAN DOMINCO ROMAGNOSI, "Ricerche sulla validita dei giudizi del pubblico", Florenz 1837 11) GABBA, Intorno ad alcuni piu generali problemi delle Scienze sociale, Turin 1876, Seite 73 12) HEFFTER, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 6. Ausgabe, 1873, § 107. 13) Der Ostracismus ist als formloses Gericht der öffentlichen Meinung über die politische Gefährlichkeit eines aufzufassen. Gegen die Berechtigung fertiger Meinungen oder die Macht des Volksvorurteils konnte daher auch eine prozeßmäßige Verteidigung des Betroffenen konsequenterweise nicht zugelassen werden. Über das Verfahren siehe SCHÖMANN, Griechische Altertümer, Bd. 1, 3. Auflage, Seite 420. 14) ARISTOTELES, Politik III, 11. (nach der Übersetzung von JACOB BERNAYs). Über das Verhältnis der aristotelischen Staatslehre zur Demokratie siehe außer den bekannten älteren Arbeiten von >HILDENBRAND usw.: W. ONCKEN, Die Staatslehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen, Bd. 2, Leipzig 1870 - 1875, Seite 154f und 220f. FILOMUSI GUELFI, La dottrina dello Stato nell' antichita Greca nei suoi rapporti con l'etica, Neapel 1873, Seite 117f. 15) Über die Zensur siehe neuerdings PADELLETTI, Storia del diritto romano, 1878, Seite 23. Auffallend erscheint und bisher ungenügend erklärt ist der Zusammenhang er auf die Steuerverfassung bezogenen Kompetenz mit dem sittenrichterlichen Amt in ein und derselben Magistratur. Bezüglich der Fälle, die der Rüge unterlagen, siehe die Aufzählung bei MOMMSEN, Römisches Staatsrecht, 2. Auflage 1877, Seite 364. |