ra-3 Schubert-SoldernF. Tönniesvon Gebsattel    
 
FRANZ von HOLTZENDORFF
Wesen und Wert
der öffentlichen Meinung


"Theater und Rednerbühne waren bei den Griechen die beiden Stätten, wo es für Dichter und Rhetoren leicht war, neue Gedanken und Auffassungen zum Gemeingut einer versammelten Volksgemeinde zu machen, wobei das persönliche Bewußtsein großer Männer meistenteils soweit zurücktritt, daß sie ihr Genie gleichsam absichtlich verhüllen, indem sie  ihre  Gedanken, bereits bevor dieselben völlig verstanden waren, geschickt als Meinung des Demos darstellen. Eine  eigene  Meinung als solche oder unter dem Stempel der persönlichen Ursprünglichkeit vorzutragen, wäre angesichts eines eifersüchtigen Demos gefährlich gewesen, da dieser ein Volksgericht zur Verfügung hatte."


I.
Die öffentliche Meinung als
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung

Die  öffentliche Meinung,  als eine der Offenbarungen des Volksgeistes, darf in den Staatswissenschaften nicht übersehen werden. Die Geschichte der dem letzten Jahrhundert angehörigen Verfassungsbildungen und der in der praktischen Politik wahrnehmbar gewordenen Strömungen würde nur unvollkommen verstanden werden, wenn man den Einfluß übersähe, den, bald hemmend, bald treibend, der jeweilige Stand der öffentlichen Meinung auf Absichten und Handlungen der leitenden Staatsmänner ausgeübt hat.

BLUNTSCHLI hat bei verschiedenen Gelegenheiten seine Ansicht über die öffentliche Meinung dargelegt, und sich im  "Staatswörterbuch"  mit folgenden Sätzen geäußert:
    "Die  Macht  der öffentlichen Meinung ist seit etwa einem Jahrhundert in der zivilisierten Welt ganz ungeheuer gestiegen. Jeder Staatsmann ist gezwungen diese "neue Großmacht" zu berücksichtigen. Sie ist die Autorität der unwissenden Menge und das Studium der Weisen geworden. Die öffentliche Meinung setzt immer ein  freies Urteil  voraus, wie es in politischen Dingen möglich, aber dem religiösen Ergriffensein fremd ist. Ohne eine Ausbildung der Denkkraft und der Urteilsfähigkeit gibt es daher keine öffentliche Meinung, und nur in einem freien Volksleben kann sie gedeihen. Sie ist  die Meinung vornehmlich der großen Mittelklasse.  Daraus erklärt sich ihre große Bedeutung für die Gegenwart, denn niemals war der Einfluß der Mittelklasse größer als jetzt. -

    Es ist eine radikale Übertreibung, wenn die öffentliche Meinung für untrüglich erklärt und geradezu von Rechtswegen ihr die Herrschaft zugeschrieben wird. Sie kann von momentanen Leidenschaften der  Menge  getrübt, sie kann sogar  künstlich irre geleitet werden.  Nicht minder töricht aber ist die hochmütige Verachtung der öffentlichen Meinung. Sie darf schon deswegen nicht verachtet werden, weil sie eine geistige Macht ist. Ihr Wert beruth auf dem  Gemeinbewußtsein  der Völker. Es ist gut, daß diese sich ein sittliches Urteil und eine verständige Meinung bilden können, über das Gerechte und Ungerechte, über das, was der Gemeinschaft nötig und nützlich und was ihr verderblich und schädlich ist. Die öffentliche Meinung läßt sich dem Chor der antiken Tragödie vergleichen. Sie ist im Großen und Ganzen dasselbe, was der Wahrspruch der Geschworenen im Strafverfahren ist. Sie entsteht aus unzähligen Eindrücken und Wahrnehmungen und äußert sich in den mannigfaltigsten Formen, in der freien Rede, in der Familie, im Salon und im Wirtshaus, in Versammlungen aller Art und  vor allem in der Presse und der Volksvertretung.  Die  öffentliche Meinung  ist in hohem Grad abhängig vom Zeitgeist, der sie stimmt und bewegt. Es ist nicht wahr, daß die öffentliche Meinung  herrscht,  da sie weder herrschen kann,  noch herrschen will.  Sie ist eine öffentliche Macht, aber sie ist keine öffentliche  Gewalt." 
So schrieb BLUNTSCHLI im Jahre 1862. (1) Im Wesentlichen hat er dieses Urteil dann noch einmal in seiner "Politik"  (1876) mit der Abänderung wiederholt, daß die Bedeutung der  Mittelklassen,  als den berufensten Trägern der öffentlichen Meinung, minder stark zu betonen war, nachdem die seit 1867 eingetretene Entwicklung der deutschen Verhältnisse durch das allgemeine Wahlrecht den niederen Volksschichten eine früher nicht vorhandene Wichtigkeit gegeben hatte. (2) Grundsätzlich und systematisch stellt BLUNTSCHLI die öffentliche Meinung als ein Organ der  Volksmacht  der  Regierungsmacht  gegenüber auf dieselbe Linie mit der  Presse,  den  Vereinen,  den  Volksversammlungen. 

Schon früher hatte NIEBUHR (3) der öffentlichen Meinung die Eigenschaft einer "Gottesstimme" für den Fall zuerkannt, wenn sie ein  allgemein  ausgesprochenes und nicht nachgesprochenes Urteil sei, wobei von ihm eine Art von  Einstimmingkeit  vorausgesetzt gewesen zu sein scheint.

Wesentlich anders, als NIEBUHR, hatte zu seiner Zeit HEGEL geurteilt, nach dessen Ansicht die öffentliche Meinung ebenso sehr geachtet, wie verachtet zu werden verdient, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, dieses nach ihrem konkreten Bewußtsein. Da der öffentlichen Meinung der Maßstab der Unterscheidung fehlt, so sei die Unabhängigkeit von ihr die erste formelle Bedingung zu etwas Großem und Vernünftigem, in der Wirklichkeit wie in der Wissenschaft. (4)

Von BLUNTSCHLIs Auffassung der öffentlichen Meinung und ihres Zusammenhanges mit der Bedeutung der Mittelklassen dürften überall diejenigen stark abweichen, welche, wie FERDINAND LASSALLE (5) in Deutschland und PIETRO ELLERO (6) in Italien, die Behauptung einer ökonomischen, politischen und geistigen Überlegenheit der Mittelklassen im Vergleich zur Volksmasse grundsätzlich angefochten haben.

Unter einem anderen Gesichtspunkt, als die Mehrzahl der Politiker, würdigt SCHÄFFLE die öffentliche Meinung. Sie bedeutet für ihn eine  psychische  Tatsache des sozialen Lebens oder ein Phänomen des  Volksgeistes,  wobei von ihm die geistige Koordination der  sozialen Massen  um leitende Mittelpunkte (Autoritäten) dargestellt wird. Dies geschieht sowohl hinsichtlich der die geistige Führung der Massen aktiv leitenden Kräfte, als auch hinsichtlich der Rückwirkung der Massen auf jene leitenden Kräfte in passiver Richtung. Die Öffentlichkeit, das Publikum, die öffentliche Meinung und die Presse werden von SCHÄFFLE systematisch nebeneinander gestellt. (7)

Die öffentliche Meinung erscheint in SCHÄFFLEs Augen als "Reaktion des Publikums, des Volksverstandes, Volksgemüts, Volkswillens auf bestimmte leitende Ansichten, Urteile oder Neigungen. Ohne die öffentliche Meinung lasse sich, so meint er, schwer eine soziale Wirkung erzielen, welche durch die allgemeine geistige Teilnahme des Volkes oder eines bestimmten gesellschaftlichen Kreises bedingt sei; der Wert der öffentlichen Meinung wird bald über- bald unterschätzt; dieselbe sei überhaupt keine einheitliche Strömung, sondern eine Vielheit besonderer Strömungen, welche einander oft völlig entgegengesetzt sind.

Schon diese wenigen Hinweise auf die Ansichten solcher, die die öffentliche Meinung im Zusammenhang mit dem gesamten staatlichen und gesellschaftlichen Leben gewürdigt haben, machen es begreiflich, warum die öffentliche Meinung in den gelegentlichen Äußerungen der Staatsmänner, in der Parteipresse und den Parlamentsdebatten von ein und derselben Person bald gelobt, bald getadelt, als Richterstuhl bald anerkannt, bald abgelehnt wird.

Alle Ansichten, die seit Jahrhunderten über die öffentliche Meinung ausgesprochen worden sind, stimmen jedenfalls darin überein, daß ihr in neuerer Zeit, ohne Rücksicht auf den einzelnen Fall, eine tatsächliche  Macht  zuerkannt wird, die zumindest aus Gründen der Staatsklugheit Beachtung verdient, und ferner auch darin, daß der reale Wert der öffentlichen Meinung sich in einem  Durchschnitt  nicht feststellen läßt.

Im Übrigen zeigen sich in der allgemein staatsrechtlichen und politischen Literatur älterer und neurerer Zeit mancherlei Abweichungen, inbesondere:
    1) bezüglich der  Definition  der öffentlichen Meinung, namentlich auch bei der Frage, wann eine bestimmte Meinung  als öffentliche  wirklich anerkannt werden kann?

    2) bezüglich der  Entstehungsweise  der öffentlichen Meinung;

    3) bezüglich der berechtigten Subjekte des Meinens, je nachdem dabei gewisse Klassen der Bevölkerung oder die Massen als Meinende überhaupt vorausgesetzt werden.
Demgemäß ist die öffentliche Meinung in mehrfacher Richtung Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung: Für den Psychologen, der das Abhängigkeitsverhältnis und die Wechselwirkungen zwischen den geistigen Lebensprozessen des Individuums und der Gesellschaft näher festzustellen sucht. Für den Kulturhistoriker, der bei verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern sehr ungleiche Gestaltungen der öffentlichen Meinung wahrnimmt und beobachtet, wie innerhalb derselben bald kosmopolitische, bald nationale Ideen die Oberhand gewinnen. Für das allgemeine Staatsrecht, insofern, als die Dauerhaftigkeit und der gesicherte Bestand der Staatsformen und Verfassungsgesetze von einem gewissen Verhalten derselben zur öffentlichen Meinung abhängig zu sein scheint. (8) Für die Politik schließlich, insofern als es darauf ankommt, die  Existenz  einer  öffentlichen  Meinung über bestimmte Angelegenheiten der Staatstätigkeit zu erkennen, und einen Maßstab zu finden, wonach in konkreten Fällen der Wert der öffentlichen Meinung zu bemessen ist, damit eine Richtschnur gegeben werde für das zweckmäßige Verhalten auf der weiten Linie zwischen den beiden Endpolen, von denen der eine die grundsätzliche Verleugnung, der andere die prüfungslose Billigung der öffentlichen Meinung bezeichnet.

Achtung oder Mißachtung in ihren sehr verschiedenartigen Abstufungen scheinen bei denjenigen, die sich öffentlich darüber vernehmen ließen, wesentlich von den subjektiven Momenten der Abneigung und der Furcht, der Zuneigung oder Hoffnung und nicht zum geringsten Teil vom Maß des eigenen Selbstgefühls bestimmt zu sein.

Auch außerhalb Deutschlands ist im Verlauf des letzten Jahrhunderts die Wichtigkeit des Problems anerkannt worden, das in der richtigen Erkenntnis der öffentlichen Meinung gestellt ist. VICO glaubte, daß es nicht die Weisheit einzelner Männer sei, wodurch, wenn sie von einer unwissenden und teilnahmslosen Menge umgeben sind, der Fortschritt menschlicher Kultur bestimmt werden kann, sondern vielmehr die Einsicht des Volkes und dessen durchschnittliche Auffassungsgabe (9). ROMAGNOSI scheint sich nicht imstande geglaubt zu haben, die von ihm als wichtig anerkannte Aufgabe einer Lösung näher zu führen. (10) Unter den neuerer Rechtsphilosophen Italiens urteilt GABBA, wie folgt:
    "Eine höchst wichtige Tatsache, worin sich das geistige Leben der gesellschaftlich verbundenen Menschen offenbart, sogar ein großer Teil dieses Lebens besteht, ist die öffentliche Meinung. Es ist dies eine derjenigen Tatsachen, auf welche am häufigsten hingewiesen und von gelehrten oder ungelehrten Personen bei der Beurteilung öffentlicher Verhältnisse Bezug genommen wird, desgleichen bei der praktischen Politik der Regierungen oder im Verhalten einzelner Individuen. Nichtsdestoweniger gebricht es an einer befriedigenden Lehre über den Ursprung und den Bildungsprozeß der öffentlichen Meinung und man kann nicht einmal sagen, daß darüber häufig nachgedacht worden ist. Nur gelegentliche Bemerkungen über den rationalen Wert dieser Meinung finden sich bei vielen älteren und neueren Schriftstellern." (11)
Aber nicht nur für die psychologischen Prozesse im Kollektivbewußtsein der Gesellschaft und die Staatswissenschaften würde es von Wert sein, das Wesen der öffentlichen Meingung genauer zu untersuchen, als bisher geschehen ist. Auch die Wissenschaft des positiven Rechts dürfte dabei einigermaßen beteiligt sein.

Wie verhält sich die öffentliche Meinung im Vergleich zum  Volksrechtsbewußtsein?  Ist die öffentliche Meinung, die sich gegenständlich auf bestimmte Gesetzgebungsfrage richtet oder in Laiengerichten konsequent durch eine allgemein festgehaltene und betätigte Auslegung des Gesetzes offenbart, verschieden vom Rechtsbewußtsein des Volkes, aber mit ihm in seinem Ursprung identisch? Daß die öffentliche Meinung in manchen Ländern sehr erheblich in den Gang der Strafrechtspflege eingreift und sich entweder unmittelbar durch das Schwurgericht in Gestalt bedenklicher Verdikte beteiligt oder doch mittelbar auf die Richtenden einwirkt, wird sich schwerlich in Abrede stellen lassen.

In der deutschen Strafgesetzgebung hat der unbestimmt gelassene Begriff der öffentlichen Meinung positive Rechtsqualität erlangt.
    "Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen Anderen eine unwahre Tatsache behauptet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der  öffentlichen Meinung  herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist, wird wegen verleumderischer Beleidigung mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn die Verleumdung öffentlich usw. begangen ist, mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft." (§ 187, Reichsstrafgesetzbuch).
Ähnlich die §§ 186 und 189.

Keiner der Kommentatoren des deutschen Strafgesetzbuches hat es für erforderlich erachtet, das Verhältnis des Strafrichters zur öffentlichen Meinung einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Dennoch können dabei mancherlei Zweifel entstehen. Ob in irgendeinem einzelnen Fall das Vorhandensein einer öffentlichen Meinung bestritten werden kann und alsdann zum Gegenstand der Beweisführung zu machen sein würde, könnte Sache der näheren Erwägung sein. Ist ein Irrtum in der Beurteilung der öffentlichen Meinung von Seiten des Angeklagten als ein Irrtum in einer tatsächlichen Richtung aufzufassen? Es ist denkbar, daß ein Ausländer, der den  tatsächlichen  Stand einer angeblichen öffentlichen Meinung nicht kannte, sich wegen des Vorwurfs einer Handlung zu verantworten hat, die nach der in seinem Land geltenden Auffassungsweise nicht als eine ehrenrührige erscheint. Unter den heutigen Verhältnissen bleibt überdies möglich, daß  plötzliche Umwandlungen  in der öffentlichen Meinung zwischen dem Zeitpunkt der verleumderischen Beleidigung und dem Zeitpunkt der Urteilsfällung vor sich gehen. Wären solche Veränderungen im Stand der öffentlichen Meingung vom Richter zur berücksichtigen oder nicht? Welches sind für den Richter die Erkenntnisquellen der öffentlichen Meinung? In weitaus den meisten Fällen scheint es, als ob die Richter ihre eigene individuelle Auffassung über die Ehrenrührigkeit eines als Beleidigung verfolgten Vorwurf ohne weiteres für gleichbedeutend nehmen mit einem Präjudikat der öffentlichen Meinung.

Auch in der strafprozeßlichen Entwicklung mancher Gesetzgebungen kann die öffentliche Meinung einflußreich werden. Dies gilt vorzugsweise hinsichtlich der Wirksamkeit der Strafverfolgungsprinzipien. Wo die öffentliche Sicherheit zu einem erheblichen Teil der Privatanklagetätigkeit des Staatsbürgers anvertraut ist, wie in England, ist die Handhabung des Strafgesetzes vom Stand der öffentlichen Meinung abhängig. Privatankläger pflegen sich danach zu richten.

Was das  Völkerrecht  anbelangt, so hat HEFFTER die Bedeutung der öffentlichen Meinung anerkannt, indem er zu den anzuwendenden Versuchen der Beilegung entstandender internationaler Streitigkeiten auch die
    "öffentliche Verbreitung von Deduktionen und Memoiren mit ausdrücklichem oder selbstverstandenemm Anruf der öffentlichen Meinung rechnet und dieses Mittel für den Fall empfiehlt, wenn eine Verständigung im Weg der gegenseitigen Korrespondenz nicht zu bewirken gewesen oder dieselbe bereits abgebrochen ist." (12)
Die öffentliche Meinung greift nicht selten über die Grenzen des einzelnen Staates hinaus. Sie findet bereits eine Basis an der gesamten europäischen Kulturwelt aller Zonen und stellt sich in einen Gegensatz gegen Willkür, Gewaltmißbrauch, Vertragsbruch und Barbarei.

Es ist somit irrtümlich zu glauben, daß die öffentliche Meinung nur in den politischen Bewegungen unseres Zeitalters wirksam war. Sie bezeichnet, obschon ihre politische Qualität überwiegt, doch auch eine Tatsache, die in die Rechtspflege hemmend oder fördernd einzugreifen vermag und darum von der Gesetzgebung notwendig beachtet werden muß. Neben der Aufmerksamkeit, die ihr der Staatsmann immer zuwenden muß und der Jurist nicht völlig versagen darf, steht auch die Erwägung, daß das wirtschaftliche Leben in starkem Maße vom Stand der öffentlichen Meinung beherrscht wird, insofern als der Staatskredit, der Wert vieler Staatspapiere und der Verlauf ökonomischer Krisen davon abhängig erscheint. Die großen Börsenplätze des europäischen und amerikanischen Kontinents stehen unter ihrem Einfluß. Diese Herrschaft der öffentlichen Meinung über das moderne Geldwesen und den internationalen Wirkungskreis des Kredits würde sogar allein genügen, um darzutun, in welchem Maß der moderne Staat in wichtigen Verwaltungszweigen, in der Ordnung seiner Finanzen, bei der Bestreitung seines Staatsaufwandes und folglich schließlich auch in der Erreichbarkeit gewisser Kulturziele von einem außer ihm selbst liegenden Machtfaktor beeinflußt wird. Auf internationalem Gebiet beeinflußt die öffentliche Meinung, die sich in einer übereinstimmenden Auffassungsweise großer Börsenplätze kund tut, die auswärtige Politik kreditbedürftiger Staaten.

Nach  allen  Seiten hin das Wesen und die Betätigung der öffentlichen Meinung darzustellen, wäre eine höchst wichtige aber auch ebenso umfassende Aufgabe. Für die nachfolgenden Ausführungen ist es unmöglich, ein so hohes Ziel zu verfolgen. Es soll aber versucht werden, der Reihe nach den allgemein geschichtlichen Entwicklungsgang, den Begriff, die Wertmessung und den Entstehungsprozeß der öffentlichen Meinung zu veranschaulichen, um daran zum Schluß die Frage zu knüpfen, welches Verhalten dem modernen Staat gegenüber der öffentlichen Meinung geziemt.


II.
Die öffentliche Meinung im Altertum
und im Mittelalter

Dem klassischen Altertum war, wie BLUNTSCHLI angedeutet hat, die öffentliche Meinung und ihre Berechtigung nicht unbekannt. In den freistaatlichen Gemeinden mit demokratischer Verfassungsform war freilich ihre örtliche Basis verhältnismäßig beschränkt, ihre politische Bedeutung überall da gering, wo die Volksmeinung sich auf dem Marktplatz durch Abstimmung, oder in der Volksversammlung unmittelbar zu Taten gestalten oder in Gesetze verwandeln konnte.

Die öffentliche Meinung, außerhalb ihrer regelmäßigen Betätigung durch die Demokratie vorgestellt, war bei den Griechen die schnell verfliegende Laune des Demos, die sich in aristophanischen Lustspielen nach ihrer heiteren Seite offenbarte oder die vom Volk gebilligte Anschauung der Weisen, die sich in der Stimme des tragischen Chors vernehmbar machte. Jedenfalls waren Theater und Rednerbühne die beiden Stätten, wo es für Dichter und Rhetoren leicht war, neue Gedanken und Auffassungen zum Gemeingut einer versammelten Volksgemeinde zu machen, wobei das persönliche Bewußtsein großer Männer meistenteils soweit zurücktritt, daß sie ihr Genie gleichsam absichtlich verhüllen, indem sie  ihre  Gedanken, bereits bevor dieselben völlig verstanden waren, geschickt als Meinung des Demos darstellen. Eine  eigene  Meinung als solche oder unter dem Stempel der persönlichen Ursprünglichkeit vorzutragen, wäre angesichts eines eifersüchtigen Demos gefährlich gewesen, da dieser den  Ostracismus  [Volksgericht - wp] (13) zur Verfügung hatte.

Ein Philosoph, wie SOKRATES, dem es unmöglich war, seine Lehren als Volksmeinung auszugeben oder unbemerkt zur Volksmeinung auswachsen zu lassen, mußte daher, um den antiken Verzicht auf persönliche Eigenartigkeit aufrechtzuerhalten, die Eingebung seines  Daimonion  herbeirufen.

Die Meinung des griechischen Demos ar naturgemäß der Meinung des Einzelnen gegenüber so sehr  alleinberechtigt,  daß diese überhaupt nur in der Fiktion einer Götterstimme oder eines Orakels oder im Mund der vom Dichter geschaffenen Gestalten zum Ausdruck gelangen konnte.

ARISTOTELES hat sich der Macht dieser demokratischen Überlieferung nicht entziehen können, als er sich in günstigem Sinn über die  Volksmeinung  äußerte; im dritten Buch seiner Politik heißt es:
    "Denn es ist wohl denkbar, daß die Vielen, von denen jeder Einzelne kein sittlich vollkommener Mann ist, dennoch wenn sie zusammentreten besser als jene wenigen Besten seien, nicht zwar jeder für sich, aber wohl ingesamt genommen - denn da es Viele sind, kann möglicherweise jeder etwas an Tugend und Einsicht haben, und wenn sie nun zusammentreten, so findet, wie die Menge gleichsam ein einziger vielfüßiger, vielhändiger und mit vielen Sinneswerkzeugen ausgestatteter Mensch wird, dasselbe auch hinsichtlich der Charaktere und der Geisteskraft statt. Deshalb urteilt auch die Menge besser über die Leistungen sowohl der Tonkunst wie auch der Dichter; denn der  eine  beurteilt diese, der andere jene Seite, und dann alle alles. Ob es nun denkbar ist, daß  jeder  Demos sich in dieser Weise zu den wenigen sittlich Vollkommenen verhalte, bleibt dunkel - aber allerdings für diese oder jene Menge steht nichts der Richtigkeit des angegebenen Verhältnisses im Weg. Demnach kann man auf diese Weise sowohl die vorhin erwähnte Frage (ob die Mehrzahl der Souverän sein soll) erledigen als auch die ihr sich anschließende, wozu die bloß Freigeborenen und die  Masse der Bürger  befugt sein soll - einerseits ist es nicht gefahrlos, ihnen den Eintritt in die höchsten Ämter zu gestatten, und wenn man ihnen andererseits weder rechtlich noch tatsächlich den Zutritt gestattet, so wird das ein fürchterlicher Zustand.  Es bleibt also nur der Ausweg, daß man sie zum Beraten und Urteilen zuläßt."  (14)
ARISTOTELES, sonst der Demokratie wenig zugeneigt, gesteht der Masse das Recht der öffentlichen Meinung im Sinne der Staatskontrolle und der Überwachung der Amtsführung derjenigen zu, die ihrerseits zur Amtsführung selber persönlich nicht befähigt sein würden. Insbesondere im Gegensatz zur Tyrannis und zur Oligarchie war diese Meinungsbefugnis der Menge zu betonen. Die stärkste Offenbarung der öffentlichen Meinung auf politischem Gebiet des klassischen Altertums war die allgemeine, stets festgehaltene Verurteilung der  Tyrannis  und - daraus folgend "die Rechtfertigung des  Tyrannenmordes"  durch die alten Philosophen und Staatsrechtslehrer.

Was von der griechischen Demokratie zu sagen ist, gilt in der Hauptsache auch von der römischen Republik während der späteren Jahrhunderte ihrer Entwicklung. Als eigentümlich erscheint jedoch jedenfalls, daß im römischen Verfassungsrecht dem Magistratus gegenüber der Volksmeinung eine ganz andere Bedeutung gegeben war, als in den demokratischen Staatsverfassungen der Griechen. Tatsächlich und rechtlich war die Autorität leitender Staatsmänner eine größere, die Festigkeit der bestehenden Institutionen dauernder, der Widerspruch der murrenden Menge gegen unbeliebte Maßregeln des Senats oder der Heerführer seltener erfolgreich. Ohne eine im Volk einflußreiche Literatur, ohne die Bundesgenossenschaft der dramatischen Dichtung, war die Volksmeinung in der republikanischen Blüte der selbständigen Initiative in den Volksversammlungen durch die für die  jus concionis  [Recht der öffentlichen Versammlung - wp] geltenden Grundsätze beraubt.

Andererseits waren bei den Römern der öffentlichen Meinung bestimmte Organe der Betätigung in der negativen Wirksamkeit des Tribunen-Veto und im positiven Eingreifen das  censura morum  [Zensur - wp] gegeben. Die Zensur muß, soweit ihre sittenrichterliche Macht in Betracht kommt, als ein Organ der auf die politische und bürgerliche Moral gerichteten Volksmeinung angesehen werden, wodurch die Sitten auf denjenigen Gebietsstrecken gewahrt wurden, die der strengen Rechtsordnung des Staates von Haus aus nicht unterworfen waren und sich hinterher der überlieferten Macht des im  judicium domesticum  tätigen Hausrechts entzogen hatten. Vornehmlich auf dem Gebiet des ehelichen Lebens und der häuslichen Zucht, deren politische Wichtigkeit den Römern weitaus klarer einleuchtete, als den Griechen, war die  censura morum  eine Darstellung der in den gesunden Volksschichten lebendigen Anhänglichkeit an die von altersher überlieferte Staatssittlichkeit. Von der öffentlichen Meinung galt in alter Zeit dasselbe, (15) was ULPIAN von den Sitten selber sagte: sie waren ein  tacitus consensus longa consuetudine inveteratus  [stillschweigende Zustimmung nach altem Brauch - wp].

Daß die Römer dem subjektiven Urteil gegenüber den Rechten des magistratus wenig Spielraum gönnten, beweisen die strengen Strafbestimmungen für das  occentare  [Spottlied - wp].

Verschieden von der griechischen Denkweise, ist die Römische  Volksmeinung,  in ihrer treffenden Bezeichnung als  existimatio,  der Maßstab für die staatsbürgerliche Ehre in ihrer Geltung sowohl gegenüber der Gesamtheit, wie in ihrer Aufrechterhaltung gegenüber den rechtswidrigen Verletzungen durch Einzelne. Die öffentliche Meinung, im Zusammenhang mit der wenigstens in der älteren Zeit der Republik gegebenen Tatsache, daß auf dem Forum, in den Centurien, im Tribus, in der Wehrverfassung, überall ein Urteil der Gesamtheit über den Wert des einzelnen Bürgers gewonnen werden konnte, beruhte nicht, wie in den Voraussetzungen unserer modernen Strafgesetzbücher, auf abstrakter Reflexion über die sittliche Qualität menschlicher Handlungen, sondern auf der vollen Würdigung der wirklich erkannten Persönlichkeit des Einzelnen.

Außerdem spielte die  Volksmeinung  im letzten Jahrhundert der Republik, wie die Ciceronianischen Reden und Schriften deutlich erkennen lassen, eine einflußreiche Rolle gegenüber den ständigen Richterkommissionen, in denen Kriminalprozeß-Entscheidungen, Freisprüche und Verurteilungen ebenso oft unter dem Einfluß der Gunst und Ungunst einer umstehenden Menge, wie in strenger Anwendung des bestehenden Gesetzes ausgesprochen wurden.

Eine völlig verschiedene Gestaltung mußte die öffentliche Meinung nach dem Untergang der römischen Republik annehmen. Der Gegensatz zwischen kaiserlicher Gewalt und kaiserlichem Beamtentum auf der einen Seite, und der alten Überlieferung der Senatsrechte, neben einer schattenhaft erscheinenden, völlig verpöbelten Volksmenge, gaben der Meinungsbildung auf dem Boden der Staatsangelegenheiten ganz andere Richtungen und Antriebe. Die Voraussetzung jeder  öffentlichen  Meinung war mit der Möglichkeit ihrer Betätigung und Äußerung geschwunden, seitdem auch der Senat die letzten Reste seines Ansehens verloren hatte. Schon die  Äußerung  einer politischen Meinung vor der Öffentlichkeit, konnte in Beziehung auf Staatsangelegenheiten und die kaiserliche Person leicht verbrecherisch erscheinen. Durch ihr Verhalten gegen die unabhängigen Männer im Senat, durch den Gang der Majestätsstrafgesetzgebung und durch die Strafandrohungen gegen  libellus famosus  [verleumderische Anklagen - wp] beweisen die schlechten Kaiser, daß sie in ihrer innersten Natur ebenso feige wie gewalttätig waren, und jeden  Versuch  einer öffentlichen Meinungsbildung als schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und ihrer persönlichen Herrschaft fürchteten. Noch am Schluß der römischen Rechtsentwicklung gehen die römischen Juristen von der Tatsache einer  existimatio  [Leumund - wp] bei der Beurteilung der Beleidigungen aus, obwohl im ursprünglichen Sinn von der  existimatio  der römischen Volksgemeinde in Bezug auf einen in einer entlegenen Provinz geborenen oder ansässigen Staatsbürger gar keine Rede mehr sein konnte.

Was das  christliche Mittelalter  anbelangt, so ergibt sich für die Betrachtung der der Volksmeinung zukommenden Bedeutung ohne Schwierigkeit ein sicheres Resultat, sobald man die Faktoren der Meinungsbildung, die Mittel des geistigen Verkehrs, die territoriale Gliederung der Staatenwelt, die Schichtung der Gesellschaft in Ständen, die Abscheidung des Laientums vom Klerus und die Beziehungen von Staat und Kirche erwägt. Die Kirche beherrscht die Meinungen der Menge lange Zeit ausschließlich, und zwar nicht bloß auf religiösem Gebiet. Selbstverständlich ist das festgestellte Dogma der Kirche der Berechtigung des subjektiven Meinens völlig entrückt. Für  weltliche  Angelegenheiten oder gegenüber dem Einzelnen, kann eine kollektive Meinung sich nur innerhalb standesgenossenschaftlicher Beziehungen geltend machen. Die Meinungen der einzelnen Stände bekämpfen sich wechselseitig entweder mit dem Schwert, oder mit den Mitteln der Satire. Nur ausnahmsweise kann während des Mittelalters von allgemeinen Offenbarungen der Volksmeinung im großen Stil die Rede sein. Es wäre erlaubt zu sagen, daß die  Kreuzzüge  in ihrem Ursprung von einer aus einer religiösen Triebfeder hervorgegangenen, zur Begeisterung emporgestiegenen  Volksmeinung  getragen wurden; und ebenso verhielt es sich in geradezu entgegengesetzter Richtung gegen den Schluß des Mittelalters, als nach der  Meinung  aller geistig selbständigen Laien der Verfall der Kirchenordnung, die Entsittlichung des Klerus und die Reformbedürftigkeit der Kirche feststand.
LITERATUR: Franz von Holtzendorff, Wesen und Wert der öffentlichen Meinung, München 1879
    Anmerkungen
    1) "Staatswörterbuch", hg. von J. C. BLUNTSCHLI und BRATER, Bd. VII, Seite 345 - 347
    2) BLUNTSCHLI, Politik, 3. Teil, Lehre vom Staat, Seite 186 und 187
    3) B. G. NIEBUHR, Über geheime Verbindungen im preußischen Staat und deren Denunziation (1815), Seite 10
    4) HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von GANS, Berlin 1833, Seite 411
    5) FERDINAND LASSALLE, Bastiat-Schulze, 1864,Seite 249
    6) PIETRO ELLERO, La Tirannide Borghese, Bologna 1879
    7) ALBERT SCHÄFFLE, Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd. 1, Tübingen 1875, Seite 452f. Über die psychologische Seite der öffentlichen Meinung siehe auch CATTANEO, "Della psicologica delle menti associate" in den "Atti del Regio Istituto Lombardo, Bd. 3, 1862
    8) Diesen Gesichtspunkt verwertete inbesondere JOHN STUART MILL in seinen "Considerations on Representative Government, 2. Ausgabe, London, Seite 1 - 43
    9) Vgl. VICO, Scienza nuova V, 2,2, wo er die sapienza volgare, das heißt "il senso commune di ciascun popolo o nazione" [der gesunde Menschenverstand eines Volkes oder Nation - wp] als hauptsächlichstes Organ der Kulturentwicklung betrachtet.
    10) GIAN DOMINCO ROMAGNOSI, "Ricerche sulla validita dei giudizi del pubblico", Florenz 1837
    11) GABBA, Intorno ad alcuni piu generali problemi delle Scienze sociale, Turin 1876, Seite 73
    12) HEFFTER, Das europäische Völkerrecht der Gegenwart, 6. Ausgabe, 1873, § 107.
    13) Der  Ostracismus  ist als formloses Gericht der  öffentlichen  Meinung über die politische Gefährlichkeit eines aufzufassen. Gegen die Berechtigung  fertiger  Meinungen oder die Macht des Volksvorurteils konnte daher auch eine prozeßmäßige Verteidigung des Betroffenen konsequenterweise nicht zugelassen werden. Über das Verfahren siehe SCHÖMANN, Griechische Altertümer, Bd. 1, 3. Auflage, Seite 420.
    14) ARISTOTELES, Politik III, 11. (nach der Übersetzung von JACOB BERNAYs). Über das Verhältnis der aristotelischen Staatslehre zur Demokratie siehe außer den bekannten älteren Arbeiten von >HILDENBRAND usw.: W. ONCKEN, Die Staatslehre des Aristoteles in historisch-politischen Umrissen, Bd. 2, Leipzig 1870 - 1875, Seite 154f und 220f. FILOMUSI GUELFI, La dottrina dello Stato nell' antichita Greca nei suoi rapporti con l'etica, Neapel 1873, Seite 117f.
    15) Über die Zensur siehe neuerdings PADELLETTI, Storia del diritto romano, 1878, Seite 23. Auffallend erscheint und bisher ungenügend erklärt ist der Zusammenhang er auf die Steuerverfassung bezogenen Kompetenz mit dem sittenrichterlichen Amt in ein und derselben Magistratur. Bezüglich der Fälle, die der Rüge unterlagen, siehe die Aufzählung bei MOMMSEN, Römisches Staatsrecht, 2. Auflage 1877, Seite 364.