ra-2H. ArendtKropotkinKronstadtE. BurkeB. KolozsvaryA. CartellieriLenin    
 
LEO TROTZKI
Oktoberrevolution

"Der bürgerliche Apparat der  öffentlichen Meinung  entfaltete sich hier in seiner ganzen Kraft. Alle Organe, Behörden, Publikationen, Tribünen und Katheder wurden in den Dienst des einen gemeinsamen Ziels gestellt: Die Bolschewiki als politische Partei unmöglich zu machen. Die konzentrierte Spannung und die ganze Dramatik der Pressekampagne gegen die Bolschewiki verrieten schon vorzeitig den Bürgerkrieg, der sich in der folgenden Revolutionsepoche entwickeln sollte."

"Trotz aller Hindernisse, die den Neuwahlen des Petrograder Sowjets in den Weg gelegt wurden, hatte sich nun das Kräfteverhältnis soweit verschoben, daß wir in einigen wichtigen Fragen bereits die Majorität bekamen. Dasselbe war auch im Sowjet von Moskau der Fall. Zu dieser Zeit saß ich schon mit vielen anderen Genossen im Gefängnis von Kresty, verhaftet wegen Agitation und Organisierung des bewaffneten Aufstandes von 3. bis 5. Juli im Auftrag der deutschen Regierung und zum Zweck der Beihilfe zu den Kriegszielen der Hohenzollern."


Die kleinbürgerliche Intelligenz
in der Revolution

In unserer Epoche entwickeln sich die Ereignisse mit einer solchen Geschwindigkeit, daß es schwer fällt, sie nach dem Gedächtnis zu rekonstruieren, selbst in ihrer chronologischen Reihenfolge. Wir haben weder Zeitungen noch Dokumente zur Hand. Die periodischen Pausen während der Friedensverhandlungen verschaffen uns jedoch eine Muße, die unter den gegebenen Verhältnissen natürlich nicht so bald wieder zu erwarten ist. Ich werde mir deshalb die Mühe machen, den Gang und die Entwicklung der Oktoberrevolution nach dem Gedächtnis zu rekonstruieren, indem ich mir das Recht vorbehalte, die Darstellung später anhand von Dokumenten zu vervollständigen und zu korrigieren.

Das, was von der ersten Revolutionsperiode an unsere Partei charakterisierte, war die Überzeugung, daß sie, der weiteren Logik der Ereignisse zufolge, zur Macht gelangen mußte. Ich will nicht von den Theoretikern sprechen, die schon lange vor dieser Revolution, ja schon vor der Revolution von 1905 - von der Analyse der Klassenbeziehungen in Rußland ausgehend - zu dem Schluß gelangten, daß in der siegreichen Entwicklung der Revolution die Macht unbedingt an das Proletariat übergehen muß, das sich auf die breiten Massen des ärmeren Bauerntums stützt. Grundlage dieser Voraussicht bildet hauptsächlich die Nichtigkeit der russischen bürgerlichen Demokratie sowohl wie der konzentrierte Charakter der russischen Industrie und folglich die große soziale Bedeutung des russischen Proletariats. Die Nichtigkeit der bürgerlichen Demokratie ist das Gegenstück zur Macht und Bedeutung des Proletariats. Gewiß hat der Krieg in dieser Beziehung sehr viele und vor allem die leitenden Gruppen der bürgerlichen Demokratie vorübergehend getäuscht. Der Krieg übertrug die entscheidende Rolle in den Revolutionsgeschehnissen an die Armee. Die alte Armee heißt so viel wie das Bauerntum. Wenn die Revolution sich normaler, das heißt unter den Bedingungen der Friedenszeit entwickelt hätte - so wie sie schon 1912 ihren Anfang nahm - würde die ganze Zeit über unbedingt das Proletariat die leitende Stellung eingenommen haben. Die Bauernmassen würden allmählich im Schlepptau des Proletariats in den Revolutionsstrude hineingezogen worden sein. Doch der Krieg brachte eine ganz andere Mechanik der Geschehnisse zustande. Das Bauerntum wurde durch die Armee nicht politisch, sondern militärisch gebunden. Bevor bestimmte revolutionäre Forderungen und Ideen die Bauernmasse zusammengeschmiedet hatten, waren diese bereits den Reihen der Regimenter, Divisionen, Korps und Armeen eingefügt. Die in dieser Armee verstreuten Elemente der kleinbürgerlichen Demokratie, die in militärische wie ideeller Beziehung die Hauptrolle spielten, hatten fast durchweg kleinbürgerlich-revolutionäre Allüren. Die tiefgreifende soziale Unzufriedenheit der Massen verschärfte sich und suchte einen Ausgang - besonders infolge des militärischen Zusammenbruchs des Zarismus. Sobald die Revolution sich entfalten konnte, ließ die Avantgarde des Proletariats die Tradition von 1905 neu aufleben und sammelte die Volksmassen, um vertretende Institutionen in Form von Deputiertensowjets zu organisieren. Die Armee wurde vor die Aufgabe gestellt, ihre Vertreter in die revolutionären Institutionen abzuordnen, ehe ihr politisches Bewußtsein auch nur einigermaßen das Nivau der sich entfaltenden Revolutionsereignisse erreichen konnte. Wen konnten die Soldaten als Deputierte abordnen? Doch nur diejenigen Vertreter der Intelligenz und Halbintelligenz unter ihnen, die eine, wenn auch minimale Reserve politischer Kenntnisse besaßen und diese zum Ausdruck zu bringen verstanden. Auf diese Art und Weise erschien die kleinbürgerliche Intelligenz mit einem Schlag durch den Willen der erwachenden Armee zu einer ungeheuren Höhe erhoben. Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte, Journalisten, Einjährig-Freiwillige, die vor Kriegsausbruch ein ganz gewöhnliches Bürgerdasein gefristet und auf keine führende Rolle Anspruch erhoben hatten, erschienen nun auf einmal als Vertreter ganzer Korps und Armeen und fühlten sich auf einmal als "Führer" der Revolution. Die Verschwommenheit ihrer politischen Ideologie entsprach durchaus der Formlosigkeit im Bewußtsein der revolutionären Massen. Diese Elemente behandelten uns, die "Sektierer", die wir die sozialen Forderungen der Arbeiter und Bauern in all ihrer Schärfe und Unversöhnlichkeit hervorhoben, mit dem größten Hochmut. Gleichzeitig verbarg die kleinbürgerliche Demokratie unter dem Hochmut des revolutionären Emporkömmlings das tiefste Mißtrauen gegen ihre eigenen Kräfte, wie gegen jene Masse, die sie zu dieser ungeahnten Höhe erhoben hatte. Obwohl die Intelligenz sich sozialistisch nannte und als solche gelten wollte, betrachtete sie die politische Allmacht der liberalen Bourgeoisie, deren Kenntnisse und Methoden mit schlecht versteckter Ehrerbietung. Hieraus entspringt das Bestreben der Führer des Kleinbürgertums, um jeden Preis die Mitarbeit, das Bündnis, die Koalition mit der liberalen Bourgeoisie zu erwirken. Das Partei-Programm der Sozialisten-Revolutionäre (das durch und durch auf verschwommenen humanitären Formeln, die die Klassenmethoden durch sentimentale Allgemeinplätze und moralische Konstruktionen ersetzen, aufgebaut ist) erschien als das passendste geistige Ornat für diese Schicht von Führern  ad hoc.  Ihr Bestreben, ihre geistige und politische Ohnmacht in der ihnen so sehr imponierenden bürgerlichen Wissenschaft und Politik unterzubringen, fand seine theoretische Rechtfertigung in der Lehre der "Menschewiki". Diese erklärte, daß die jetzige Revolution eine bürgerliche Revolution sei und folglich nicht ohne Beteiligung des Bürgertums an der Regierung auskommen kann. So entstand der natürliche Block der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki, in dem gleichzeitig die politische Halbheit der bürgerlichen Intelligenz wie deren Vasallenverhältnis zum imperialistischen Liberalismus ihren Ausdruck fanden.

Uns war es vollkommen klar, daß die Logik des Klassenkampfes diese provisorische Kombination früher oder später zerstören und die Führer der Übergangsperiode zur Seite schieben würde. Die Hegemonie der kleinbürgerlichen Intelligenz bedeutete im Grunde genommen die Tatsache, daß das Bauerntum, - durch die Vermittlung des Kriegsapparates plötzlich zur organisierten Teilnahme am politischen Leben berufen - die Arbeiterklasse numerisch erdrückte und sie vorübergehend verdrängte. Weit mehr noch! Insofern die kleinbürgerlichen Führer durch die Massenarmee zu dieser schwindelnden Höhe erhoben waren, konnte das Proletariat selbst, mit Ausnahm seiner führenden Minderheit, ihnen eine gewisse politische Achtung nicht versagen, konnte nicht unterlassen, ein politisches Bündnis mit ihnen zu suchen, - da dem Proletariat sonst die Gefahr drohte, vom Bauerntum abgeschnitten zu sein. Die ältere Arbeitergeneration hatte aber die Lehre von 1905 noch nicht vergessen, als das Proletariat gerade deshalb zerschlagen wurde, weil die schweren Bauernreserven im Augenblick des entscheidenden Kampfes nicht eingegriffen hatten. Aus diesem Grund waren auch die proletarischen Massen in der ersten Revolutionsperiode so sehr für die politische Ideologie der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewike empfänglich; - umsomehr, da die Revolution die übrigen bis dahin schlummernden proletarischen Massen erweckte und in dieser Weise den formlosen intellektuellen Radikalismus zur Vorbereitungsschule für sie machte. Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten bedeuteen unter diesen Umständen die Herrschaft der bäuerlichen Formlosigkeit über den proletarischen Sozialismus und wiederum die Herrschaft des intellektuellen Radikalismus über die bäuerliche Formlosigkeit. Wenn das Gebäude der Sowjets mit einer solchen Schnelligkeit sich zu so bedeutender Höhe emporhob, so geschah dies in hohem Maße deshalb, weil die Intelligenz mit ihren technischen Kenntnissen und bürgerlichen Beziehungen am Sowjetaufbau die leitende Rolle spielten. Aber uns war klar, daß dieses imponierende Gebäude auf den tiefsten inneren Widersprüchen aufgebaut ist, und daß sein Zusammenbruch in der folgenden Revolutionsetappe absolut unvermeidlich ist.


Die Kriegsfrage

Die Revolution war unmittelbar aus dem Krieg erwachsen, und der Krieg wurde zum Probierstein aller Parteien und aller Revolutionskräfte. Die intellektuellen Führer waren "gegen den Krieg"; während des Zarismus galten viele unter ihnen als Anhänger des linken Flügels der  Internationale  und schlossen sich ZIMMERWALD an. Aber kaum standen sie auf "verantwortlichen" Posten, so wurde alles anders. Die Politik des revolutionären Sozialismus führen, hieß unter diesen Verhältnissen soviel, wie mit der Bourgeoisie - der eigenen wie der alliierten - brechen. Aber wir wir schon sagten, suchte die politische Ohnmacht des intellektuellen und halbintellektuellen Kleinbürgertums eine Rückendeckung im Bündnis mit dem bürgerlichen Liberalismus. Daher die traurige und wahrhaft beschämende Rolle, die die kleinbürgerlichen Führer in der Kriegsfrage spielten. Sie beschränkten sich auf Seufzer, Phrasen, geheime Mahnungen oder Bitten, die sie an die verbündete Regierung richteten; in der Wirklichkeit aber trotteten sie im Geist der liberalen Bourgeoisie weiter. Die Soldaten in den Schützengräben konnten selbstverständlich nicht den Schluß ziehen, daß der Krieg, an dem sie seit beinahe drei Jahren teilnahmen, plötzlich ein anderes Gesicht angenommen hätte, und zwar nur deshalb, weil in Petrograd in die Regierung irgendwelche neue Personen eingetreten waren, die sich Sozialisten-Revolutionäre oder Menschewike nannten. MILJUKOW löste den Beamten POKROWSKI ab, TERESCHTSCHENKO löste MILJUKOW ab; das bedeutete, daß anstelle der bürokratischen Treulosigkeit zuerst der kriegerische, kadettische Imperialismus und dann später die verschwommene Prinzipienlosigkeit und politische Dienstfertigkeit getreten war, - aber eine objektive Veränderung ergab sich daraus nicht, und ein tatsächlicher Ausweg aus dem schrecklichen Ringen des Krieges wurde nicht gezeigt. Und gerade hier liegt der Urgrund der weiteren Zersetzung der Armee. Die Agitatoren erklärten den Soldaten, daß die zaristische Regierung sie ohne Ziel und Sinn in die Schlächterei sandte. Allein diejenigen, die den Zaren ablösten, vermochten nicht im geringsten den Charakter des Krieges zu ändern, genausowenig wie sie den Kampf um den Frieden anzubahnen vermochten. In den ersten Monaten kam man nicht vom Fleck. Das rief in gleichem Maß die Ungeduld in der Armee, sowie bei den alliierten Regierungen hervor. Die Folge war dann die Offensive des 18. Juni. Die Alliierten verlangten die Offensive, indem sie alte zaristische Wechsel zur Eintreibung vorlegten. Die Führer des Kleinbürgertums, eingeschüchtert durch ihre eigene Ohnmacht und die wachsende Ungeduld der Massen, nahmen diese Forderung auf. Es begann ihnen tatsächlich einzuleuchten, daß zum Friedensschluß es nur noch eines Anstoßes von Seiten der russischen Armee bedurfte. Die Offensive erschien ihnen als Ausweg aus der Sackgasse, als Lösung der Frage, als Rettung. Man kann sich eine ungeheuerlichere und verbrecherischere Verirrung kaum vorstellen. Zu jener Zeit sprachen sie von der Offensive genauso wie die Sozialpatrioten aller Länder in den ersten Kriegstagen und -Wochen von der Notwendigkeit der Vaterlandsverteidigung, von einem Burgfrieden, von der "Union sacrée" usw. usw. sprachen. Alle ihre ZIMMERWALDische, internationalistische Begeisterung war wie weggewischt. Uns, die wir uns in unversöhnlicher Opposition befanden, war klar, daß die Offensive eine schreckliche Gefahr, ja selbst den Untergang der Revolution bedeuten könnte. Wir warnten davor, daß man eine Armee, die gerade erwachte und durch das Rollen der Ereignisse, deren sie sich noch lange nicht bewußt wurde, wankend geworden war, nicht in die Schlacht schicken durfte, ohne ihr neue Ideen beizubringen, die sie als ihre eigenen anerkennen mußte. Wir warnten, bewiesen, drohten. Aber da es für die herrschenden Parteien, die ihrerseits durch die eigene und die alliierten Bourgeoisien gebunden waren, keinen anderen Ausweg gab, so standen sie natürlich uns nur feindlich und mit erbittertem Haß gegenüber.


Die Kampagne gegen die Bolschewiki

Der künftige Geschichtsschreiber wird nicht ohne Erregung die russischen Zeitungen vom Mai und Juni, der Zeit der ideellen Vorbereitung der Offensive, durchblättern. Fast ohne Ausnahme waren alle Artikel in den offiziösen und Regierungsblättern gegen die Bolschewiki gerichtet. Es gab keine Beschuldigung, keine Verleumdung, die in dieser Zeit nicht gegen uns mobil gemacht worden wäre. Die Hauptrolle in dieser Kampagne spielte selbstverständlich die kadettische Bourgeoisie. Ihr Klasseninstinkt sagte ihr, daß es sich nicht nur um die Offensive handelte, sondern um die ganze Weiterentwicklung der Revolution und vor allem um das Schicksal der Staatsgewalt. Der bürgerliche Apparat der "öffentlichen Meinung" entfaltete sich hier in seiner ganzen Kraft. Alle Organe, Behörden, Publikationen, Tribünen und Katheder wurden in den Dienst des einen gemeinsamen Ziels gestellt: Die Bolschewiki als politische Partei unmöglich zu machen. Die konzentrierte Spannung und die ganze Dramatik der Pressekampagne gegen die Bolschewiki verrieten schon vorzeitig den Bürgerkrieg, der sich in der folgenden Revolutionsepoche entwickeln sollte. Die Aufgabe der Hetze und der Verleumdung war aber, eine gänzliche Entfremdung und Feindseligkeit, eine dichte Mauer zwischen den werktätigen Massen einerseits und der "gebildeten Gesellschaft" andererseits zu schaffen. Das liberale Bürgertum begriff, daß es ihm nicht gelingen würde, ohne Vermittlung und Hilfe der kleinbürgerlichen Demokratie die Massen zu zähmen, die, wie wir schon oben sahen, die Leitung der revolutionären Organisationen vorübergehend inne hatte. Die politische Hetzjagd auf die Bolschewiki stellte sich deshalb zur unmittelbaren Aufgabe die unversöhnliche Feindschaft zwischen unserer Partei und den weiten Schichten der "sozialistischen Intelligenz", da die letztere, losgetrennt vom Proletariat, dem Frohndienst bei der liberalen Bourgeoisie verfallen mußte.

Während des ersten allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen furchtbaren Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den allrussischen Kongreß der Sowjets einwirken: "Ergreift die Macht", wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewike zurufen: "Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalistionsidee und ergreift die Macht." Uns war klar, daß ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die kleinbürgerlichen Führer zurück. Als sie von der geplanten Demonstration erfuhren, eröffneten sie, gemeinsam mit der Regierung, in der sie ihre Vertreter hatten, und Hand in Hand mit der liberalen und gegenrevolutionären Bourgeoisie einen wahrhaft wahnwitzigen Feldzug gegen die Demonstration. Alles wurde auf die Beine gebracht. Wir waren damals auf dem Kongreß in einer unbedeutenden Minderheit, und so traten wir den Rückzug an. Die Demonstration fand nicht statt. Doch diese nicht ausgeführte Demonstration hinterließ die tiefsten Spuren im Bewußtsein der beiden Parteien, sie vertiefte die Gegensätze und verschärfte die Feindseligkeit. In einer geschlossenen Sitzung des Kongreßpräsidiums, an der die Fraktionsvertreter teilnahmen, sprach ZETERELLI, damaliger Minister in der Koalitionsregierung, mit aller Entschlossenheit des beschränkten kleinbürgerlichen Doktrinärs davon, daß die einzige Gefahr, die der Revolution droht, die Bolschewiki und das von ihnen bewaffnete Petrograder Proletariat sind. Hieraus zog er die Schlußfolgerung, daß es notwendig ist, Leute, die "nicht mit Waffen umzugehen verstehen", zu entwaffnen. Das bezog sich auf die Arbeiter und auf diejenigen Teile der Petrograder Garnison, die unserer Partei folgten. Allein die Entwaffnung kam nicht zustande, da für so eine scharfe Maßnahme weder die politischen noch die psychologischen Vorbedingungen in genügendem Maß ausgereift waren.

Um den Massen für die nicht vollzogene, aufgelöste Demonstration eine Genugtuung zu gewähren, setzte der Sowjetkongreß eine allgemeine, waffenlose Demonstration auf den 18. Juni an. Aber gerade dieser Tag wurde zum Tag des politischen Triumphes unserer Partei. Die Massen traten in mächtigen Kolonnen auf die Straßen und trotzdem sie, im Gegensatz zu unserer nicht ausgeführten Demonstration vom 10. Juni, von einer offiziellen Sowjetbehörde auf die Straße gerufen worden waren, hatten die Arbeiter auf ihre Fahnen und Standarten die Losungen unserer Partei geschrieben: "Nieder mit den Geheimverträgen!" "Nieder mit der Offensive-Politik!" "Es lebe der ehrliche Friede!" "Nieder mit den zehn Kapitalisten-Ministern". "Die ganze Regierungsgewalt den Sowjets!" Es gab nur drei Plakate, die dem Koalitionsministerium ihr Vertrauen ausdrückten: das eine vom Kosakenregiment, ein zweites von der Gruppe PLECHANOWs und das dritte von der Petrograder Organisation des jüdischen "Bund", der hauptsächlich aus unproletarischen Elementen besteht. Die Demonstration zeigte nicht nur unseren Feinden, sondern auch uns selbst, daß wir in Petrograd viel stärker waren, als wir es vorausgesetzt hatten.


Die Offensive vom 18. Juni

Die Regierungskrise schien infolge der Demonstration dieser Revolutionsmassen ganz unvermeidlich. Doch die Nachricht von der Front, daß die Revolutionsarmee die Offensive ergriffen hätte, verwischte den Eindruck, den die Demonstration hinterließ. Am selben Tag, an dem das Proletariat und die Garnison Petrograds die Veröffentlichung der Geheimdokumente und ein offenes Friedensangebot forderte, stürzte KERENSKI die Revolutionsarmee in die Offensive. Das war natürlich kein zufälliges Zusammentreffen der Ereignisse. Die politischen Kulissenschieber hatten schon alles im Voraus vorbereitet, und der Zeitpunkt der Offensive war nicht aus militärischen, sondern aus politischen Motiven festgesetzt worden. Am 19. Juni zog die sogenannte patriotische Manifestation durch die Straßen von Petrograd. Der NEWSKI-Prospekt - die Hauptverkehrsader des Bürgertums - war überfüllt von aufgeregten Gruppen, unter denen Offiziere, Journalisten und elegante Damen eine heiße Agitation gegen die Bolschewiki führten. Die ersten Berichte über die Offensive lauteten günstig. Die führende liberale Presse hielt darauf, daß die Hauptsache vollbracht sei, daß der Angriff vom 18. Juni, trotz seiner weiteren militärischen Folgen für die Entwicklung der Revolution ein tödlicher Schlag sei, da er die alte Disziplin in der Armee wiederherstellen und die Kommandostellen im Staat dem liberalen Bürgertum sichern würde. Wir sagten etwas anderes voraus. In einer besonderen Deklaration, die wir einige Tage vor der Juni-Offensive auf dem Ersten Sowjetkongreß bekannt gaben, erklärten wir, daß diese Offensive den inneren Zusammenhang in der Armee zerstören, ihre verschiedenen Teile einander gegenüberstellen und eine große Übermacht in die Hände der Gegenrevolutionäre liefern würde, da die Aufrechterhaltung der Disziplin in einer zerrütteten, moralisch nicht erneuerten Armee ohne strenge Repressalien nicht abgehen würde. Mit anderen Worten, wir sagten in dieser Deklaration diejenigen Konsequenzen voraus, die nachher unter dem gemeinsamen Namen der KORNILOW-Affäre ihren Ausdruck fanden. Wir nahmen an, daß der Revolution in beiden Fällen die größte Gefahr drohte: sowohl beim Gelingen der Offensive - woran wir nicht glaubten - sowie einem Mißlingen, das uns fast unvermeidlich erschien. Das Gelingen der Offensive sollte das Kleinbürgertum in der Einheitlichkeit der chauvinistischen Stimmung mit der Bourgeoisie verbinden und das revolutionäre Proletariat auf diese Art und Weise isolieren. Das Mißlingen der Offensive drohte der Armee mit einem gänzlichen Zerfall, mit chaotischem Rückzug, dem Verlust neuer Provinzen und der Enttäuschung und Verzweiflung der Massen. Die Geschehnisse schlugen den zweiten Weg ein. Die Siegesnachrichten währten nicht lange. Sie wurden von trüben Mitteilungen abgelöst über die Weigerung vieler Truppenteile, die Angreifer zu unterstützen, über den Untergang der Offiziere, aus denen allein die Angriffseinheiten zuweilen zusammengesetzt waren, usw.(1)

Die Kriegsereignisse spielten sich auf einer Basis immer wachsender Schwierigkeiten im inneren Leben des Landes ab. Auf dem Gebiet der Agrarfrage, der Industrie, der nationalen Beziehungen machte die Koalitionsregierung keinen entscheidenden Schritt vorwärts. Die Lebensmittelversorgung und der Verkehr wurden immer mehr zerrüttet. Die lokalen Zusammenstöße wurden häufiger. Die "sozialistischen" Minister rieten den Massen abzuwarten. Alle Beschlüsse und Maßnahmen, darunter die konstituierende Versammlung, wurden hinausgeschoben. Die Unentschlossenheit und die Unsicherheit des Regimes waren augenscheinlich. Es gab zwei mögliche Auswege: entweder mußte das Bürgertum der Macht enthoben und die Revolution vorwärtsgestoßen werden, oder man ging mit Hilfe strenger Repressalien zur "Bändigung" der Volksmassen über. KERENSKI und ZERETELI schlugen den Mittelweg ein und verwirrten die Sachlage noch mehr ... Als die Kadetten, die gescheitesten und weitblickendsten Vertreter der Koalition, einsahen, daß die mißlungene Juni-Offensive nicht nur die Revolution, sondern auch die herrschenden Parteien schwer treffen könnte, beeilten sie sich, bei Zeiten abzutreten und die ganze Last der Verantwortung auf die Schultern ihrer Bundesgenossen von links abzuwälzen.

Am 2. Juli fand die Ministerkrisis staat, deren formale Ursache die ukrainische Frage war. Das war ein Moment höchster politischer Spannung in jeder Beziehung. Von den verschiedensten Teilen der Front erschienen Delegationen und einzelne Vertreter und erzählten von dem Chaos, das als Folge der Offensive in der Armee herrschte. Die sogenannte Regierungspresse forderte harte Repressalien. Ähnliche Stimmen erschallten immer häufiger aus den Spalten der sogenannten sozialistischen Presse. KERENSKI ging immer mehr und mehr, oder richtiger gesagt immer offener auf die Seite der Kadetten und der Kadetten-Generäle über und offenbarte demonstrativ nicht nur seinen ganzen Haß gegen die Bolschewiki, sondern auch seinen Widerwillen gegen die revolutionären Parteien überhaupt. Die Botschaften der Entente (England-Frankreich) übten auf die Regierung einen Druck aus und forderten die Wiederherstellung der Disziplin und eine Fortsetzung der Offensive. In den Regierungskreisen herrschte die größte Kopflosigkeit. In den Arbeitermassen häufte sich eine Empörung an, die voller Ungeduld nach außen drängte. "Benutzt doch den Austritt der Kadettenminister, um die ganze Macht in eure Hände zu nehmen!" - mit dieser Aufforderung wandten sich die Arbeiter von Petrograd an die führenden Sowjet-Parteien der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki. Ich erinnere mich an die Sitzung des Exekutivkomitees vom 2. Juli. Die sozialistischen Minister waren erschienen, um über die neue Regierungskrise Bericht zu erstatten. Mit gespannter Aufmerksamkeit warteten wir, welche Position sie nu einnehmen würden, nachdem sie infolge der schweren Prüfung, die ihnen die Koalitionspolitik auferlegt hatte, so ruhmlos abgefallen waren. Der Berichterstatter war ZERETELI. Er setzte ausführlich dem Exekutivkomitee auseinander, daß diejenigen Zugeständnisse, die er zusammen mit TERESTSCHENKO an die Kiewer  Rada  [Zentralrat - wp] gemacht hatte, noch keineswegs eine Aufteilung Rußlands bedeuteten und daher den Kadetten keinen genügenden Anlaß zum Austritt aus dem Ministerium boten. ZERETELI warf den Kadettenführern zentralistischen Doktrinarismus, Unverständnis für die Notwendigkeit eines Kompromisses mit der Ukraine usw. usw. vor. Der gewonnene Eindruck war armselig bis zum Äußersten. Der hoffnungslose Doktrinär der Koalition warf den nüchternen Kapitalpolitikern Doktrinarismus vor, die den erstbesten Anlaß dazu benutzten, um ihre politischen Commis [Handlungsgehilfen - wp] die Rechnung begleichen zu lassen für jenen entscheidenden Umschwung, als den sie die Entwicklung der Ereignisse infolge der Offensive vom 18. Junie betrachteten. Nach allen vorhergegangenen Erfahrungen der Koalition hatte es den Anschein, als ob nur ein einziger Ausweg möglich wäre: Ein Bruch mit den Kadetten und die Schaffung einer Sowjet-Regierung. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Sowjets war damals derart, daß die Sowjet-Regierung in Parteihinsicht sich unmittelbar in den Händen der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki befunden hätte. Wir gingen dem bewußt entgegen. Dank der Möglichkeit ständiger Neuwahlen sicherte der Sowjet-Mechanismus eine ziemlich genaue Wiedergabe der nach links abschwenkenden Stimmungen der Arbeiter- und Soldatenmassen; nach einem Bruch der Koalition mit der Bourgeoisie mußten also, unserer Voraussicht nach, in der Zusammensetzung der Sowjets die radikalen Tendenzen ein Übergewicht bekommen. Unter diesen Umständen hätte der Kampf des Proletariats um die Macht natürlicherweise in das Fahrwasser der Sowjet-Organisation gemündet und würde sich schmerzlos weiter entfaltet haben. Nach einem Bruch mit der Bourgeoisie wäre die kleinbürgerliche Demokratie selbst unter die Schläge der Bourgeoisie geraten und hätte einen innigeren Anschluß an das sozialistische Proletariat suchen müssen, sodaß ihre Unentschlossenheit und politische Gestaltlosigkeit früher oder später unter der Wucht unserer Kritik von den werktätigen Massen überwunden worden wäre. Aus diesem Grund allein forderten wir von den leitenden Sowjet-Parteien - zu denen wir, ohne einen Hehl daraus zu machen, gar kein politisches Vertrauen hegten, - sie möchten die Regierungsgewalt in ihre Hände nehmen.

Aber auch nach der Ministerkrise vom 2. Juli verzichteten ZERETELI und seine Gesinnungsgenossen nicht auf die "Idee" der Koalition. Sie erläuterten im Exekutivkomitee, die führenden Kadetten wären freilich von Doktrinarismus und selbst von gegenrevolutionären Tendenzen zerfressen, in der Provinz gäbe es aber viele bürgerliche Elemente, die noch imstande wären, im gleichen Schritt und Tritt mit der revolutionären Demokratie zu marschieren, und zur Sicherung ihrer Mitarbeiterschaft wäre es notwendig, die Vertreter der Bourgeoisie an das neue Ministerium heranzuziehen. Die Nachricht, die Koalition wäre zerfallen, nur um einer neuen Koalition Platz zu machen - diese Nachricht verbreitete sich schnell in Petrograd und rief in den Arbeiter- und Soldatenvierteln einen Sturm der Entrüstung hervor. So wuchsen die Ereignisse vom 3.-5. Juli heran.


Die Julitage

Noch während der Sitzung des Exekutivkommitees wurden wir telefonisch benachrichtigt, daß das Maschinengewehrregiment zum Angriff bereit gemacht würde. Wir ergriffen auch sofort telefonisch Maßnahmen, um das Regiment aufzuhalten, aber in den unteren Schichten ging eine rege Tätigkeit vor sich: von der Front trafen Vertreter der wegen Ungehorsamkeit aufgelösten Kontingente ein, brachten beunruhigende Nachrichten über Repressalien mit und hetzten die Garnison auf. Unter den Petrograder Arbeitern war die Unzufriedenheit mit den offiziellen Führern umso schärfer, da ZERETELI, DAN und TSCHCHEIDSE die öffentliche Meinung des Proletariats irre führten und bemüht waren, dem Petrograder Sowjet keine Möglichkeit zu geben, das Ausdrucksmittel der neuen Stimmung der arbeitenden Massen zu werden. Das Allrussische Exekutivkomitee, das auf dem Julikongreß geschaffen wurde und sich auf die rückständigere Provinz stützte, drängte mehr und mehr den Petrograder Sowjet in den Hintergrund und riß selbst die Leitung der rein Petrograder Angelegenheiten an sich. Ein Zusammenstoß war unvermeidlich. Die Arbeiter und Soldaten drängten von unten herauf, drückten stürmisch ihre Unzufriedenheit mit der offiziellen Sowjetpolitik aus und forderten von unserer Partei entschiedenere Aktionen. Wir meinten, die Stunde für solche Aktionen wäre in Anbetracht der Zurückgebliebenheit der Provinz noch nicht gekommen. Aber zu gleicher Zeit befürchteten wir, daß die Ereignisse an der Front in den Reihen der Revolution ein ungeheures Chaos schaffen und den Seelen der Arbeitermassen Verzweiflung einflößen könnten. Innerhalb unserer Partei war das Verhältnis zur Bewegung vom 3.-5. Juni vollkommen bestimmt. Einerseits war die Befürchtung da, Petrograd könnte sich von der zurückgebliebenen Provinz ablösen, andererseits aber bestand die Hoffnung, daß nur eine energische und aktive Einmischung von Petrograd aus die Situation retten könnte. Die Partei-Agitatoren in den unteren Schichten marschierten mit der Masse und betrieben eine unversöhnliche Agitation.

Gewissermaßen bestand auch noch die Hoffnung, daß das Hinaustreten der revolutionären Massen auf die Straße den stumpfen Doktrinarismus der Vermittler ausrotten müßte und sie zwingen würde zu begreifen, daß sie nur durch einen offenen Bruch mit der Bourgeoisie die Regierung weiter beibehalten könnten. Trotz all dem, was in den darauffolgenden Tagen in der bürgerlichen Presse geredet und geschrieben wurde, bestand keineswegs in unserer Partei der Plan, sich auf dem Weg eines bewaffneten Widerstandes der Gewalt zu bemächtigen. Es handelte sich um eine revolutionäre Demonstration, die spontan entstand, aber politisch von uns geleitet wurde.

Das Zentral-Exekutiv-Komitee tagte im Taurischen Palais, als das Palais von den stürmischen Wellen bewaffneter Arbeit und Soldaten umschlossen wurde. Unter den Demonstranten befanden sich natürlich in verschwindender Minorität auch anarchistische Elemente, die bereit waren, gegen das Sowjetzentrum Waffen zu gebrauchen. Es waren auch Elemente dabei, die auf Progrome ausgingen, Schwarze Hundert und offensichtlich bezahlte Personen, die die Situation auszunutzen suchten, um chaotische Krawalle zu erzeugen. Aus der Mitte dieser Elemente kam die Forderung, TSCHERNOW und ZERETELI zu verhaften, das Exekutivkomitee auseinanderzujagen usw. Es wurde sogar der Versuch gemacht, TSCHERNOW zu verhaften. Später erkannte ich im Gefängnis von Kresty einen der Matrosen wieder, die an diesem Verhaftungsversuch teilgenommen hatten: es stellte sich heraus, daß er ein Kriminalverbrecher war, der in Kresty wegen eines Raubdelekts saß. Aber die bürgerliche und vermittelnde Presse stellte die ganze Bewegung als einen progromistischen konterrevolutionären und zugleich bolschewistischen Feldzug dar, der sich zur unmittelbaren Aufgabe stellte, auf dem Weg einer bewaffneten Vergewaltigung der Zentralexekutive die Regierung an sich zu reißen.

Die Bewegung vom 3. bis 5. Juli zeigte schon völlig deutlich, daß rings um die regierenden Sowjetparteien Petrograds eine Leere herrschte. Noch lange nicht die ganze Garnison war damals für uns. Es waren schwankende Kontingente da, unentschlossene, passive. Aber abgesehen von den Fähnrichen gab es beinahe keine Truppenteile, die bereit gewesen wären, zum Schutz der Regierung oder der leitenden Sowjetparteien gegen uns zu kämpfen. Es mußten also Truppen von der Front herbeizitiert werden. Die ganze Strategie von ZERETELI, TSCHERNOW und anderen lief am 3. Juli darauf hinaus, Zeit zu gewinnen und KERENSKI die Möglichkeit zu geben, an Petrograd "sichere" Truppen heranzuziehen. In den Saal des Taurischen Palastes, der von einer dichten Menge bewaffneten Volkes umgeben war, trat eine Deputation nach der andern und forderte: einen völligen Bruch mit der Bourgeoisie, durchgreifende soziale Reformen und die Eröffnung von Friedensverhandlungen. Wir, Bolschewiki, empfingen jede neue Militärabteilung auf der Straße oder im Hof mit Reden, in denen wir zur Ruhe aufforderten und die Gewißheit ausdrückten, daß bei der vorhandenen Stimmung der Massen es den Vermittlern nicht gelingen würde, eine neue Koalitionsregierung zustande zu bringen. Am entschlossensten waren die Kronstadter: nur mit Mühe gelang es uns, sie in den Schranken der Demonstration zurückzuhalten. Am 4. Juli gewann die Demonstration eine noch größere Ausdehnung - schon unter direkter Leitung unserer Partei. Die Sowjet-Führer waren kopflos, ihre Reden machten einen ausweichenden Eindruck; die Antworten, die ULYSSES TSCHCHEIDSE den Deputationen gab, waren jedes politischen Inhalts bar. Es war klar, daß die offiziellen Führer abwarteten.

In der Nacht vom 4. trafen die ersten "sicheren" Truppen von der Front ein. Während der Sitzung des Exekutivkomitees ertönte im Gebäude des Taurischen Palastes die Blechmusik der "Marsellaise". Die Gesichter der Präsidiumsmitglieder veränderten sich im Nu. Die Sicherheit, die ihnen im Laufe der letzten Tage so sehr gefehlt hatte, war wieder da. In das Taurische Palais zog das WOLYNIEN-Regiment ein, dasjenige Regiment, das einige Monate später unter unseren Fahnen in der Avantgarde der Oktoberrevolution marschierte. Mit diesem Augenblick war alles verändert. Man brauchte sich keinen Zwang mehr anzulegen mit den Delegationen der Petrograder Arbeiter und Soldaten oder mit den Vertretern der Ostseeflotte. Von der Tribüne des Exekutivkomitees herab ertönten Reden über die bewaffnete Meuterei, die nun durch die revolutionstreuen Truppen "unterdrückt" sei. Die Bolschewiki wurden zur konterrevolutionären Partei erklärt.

Die Angst, die die liberale Bourgeoisie während der zwei letzten Tage der bewaffneten Demonstration ausgestanden hatte, machte sich nun in einem glühenden Haß Luft: nicht nur in den Spalten der Zeitungen, sondern auch in den Straßen von Petrograd und ganz besonders auf dem NEWSKI-Prospekt, wo die einzelnen Arbeiter und Soldaten, die man bei der "verbrecherischen Agitation" ertappte, unbarmherzig geprügelt wurden. Fähnriche, Offiziere, Stoßtruppen, Georgsordenträger blieben die Herren der Situation. An ihre Spitze stellten sich ausgesprochene Gegenrevolutionäre. In der Stadt ging die unbarmherzige Zerschmetterung der Arbeiterorganisationen und der Institutionen unserer Partei vor sich. Es begannen Verhaftungen, Haussuchungen, Prügeleien und einzelne Morde. Am 4., in der Nacht, übergab der damalige Justiziminister PEREWERSEW die "Dokumente" zum Druck, die beweisen sollten, daß an der Spitze der Bolschewiki-Partei bezahlte deutsche Agenten stünden. Die Führer der Partei der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewike kannten uns nur allzu lange und allzu gut, um an diese Anschuldigungen zu glauben; aber sie waren ja nur zu sehr am Erfolg dieser Anschuldigungen interessiert, um sie offen anzufechten. Unsereiner kann auch jetzt noch kaum ohne Ekel an jene Lügen-Bacchanalien zurückdenken, die sich über die Seiten aller bürgerlichen und vermittelnden Zeitungen ergossen. Unsere Presse war erdrückt. Das revolutionäre Petrograd bekam zu fühlen, daß die Provinz und die Armee noch lange nicht auf seiner Seite waren. In den Arbeitervierteln trat ein kurzer Augenblick der Verwirrung ein. In der Garnison begannen die Repressivmaßregeln gegen die aufgelösten Regimenter und die Entwaffnung einzelner Kontingente fing an. Unterdessen fabrizierten darin Vertreter drittklassiger bürgerlicher Gruppen ein, die ohne der Regierung etwas bieten zu können, sie jedoch des letzten Tropfens revolutionärer Initiative beraubten.

An der Front nahmen inzwischen die Ereignisse ihren Fortlauf. Der Organismus der Armee war bis ins tiefste Innere zerrüttet. Die Soldaten überzeugten sich in der Tat, daß der größte Teil der Offiziere, die am Anfang der Revolution zum Selbstschutz die rote Farbe angelegt hatten, dem neuen Regime gegenüber sich nur feindlich verhielten. Im Hauptquartier wurde offen eine Auswahl konterrevolutionärer Elemente getroffen. Die bolschewistischen Publikationen wurden unbarmherzig verfolgt. Die Offensive wurde bald von einem tragischen Rückzug abgelöst. Die bürgerliche Presse erging sich in wilden Verleumdungen gegen die Armee, und wenn am Vorabend der Offensive die regierenden Parteien uns erklärten, wir seien ein verschwindend kleines Häufchen und die Armee wüßte nchts von uns und wollte nichts von uns wissen, so schoben jetzt, da das Abenteuer der Offensive ein so tragisches Ende genommen hatte, dieselben Personen und Parteien die ganze Verantwortung für das Mißlingen der Offensive auf uns. Die Gefängnisse waren von revolutionären Arbeitern und Soldaten überfüllt. Zur gerichtlichen Untersuchung der Vorfälle am 3. bis 5. Juli wurden die alten Gerichtsmarder des Zarismus herangezogen. Und unter diesen Bedingungen wagten es die Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki von LENIN, SINOWJEW und anderen Genossen zu verlangen, so möchten sich freiwillig in die Hände der "Justiz" begeben.


Nach den Julitagen

Die Verwirrung im Arbeiterviertel verging schnell und machte einer revolutionären Flut nicht allein inmitten des Proletariats, aber auch unter der Petrograder Garnison Platz. Die Vermittler verloren jeden Einfluß, die Welle des Bolschewismus begann sich aus den Stadtzentren über das ganze Land zu verbreiten und drang über alle Hindernisse hinweg in die Armee ein. Die neue Koalitionsregierung mit KERENSKI an der Spitze betrat nun offen den Weg der Repressalien. Das Ministerium führte die Todesstrafe für die Soldaten wieder ein. Unsere Zeitungen wurden unterdrückt und unsere Agitatoren verhaftet, aber das stärkte nur noch unseren Einfluß. Trotz aller Hindernisse, die den Neuwahlen des Petrograder Sowjets in den Weg gelegt wurden, hatte sich nun das Kräfteverhältnis soweit verschoben, daß wir in einigen wichtigen Fragen bereits die Majorität bekamen. Dasselbe war auch im Sowjet von Moskau der Fall.

Zu dieser Zeit saß ich schon mit vielen anderen Genossen im Gefängnis von Kresty, verhaftet wegen Agitation und Organisierung des bewaffneten Aufstandes von 3. bis 5. Juli im Auftrag der deutschen Regierung und zum Zweck der Beihilfe zu den Kriegszielen der Hohenzollern. Der nicht ganz unbekannte Untersuchungsrichter des zaristischen Regimes, ALEXANDROW, der nicht wenige Prozesse gegen die Revolutionäre hinter sich hatte, erhielt nun den Auftrag, die Republik gegen die konterrevolutionären Bolschewiki zu schützen. Beim alten Regime wurden die Gefängnisinsassen in politische und kriminelle eingeteilt, jetzt trat eine neue Terminologie auf: Kriminalverbrecher und Bolschewiki. Die verhafteten Soldaten waren zum Teil perplex. Die jungen Burschen, die vom Land gekommen waren und vorher nicht am politischen Leben teilgenommen hatten, - sie glaubten, die Revolution hätte ihnen nun ein für alle Mal die Freiheit gebracht und nun schauten sie voller Staunen auf die verschlossenen Türen und die vergitterten Fenster. Während der Spaziergänge fragten sie mich jedes Mal erschreckt, was das alles zu bedeuten hätte und wie das enden sollte. Ich tröstete sie mit den Worten, daß der Sieg letzten Endes unser sein würde.


Der Aufstand von Kornilow

Ende August spielte sich der Aufstand des Generals KORNILOW ab. Er erschien als unmittelbare Folge der Mobilmachung der konterrevolutionären Kräfte und bekam einen energischen Anstoß durch die Offensive vom 18. Juni. Auf der vielgelobten Moskauer Konferenz Mitte August versuchte KERENSKI, sich in die Mitte zwischen den Zensus-Elementen und der kleinbürgerlichen Demokratie zu stellen. Die Bolschewiki betrachtete man überhaupt als außerhalb der "Legalität" im Lande stehend. Unter stürmischem Applaus der Zensushälfte der Konferenz und dem verräterischen Schweigen der kleinbürgerlichen Demokratie drohte ihnen KERENSKI mit Blut und Eisen. Aber das hysterische Geschrei und die Drohungen KERENSKIs befriedigten die Rädelsführer der konterrevolutionären Sache nicht. Nur allzugut beobachteten sie die revolutionäre Flut in allen Teilen des Landes, sowohl in der Arbeiterklasse wie auf dem Land und in der Armee; und sie hielten es für unumgänglich notwendig, unverzüglich die äußersten Maßregeln zu ergreifen, um den Massen eine Lektion zu erteilen. Diese gewagte Aufgabe hatte General KORNILOW auf sich genommen, im Einvernehmen mit der Zensus-Bourgeoisie, die in ihm einen Helden sah. KERENSKI, SAWINKOW, FILONENKO und andere regierende und halbregierende Sozialisten-Revolutionäre waren die Mitverschworenen dieses Komplotts, aber in einem gewissen Stadium der Entwicklung der Ereignisse gaben sie alle KORNILOW auf, denn sie begriffen, daß sie im Fall seines Sieges über Bord fliegen würden. Wir erlebten die KORNILOWschen Ereignisse, während wir im Gefängnis saßen und verfolgten sie in den Zeitungen. Daß wir offen Zeitungen erhalten durften - das war der einzige wesentliche Unterschied der KERENSKIschen Gefängnisse von den Gefängnissen des alten Regimes. Das Abenteuer des Kosaken-Generals mißlang. Die sechs Monate Revolution hatten im Bewußtsein der Massen und in ihrer Organisation eine genügende Stütze gegen einen offenen gegenrevolutionären Ansturm geschaffen. Die vermittelnden Sowjet-Parteien schraken im höchsten Grad vor den eventuellen Folgen des KORNILOWschen Putsches zurück, der nicht allein die Bolschewiki sondern die ganze Revolution überhaupt mit all ihren regierenden Parteien niederzufegen drohte. Die Sozialisten-Revolutionäre und die Menschewiki machten sich daran, die Bolschewiki zu legalisieren, - nich ohne Vorbehalt, und auch nur zur Hälfte, aus Angst vor einer möglichen Gefahr in der Zukunft. Die gleichen Kronstadter Matrosen, die nach den Julitagen als Plünderer und Gegenrevolutionäre verschrien wurden, wurden im Augenblick der KORNILOWschen Gefahr nach Petrograd zitiert, um die Revolution zu schützen. Sie erschienen wortlos, ohne Vorwürfe zu machen, ohne an die Vergangenheit zu erinnern, und besetzten die verantwortlichen Posten. Ich hatte das volle Recht, ZERETELI an die Worte zu erinnern, die ich ihm im Mai zugerufen hatte, als er die Hetzjagd auf die Kronstadter Matrosen betrieb: "Wenn ein konterrevolutionärer General einmal versuchen wird, der Revolution eine Schlinge um den Hals zu werden, dann werden die Kadetten den Strick einseifen, aber die Kronstadter Matrosen werden kommen, um mit uns zu kämpfen und zu sterben."

Die Sowjet-Organisationen zeigten überall: an der Front wie im Hinterland ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den KORNILOWschen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli gegen uns in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt KORNILOW auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution. Seine Aktion war auf Betrug gestellt, aber die Worte der Propaganda zerstörten seine Pläne mit Leichtigkeit.

Den Zeitungen zufolge hoffte ich auf eine schnellere Entwicklung der weiteren Ereignisse im Sinne einer Übernahme der Regierungsgewalt durch die Sowjets. Es war unzweifelhaft, daß die Einflußsphäre und die Kräfte der Bolschewiki gewachsen waren und einen ungeheuren Schwung bekommen hatten. Die Bolschewiki hatten vor der Koalition und vor der Offensive vom 18. Juni gewarnt, sie hatten die KORNILOW-Affäre prophezeit; so konnten sich die Volksmassen aus Erfahrung überzeugen, daß wir Recht hatten. Im aufregendsten Moment des KORNILOWschen Aufstandes, als die kaukasische Division sich Petrograd näherte, wurden die Arbeiter vom Petrograder Sowjet bewaffnet, während die Regierung die Ereignisse an sich herankommen ließ. Die Regimenter, die man einst gegen uns aufgeboten hatte, waren in der heißen Atmosphäre Petrograds längst regeneriert und standen nun vollkommen auf unserer Seite. Die KORNILOWsche Meuterei mußte der Armee endgültig die Augen öffnen und ihr zeigen, daß eine weitere Politik der Verständigung mit der bürgerlichen Gegenrevolution unmöglich ist. Man konnte deshalb erwarten, daß die Unterdrückung des KORNILOWschen Aufstandes lediglich den Auftakt dazu bilden wird, daß die revolutionären Kräfte unserer Partei zum unmittelbaren Ergreifen der Regierungsgewalt übergingen. Aber die Ereignisse entwickelten sich viel langsamer. Bei aller Intensität der revolutionären Stimmung waren die Masen nach der grausamen Lektion der Julitage vorsichtiger geworden; sie verzichtete auf jede eigene Initiative und erwarteten einen direkten Appell und die Leitung von oben herab. Aber auch "oben" herrschte in unserer Partei eine abwartende Stimmung vor. Unter diesen Umständen konnte die Liquidierung des KORNILOWschen Abenteuers trotz der tiefen Modifikation der Kräfte zu unseren Gunsten zu keinen unmittelbaren politischen Veränderungen führen.


Der Kampf innerhalb der Sowjets

Im Petrograder Sowjet wurde zu jener Zeit die Herrschaft unserer Partei endgültig befestigt. In dramatischer Form äußerte sich das bei der Frage über die Zusammensetzung des Präsidiums.

Zu der Zeit, als die Sozialisten-Revolutionäre und die Menschewiki in den Sowjets die Oberhand hatten, waren sie bemüht, mit allen Mitteln die Bolschewiki zu isolieren. Sie ließen in das Petrograder Präsidium nicht einen einzigen Bolschewiki herein, selbst dann nicht, als unsere Partei mindestens ein Drittel des ganzen Sowjets bildete. Nachdem der Petrograder Sowjet mittels einer labilen Majorität die Resolution der Übergabe der ganzen Regierungsgewalt in die Hände der Sowjets angenommen hatte, stellte unsere Fraktion die Forderung auf, es möge eine Koalitionspräsidium auf proportionaler Grundlage gebildet werden. Das alte Präsidium, das unter anderem TSCHCHEIDSE, ZERETELI, KERENSKI, SKOBELEW und TSCHERNOW aufwies, wollte nichts davon wissen. Es ist nicht überflüssig, jetzt daran zu erinnern, jetzt, da die Träger der von der Revolution geschlagenen Parteien von der Notwendigkeit einer einzigen Front der Demokratie reden und uns Exklusivität vorwerfen. Damals wurde eine spezielle Versammlung des Petrograder Sowjets einberufen, die über die Frage der Zusammensetzung des Präsidium entscheiden sollte. Von beiden Seiten wurden sämtliche Kräfte, wurden alle Reserven mobilisiert. ZERETELI trat mit einer Programmrede hervor, in der er bewies, daß die Frage des Präsidiums eine Frage der politischen Richtung ist. Wir rechneten auf etwas weniger als die Hälfte der Stimmen und waren geneigt, einen Fortschritt darin zu sehen. In der Tat aber schlug sich bei der Namensabstimmung die Majorität von über hundert Stimmen auf unsere Seite. "Im Lauf von sechs Monaten", sprach ZERETELI, "standen wir an der Spitze des Petrograder Sowjets und führten ihn von Sieg zu Sieg; wir wünschen euch, möget mindestens halb so lang auf den Posten verbleiben, die ihr jetzt einnehmen sollt." Im Moskauer Sowjet fand eine ebensolche Verschiebung der führenden Parteien statt.

In der Provinz gingen die Sowjets einer nach dem andern in das Lager der Bolschewiki über. Der Termin für die Zusammenkunft des zweiten Allrussischen Kongresses der Sowjets rückte näher. Aber die leitende Gruppe des Zentral-Exekutiv-Komitees war mit allen Kräften bemüht, den Kongress für unbestimmte Zeit zu verschieben, um ihn auf diese Art ganz zu unterdrücken. Es war offensichtlich, daß ein neuer Kongreß der Sowjets die Majorität unserer Partei ergeben, dementsprechend die Zusammensetzung der Zentralexekutive erneuern und den Vermittlern ihre wichtigsten Positionen nehmen würde. Der Kampf um das Zusammentreten des Allrussischen Kongresses bekam dadurch für uns eine hochwichtige Bedeutung.

Im Gegensatz dazu schoben die Menschewiki und Sozialisten-Revolutionäre die Idee des "Demokratischen Kongresses" in den Vordergrund. Sie brauchten dieses Unternehmen genauso im Kampf gegen uns wie gegen KERENSKI.

Das Haupt des Ministeriums nahm zu dieser Zeit eine völlig unabhängige und unverantwortliche Stellung ein. Es war mit Hilfe des Petrograder Sowjets in der ersten Periode der Revolution zur Macht gelangt. KERENSKI war ohne den vorherigen Beschluß der Sowjets in das Ministerium eingetreten, aber sein Eintritt wurde nachträglich genehmigt. Nach der ersten Konferenz der Sowjets zeichneten die sozialistischen Minister allein verantwortlich vor dem Zentral-Exekutiv-Komitee. Ihre Verbündeten, die Kadetten, waren dagegen nur vor ihrer Partei verantwortlich. Um der Bourgeoisie entgegen zu kommen, hatte das Zentral-Exekutiv-Komitee nach den Julitagen die sozialistischen Minister von der Verantwortung vor den Sowjets befreit - angeblich im Namen der Etablierung einer revolutionären Diktatur. Es ist nicht ganz unnütz, auch  daran  zu erinnern, da dieselben Personen, die die Diktatur eines Kreises aufrichteten, jetzt mit Anschuldigungen und Verwünschungen gegen die Diktatur einer Klasse hervortreten. Die Moskauer Konferenz, auf der die geschickt verteilten, demokratischen und Zensus-Elemente sich gegenseitig die Waagschale hielten, hatte sich zur Aufgabe gestellt, KERENSKIs Gewalt über den Klassen und Parteien zu bestätigen. Dieses Ziel wurde nur scheinbar erreicht. In Wirklichkeit hatte die Moskauer Konferenz die völlige Machtlosigkeit KERENSKIs enthüllt, denn er war den Zensus-Elementen sowohl wie der kleinbürgerlichen Demokratie fast gleich fremd. Da aber die Liberalen und die Konservativen seinen Ausfällen gegen die Demokratie Beifall klatschten und die Vermittler ihm, wenn er behutsam die Gegenrevolutionäre tadelte, Ovationen bereiteten, so gewann er den Eindruck, als ob er sich auf die einen sowohl wie die andern stützte und eine uneingeschränkte Gewalt besäße. Den Arbeitern und den revolutionären Soldaten drohte er mit Blut und Eisen. Seine Politik der Hinter-den-Kulissen-Abmachungen mit KORNILOW ging noch weiter, und schließlich kompromittierten ihn diese Abmachungen selbst in den Augen der Vermittler: ZETERELLI begann in ausweichend diplomatischen Ausdrücken, die so sehr für ihn charakteristisch sind, über "persönliche" Momente in der Politik zu sprechen und über die Notwendigkeit, diese persönlichen Momente einzuschränken. Diese Aufgabe sollte die Demokratische Konferenz übernehmen, die nach willkürlicher Norm aus Vertretern der Sowjets, der Stadträte, der Semstwos [zaristische Selbstverwaltungseinheiten - wp], der Gewerkschaften und der Genossenschaften zusammengesetzt werden sollte. Die Hauptaufgabe bestand jedoch darin, daß die konservative Zusammensetzung der Konferenz genügend garantiert würde, die Sowjets ein für alle Mal in der formlosen Masse der Demokratie aufgelöst würden und daß man sich auf dieser neuen Organisationsbasis gegen die bolschewistische Flut sicherte.

Es mag an dieser Stelle in wenigen Worten der Unterschied zwischen der politischen Rolle der Sowjets und derjenigen der demokratischen Selbstverwaltungsorgane charakterisiert werden. Die Philister wiesen uns mehrmals darauf hin, daß die neuen Stadträte und die Semstwos, die aufgrund des allgemeinen Stimmrechts gewählt worden sind, unvergleichlich demokratischer als die Sowjets sind und, mit mehr Recht als diese, als Vertretung der Bevölkerung gelten dürften. Diesem formalen demokratischen Kriterium geht jedoch in Revolutionszeiten jeder sachliche Inhalt ab. Jede Revolution ist dadurch gekennzeichnet, daß sich das Bewußtsein der Massen schnell verändert: neue und immer wieder neue Schichten der Bevölkerung sammeln Erfahrung, überprüfen ihre Ansichten von gestern, streifen sie ab, gelangen zu neuen Ansichten, lehnen die alten Führer ab, folgen neuen Führern, gehen vorwärts ... Die demokratischen Organisationen, die sich auf den schwerfälligen Apparat des allgemeinen Wahlrechts stützen, müssen zu Revolutionszeiten unbedingt hinter der Entwicklung des politischen Bewußtseins der Massen zurückbleiben. Ganz anders die Sowjets! Sie stützen sich unmittelbar auf organische Gruppierungen, wie die Fabrik, die Werkstatt, die Dorfgemeinde, das Regiment und andere. Hier fehlen natürlich jene juristischen Garantien für die Genauigkeit der Wahl, wie sie bei der Schaffung der demokratischen Stadtrat- oder Semstwo-Institutionen vorhanden sind. Dafür aber haben wir hier unvergleichlich ernsthaftere und tiefgehendere Garantien für die direkte und unmittelbare Verbindung des Abgeordneten mit seinen Wählern. Der Delegierte des Stadtrats oder des Semstwos stützt sich auf die lockere Masse der Wähler, die ihm für ein Jahr ihre Vollmachten anvertraut und dann auseinanderfällt. Die Sowjet-Wähler bleiben dagegen für immer durch die Bedingungen ihrer Arbeit und ihrer Existenz aneinander gebunden, sie haben stets ihren Delegierten vor Augen; in jedem Augenblick können sie ihn maßregeln, dem Gericht übergeben, absetzen oder durch eine andere Person ersetzen. Wenn in dem vorhergehenden Monaten der Revolution die allgemeine politische Entwicklung ihren Ausdruck darin fand, daß der Einfluß der Vermittlungsparteien demjenigen der Bolschewiki weichen mußte, so geht daraus klar hervor, daß dieser Entwicklungsprozeß sich am deutlichsten und vollkommensten in den Sowjets abspiegeln mußte, während die Stadträte und die Semstwos bei all ihrem formalen Demokratismus eher den Zustand der Volksmassen von gestern als den von heute ausdrückten. Dadurch wird namentlich erklärt, daß gerade diejenigen Parteien, die unter der revolutionären Klasse am meisten den Boden unter den Füßen verloren, einen besonders starken Hang zu den Stadträten und Semstwos hatten. Mit dieser selben Frage - aber nur in einem viel weiteren Maßstab - werden wir später zu tun haben, wenn wir von der Konstituierenden Versammlung sprechen werden.


Die Demokratische Konferenz

Die Demokratische Konferenz, die Mitte September von ZERETELI und seinen Mitkämpfern einberufen wurde, hatte ein absolut künstliches Gepräge: es war eine Kombination aus den Sowjets und den Selbstverwaltungsorganen, in einem solchen Verhältnis, daß das Übergewicht der vermittelnden Parteien garantiert war. Eine Ausgeburt von Hilflosigkeit und Kopflosigkeit, nahm diese Konferenz ein armseliges Ende. Die Zensus-Bourgeoisie verhielt sich gegen die Konferenz mit der größten Feindseligkeit, denn sie sah in ihr den Versuch, sie, die Bourgeoisie, von den Positionen wegzudrängen, denen sie sich auf der Moskauer Konferenz genähert hatte. Das revolutionäre Proletaria und die mit ihm verbündeten Massen der Bauern und Soldaten verurteilten von vornherein die Fälschermethode, na der die Demokratische Konferenz einberufen wurde. Die direkte Aufgabe der Vermittler war, ein "verantwortliches" Ministerium zu schaffen. Aber auch das wurde nicht erreicht. KERENSKI wollte von Verantwortlichkeit nichts wissen und duldete sie nicht, denn sie wurde von der Bourgeoisie, die sein Rückgrat bildete, nicht geduldet. Die Unverantwortlichkeit in Bezug auf die Organe der sogenannten Demokratie bedeutete aber die tatsächliche Verantwortlichkeit vor den Kadetten und vor den Botschaftern der Entente. Einstweilen genügte das der Bourgeoisie. In der Frage der Koalition kam die ganze Unhaltbarkeit der demokratischen Konferenz zutage: für eine Koalition mit der Bourgeoisie wurden nur wenig mehr Stimmen abgegeben als gegen diese Koalition; die Majorität stimmte  gegen  eine Koalition mit den Kadetten. Aber nach Abzug der Kadetten blieben innerhalb der Bourgeosie keine ernsthaften Konteragenten für eine Koalition mehr übrig. ZERETELI setzte es der Konferenz umständlich auseinander. Umso schlimmer, wenn die Konferenz es nicht verstanden hatte. Hinter dem Rücken der Konferenz wurden skrupellos Verhandlungen mit den von der Konferenz abgelehnten Kadetten geführt; dabei wurde beschlossen, daß die Kadetten nicht als Kadetten figurieren solten, sondern als ... "sozial Arbeitende". Bedrängt von rechts und von links, ließ sich die kleinbürgerliche Demokratie alles gefallen und demonstrierte somit ihre vollkommene politische Erschlaffung.

Aus dem Schoß der Demokratischen Konferenz wurde der Sowjet ausgeschieden, der durch Vertreter der Zensus-Elemente ergänzt werden sollte; dieses Vor-Parlament sollte die leere Stelle ausfüllen, die bis zur Einberufung der Konstituante übrig blieb. Im Gegensatz zum ursprünglichen Plan ZERETELIs, aber in vollem Einvernehmen mit den Plänen der Bourgeoisie behielt das neue Koalitionsministerium in Bezug auf das Vor-Parlament seine formale Unabhängigkeit. Das Ganze machte den Eindruck eines traurigen und kraftlosen Kanzleiprodukts, das die völlige Kapitulation der kleinbürgerlichen Demokratie vor dem Zensus-Liberalismus verbarg, dem Liberalismus, der einen Monat vorher KORNILOWs Ansturm gegen die Revolution öffentlich unterstützte. Auf diese Weise lief alles auf die Wiederherstellung und Stabilisierung der Koalition mit der liberalen Bourgeoisie hinaus. Es konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß völlig unabhängig von der Zusammensetzung der Konstituante die Regierungsgewalt sich faktisch in den Händen der Bourgeoisie befinden würde, denn die Vermittlungsparteien gelangten trotz des Übergewichts, das ihnen die Volksmassen verliehen, immer wieder zur Koalition mit den Kadetten: sie hielten es für unmöglich, ohne die Bourgeoisie eine Regierung zu schaffen. Die Volksmasse standen der Partei MILJUKOWs mit der größten Feindseligkeit gegenüber. Bei allen Wahlen, während der ganzen Revolutionszeit, fielen die Kadetten unbarmherzig durch, und dennoch wiesen dieselben Parteien - die Sozialisten-Revolutionäre und die Menschewiki - die bei den Wahlen über die Kadettenpartei den Sieg davontrugen, gleich nach den Wahlen in der Koalitionsregierung den Kadetten den Ehrenplatz an. Es ist zu begreifen, daß die Volksmassen immer mehr einsahen, daß die vermittelnden Parteien bei der liberalen Bourgeosie eigentlich nur die Rolle von Kommis spielten.


Schwierigkeiten an der Front
und im Hinterland

Die innere Lage wurde unterdessen immer komplizierter und schlimmer. Der Krieg zog sich weiter dahin: ziellos, sinnlos und aussichtslos. Die Regierung unternahm keine Schritte, um sich aus dem verwünschten Zirkel zu befreien. Da wurde der lächerliche Plan aufgestellt, den Menschewik SKOBELEW nach Paris zu schicken, um auf die Imperialisten der Entente einzuwirken. Aber kein Mensch mit gesundem Menschenverstand legte diesem Plan eine ernsthafte Bedeutung bei. KORNILOW hatte den Deutschen Riga abgetreten, um das öffentliche Bewußtsein zu terrorisieren und in dieser Atmosphäre die Knutendisziplin in der Armee zu festigen. Petrograd war bedroht. Aber die bürgerlichen Elemente sahen dieser Gefahr mit offensichtlicher Schadenfreude entgegen. Der ehemalige Duma-Präsident RODSJANKO sprach offen davon, daß die Einnahme des korrumpierten Petrograds durch die Deutschen noch kein großes Unglück bedeutete. Er wies auf das Beispiel von Riga hin, wo nach dem Einzug der Deutschen die Sowjet-Einrichtung abgeschafft und mit den alten Polizisten die Ordnung wieder eingeführt worden wäre.

Die Ostsee-Flotte ist verloren; aber diese Flotte ist von revolutionärer Propaganda zersetzt: folglich ist der Verlust der Flotte nicht so sehr schmerzlich. In diesem Zynismus des geschwätzigen Grandseigneurs fanden die verborgenen Gedanken der breitesten Bourgeoisiekreise ihren Ausdruck. Eine Einnahme von Petrograd durch die Deutschen bedeutet ja noch keineswegs seinen Verlust. Nach dem Friedensvertrag würde man Petrograd zurückhaben, aber geläutert durch den deutschen Militarismus. Unterdessen würde die Revolution ihr Haupt verloren haben und man würde mit ihr leichter fertig werden können. Die Regierung KERENSKIs dachte gar nicht daran, die Hauptstadt ernsthaft zu verteidigen. Im Gegenteil, man bereitete die öffentliche Meinung auf eine eventuelle Kapitulation vor. Die Regierungsinstitutionen wurden auch schon aus Petrograd nach Moskau und anderen Städten evakuiert.

Bei diesem Sachverhalt trat die Soldatensektion des Petrograder Sowjets zusammen. Die Stimmung war gespannt und unruhig. Die Regierung sei unfähig, Petrograd zu schützen? Dann soll man Frieden schließen! Und wenn sie keinen Frieden zu schließen vermag, so mag sie zum Teufel gehen! In dieser Fragestellung äußerte sich die Stimmung der Soldatensektion. Das war bereits die Morgenröte der Oktoberrevolution.

An der Front wurde die Lage mit jedem Tag schlimmer. Der kalte Herbst mit dem Regen und dem Schmutz rückte näher. Ein vierter Kriegswinter stand bevor. Die Verpflegung verschlimmerte sich mit jedem Tag. Im Hinterland hatte man die Front vergessen - es gab für die Regimenter weder Ablösungen noch Auffüllungen, noch die notige warme Kleidung. Die Desertionen nahmen immer mehr zu. Die alten Armeekomitees, die noch in der ersten Periode der Revolution gewählt worden waren, verblieben auf ihrem Posten und unterstützten die Politik KERENSKIs. Alle Neuwahlen waren verboten. Zwischen den Komitees und den Massen der Soldaten bildete sich ein Abgrund. Schließlich hatten die Soldaten für die Komitees nur noch Haß übrig. Immer häufiger kamen nach Petrograd Abgeordnete aus den Schützengräben und legten in den Sitzungen des Petrograder Sowjets beharrlich immer wieder die Frage vor: Was soll man tun? Durch wen und wie soll dem Krieg ein Ende gemacht werden? Warum hüllt sich der Petrograder Sowjet in Schweigen?


Der unvermeidliche Kampf
um die Regierungsgewalt

Der Petrograder Sowjet schwieg aber nicht. Er forderte die sofortige Übergabe in die Hände der Sowjets der ganzen zentralen wie lokalen Gewalt, die sofortige Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern; forderte die Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter und den sofortigen Eintritt in Friedensverhandlungen. Solange wir eine Oppositionspartei waren, war unsere Parole: die ganze Gewalt den Sowjets - eine Propaganda-Parole. Sobald wir aber in allen Hauptsowjets die Majorität hatten, legte uns diese Parole die Verpflichtung auf, den direkten und unmittelbaren Kampf um die Macht auszufechten.

Die Situation auf dem Land war aufs äußerste verworren und kompliziert. Die Revolution hatte den Bauern Land versprochen, zugleich aber verlangten die leitenden Parteien, daß die Bauern bis zum Zusammentritt der Konstituante dieses Land nicht anrührten. Zuerst wartete der Bauer geduldig; als er aber die Geduld zu verlieren begann, da ergriff das Koalitionsministerium gegen ihn Gewaltmaßregeln. Die Konstituierende Versammlung wurde unterdessen immer weiter hinausgeschoben. Die Bourgeoisie bestand darauf, daß die Konstituante erst nach Friedensschluß einberufen würde. Die Bauernmassen verloren immer mehr die Geduld. Das, was wir ganz am Anfang der Revolution vorausgesagt hatten, begann sich nun zu verwirklichen: die Bauern rissen eigenmächtig das Land an sich. Die Repressalien von Seiten der Regierung wurden verstärkt; eins nach dem andern wurden revolutionäre Landkomitees verhaftet. In einigen Bezirken hatte KERENSKI den Kriegszustand proklamiert. Aus den Dörfern strömten Deputationen nach dem Petrograder Sowjet. Sie klagten darüber, daß die Bauern verhaftet würden, wenn sie entsprechend dem Programm des Petrograder Sowjets das Land der Gutsbesitzer in die Hände der Bauernkomitees übergäben. Die Bauern erwarteten unseren Schutz. Wir gaben ihnen zur Antwort, daß wir sie nur dann beschützen könnten, wenn wir die Regierungsgewalt besäßen. Daraus ergab sich die Folgerung, daß, wenn die Sowjets sich nicht in einfache Redeanstalten verwandeln wollten, sie die Regierungsgewalt an sich reißen müßten.

Es ist sinnlos, anderthalb oder zwei Monate vor dem Zusammentritt der Konstituante um die macht der Sowjets zu kämpfen! - sagten uns unsere Nachbarn von rechts. Aber wir waren keineswegs von diesem Fetischismus der Konstituante angesteckt. Vor allem hatten wir ja keine Garantien dafür, daß sie in der Tat einberufen werden würde. Der Zerfall der Armee, die Massendesertionen, die Verpflegungskalamitäten, die Agrarrevolten - all das hatte eine Lage geschaffen, die für die Wahlen für die Konstituante wenig günstig war. Eine eventuelle Übergabe Petrograds an die Deutschen drohte überhaupt die Frage der Wahlen von der Tagesordnung zu entfernen. Und dann - wäre selbst die Konstituierende Versammlung unter Leitung der alten Parteien, nach den alten Listen zusammengetreten, so wäre sie nur ein Deckmantel und ein Heiligungsmittel für die Koalitionsmacht geworden. Weder die Sozialisten-Revolutionäre noch die Menschewiki waren imstande, ohne die Bourgeoisie, die Regierung in ihre Hände zu nehmen. Die revolutionäre Klasse allein war dazu berufen, den bösen Kreis zu zerstören, in dem sich die Revolution bewegte und sich verlor. Es hieß: die Macht denjenigen Elementen entreißen, die direkt oder indirekt der Bourgeoisie dienten und den Staatsapparat als Werkzeug der Obstruktion gegen die revolutionären Forderungen des Volkes gebrauchten.


Der Kampf um den
Kongress der Sowjets

Die Regierungsgewalt den Sowjets! forderte unsere Partei. In der vorübergehenden Periode bedeutete das, in die Parteisprache übertragen, die Macht der Sozialisten-Revolutionäre und der Menschewiki, im Gegensatz zur Koalition mit der liberalen Bourgeoisie. Jetzt aber, im Oktober 1917 bedeutete dieselbe Parole die Übergabe der ganzen Gewalt an das revolutionäre Proletariat, an dessen Spitze zu dieser Zeit die Partei der Bolschewiki stand. Es handelte sich also um die Diktatur der Arbeiterklasse, die hinter sich die viele Millionen starken Massen der ärmsten Bauernschaft führte, oder richtiger, zu führen imstande war. Darin bestand der historische Sinn des Oktoberaufstandes.

Alles lenkte die Partei auf diesen Weg hin. Seit den ersten Tagen der Revolution predigten wir die Notwendigkeit und Unausbleiblichkeit einer Übergabe der Regierungsgewalt an die Sowjets. Nach einem schweren inneren Kampf hatten die meistens Sowjets sich diese Forderung zueigen gemacht und sich auf unseren Standpunkt gestellt. Wir bereiteten den zweiten Allrussischen Kongreß der Sowjets vor, auf dem wir den vollkommenen Sieg unserer Partei zu sehen erwarteten. Das Zentral-Exekutiv-Komitee unter der Leitung von DAN (der vorsichtige TSCHCHEIDSE war rechtzeitig in den Kaukasus abgereist) arbeitete mit allen Mitteln der Einberufung des Sowjet-Kongresses entgegen. Nach vielen Bemühungen erreichten wir schließlich, auf die Sowjet-Fraktion der Demokratischen Konferenz gestützt, daß der Termin zur Einberufung des Kongresses festgesetzt wurde: es war der 25. Oktober. Dieses Datum bekam für die Geschichte Rußlands die höchste Bedeutung. Im voraus hatten wir nach Petrograd den Kongreß der Sowjets des nördlichen Gebietes mit Einschluß der Ostseeflotte und der Stadt Moskau einberufen. Auf diesem Kongreß hatten wir eine stabile Majorität; wir sicherten uns eine gewisse Deckung nach rechts in Form der Fraktion der linksstehenden Sozialisten-Revolutionäre und legten somit organisatorisch den ersten Grundstein zum Oktoberaufstand.


Der Konflikt aus Anlaß der
Petrograder Garnison

Aber noch viel früher, vor dem Kongreß der nördlichen Sowjets fand ein Ereignis statt, das im weiteren politischen Kampf eine höchst wichtige Rolle spielen sollte. Anfang Oktober erschien in der Sitzung des Petrograder Exekutiv-Komitees der Sowjetvertreter beim Generalstab des Petrograder Militärbezirkes und machte die Mitteilung, daß aus dem Generalstab das Absenden von zwei Dritteln der Petrograder Garnison an die Front geforder würde. Wozu? Zum Schutz von Petrograd. Das Absenden sollte nicht sofort stattfinden, aber man müßte sofort mit den Vorbereitungen beginnen. Der Generalstab verlangte vom Petrograder Sowjet eine Genehmigung dieses Projekts. Wir spitzten die Ohren. Ende August waren aus Petersburg ebenfalls fünf revolutionäre Regimenter ganz oder teilweise entfernt worden. Das geschah damals auf das Verlangen des damaligen Generalstabschefs KORNILOW, der gerade in jenen Tagen gegen Petrograd die kaukasische Division rüstete, um ein für alle Mal mit der revolutionären Hauptstadt fertig zu werden. Auf diese Weise hatten wir schon die Erfahrung mit diesen rein politischen Verschiebungen von Regimentern unter dem Vorwand von Militäroperationen. Ich will im Voraus sagen, daß nach der Oktoberrevolution aus bekannt gewordenen Dokumenten voll und deutlich klar wurd, daß die projektierte Entfernung der Petrograder Garnison mit militärischen Zielen nichts zu schaffen hatte und dem Hauptkommandierenden DUCHONIN gegen seinen Willen aufgedrängt worden war, und zwar von keinem anderen als KERENSKI, der so die Hauptstadt von den revolutionärsten, d. h. den ihm gegenüber am feindlichsten gestimmten Soldaten zu befreien suchte. Aber damals, Anfang Oktober, rief unser Verdacht zuerst einen Sturm patriotischer Entrüstung hervor. Der Generalstab drängte: KERENSKI wartete nicht länger, ihm brannte der Boden unter den Füßen. Wir ließen mit der Antwort nicht lange auf uns warten. Der Hauptstadt drohte entschieden Gefahr und vor uns stand die Frage der Verteidigung von Petrograd in ihrer ganzen ungeheuerlichen Bedeutung. Aber nach der Erfahrung in der KORNILOW-Affäre, nach den Worten RODSJANKOs vom Heil einer deutschen Besetzung - woher sollte man nach all dem das Vertrauen haben, daß Petrograd nicht absichtlich den Deutschen übergeben würde, um es für seinen aufrührerischen Geist zu bestrafen? Das Exekutiv-Komitee weigerte sich, den Befehl zur Entfernung von zwei Dritteln der Garnison blindlings zu akzeptieren. Wir müssen zuerst prüfen - erklärten wir - ob dieser Befehl in der Tat von militärischen Erwägungen diktiert sei, und dazu sei es nötig, ein Organ der Prüfung zu schaffen. So entstand der Gedanke, neben der Soldaten-Sektion des Sowjets, d. h. der politischen Vertretung der Garnison, ein rein operatives Organ in Form des Militär-Revolutionären-Komitees zu schaffen, das nachträglich eine so ungeheure Macht gewann und faktisch das Werkzeug des Oktober-Umsturzes wurde. Es ist unzweifelhaft, daß wir in jenen Stunden, als wir die Idee der Schaffung eines solchen Organs in den Vordergrund rückten, eines Organs, das in sich die Fäden der rein militärischen Leitung der Petrograder Garnison vereinigen sollte - wir uns vollkommen klar darüberwaren, daß gerade dieses Organ ein unschätzbares revolutionäres Werkzeug werden konnte. Es war die Zeit, da wir bereits offen dem Aufstand entgegenschritten und ihn organisatorisch vorbereiteten.

Am 25. Oktober sollte, wie gesagt, der Allrussische Kongreß der Sowjets stattfinden. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß der Kongreiß für die Übergabe der Regierungsgewalt an die Sowjets sein würde. Aber ein derartiger Beschluß mußte unverzüglich verwirklicht werden, sonst bedeutete er nichts mehr, als eine würdelose platonische Demonstration. Die Logik der Dinge forderte es, daß wir den Aufstand auf den 25. Oktober ansetzten. Genauso verstand die gesamte bürgerliche Presse die Sache. Das Schicksal des Kongresses hing aber in erster Linie von der Petrograder Garnison ab, - würde nun die Garnison es KERENSKI ermöglichen, den Sowjet-Kongreß zu umzingeln und ihn mit Hilfe von einigen hundert oder tausend Fähnrichen, Unteroffizieren und Korporalen auseinanderzujagen? Schon der Versuch, die Garniso zu entfernen - bedeutete er nicht so viel, daß die Regierung sich vorbereitete, den Sowjet-Kongreß aufzulösen? Es wäre auch sonderbar gewesen, wenn die Regierung es nicht getan hätte, da sie sah, wie wir hoffen, vor dem Angesicht des ganzen Landes, die Sowjet-Kräfte mobilisierten, um der Koalitionsregierung den Todesstoß zu versetzen.

Auf diese Weise entwickelte sich in Petrograd dieser Konflikt zur Frage nach dem Schicksal der Garnison. Zunächst beschäftigte diese Frage aufs lebhafteste alle Soldaten. Aber auch die Arbeiter hatten für diesen Konflikt das lebhafteste Interesse, da sie fürchteten, daß sie nach Entfernung der Garnison von den Fähnrichen und Kosaken abgewürgt werden würden. Der Konflikt gewann auf diese Weise einen außerordentlich scharfen Charakter und spielte sich auf einem Boden ab, der für die Regierung KERENSKI äußerst ungünstig war. Parallel dazu vollzog sich der bereits oben charakterisierte Kampf um die Einberufung des Allrussischen Sowjet-Kongresses; dabei proklamierten wir im Namen des Petrograder Sowjets und des Nordischen Provinzial-Kongresses offen, daß der zweite Sowjet-Kongress die Regierung KERENSKIs stürzen und der alleinige Herr Rußlands werden müßte. Der Aufstand war faktisch bereits im Gange. Er entwickelte sich in aller Öffentlichkeit, vor den Augen des ganzen Landes. Im Lauf des Monats Oktober spielte im inneren Leben unserer Partei die Frage des Aufstandes eine große Rolle. LENIN, der sich in Finnland verborgen hielt, forderte in zahllosen Briefen beharrlich eine entschiedenere Taktik. Von unten herauf brodelte es, und es wuchs die Unzufriedenheit, daß die Partei der Bolschewiki, die auf dem Petrograder Kongreß die Majorität hatte, keine praktischen Folgerungen aus ihren eigenen Parolen zog. Am 10. Oktober fand eine geheime Sitzung des Zentral-Komitees unserer Partei unter Beisein von LENIN statt. Auf der Tagesordnung stand die Frage des Aufstandes. Mit einer Majorität aller Stimmen gegen zwei wurde die Resolution gefaßt, daß das einzige Mittel, die Revolution und das Land von einem endgültigen Zerfall zu retten, der Aufstand wäre, der die ganze Regierungsgewalt in die Hände der Sowjets übergeben sollte.
LITERATUR Leo Trotzki, Von der Oktoberrevolution zum Brester Frieden, Bern 1918
    Anmerkungen
    1) 1) In Anbetracht seiner großen geschichtlichen Bedeutung führen wir an dieser Stelle im Auszug ein Dokument an, das von unserer Partei auf dem Allrussischen Kongreß der Sowjets am 3. Juni 1917, d. h. zwei Wochen vor der Offensive, bekannt gemacht wurde: "Wir halten es für die Kongreßarbeiten für notwendig, an erster Stelle die Frage aufzuwerfen, von der nicht nur die weiteren Schicksale aller Maßnahmen des Kongresses, sondern - und im wahren Sinne des Wortes - das Schicksal der ganzen russischen Revolution abhängt: die Frage nach der Offensive, die für die nächste Zukunft vorbereitet wird. - - - Indem die gegenrevolutionären Kreise Rußlands das Volk und die Armee - die nicht wissen, im Namen welcher internationaler Ziele sie berufen werden, ihr Blut zu vergießen - vor die Tatsache der Offensive mit allen ihren Folgen stellen, erwarten sie auch, daß die Offensive eine Konzentrierung der Macht in den Händen der militärdiplomatischen Gruppen herbeiführen würde, jener Gruppen, die mit dem englischen, französischen und amerikanischen Imperialismus verbündet sind, und sie von der Notwendigkeit befreien würde, künftig mit dem organisierten Willen der russischen Demokratie rechnen zu müssen. - - - Die heimlichen gegenrevolutionären Initiatoren der Offensive, die vor keinem "Kriegsabenteuer" zurückschrecken, versuchen bewußt, die, durch die innerpolitische und internationale Lage des Landes hervorgerufene Zerrüttung der Armee auszuspielen, und zu diesem Zweck flößen sie den verzweifelten Elementen der Demokratie den grundsätzlich falschen Gedanken ein, daß die bloße Tatsache der Offensive die "Wiedergeburt" der Armee ermöglichen und daß auf diese mechanische Weise der Mangel an einem bestimmten wirksamen Programm der Kriegsliquidation ersetzt werden könnte. Dabei ist es klar, daß eine solche Offensive die Armee, in der die einen Truppenteile den andern gegenüberstehen, nur endgültig desorganisieren muß."