p4-2p4-2WindelbandH. HöffdingF. MauthnerA. MesserR. Hönigswald    
 
OSWALD KÜLPE
Über die moderne
Psychologie des Denkens
(1)

"Die monarchische Einrichtung unseres Bewußtseins tritt zutage. Das Ich sitzt auf dem Thron und vollzieht Regierungsakte. Es bemerkt, nimmt wahr, konstatiert, was in sein Reich eintritt, es beschäftigt sich damit und zieht seine erfahrenen Minister, die Grundsätze und Normen seines Staatswesens, die erworbenen Kenntnisse und Einsichten, die zufälligen Bedürfnisse der Gegenwart zu Rate und beschließt dazu Stellung zu nehmen, den Eindringlich unberücksichtigt zu lassen oder ihm eine verwendbare Form zu geben oder gegen ihn zu reagieren."

I. Es ist das schöne Vorrecht des Philosophen, in seinem großen Gebiet Beziehungen zu allen Interessenkreisen unterhalten zu können. Für ihn gilt wahrhaft das Wort: "Nichts menschliches ist mir fremd." In Logik und Erkenntnistheorie pflegt er eine lebendige Wechselwirkung mit aller Wissenschaft, in der Ästhetik sucht er sich das weite Reich der Kunst zu erschließen, und in der Metaphysik schlägt er die Brücke zwischen der Erkenntnis und dem Glauben. Wenn man aber heute ein Fach bezeichnen will, durch das er sich in erster Linie ein anerkanntes Zentrum geschaffen hat, in welchem alle Fäden bewußter menschlicher Betätigung zusammenlaufen, so wird man auf die Psychologie hinweisen müssen. Sie ist am Werk, für Wissenschaft und Kunst, für Sittlichkeit und Religion, für Erziehung und Unterricht die Grundlagen im Seelenleben aufzudecken. Ihr muß es gelingen, im Geist eines Jeden einen Widerhall zu wecken. Sie kann zu jedem sagen: tua res agitur! [Es geht um deine Sache. - wp]

Seit 50 Jahren gibt es eine experimentelle Psychologie. GUSTAV THEODOR FECHNER hat sie durch seine "Elemente der Psychophysik" (1860) begründet. Eine Lehre von den Wechselbeziehungen zwischen Leib und Seele war sein Ziel, und im ersten Anlauf, durch die Aufstellung eines Gesetzes, des von ihm sogenannten Weberschen Gesetzes, glaubte er dieses Ziel erreichen zu können. Er zeigte, daß sich das Seelenleben durch die systematische Einführung und Abstufung von Reizen, die auf unsere Sinne wirken, gesetzmäßig beeinflussen läßt. Die Methoden, die er angab und anwandte, um eben merkliche Reiz und Reizunterschiede ebenso wie gleicherscheinende Reize (Äquivalente) aufgrund der Empfindungen, die wir ihnen verdanken, zu bestimmen, haben sein Gesetz und seine Psychophysik im engeren Sinne überdauert. Sie sind der überaus fruchtbare Wurzelstock der experimentellen Psychologie geworden. Es ist hier wie so oft in der Geschichte der Wissenschaft gegangen: die Mittel waren haltbarer und ergiebiger als der Zweck, zu dessen Erfüllung sie ursprünglich verwandt wurden; die Methoden, die zunächst für die Gewinnung eines allgemeinen Ergebnisses ausgebildet waren, erwiesen sich allmählich als davon unabhängig und bargen den Keim eines unendlichen Fortschritts, einer nach verschiedenen Richtungen zu verfolgenden Anwendung und Verfeinerung in sich. Das Ziel rückte in die Ferne, aber der Weg zu näheren Stationen war gefunden und konnte zu einer sicheren, festen und vielen Wanderern Raum gewährenden Straße ausgebaut werden.

Den Nachfolgern FECHNERs gelang es, zu zeigen, daß die Möglichkeit einer experimentellen Forschung nicht auf die Empfindungen, die unmittelbaren Folgeerscheinungen von Reizen beschränkt war. Auch die Tätigkeiten des Unterscheidens und Erkennens, des Urteilens und Wählens, die Leistungen und Bedingungen des Gedächtnisses, die *Gefühle und Affekte wurden in den Kreis der Untersuchung hinein gezogen. Methoden und Hilfsmittel, Gesichtspunkte und Aufgaben wuchsen. Im Jahr 1879 richtete WILHELM WUNDT in Leipzig ein erstes psychologisches Laboratorium ein, in dem bald aus der ganzen zivilisierten Welt die jungen Forscher zusammenströmten, um sich die neue Arbeitsrichtung anzueignen und nachher in ihrer Heimat anzupflanzen. Gegenwärtig sind in Nordamerika etwa 30 psychologische Institute, soviel wie in ganz Europa, tätig, und Deutschland, das Geburtsland der neuen Wissenschaft, ist leider in ihrer Pflege sehr zurückgeblieben. In Chicago, Ithaka, Cambridge bestehen bereits ganze Häuser von 25-30 Räumen, die zum Betrieb experimentell-psychologischer Untersuchungen mit allen modernen Einrichtungen und mit einer größeren Zahl von Hilfskräften ausgerüstet sind. Auch in Rußland (Moskau) wird demnächst ein solches Institut eröffnet werden. Dort gilt es als ein nobile officium [Ehrenpflicht des Edlen - wp] der Millionäre, die Wissenschaft zu unterstützen. Deutschland dagegen muß sich aus Mangel an Mitteln in der Ausführung seiner Ideen von anderen überflügeln lassen. Und doch handelt es sich hier nicht um graue Theorie allein, was eine solche Zurückhaltung zu rechtfertigen vermöchte. Es stehen dabei vielmehr sehr praktische Interessen auf dem Spiel. Selbsterkenntnis erschien schon den Alten als eine wichtige Aufgabe des handelnden Menschen und die Erkenntnis fremden Seelenlebens ist die Voraussetzung einer Wirkung auf die Anderen und einer Verständigung mit ihnen. Welch große praktische Bedeutung die moderne Psychologie hat, ersieht man ab Besten aus dem Einfluß, den sie auf Unterricht und Erziehung zu üben beginnt. Die jetzt auch schon in die Schulen eingedrungene experimentelle Pädagogik ist hinsichtlich ihrer Methode eine Anwendung der experimentellen Psychologie. Schon aus diesem Grund wäre es dringend zu wünschen, daß sich die maßgebenden Faktoren mehr als bisher dieser jüngsten und gewiß nicht unwichtigsten Experimentalwissenschaft annähmen und opferwillige und -kräftige Privatleute zur Errichtung und Ausstattung von psychologischen Instituten beitrügen.

Man kann die trotz aller Hemmungen so rasch und glücklich sich vollziehende Ausbildung der modernen Psychologie auch noch unter einen anderen Gesichtspunkt stellen. Eine wichtige Regel für die Entwicklung menschlicher Handlungen - WUNDT hat sie das Prinzip der Heterogonie [Ungleichartigkeit - wp] der Zwecke genannt - besagt, daß die ursprünglichen Ziele und Gesichtspunkte mit den späteren nicht zusammenzufallen brauchen. Neue, unvorhergesehene Wirkungen, die bei der ersten Ausführung einer Handlung auftreten, lassen neue Motive und Absichten bei der späteren Wiederholung entstehen. Auch die Geschichte einer Wissenschaft kann, soweit sie von menschlichen Handlungen abhängig gedacht wird, dieser Regel untergeordnet werden. So zeigt uns die Entwicklung der experimentellen Psychologie, daß die von FECHNER verfolgte Absicht, ein Grundgesetz für die Beziehung zwischen Leib und Seele zu finden, bei der Anwendung seiner Methoden und bei der Bearbeitung der gleichen Tatsachen durch spätere Forscher einem ganz anders gerichteten selbständigen psychologischen Interesse Platz gemacht hat. Nachdem WUNDTs "Grundzüge der physiologischen Psychologie" (1874) die Ziele der neuen Wissenschaft erheblich erweitert und eine umfassende Systematik für sie versucht hatten, wurde seine Eröffnung eines psychologischen Instituts für die Organisation der Forschung auf diesem Gebiet von bahnbrechender Bedeutung. Aber erst STUMPFs "Tonpsychologie" (1883) und EBBINGHAUS' Schrift "Über das Gedächtnis" (1885) haben der experimentellen Arbeit die entscheidende rein psychologische Wendung gegeben.

In dieser letzten Periode unserer Wissenschaft wird das höhere Seelenleben, das Gedächtnis, Gefühl und Wille, die intellektuellen Funktionen und die psychische Aktivität für das Experiment erobert. Die Reize und die durch erregten Empfindungen - für FECHNER die Hauptsache - sind in den Vorhof der eigentlichen Aufgaben und Probleme gedrängt. Man kann diese Wandlung besser illustrieren, als durch die aus dem Ende der achtziger Jahre stammende Untersuchung von MÜLLER und SCHUMANN über die Vergleichung gehobener Gewichte. Schon FECHNER hatte über diesen Gegenstand zahlreiche, rund 25 000 Experimente ausgeführt. Aber das einzige Ziel, das er dabei im Auge hatte, war die Bestätigung des Weberschen Gesetzes, die er zur Grundlage der von ihm gesuchten Beziehung zwischen Leib und Seele brauchte. In der Arbeit von MÜLLER und SCHUMANN dagegen ist der Schwerpunkt völlig verschoben. Nicht um das Webersche Gesetz handelt es sich mehr, es wird nur auf wenigen Seiten von ihnen berücksichtigt, sondern um den Mechanismus der Vergleichung selbst, um die motorischen und sensorischen Einstellungsprozesse, um die Motive, die uns veranlassen, ein Gewicht schwerer als das andere zu finden. Das Urteil über die dargebotenen Reize und die ihm zugrunde liegenden Faktoren sind zum Mittelpunkt des Interesses geworden.

Durch das Eindringen in die Regionen des Erkennens, der Gemütsbewegungen, des Handelns wird zugleich die Beziehung zu denjenigen Wissenschaften fruchtbar, die sich mit dem menschlichen Verhalten beschäftigen, zu den Geisteswissenschaften, Linguistik und Ästhetik, Ethik und Pädagogik, ja sogar Logik und Erkenntnistheorie beginnen sich der modernen Psychologie zu nähern, und die Anwendungen der letzteren sind so verwegen, in Gerichtsverhandlungen und die Geheimnisse des künstlerischen Schaffens, in das ehrwürdige Problem der Willensfreiheit und in die intimen Vorgänge religiöser Bekehrung und Hingabe, in die Praxis der Erziehung und des Unterrichts und in die Voraussetzungen aller Wissenschaft einiges Licht bringen zu wollen.

II. In diese Entwicklungsphase der experimentellen Psychologie fällt auch die Untersuchung des Denkens, die in Deutschland namentlich im Würzburger Psychologischen Institut gepflegt worden ist.

Es ist dem Denken in der früheren Psychologie meist nicht die genügende Beachtung geschenkt worden. Und die experimentelle Richtung hatte zunächst so viel in dem massiveren Haus der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle Ordnung zu schaffen, daß sie sich erst spät der luftigen Gedanken annehmen konnte. Die robusten Sinnesinhalte der Drücke und Stiche, der Geschmäcke und Gerüche, der Töne und Farben fielen zuerst im Bewußtsein auf, ließen sich am leichtesten wahrnehmen, nächst ihnen die Vorstellungen von ihnen und die Freuden und Leiden. Daß es außerdem noch etwas gab, ohne die anschauliche Beschaffenheit dieser Gebilde, entging dem dafür nicht geschulten Auge der Forscher. Von der naturwissenschaftlichen Erfahrung her waren sie auf Sinnesreize und Empfindungen, auf Nachbilder, Kontrasterscheinungen und phantastische Veränderungen der Wirklichkeit eingerichtet. Was einen solchen Charakter nicht an sich trug, schien einfach nicht vorhanden zu sein. Und so haben dann auch die ersten experimentellen Psychologen, die über die Bedeutungen von Worten Versuche angestellt haben, nur dann etwas angeben können, wenn anschauliche Repräsentanten oder Begleitphänomene auftraten. In anderen zahlreichen Fällen, namentlich wenn die Worte Abstraktes oder Allgemeines bezeichneten, hatte man "nichts" gefunden. Daß ein Wort verstanden werden konnte, ohne Vorstellungen auszulösen, daß ein Satz begriffen und beurteilt werden konnte, obwohl nur seine Laute im Bewußtsein nachweisbar zu sein schienen, gab diesen Psychologen keine Veranlassung, unanschauliche Inhalte neben anschaulichen anzunehmen und festzustellen.

Das hier berührte Vorurteil ist älteren Datums. Schon ARISTOTELES hatte erklärt, daß es keine Gedanken ohne ein Bild gibt und daran hatte man in der Scholastik festgehalten. Die von PLATON wiederholt vollzogene Trennung der Wahrnehmung und des Denkens, der Sinnesdinge und der Gedankendinge war psychologisch nicht weiter verfolgt worden. Die Neuzeit fand Worte, nichts als Worte, wenn die Anschauung fehlte, die ihnen vermeintlich erst Sinn und Verstand gab. In der Pädagogik eines PESTALOZZI und HERBART wurde die Anschauung als das ABC aller geistigen Entwicklung gewürdigt. KANT nannte die Begriffe ohne Anschauungen leer, und SCHOPENHAUER wollte auch die ganze Mathematik auf die letzteren gründen und die Beweise [momend] aus der Geometrie verbannen. Dazu gesellte sich eine ähnliche Auffassung in der Poetik. Die Wortkunst sollte nur durch Bilder wirken können: je mehr sie sich bemühte, nach der Losung des HORAZ der Malerei zu gleichen, mit dem Pinsel der Anschauung darzustellen, umso vollkommener schien sie ihre Mission zu erfüllen. Und so stand die Gedankendichtung nicht hoch im ästhetischen Kurs. Als bedenkliche Gattung, nur durch die Anwendung von Bildern allenfalls erträglich, ist sie von vielen Dichtern und Ästhetikern beurteilt worden.

Was uns schließlich in der Psychologie zu einer anderen Theorie geführt hat, ist die systematische Anwendung der Selbstbeobachtung gewesen. Früher war es üblich, nicht nach jedem Versuch über alle Erlebnisse während desselben Bericht erstatten zu lassen, sondern gelegentliche Aussagen der Versuchspersonen über auffällige oder abnorme Erscheinungen einzuholen und sich etwa erst nach einer ganzen Reihe eine zusammenfassende Auskunft über die noch erinnerten Hauptsachen zu erbitten. So trat nur das Gröbste ans Licht. Auch verhinderte der Anschluß an die herkömmlichen Begrife der Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen ein Bemerken und Benennen dessen, was weder Empfindung noch Gefühl noch Vorstellung war. Sobald man nun anfing, in der Selbstbeobachtung geübte Personen über die Erlebnisse eines Versuchs unmittelbar nach dessen Ablauf eine vollständige und unbefangene Mitteilung machen zu lassen, wurde die Notwendigkeit einer Erweiterung der bisherigen Begriffe und Bestimmungen offensichtlich. Man entdeckte in sich Vorgänge, Zustände, Richtungen, Akte, die sich dem Schema der älteren Psychologie nicht fügten. Die Versuchspersonen begannen in der Sprache des Lebens zu reden und den Vorstellungen nur eine untergeordnete Bedeutung für ihre Innenwelt beizulegen. Sie wußten und dachten, urteilten und verstanden, ergriffen den Sinn und deuteten die Zusammenhänge, ohne eine wirkliche Unterstützung durch gelegentlich auftauchende Versinnlichungen dabei zu erhalten. Nehmen wir ein paar Beispiele: Die Versuchsperson wird gefragt: Verstehen Sie den Satz: "Das Gold, sobald es hat erkannt den Edelstein, ehrt seinen höheren Glanz und faßt ihn dienstbar ein?" Sie gibt nach zu Protokoll: "Erst war ich überrascht durch die Hervorhebung des Wortes Gold. Das Verständnis war gleich da, geringe Schwierigkeit bereitete nur das Wort erkannt. Dann kam mir der Gedanke einer ganz allgemeinen Übertragung auf menschliche Verhältnisse, in der das Wissen von einer Wertordnung lag. Zum Schluß hatte ich noch etwas wie einen Ausblick auf unendliche Möglichkeiten von Anwendungen dieses Bildes." - Hier wird ein Prozeß des Verstehens beschrieben, der ohne Vorstellungen, auch ohne ein mehr als fragmentarisches inneres Sprechen vor sich geht. Es wäre auch nicht zu fassen, wie durch sinnliche Bewußtseinsinhalte oder bloße Worte ein Wissen von einer Wertordnung oder ein Ausblick auf unendliche Möglichkeiten sollte zustande kommen können. Oder ein anderes Beispiel: Verstehen Sie den Satz: "Das Denken ist so außerordentlich schwer, daß manche es vorziehen zu urteilen." Das Protokoll lautet: "Ich wußte gleich nach der Beendigung des Satzes, worauf es ankommt. Doch war der Gedanke noch ganz unklar. Um zur Klarheit zu kommen, wiederholte ich den Satz langsam, und, als ich damit fertig war, war auch der Gedanke klar, den ich jetzt so wiedergeben kann: Urteilen heißt hier gedankenloses Sprechen und Fertigsein mit der Sache im Gegensatz zum Selbstsuchen des Denkens. Außer den gehörten und von mir dann reproduzierten Worten des Satzes war nichts Vorstellungsmäßiges im Bewußtsein." - Auch hier ein nicht ganz einfacher Prozeß anschauungslosen Denkens. Und bezeichnend ist, daß beide Versuchspersonen erklärt haben, gerade so ginge das Verstehen auch sonst bei schwierigen Sätzen vor sich. Es ist also kein künstliches Produkt des Laboratoriums, sondern das blühende Leben der Wirklichkeit, das diese Versuche offenbart haben. Wir wissen nun eine Fülle von Beispielen aus der alltäglichen Erfahrung anzuführen, die gerade so ein Denken enthalten hatten. Man lese oder höre: "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen." Oder: "Mein Gedächtnis und mein Stolz kämpfen miteinander. Mein Gedächtnis sagt: Du hast es getan, mein Stolz sagt: Du kannst es nicht getan haben. Schließlich gibt das Gedächtnis nach." Oder: "Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort." Oder das Wort HEGELs: "Die Lorbeeren des bloßen Wollens sind trockene Blätter, die niemals gegrünt haben." - Wer erlebt hier Vorstellungen, und wem sind solche Vorstellungen die Grundlagen, die unumgänglichen Bedingungen des Verständnisses? Und wer möchte behaupten, daß die Worte allein genügen, um den Sinn zu repräsentieren? Nein, solche Fälle geben den Nachweis für die Existenz unanschaulicher Bewußtseinsinhate, speziell der Gedanken.

Gibt es aber Gedanken, die von Vorstellungen der Farben und Töne, der Wälder und Gärten, der Menschen und Tiere verschieden sind, so wird auch in ihrem Verhalten, in ihren Formen, in ihrem Verlauf ein solcher Unterschied bestehen. Wir wissen, welche Gesetzmäßigkeit die Vorstellungen beherrscht. Jedermann spricht von der Assoziation und Reproduktion, vom Auftauchen einer Vorstellung, von der Anregung durch andere, von der Verbindung mit anderen. Wir erlernen ein Gedicht oder prägen uns Vokabeln ein. Hier genügt nicht das Wissen vom Inhalt, die Kenntnis der Bedeutung, wir müssen Wort für Wort erlernen, um das Ganze später sinnlich getreu wiedergeben zu können. Wir stiften feste Assoziationen zwischen den aufeinanderfolgenden oder zueinander gehörenden Gliedern eines Gedichts, bzw. der Vokabelreihe, und wir bedürfen dazu einer längeren Zeit und einer größeren Zahl von Wiederholungen. Sind die Gedanken nichts anderes als Vorstellungen, so müßte dieselbe Mühseligkeit auch bei ihrer Einprägung herrschen. Eine Vergegenwärtigung der Art, wie wir uns den Sinn eines Gedichts aneignen, zeigt alsbald, daß es sich hier ganz anders verhält. Ein aufmerksames Durchlesen genügt vielfach, um den Gedankeninhalt wiedergeben zu können. Und so schreiten wir bei rein geistiger Aufnahme zu so umfassenden Leistungen fort, wie zur Produktion dessen, was eine Predigt, ein Vortrag, eine dramatische Aufführung, ein Roman oder ein wissenschaftliches Werk und ein längeres Gespräch an Gedanken enthalten haben. Wie unabhängig wir dabei vom Wortlaut sind, erfahren wir nicht selten zu unserem Leidwesen. Wir möchten manchmal so gern noch einen treffenden Ausdruck, die prägnante Form eines Satzes, ein hübsches Bild treu reproduzieren können. Aber obwohl uns der Sinn des Gesagten noch ganz geläufig ist, bringen wir seine Fassung nicht mehr zusammen.

Besonders schön haben BÜHLERs Versuche über Gedankenpaare den Nachweis geliefert, daß deren Assoziation ungleich rascher und dauerhafter gebildet wird, als etwa die von Vokabeln. Wer möchte sich getrauen, nach einmaligem Anhören einer Reihe von 20-30 Vokabeln nachher alle zu wissen, d. h. auf die beliebige Nennung eines Gliedes richtig und prompt mit dem anderen Wort antworten zu können. Wir würden von einem Gedächtniskünstler, einem Phänomen reden, wenn jemand das zustande brächte. Experimente über Gedankenpaare haben gelehrt, daß es hier unter ähnlichen Bedingungen sehr wohl möglich ist, zu diesem Ziel zu gelangen. Eine solche Reihe sei mit folgenden Ausdrücken angedeutet:
    1. Selbstbewußtsein und Leistung - die Geistesarmut des Naturalismus.

    2. Bevölkerungszunahme der Neuzeit - die Rassenkämpfe der Zukunft.

    3. Die moderne Maschine - der Phaetonsflug [flog so hoch in den Himmel, daß er vermeinte, selbst Gott zu sein - wp] des menschlichen Geistes.

    4. Die adelnde Macht des Gedankens - das Bildnis Kants.

    5. Das Wesen der Sprache - Maler und Gemälde.

    6. Deutschlands Kolonien - der Dichter bei der Weltverteilung.

    7. Napoleon und Königin Luise - der geniale Barbar.

    8. Der Einzelne und die Gesellschaft - Selbstbeschränkung ist Freiheit.

    9. Wissen ist Macht - die Herrschaft über die Natur.

    10. Die Grenze des Fernrohrs - die Unendlichkeit des Universums.
Die Aufgabe bei solchen Versuchen besteht darin, eine gedankliche Verbindung zwischen zwei Gliedern dieser Paare herzustellen, während sie langsam vorgelesen werden. Und es ist erstaunlich, wie leicht das gelingt, und wie nachhaltig es wirkt. Noch am andern Tag kann eine solche Reihe fehlerlos reproduziert werden. Von besonderem Interesse ist es dabei wieder, daß zuweilen die Worte anders lauten, oder daß der Sinn des anderen Gliedes bekannt ist, aber der Ausdruck dafür nicht gleich gefunden werden kann.

Während wir hier noch mit einem gewissen Recht von Assoziationen sprechen können, weil die zugehörigen Glieder zusammen dargeboten wurden, fehlt diese Bedingung aller Vorstellungsverbindung bei anderen Versuchen. Oft denken wir ja an ganz entfernte Glieder zurück oder voraus, wenn wir ein uns bekanntes Buch lesen oder einen Vortrag hören. Der eine Gedanke weckt den anderen, ohne daß beide vorher zusammen gegeben waren. Auf diese Tatsache haben die jetzt zu besprechenden Experimente gebaut. Sie geben 15 Sätze oder Satzteile und nach einer Erholungspause, die durch ein kurzes Gespräch ausgefüllt wurde, eine zweite Reihe von Sätzen oder Satzteilen, die dem Sinn nach unvollständig sind. Die Versuchsperson wird aufgefordert, die letzteren Glied für Glied durch die zugehörigen Bestandteile der Vorreihe zu ergänzen.
    I. 1. Besser auf des Berges Gipfeln mit den wilden Tieren weilen -
    2. Wer sich ganz dem Dank entzieht -
    3. Des Orpheus Leier hat mehr getan, als des Herkules Keule -
    4. Je großartiger und sittlicher ein Charakter ist -
    5. Stecke dich nicht zwischen Vettern und Freunde -

    II. 4. - Desto einfacher und klarer sind auch seine Situationen, seine Beziehungen zur Welt.
    2. - Er wird es in sein Schuldbuch schreiben und dir nicht lange im Debet bleiben.
    1. - Als des Paradieses Hallen mit den dummen Menschen teilen.
    5. - Sonst klemmst du dich.
    3. - Sie machte Unmenschen zu Menschen.
Hier haben wir nur fünf aufeinander angewiesene Gedankenteile vorgeführt. (2) Die Versuche ergaben eine volle Bestätigung der Erwartung, daß nämlich auch in diesem Fall, wo die zugehörigen Glieder voneinander mehr oder weniger weit getrennt sind, eine gedankliche Rückbeziehung auf die Vorreihe möglich war. Das widerspricht dem Assoziationsgesetz, dem für Vorstellungen gültigen Sachverhalt. Und so ergibt sich aus diesen Versuchen nicht nur ein ungewöhnlich leichtes Aufnehmen und Behalten von einzelnen Gedanken, sondern auch eine Verknüpfbarkeit derselben miteinander, die sich keiner mechanischen Einprägungsregel fügen will.

BÜHLER hat die Versuche dann noch freier gestaltet. Jede besondere Veranlassung, an ein Glied einer Vorreihe zu denken, konnte ja ausgeschaltet werden, wenn keine Aufgabe in dieser Richtung gestellt wurde. Dazu mußte jeder Satz ein Ganzes für sich bilden und nur eine gedankliche Beziehung zu einem späteren Satz tatsächlich haben. Dazwischen wurden sogenannte Vexierversuche eingeschoben, d. h. Sätze, die ohne solche Beziehungen waren (3). Die Versuchspersonen sollten selbst auf die früheren Sätze kommen, wenn der spätere Gedanke sie nahelegte. Zum Beispiel:
    I. 1. Wer von seiner Zeit angefeindet wird, ist nicht weit genug über sie hinaus oder hinter ihr zurück.
    2. Gemahlen Korn gibt keine Ernte.
    3. Wenn die Herren vom Rathaus kommen, sind sie am klügsten.

    II. X. Der wahre Freund der Wahrheit ruft, wenn er widerlegt wird, freudig aus: Gott sei Dank, ich bin einer großen Gefahr entronnen.
    2. Eier in der Pfanne geben Kuchen, aber keine Küken.
    3. Nachher weiß jeder, wie man hätte ausspielen müssen.
    X. Kluger Dieb hält sein Nest rein.
    1. Als Schaffender hörst du auf, dein Zeitgenosse zu sein.
In diesen Versuchen drängten sich der Versuchsperson, die gar nicht wußte, welchem Zweck die Experimente dienen, mit großer Nachdrücklichkeit und Sicherheit die entsprechende, ähnlich oder gleiche Gedanken enthaltenen Sätze der Vorreihe auf. Wiederum wurde der Wortlaut oft ganz frei wiedergegeben, aber der Sinn mit voller Klarheit erfaßt und bezeichnet. Das Zurückgreifen auf die früheren Sätze geschieht mit derselben Unwillkürlichkeit, die wir bei der Lektüre oder in der Unterhaltung zu üben pflegen, wo wir uns nicht selten fragen: in welchem Zusammenhang stand doch der Inhalt dieser Bemerkung mit unseren vorigen Ausführungen, oder: kam nicht schon früher etwas Ähnliches vor?

III. Es ist bezeichnend, daß eines der ersten Ergebnisse unserer Denkpsychologie negativ war: die vom bisherigen Begriffsmaterial der experimentellen Psychologie zur Verfügung gestellten Termini der Empfindung, des Gefühls, der Vorstellung und ihrer Verbindungen gestatteten nicht, die intellektuellen Prozesse zu fassen und zu bestimmen. Aber auch der neue, durch die Beobachtung der Tatsachen aufgezwungene, mehr eine Umschreibung als eine Beschreibung ermöglichende Begriff der Bewußtseinslage reichte dafür nicht aus. Schon die Untersuchung primitiver Leistungen des Denkens zeigte alsbald, daß auch Unanschauliches gewußt werden kann, daß die Selbstbeobachtung ungleich der Naturbeobachtung wahrzunehmen, als vorhanden und in einer bestimmten Beschaffenheit ausgeprägt festzustellen vermag, was weder farbig noch tönend, was weder bildhaft noch gefühlsmäßig gegeben ist. Die Bedeutungen abstrakter und allgemeiner Ausdrücke sind auch dann im Bewußtsein nachweisbar, wenn sich außer den Worten nichts Anschauliches entdecken läßt, und werden selbst ohne Worte oder andere Zeichen erlebt und vergegenwärtigt. Der neue Begriff der Bewußtheit brachte diese Tatsachen zum Ausdruck. So wurde das starre Schema der bisher allein anerkannten Elemente des Seelenlebens in einer wichtigen Richtung erweitert.

Die experimentelle Psychologie ist damit vor neue Erfahrungen gestellt, die nach allen Seiten große Perspektiven eröffnen. Zu den anschaulichen Tatbeständen gehören nicht nur gewußte, gemeinte, gedachte Gegenstände mit ihren Beschaffenheiten und Beziehungen, sondern auch Sachverhalte, die sich in Urteilen ausdrücken lassen, und die mannigfachen Betätigungen, die Akte oder Funktionen, mit denen wir zu den gegebenen Bewußtseinsinhalten Stellung nehmen, sie ordnen und bestimmen, sie anerkennen oder verwerfen. Konnte man sich aufgrund der Empfindungs- und Vorstellungslehre eine Mosaikstruktur des Seelenlebens und eine automatische Gesetzmäßigkeit im Kommen und Gehen der Bewußtseinselemente zurechtlegen, so war jetzt einer solchen Vereinfachung und Anlehnung an chemische Analogien der Boden entzogen. Nur noch als künstliche Abstraktionen, als willkürlich herausgelöste und verselbständigte Bestandteile konnten die anschaulich gegebenen Inhalte gelten. Innerhalb eines vollen Bewußtseins aber wurden auch sie zu Teilerscheinungen, von Auffassungseinflüssen verschiedener Art abhängig und in einen Zusammenhang geistiger Prozesse gestellt, der ihnen erst Sinn und Wert für das erlebende Subjekt verlieh. So wenig das Wahrnehmen als ein bloßes Haben von Empfindungen charakterisiert werden konnte, so wenig war das Denken als ein assoziativer Ablauf von Vorstellungen zu begreifen. Die Assoziationspsychologie, wie sie von HUME begründet worden war, hatte ihre Alleinherrschaft eingebüßt.

Die Unabhängigkeit der Gedanken von den Zeichen, in denen wir sie ausdrücken, ebenso wie die eigentümlichen, freien, von den Gesetzen der Vorstellungsassoziation nicht beeinflußten Beziehungen, die sie miteinander eingehen, haben uns die Selbständigkeit der Gedanken als einer besonderen Klasse von Bewußtseinsinhalten dargelegt. Damit aber erweitert sich nun auch das Gebiet der Selbstbeobachtung in beträchtlichem Umfang. Nicht nur das Anschauliche, Sinnfällige und dessen Beschaffenheiten und Färbungen gehören zu unserem Seelenleben, sondern auch das Gedachte, Gewußte, an dem wir keine Farbe oder Gestalt, keine Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit wahrnehmen können. Wir wissen, wie schon die alltägliche Erfahrung lehrt, daß wir über eine große Spontaneität im Suchen, Aufnehmen und Erfassen von Gegenständen, in der Beschäftigung mit ihnen, in der Wirkung auf sie verfügen. Auch von dieser Aktivität der Seele hatte die Psychologie bisher nur wenig Notiz genommen. F. A. LANGE hatte das Wort von der wissenschaftlichen Psychologie ohne Seele geprägt, in der die Empfindungen und Vorstellungen mit ihren Gefühlstönen die alleinigen Bewußtseinsinhalte sind und die Physiologie darüber zu wachen hat, daß sich keine mystischen Kräfte wie etwa ein Ich in diese psychologische Welt einschleichen. Man dürfte exakterweise nur noch sagen: es denkt, nicht aber: ich denke, und das Spiel eines solchen Denkens bestand in nichts anderem, als in einem durch Assoziationsgesetze geregelten Kommen und Gehen der Vorstellungen. Es gibt noch heute Psychologen, die sich über diesen Standpunkt nicht erhoben haben. Ihnen gilt der Vorwurff, daß ihre Psychologie wirklichkeitsfremd ist, sich in einer abstrakten Region bewegt, den Zugang zur vollen Erfahrung weder sucht noch findet. Sie sind es, die den Vertretern der Geisteswissenschaft, die allenthalben nach einer psychologischen Begründung verlangen, Steine statt des Brotes bieten, und die auch der den Anschluß an die Psychologie erstrebenden Biologie nicht zu raten und zu helfen wissen. Wahrlich ein eigentümliches Schauspiel, daß diejenigen, die ex professo [professionell - wp] ausgehen, das Seelenleben zu erforschen und zu erkennen, an dessen Außenwerken stehen bleiben und sich mit dem HALLERschen Spruch trösten: "ins Inn're der Natur dringt kein erschaff'ner Geist".

Durch die Gedanken haben wir uns den Zugang zur eigentlichen Innenwelt erschlossen, und es ist keine Mystik, die uns dahin geführt hat, sondern die Preisgabe eines Vorurteils. Schon BACON wußte, daß der Weg zur Wahrheit mit Vorurteilen gepflastert ist. Hier stammten sie noch dazu aus der exakten Naturwissenschaft, der in den letzten Jahrzehnten die sinnliche Beobachtung alles gegolten hatte und Begriffe nur Hilfsmittel waren, die in der sinnlichen Erfahrung gegebenen Tatsachen in möglichst einfacher Weise darzustellen. Nun aber waren die Gedanken nicht mehr bloß Zeichen für Empfindungen, sondern selbständige Gebilde und Werte, mit Sicherheit feststellbar, wie irgendein Sinneseindruck, ja viel treuer, dauerhafter und freier als die Bilder, mit denen unser Gedächtnis und unsere Phantasie sonst arbeiten. Aber freilich, sie ließen sich meist nicht so unmittelbar als Gegenstände der Beobachtung betrachten, wie die anschaulichen Dinge. Man machte die Erfahrung, daß sich das Ich nicht trennen ließ. Denken, mit einer gewissen Hingabe und Vertiefung denken und die Gedanken gleichzeitig beobachten - das ließ sich nicht durchführen. Zuerst das eine und dann das andere, so hieß darum die Losung der jungen Denkpsychologie. Und das gelang überraschend gut. Nachdem eine Denkaufgabe gelöst war, wurde der dabei erlebte Prozeß für den rückschauenden Beobachter zum Gegenstand einer eingehenden Feststellung aller seiner Phasen. Durch den Vergleich mit verschiedenen VP [Versuchspersonen - wp] und mit verschiedenen Ergebnissen derselben VP konnte geprüft werden, ob das Verfahren einwandfrei ist. Die große Übereinstimmung unserer denkpsychologischen Arbeiten, die geradezu eine auf der anderen weiterbauen konnten, war eine schöne Bestätigung unserer Ergebnisse. Nun erkannte man abermals, warum die bisher angewandte Beobachtungsweise das Denken und andere Äußerungen unserer Aktivität nicht zu finden wußte. Das Beobachten selbst ist ja ein eigenes Tun, ein mit Hingabe zu übendes Verhalten des Ich. Daneben ist eine andere Betätigung zur gleichen Zeit unausführbar. Unsere psychische Leistungsfähigkeit ist begrenzt, unsere Persönlichkeit ist eine Einheit. Aber nach Ablauf einer Funktion kann jederzeit die Beobachtung einsetzen und sie zum Gegenstand der Selbstwahrnehmung machen. So wurden nun viele Akte wahrgenommen, die für die Psychologie bisher nicht existierten: das Beachten und Erkennen, das Wollen und Verwerfen, das Vergleichen und Unterscheiden und vieles andere. Sie alle entbehrten des anschaulichen Charakters der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle, obwohl sie von solchen begleitet sein konnten. Und es ist bezeichnend für die Hilflosigkeit der früheren Psychologie, daß sie diese Akte durch solche Begleiterscheinen definieren zu können glaubte. So betrachtete sie die Aufmerksamkeit als eine Gruppe von Spannungs- oder Muskelempfindungen, weil die sogenannte gespannte Aufmerksamkeit solche Empfindungen auftreten ließ. Ebenso wurde das Wollen in Bewegungsvorstellungen aufgelöst, weil diese einer äußeren Willenshandlung vorauszugehen pflegten. Diesen Konstruktionen, deren Künstlichkeit sofort einleuchten sollte, war der Boden entzogen, sobald man die Existenz besonderer psychischer Akte eingesehen und damit die Empfindungen und Vorstellungen ihrer Alleinherrschaft im Bewußtsein beraubt hatte.

Mit der Erkenntnis dieser Akte stellte sich bald noch eine wichtige Neuerung ein. Der Schwerpunkt des Seelenlebens mußte sich verschieben. Bisher konnte es heißen: wir sind aufmerksam, weil unsere Augen sich auf einen bestimmten Punkt des Sehfeldes einstellen und die sie in dieser Lage haltenden Muskeln stark gespannt sind. Jetzt wurde uns klar, daß diese Auffassung die Sachlage ganz verkehrt darlegt und daß es vielmehr heißen muß: wir stellen unsere Augen auf einen gewissen Punkt ein und spannen dabei die Muskeln an, weil wir auf ihn achten wollen [intentio]. Die Aktivität wurde zur Hauptsache, die Rezeptivität und der Mechanismus der Vorstellungen zur Nebensache. Die monarchische Einrichtung unseres Bewußtseins tritt zutage. Das Ich sitzt auf dem Thron und vollzieht Regierungsakte. Es bemerkt, nimmt wahr, konstatiert, was in sein Reich eintritt, es beschäftigt sich damit und zieht seine erfahrenen Minister, die Grundsätze und Normen seines Staatswesens, die erworbenen Kenntnisse und Einsichten, die zufälligen Bedürfnisse der Gegenwart zu Rate und beschließt dazu Stellung zu nehmen, den Eindringlich unberücksichtigt zu lassen oder ihm eine verwendbare Form zu geben oder gegen ihn zu reagieren. Und die Sinneseindrücke und Vorstellungen haben im algemeinen volle Veranlassung, die Herrschaft dieses monarchischen Ich als reaktionär und hart und willkürlich zu verurteilen. Dafür halten sie sich im Schlaf schadlos und treiben in den Träumen ihr Unwesen. Sie zeigen dabei allerdings zugleich, was bei einer solchen Anarchie herauskommt. Aber jedem Ich wohnt unaustilgbar eine Selbstherrlichkeit inne, die es in seiner eigenen Sphäre erwirbt und betätigt. Und so begreifen wir, daß es sich nur ungern unterwirft und einem fremden Willen fügt.

Die Akte des Ich stehen nun jederzeit unter Gesichtspunkten oder Aufgaben und werden durch sie zu ihrer Wirksamkeit veranlaßt. Man kann auch sagen: sie dienen einem Zweck, einem selbstgegebenen oder von anderen gesetzten. Das Denken des Theoretikers ist ebensowenig ziellos wie das des Praktikers. Die Psychologen sind es gewohnt, damit zu rechnen. Die VP erhält eine Aufgabe, eine Anweisung, eine Instruktion, unter deren Gesichtspunkt sie sich mit dem ihr zugeführten Reiz zu beschäftigen hat. Sie soll etwa 2 Helligkeiten miteinander vergleichen, auf einen Druck oder Ton eine Bewegung ausführen, ein zugerufenes Wort mit dem erstbesten, das ihr einfällt, rasch beantworten, einen Satz verstehen, einen Schluß vollziehen und dgl. mehr. Alle solche Aufgaben üben, wenn sie willig übernommen und eingeprägt worden sind, eine große bestimmende Kraft auf das Verhalten der VP aus. Man nennt diese Kraft die determinierende Tendenz. Das Ich enthält gewissermaßen eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Reaktionsmöglichkeiten. Soll eine von diesen unter Ausschluß der anderen zur Geltung kommen, so bedarf es einer Determination, einer Auswahl.

Die selbständige Bedeutung der Aufgabe und der von ihr ausgehenden determinierenden Tendenz war der Assoziationspsychologie gleichfalls verhängnisvoll geworden. Eine solche Aufgabe ist kein Reproduktionsmotiv gewöhnlichen Schlages. Sie muß übernommen werden, die VP muß sich dafür einsetzen; sie gibt der Aktivität eines Individuums eine bestimmte Richtung. Aufgaben werden nicht den Empfindungen, Gefühlen und Vorstellungen gestellt, sondern einem Subjekt, dessen geistiges Wesen in diesen Inhalten nicht aufgeht, dessen Spontaneität allein Instruktionen sich anzueignen und durchzuführen vermag. Da nun bei allem Denken solche bestimmenden Gesichtspunkte eine Rolle spielen, da Abstraktion und Kombination, Urteilen und Schließen, Vergleichen und Unterscheiden, das Finden und Herstellen von Beziehungen zu Trägern von determinierenden Tendenzen werden, ist die Psychologie der Aufgabe zu einem wesentlichen Bestandteil der modernen Untersuchung des Denkens geworden. Aber auch sie erwies sich alsbald von einer Tragweite, die das engere Gebiet, auf dem sie ausgebildet wurde, erheblich überschritt. Sind doch keine psychologischen Experimente ohne Aufgaben denkbar! Sie müssen demnach als mindestens ebenso wichtige Versuchsbedingungen gelten, wie die Apparate und die mit ihrer Hilfe ausgeübten Reize. Eine Variation der Aufgabe ist deshalb eine mindestens ebenso wichtige experimentelle Maßnahme, wie die Veränderung äußerer Versuchsumstände.

Diese Bedeutung der Aufgabe und ihrer Wirkungen für die Gestaltung und den Ablauf der psychischen Vorgänge ließ sich nun nicht mit den Hilfsmitteln der Assoziationspsychologie erklären. Vielmehr gelang es ACH zu zeigen, daß selbst Assoziationen von beträchtlicher Stärke durch eine gegenwirkende Aufgabe überwunden werden können. Die Kraft, mit welcher sich eine determinierende Tendenz durchsetzt, ist nicht nur größer als die bekannten Reproduktionstendenz, sie stammt auch aus anderer Quelle und ist bei ihrer Wirksamkeit an assoziative Beziehungen nicht gebunden.

Wir haben den Einfluß der Aufgabe an einfachen Fällen studiert. Die VP sollte z. B. zum Teil das Ganze finden oder zum Artbegriff die Gattung angeben. Es ist nun bei diesen Versuchen durchweg ermittelt worden, daß die Aufgabe von viel größerer Bedeutung für deren Ausfall ist als die einzelnen dargebotenen Reize. Sie ist der ruhende Pol in der Flucht der Erscheinungen. Die Worte wechseln von Versuch zu Versuch, die Aufgabe bleibt wenigstens eine Reihe, eine Versuchsstunde hindurch dieselbe. Sie ist es, die der Betätigung eine bestimmte Richtung anweist. Auf das Wort "Chemie" kann ansich in sehr verschiedener Weise reagiert werden: Man kann die Chemie als Wissenschaft fassen oder ihre Brauchbarkeit für das Leben hervorheben oder an die Elemente und deren Verbindungen denken, von denen sie handelt, usw. Daß sie als Teil aufgefaßt oder einem Ganzen eingeordnet werden soll, ergibt sich nun unter dem Zwang der Determination. Diese brint es mit sich, daß besondere Methoden zur Lösung der gestellten Aufgabe ausgebildet werden. Man kann z. B. ein Ganzes dadurch gewinnen, daß man sich die Umgebung vergegenwärtigt, in der ein Teil vorzukommen pflegt, oder dadurch, daß man einen beliebigen anderen Teil aufsucht und von hier aus zu der zusammenfassenden Gesamtheit vorzudringen strebt. In jedem Fall macht man seine Erfahrungen; die eine Methode ist zweckmäßiger als die andere, führt leichter oder rascher oder sicherer zum Ziel. Danach entscheidet man sich für eine von ihnen, bildet sie aus und wird in ihrer Anwendung geschickt. Wie wenig die Vorstellungsmechanik als solche dabei hilft, kann man oft in geradezu peinlicher Weise beobachten. Es erscheint z. B. das Wort "Brett". Die VP hat die optische Vorstellung eines solchen, kann aber lange Zeit unter großer Spannung kein zugehöriges Ganzes nennen, obwohl sich allerlei Vorstellungen aufdrängen. Endlich sagt sie "Schrank" nach etwas mehr als vier Sekunden. Die der Aufgabe nicht genügenden Vorstellungen hemmen den Ablauf und den Vollzug des eingeleiteten Aktes. Es wird wie eine Befreiung empfunden, wenn sich schließlich ein passendes Wort einstellt. natur kommen gelegentlich Fehler vor: man nennt etwa einen anderen Teil oder eine Gattung statt des Ganzen. Aber die Zahl der Fehler ist relativ klein und beweist darum, wie sehr die determinierende Tendenz den Vorstellungsablauf beeinflußt.

Ein objektiver Ausdruck für die Leistung an einer Aufgabe ist die Zeit, die zu ihrer Lösung verwandt wird. Damit berühren wir das Problem der Geschwindigkeit des Denkens. Früheren Zeiten galt sie als sehr groß. Man denke an LESSINGs Faustfragment. Faust verlangt den schnellsten Geist der Hölle zu seiner Bedienung. Es erscheinen derselben sieben, und in beständiger Steigerung preist jeder von ihnen seine Schnelligkeit an. Der fünfte erklärt er sei so schnell wie die Gedanken des Menschen und Faust, dem eben noch die Geschwindigkeit der Lichtstrahlen zu klein war, findet hier, das sei etwas, aber die Gedanken seien nicht immer schnell, sondern träge, wenn Wahrheit und Tugend sie auffordern. Sie sind nur schnell, wenn man schnell sein will. Wir wissen heute, daß die Geschwindigkeit des Denkens überhaupt nicht sehr groß ist und mit einer Tausendstelsekundenuhr, zuweilen auch schon mit einer Fünftelsekundenuhr bestimmt werden kann. Der Berliner Witz hat sich auch schon des Problems bemächtigt. Er hat die Frage aufgeworfen: was ist schneller als der Gedanke? und darauf die Antwort gefunden: ein Berliner Droschkenpferd. Denn ehe man denkt, es fällt, liegt es schon da. Es bleibt nur ungewiß, ob hier die Schnelligkeit, mit der das Pferd zu Fall kommt, als besonders groß oder die Geschwindigkeit des Gedankens durch den bestialischen Vergleich als recht klein bezeichnet werden soll. Nehmen wir das Letztere an, so steht das in einem guten Einklang mit den Messungen, die wir angestellt haben. So z. B. verlangte die Lösung der Aufgabe, einen übergeordneten Begriff, also eine Gattung zu finden, eine Durchschnittszeit von 1⅕ Sekunden, während die umgekehrte Aufgabe 1½ Sekunden ergab, das Finden des Ganzen wurde in 1⅖ Sekunden absolviert, das Finden des Teils in ungefähr derselben Zeit, am längsten dauerte die Lösung der Aufgabe, einen anderen Teil anzugeben, nämlich fast 2 Sekunden. Die absoluten Werte waren natürlich bei verschiedenen VP verschieden. Selbst bei so einfachen Aufgaben zeigt sich, daß einige rascher zum Ziel gelangen als andere. Aber es scheint das innerhalb der Grenzen unserer Versuche weniger von einem besonders langsamen oder raschen Denken als vielmehr davon abzuhängen, daß die eine VP vorsichtiger und zurückhaltender, die andere unbesonnener und gegen fehlerhafte Lösungen weniger empfindlich ist. Wer sich nicht lange aufhalten will, vor allem das Ende erstrebt, rasch fertig werden möchte, ist eher geneigt, 5 einmal gerade sein zu lassen, als derjenige, dem es besonders darum zu tun ist, die Aufgabe richtig zu lösen. An der relativen Zahl der Felder haben wir einen Ausdruck für dieses Verhalten. Die kürzeren Zeiten einzelner VP sind, wie man aus den Tabellen ersieht, durch verhältnismäßig wenig Fehler erkauft.

IV. Es wären noch mancherlei interessante Tatsachen zu erwähnen, die sich uns aus solchen Untersuchungen ergeben haben. Aber ich möchte lieber noch auf einige Folgerungen eingehen, die sich aus ihnen ziehen lassen. Ich selbst bin durch bestimmte Probleme auf die Beschäftigung mit dem Denken geführt worden. Es fiel mir nämlich auf, daß man Objekte der Außenwelt, wie die Körper oder metaphysische Gegenstände wie die Ideen des PLATON oder die Monaden des LEIBNIZ, unmittelbar denken kann, ohne Vorstellungen von ihnen bilden zu müssen. Ich schloß daraus, daß das Denken nicht nur eine besondere Betätigungsweise unserer Seele sein muß, sondern auch, daß es in einem ganz anderen Verhältnis zu seinen Gegenständen steht, als etwa Empfindungen oder Vorstellungen. Diese erfassen ihre Objekte zweifellos nicht, wie sie ansich sind, sondern in einer vielfältigen Umbildung. Die Vorstellung eines Orgelklangs ist keine treue Wiedergabe, sondern eine qualitative Umgestaltung des Reizes. Luftschwingungen, schwingende Körper - darin besteht der Reiz. Die Gehörsvorstellung aber eines Klanges ist davon gänzlich verschieden. Das Denken dagegen schien das Eine wie das Andere gleich gut erfassen zu können, ohne seine Gegenstände zu ändern. Der Orgelklang bleibt Orgelklang, auch wenn ich nur an ihn denke, und so könnten die Luftschwingungen wohl auch durch ein auf sie gerichtetes Denken so begriffen werden, wie sie von der Physik geschildert werden. Nun ist der gehörte Klang zwar ein Ausgangspunkt für die naturwissenschaftliche Untersuchung des Schalles, aber nicht der reale, objektive Vorgang selbst. Man könnte somit das Denken als das Werkzeug bestimmen, mit dessen Hilfe eine Setzung und Erkenntnis des Realen allein möglich wird. In allen Erfahrungswissenschaften ist man nun auf das Reale und nicht auf unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen von ihm gerichtet. Damit wurde das Denken zu einer psychologischen Voraussetzung für die arbeit in diesen Wissenschaften. Wenn der Jurist auf Indizien gestützt sich den Vorgang eines Verbrechens konstruiert, wenn der Sprachforscher aus gewissen Wandlungen der Laute Gesetze dieses Prozesses ableitet, wenn der Historiker aus den Mitteilungen seiner Quellen die Zustände und Ereignisse der Vergangenheit erschließt, wenn der Astronom die Entfernungen und Bahnen der Weltkörper berechnet, - in allen diesen Fällen wird gedacht und den Ergebnissen des Denkens ein Realitätswert beigelegt. Hiernach lag es nahe zu vermuten, daß dem Denken eine viel größere Bedeutung zukommt, als die herkömmliche Psychologie zugestehen wollte, und die Resultate unserer Versuche haben diese Vermutung vollauf bestätigt.

So ist es für die Erkenntnistheorie namentlich das Problem der Realität, dem die moderne Denkpsychologie entgegenkam. Schon vor der experimentellen Untersuchung des Denkens war besonders von TWARDOWSKI, HUSSERL, FREYTAG nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß der Inhalt des Denkens und sein Gegenstand von einander verschieden sind, und daß es nicht auf sich selbst, sondern auf etwas Transzendentes, außerhalb seiner eigenen Sphäre Liegendes gerichtet ist. Empfindungen und Vorstellungen verhalten sich hierin ganz anders. Das Rot ist zweifellos ein Inhalt der Farbempfindung, in der ich es erfahre, das Bild eines Hauses ist ebenso ein Inhalt der Gesichtsvorstellung, in der es mir gegeben ist. Aber der Quarzkristall, an den ich denke, wenn ich mir einen Fall von hexagonaler Kristallbildung vergegenwärtigen will, ist nicht in gleicher Weise Inhalt des Gedankens, durch den ich ihn mir zu Bewußtsein bringe. Darum liegt im Denken von Gegenständen, die keine Gedanken sind, gar kein Widerspruch, während in der Empfindung einer Farbe, die nicht der Inhalt dieser Empfindung, im Gefühl der Luft, die nicht im Gefühl selbst enthalten wäre, allerdings ein Widerspruch läge. Das Denken kann also auf Gegenstände gerichtet sein, die von ihm selbst wesentlich verschieden sind und durch das Gedachtwerden nicht zu bloßen Inhalten des Denkens oder bloßen Gedanken werden.

Die experimentelle Forschung hat nicht nur diesen Tatbestand sichergestellt, sondern zugleich gezeigt, daß die gedachten Gegenstände von sehr verschiedener Beschaffenheit sein können und darum keine eigentliche Abhängigkeit vom Denken aufweisen. Namentlich kann dieses auf Begriffe und auf Objekte und innerhalb der letzteren auf ideale, reale und wirkliche, d. h. dem Bewußtsein gegebene Objekte gerichtet sein. Darum ist mit der berührten Transzendenz noch keine eindeutige Beziehung auf Reales, sondern nur eine allgemeinere Möglichkeit der Setzung und Bestimmung dieser Gegenstände bezeichnet. Auf alle Fälle aber ist es hiernach verständlich, daß es Objekte für uns geben kann, die mit den Erscheinungen des Bewußtseins nicht zusammenfallen. Und damit ist die in den Realwissenschaften übliche Setzung und Bestimmung von Realitäten zu einer psychologisch greifbaren Operation geworden. Die reale Welt des Naturforschers läßt sich denken und sie läßt sich zugleich nur im Denken erfassen. Dasselbe gilt von den Realitäten des Seelenlebens, der Geisteswissenschaften und der Metaphysik. Es hat zwar nicht an Versuchen gefehlt, in allen Realwissenschaften unmittelbare Wirklichkeiten des Bewußtseins, einfache Erlebnisse den realen Gegenständen zu substituieren. Aber die wissenschaftliche Forschung hat sich durch diese erkenntnistheoretischen, von unrichtigen Annahmen über Wesen und Wert des Denkens geleiteten Bemühungen nicht beirren lassen, und sie findet jetzt in der Denkpsychologie eine feste Stütze für ihr Verfahren der Realisierung.

Aber nicht nur für die Erkenntnistheorie ist die neue Einsicht von großer Tragweite. Auch der Ästhetik kommt sie zugute. Der bereits in die Vergangenheit versinkende Naturalismus unserer Zeit hat auf der Voraussetzung beruth, daß es nur eine anschauliche Wirklichkeit gibt und daß die Kunst ein Spiegel derselben sein muß. So bemühte sich dann die Malerei, das Sichtbare bis in die Einzelheiten seines Bestandes sinnlich getreu wiederzugeben, und die Poesie, den vollen Anschluß an die Tatsachen der Empfindungs- und Vorstellungswelt zu finden. Die Ästhetik der Romantiker, die von Ideen gesprochen hatte, die sich in der sinnlichen Erscheinung offenbarten, wurde zum alten Eisen geworfen. Freilich mußte damit bereits ein Verständnis für das ästhetische Verhalten gegenüber der Natur aufgegeben werden. Die sonnenbeglänzte Wiese mit ihren Frühlingsblumen, der frischgrüne, an ihrem Saum sich hinziehende Wald, die rauchende Hütte auf einer Lichtung, der würzige Duft, der aus den Blüten hervorströmt, all das wird doch nicht bloß gesehen und gerochen, sondern läßt auch Gedanken von Wachstum und Gedeihen, von erhaltender, treibender Kraft und freier Entwicklung durch unsere Seele ziehen. Die ästhetische Stimmung, in die wir angesichts der anschaulichen Wirklichkeit geraten, ist mindestens ebensosehr durch diese Gedanken, wie durch den bloßen Augenschein veranlaßt. ganz besonders verhängnisvoll aber mußte die Forderung der Anschaulichkeit auf die Ästhetik der Musik und der Dichtkunst einwirken. Dort führte sie zur Verwerfung oder Geringschätzung der Musik ohne Text. Die absolute, auf sich selbst gestellte Musik, die noch einem SCHOPENHAUER als die tiefste aller Künste erschienen war, wurde als tönende Form, als bloßer Klingklang verurteilt. Erst die Oper, das Musikdrama oder die Programmmusik konnten den Tönen den Anschluß an die Anschauung und damit Gehalt vermitteln. Seine größten Triumphe feierte der Naturalismus in der Poesie, deren Material ja förmlich dazu geschaffen schien, Gedanken auszudrücken. Roman, Drama, Schauspielkunst wetteiferten in der Erfüllung der Forderung anschaulicher Treue. Das bloße Sehen und Hören sollte genügen, den vollen Eindruck zu erwecken, Ideen, wenn auch nur in schüchterner Perspektive, waren verpönt.

Gerade für die Poesie kann nun der Nachweis, daß Gedanken in sie eingehen, leicht erbracht werden. Man braucht bloß an die Beobachtung eines Lesenden und Hörenden zu appellieren. Wir wissen nicht selten, was gemeint ist, wir haben ein Verständnis für die dargestellten Situationen, Handlungen und Charaktere, ohne mehr als nur gelegentlich eine anschauliche Ausmalung derselben zu versuchen. Schon im 18. Jahrhundert erkannte man, daß sich die Forderung voller Veranschaulichung nicht erfüllen ließ, daß die bildhaften Vorstellungen, die sich beim Lesen oder Hören poetischer Werke entwickeln, weit entfernt davon sind, einem wirklichen Gemälde zu gleichen. Es ist nun bemerkenswert, daß zur Zeit der Anfänge der neuen Denkpsychologie ein anregendes Buch von THEODOR A. MEYER über das Stilgesetz der Poesie erschien, in dem mit jenem horazischen Grundsatz unabhängig von aller experimentellen Psychologie energisch aufgeräumt wurde. Hier wird bereits aufgrund von Beobachtungen gezeigt, daß wir uns beim Genuß poetischer Darstellungen vielfach mit einem bloßen Wissen um die bezeichneten Gegenstände begnügen, ohne sie uns anschaulich zu vergegenwärtigen.

Die Diskussion über dieses Problem hat mit Recht hervorgehoben, daß die besonderen Reize anschaulicher Schilderungen nicht über sehen werden dürfen. Sie wird auch noch zu der Hauptfrage Stellung nehmen müssen, inwiefern unanschauliche Gegenstände ästhetische Wirkungen ausüben können. Aber soviel dürfte jetzt kaum mehr zu bestreiten sein, daß überhaupt poetische Darstellungen Unanschauliches, Gedankliches, Allgemeines enthalten, und daß diese Bestandteile gelegentlich besonders hervortreten und nirgends schlechthin als störende oder unpassende oder gleichgültige Faktoren beurteilt werden dürfen. Die moderne Denkpsychologie lehrt uns diese Tatsache begreifen. Sie zeigt die Möglichkeit solcher Einschlüsse auf, und sie läßt damit die Gedankenpoesie, die Bedeutung der Ideen zu ihrem Recht kommen. Von hier aus wird es auch bei den anderen, an unsere Sinne unmittelbarer appellierenden Künsten verständlich erscheinen, daß Wissen und Deuten, Tiefsinn und symbolischer Gehalt, eine Fülle von nur unanschaulich erfaßbaren Momenten in das Verhalten zu ihnen eingehen können, ohne die ästhetische Wirkung zu beeinträchtigen. Zweifellos sind vielmehr die kontemplative Stimmung, in die wir angesichts eines Bildes oder einer Landschaft geraten und der Eindruck des Schönen oder Erhabenen durch die Gedanken, die sie auslösen, mitbestimmt.

MEYER hat mit Recht gesagt, daß die Sprache durch ihren Verzicht auf die Erzeugung einzelner Bilder eine wunderbare Abbreviatur [Abkürzung - wp] der Wirklichkeit, die sie darstellt, geworden ist. Sie breitet vor uns das Buch der Sinnenwelt aus in einer Schrift, die gedrängter ist als die schnellste Schnellschrift. Dadurch werden Vereinfachung und Kräfteersparnis ohnegleichen herbeigeführt. Die Gedanken fassen einen weitschichtigen und detaillierten Stoff zusammen. Mit ihrer Hilfe beherrscht man den dargebotenen Gegenstand, rückt Auseinanderliegendes aneinander, läßt Unwesentliches, Verwirrendes, Ablenkendes fort und vermag das Wichtigste und Wirksamste auszuwählen. Das Verständnis gleitet gewissermaßen von Höhepunkt zu Höhepunkt unaufgehalten dahin und schwebt über einem trägen, schwerfälligen und niemals vollgültigen Anschauungsbild. Die Wirkung wird nicht nur durch die Vorstellungen der Erinnerung und Phantasie, sondern auch durch die Bedeutung getragen, die wir den gehörten und gelesenen Worten beilegen. Nur so begreift es sich, daß die Lektüre in einer stillen Kammer einen so starken, erschütternden Eindruck hervorzurufen vermag, obwohl die aufgeregte Hast, mit der die Seiten durchflogen werden, für die Anregung und Entwicklung von anschaulichen Vergegenwärtigungen des Inhalts keine genügende Zeit läßt. Und selbst wenn solche Bilder hinzukommen, bedarf es der Deutung, der Ordnung, der gedanklichen Durchdringung, um ihnen eine Beziehung zum Gelesenen und eine entsprechende Wirkung zu verleihen. Will daher die Poesie den eigentümlichen Vorteil, den ihr Darstellungsmittel bietet, nicht mutwillig preisgeben, so muß sie auf Gedanken rechnen, Ideen prägen, vom Geist zum Geiste reden.

Auch zur Logik hat die moderne Denkpsychologie ein natürliches Verhältnis angebahnt. Das Schema der Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle mußte es unmöglich machen, die logischen Gebilde und Operationen zum Bewußtsein in eine verständliche Beziehung zu bringen. Haben wir keine anderen Erlebnisse in uns zu beobachten als diese, so lassen sich weder Begriffe noch Urteile, weder Schlüsse noch Beweise als Bewußtseinsvorgänge aufzeigen. Ein Psychologismus war für die Logik von der früheren Systematik der experimentellen Psychologie darum sicherlich nicht zu befürchten. Die Kluft war, wie MARBEs Untersuchungen über das Urteil dargelegt haben, so tief und unüberbrückbar wie nur möglich. Die weitere Entwicklung der Denkpsychologie aber wies uns den Weg, auf dem die logischen Formen und Verfahrensweisen erlebt und verwirklicht werden. Auch jetzt bleiben Logik und Psychologie verschiedene Wissenschaften. Das reine, normgemäße Denken, das in jener vorausgesetzt wird, fällt mit dem empirischen, das die Psychologie vorfindet und erforscht, nicht zusammen. Die phänomenologische Methode einer Vergegenwärtigung und einer aufgrund derselben erfolgenden Erkenntnis der logischen Gebilde ist kaum weniger abweichend von der psychologischen Untersuchung der diesen Gebilden entsprechenden Erlebnisse, als die transzendentale Methode einer Analyse der in der Wissenschaft zur Geltung gekommenen logischen Grundsätze und Zusammenhänge. Aber wir können jetzt wenigstens die individuelle Bewußtseinsform angeben, in der die Regeln der Logik befolgt oder die Wahrheit und Richtigkeit von Behauptungen beurteilt werden. Wir können feststellen, daß und wie Begriffe und Aussagen psychisch repräsentiert sind. Wir können die Arbeit des nach logischen Gesichtspunkten darstellenden Forschers psychologisch analysieren und in angemessenen psychologischen Ausdrücken schildern.

Selbstverständlich haben nicht nur die Realwissenschaften, sondern auch alle anderen Disziplinen ihre psychologische Begreiflichkeit zu einem guten Teil der modernen Denkpsychologie zu verdanken. Denn es gibt keine Wissenschaft, deren Vertreter sich nicht des Denkens in seinen mannigfachen Formen bedienen, um ihre Gegenstände zu bearbeiten. Es beginnt eine reizvolle Aufgabe zu werden, der Verschwiegenheit der Denkprozesse innerhalb der verschiedenen Wissenschaften nachzugehen und die individuellen Kunstgriffe von den im Wesen einer wissenschaftlichen Beschäftigung selbst liegenden Methoden zu trennen. Die von uns in dieser Richtung eingeleitete Ausgestaltung der Denkpsychologie verspricht den Zusammenhang aufzuklären, der schon für die alltägliche Erfahrung zwischen der Wahl einer Wissenschaft und einer gewissen Richtung und Betätigungsweise des wählenden Geistes besteht. Sicherlich spielen die hier vorliegenden Begabungsunterschiede für die Bestimmung des Berufs eine weit größere Rolle als die Vorstellungstypen.

Damit haben wir bereits einen Schritt in das Gebiet getan, dessen Beziehung zur modernen Denkpsychologie besonderes Interesse erregt, in die Pädagogik. Diese hat zu Anfang der Neuzeit einen erfolgreichen Kampf gegen den Verbalismus und Traditionalismus des Mittelalters geführt und sich seitdem in ihren hervorragendsten Vertretern auf den Boden des Anschauungsprinzips gestellt. Alle Gegenstände, von denen in der Schule gehandelt wird, sollen hiernach in Sinneswahrnehmungen oder -vorstellungen, d. h. eben in Anschauungen den Lernenden gegenwärtig werden. Das Unanschauliche wird gern mit dem Unbestimmten, Unklaren zusammengeworfen. Auch wo man genötigt ist, abstrakte Bestimmungen zu bringen und einzuprägen, sollen Beispiele, Bilder, Vergleiche anschaulicher Art als Grundlagen benutzt werden. Man scheute dabei nicht vor bedenklichen Konsequenzen zurück. Nach einer Schulordnung von 1642 sollen die praeceptores [Lehrer, Erzieher - wp] die Gelegenheit nehmen, wann irgendein Schwein oder sonst ein Tier geschlachtet wird, daß sie alsdann die Kinder dazuführen.

Wir haben die Wurzeln dieses innerhalb gewisser Grenzen wohlberechtigten und heilsamen Prinzips hier nicht aufzugraben und bloßzulegen. Aber wir müssen vom Standpunkt der Denkpsychologie seinen Übertreibungen entgegentreten. Es übersieht zunächst, daß auch in der Anschauung ein Denken wirksam wird, eine Beziehung auf Gegenstände, eine Bestimmung von Eigenschaften, eine Abstraktion und Ordnung, eine Kombination und Deutung. Es verkennt ferner, daß das Unanschauliche nicht unbestimmt und unklar zu sein braucht, sondern, wie die wohldefinierten Begriffe zeigen, in größter Schärfe und Präzision faßbar ist. Es läßt die Tatsache sodann außer Acht, daß nicht alle Gegenstände anschaulich darstellbar sind. Die Objekte der Natur, die historischen Ereignisse und Persönlichkeiten, die mathematischen Beziehungen, die Glaubensobjekte der Religion sind ja nur in einer Annäherung oder symbolisch für die Anschauung vorhanden, ihr eigentliches Wesen läßt sich nur im Denken vergegenwärtigen. Vergleiche, Bilder und Beispiele erschöpfen die gemeinten Gegenstände in diesen und anderen Fällen niemals und führen leicht ab und in die Irre. Die allgemeine Forderung einer Veranschaulichung droht endlich eine Vernachlässigung der logischen Gesichtspunkte herbeizuführen. An den zahlreichen Schüleraufsätzen, Promotionsschriften, Prüfungsarbeiten, die wir Lehrende zu lesen haben, fällt uns oft mehr eine logische Ungeschicklichkeit in der Begriffsbestimmung, in der Disposition des Stoffes, in der Begründung und in der Beurteilung auf, als ein mißglücktes Bild oder ein Mangel an Beispielen. Die logische Ordnung und Durchdringung eines gegebenen Materials, die Konsequenz in der Beweisführung, die Treffsicherheit in der Kritik gedanklicher Zusammenhänge bedürfen auch der Übung. Hat man neulich eine besondere formale Schulung des Gedächtnisses verlangt, so wird man auch auf die früher vielfach zur Anwendung gekommenen Übungen im Definieren, Einteilen, Schließen usw. zur Ergänzung der Anschauungsbildung empfehlend hinweisen dürfen.

Noch in einer anderen Richtung kann die Denkpsychologie für die Pädagogik fruchtbar werden. Wir hatten oben von den determinierenden Tendenzen gesprochen. Sie bilden, wie kürzlich auch von pädagogsischer Seite (MESSMER) bereits betont worden ist, für die Erziehung eine wichtige Tatsache. Alle Willenskraft und Pflichterfüllung ist vornehmlich an die Festigkeit und Stärke dieser Tendenzen gebunden. Zur Pflicht wird psychologisch gesprochen jede von uns übernommene Aufgabe. Die Determinationsenergie, mit der sie auf den Ablauf innerer und äußerer Handlungen einzuwirken vermag, bestimmt deren Pflichtmäßigkeit. Die psychophysischen Leistungen können ihr dienstbar werden, Hemmungen und Widerstände zufälliger Art, ja selbst gewohnheitsmäßige Antagonisten lassen sich durch sie überwinden. ACH hat nun nicht nur individuelle Unterschiede in der Größe dieser Energie feststellen können, sondern auch Übungsfortschritte in ihrer Herrschaft über den Mechanismus des psychophysischen Geschehens beobachtet. Wer daher bei einem Zögling starke sittliche determinierende Tendenzen auszubilden vermag, wird ihn widerstandsfähig gegen Versuchungen und Ablenkungen, konsequent im Verfolgen seiner Ziele beim Denken und Handeln un in der Selbstbeherrschung tüchtig machen können. Zuverlässigkeit im Halten von Versprechungen, Vertrauenswürdigkeit in der Führung des Berufs, Festigkeit des Charakters in den Wirrnissen und Anfechtungen des Lebens beruhen auf starken und dauerhaften ethischen Determinationen. Schon HERBART hat die Charakterbildung als das Ziel der Erziehung bestimmt. Die moderne Psychologie läßt die Prozesse, die dazu führen, genauer erkennen und weist damit die Wege, die zur Erreichung dieses Ziels einzuschlagen sind.

Diese Psychologie scheint endlich auch die Bahn für eine Veränderung unserer Weltanschauung zu eröffnen. Die Anerkennung des Intellekts, die Betonung der geistigen Selbständigkeit unserer Seele hat zu allen Zeiten die Leistungen des Denkens beflügelt. Der Höhepunkt der griechischen Philosophie ist uns nicht die sokratische Schule der Kyrenaiker, in der die Sinnlichkeit den Maßstab für Wahrheit und Tugend abgab, auch nicht die stoische und epikureische Lehre von der Anschauung als der Grundlage aller Einsicht, sondern PLATON mit seiner Ideenlehre, und die Blütezeit der unvergleichlich raschen Kulturentfaltung im alten Griechenland war von der Überlegenheit des Denkens über die Wahrnehmung durchdrungen. Ich brauche ferner nur an die intellektualistische Betrachtungsweise in der Kulminationszeit der mittelalterlichen Scholastik und an die Herrschaft der reinen Vernunft im Rationalismus der neueren Philosophie zu erinnern. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, befinden wir uns auch heute wieder auf dem Weg zu den Ideen. Wir brauchen nicht zu fürchten, daß wir damit den Boden der Wirklichkeit zu schnell verlassen und uns in ein luftiges Gebiet bloßer Gedankendinge versteigen werden. Wir sind in der Schule der Erfahrung groß geworden und haben den Blick für das Reale geschärft. Die Tatsachen sollen uns nach wie vor Probleme stellen und den theoretischen Forscher wie den praktischen Gestalter beschäftigen. Aber die fernen Ziele, die uns erst zur Weltpolitik geführt haben, konnten nicht gesehen oder getastet werden, und das im Kleinen und im Großen unermeßliche Universum, das wir uns in einer für alle Nationen vorbildlichen Forschung erschließen, läßt sich nur denkend erfassen und bestimmen.

So richtet sich aus dem psychologischen Laboratorium der Blick auf das Ganze unseres Wissens und Könnens. Jeder größere Fortschritt beim Eindringen in die Werkstatt des Geistes bildet auch eine Errungenschaft für die Philosophie. Er klärt uns an seinem Teil auf über die Seele, aus der all unser Können und Wissen quillt, er gibt uns einen neuen Maßstab für die Würdigung des Menschen und seines Berufes, seiner Stellung in der Welt, er beleuchtet in besonderer Richtung die Kräfte, die zur Erkenntnis, zum Schaffen und Handeln befähigen. Im Denkvermögen hat alte Ahnung das auszeichnende Merkmal menschlichen Wesens gefunden. Im Denken entdeckte der Kirchenvater AUGUSTIN und nach ihm DESCARTES den einzig festen Grund für das Sein der von Zweifeln umbrandeten Persönlichkeit. Wir aber sagen nicht nur: sofern ich denke, bin ich, sondern auch: die Welt ist, wie wir sie denkend setzen und bestimmen.

Mit diesen wenigen Bemerkungen ist die Bedeutung der experimentellen Psychologie des Denkens nicht sowohl erschöpft, als vielmehr nur illustriert und angedeutet. Manches andere, wie die Beziehung zur Psychopathologie und zur Sprachwissenschaft wäre noch zu besprechen, und viele Einzelheiten, wie z. B. die Experimente über die Abstraktion und die Urteils- und Schlußprozesse und das Verhältnis einer Haupt- und einer gleichzeitig bestehenden Nebenaufgabe zueinander, wären noch zu würdigen. Auch dürfen wir uns nicht verhehlen, daß wir vielfach über Anfänge der Untersuchung noch nicht hinausgekommen sind. Überall harren unserer Forschung zahlreiche Probleme, Dunkelheiten und Schwierigkeiten. Aber unsere Betrachtungen dürften doch schon gezeigt haben, daß es sich lohnt, auf dem eingeschlagenen Weg fortzuschreiten und daß die experimentelle Psychologie durch ihre Untersuchung des Denkens nicht nur ihr eigenes Gebiet um ein großes und fruchtbares Stück Neuland bereichert hat, sondern auch in rege Wechselbeziehungen mit angrenzenden Ländern getreten ist.

Vielleicht vermißt man die Berücksichtigung der ohne experimentelle Hilfsmittel, ohne systematische Einzelbeobachtungen betriebenen Psychologie des Denkens. Sicherlich hat diese manches antizipiert und vollständiger ausgebaut, was in der experimentellen Untersuchung gewonnen und begonnen ist. LOTZEs Begriff des beziehenden Wissens, BRENTANOs Theorie der psychischen Funktionen, WUNDTs Lehre von der Apperzeption und den apperzeptiven Verbindungen, ERDMANNs Theorie des Urteils, die einschlägigen Darlegungen von STOUT und DEWEY und manche andere Ausführung bei zeitgenössischen und älteren Psychologen ließen sich hier hervorheben. Aber die Vorzüge der experimentellen Forschung mit ihrem unwissentlichen Verfahren, mit ihrer Heranziehung mehrerer Versuchspersonen, mit ihrer Herstellung nachkonstruierbarer Bedingungen, mit ihrer spezialisierten Fragestellung, mit ihrer kontrollierten Beobachtung, mit ihrer größeren Ergiebigkeit an Einzelresultaten und Gesetzmäßigkeiten sind auch auf diesem Gebiet so einleuchtend, daß sie die Isolierung ihrer Arbeit erlauben. Wir werden uns der Übereinstimmung freuen, wo wir sie antreffen, wir werden den Widerspruch prüfen, auf den wir stoßen, und bei der unvermeidlichen Kärrnerarbeit, die wir treiben, uns mit gelegentlichen Ausblicken auf große Ziele und dem schlichten Bewußtsein trösten, daß wir solide, wohl verarbeitete und einander angepaßte Bausteine unserer Wissenschaft einfügen.
LITERATUR - Oswald Külpe, Über die moderne Psychologie des Denkens, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Bd. 6, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) Erweiterung eines auf dem 5. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für experimentelle Psychologie am 16. April 1912 in Berlin gehaltenen Vortrags.
    2) Die vorgesetzten Zahlen sollen die Bestimmung der Zugehörigkeit erleichtern.
    3) Sie sind in den unten angegebenen Beispielen durch ein X angedeutet.