ra-1Heinrich RickertWilhelm Wundt    
 
ARTHUR LIEBERT
Johannes Müller

"Müller wirft die prinzipielle, die erkenntnistheoretische Frage auf, ob denn die Physiologie dem Anspruch, der im Begriff der Wissenschaft steckt, genüge, ob sie Wissenschaft sei, oder welche allgemeinen Bedingungen erfüllt sein müssen, um jenem Anspruch zu genügen. Für die Lösung dieser Frage wird ein Wissenschaftsbegriff zugrunde gelegt, der mit dem der  kritizistischen  Philosophie im Prinzip übereinstimmt. Denn weder die formale Kombination leerer Verstandesbegriffe noch deren analytische Behandlung, noch die bloße Ansammlung und Aufhäufung empirischer Stoffmassen könne als wissenschaftliche Erkenntnis gelten. Diese ist lediglich da vorhanden, wo Denken und sinnliche Erfahrung systematisch verbunden werden. Die Verbindung des Gedankens mit der Erfahrung ist der höchste Zweck, welchen sich der Verfasser in seinen physiologischen Arbeiten vorsteckt und worin er die einzig wahre Methode, die Physiologie zu behandeln, erkennt."


JOHANNES MÜLLER gehört in die Reihe jener großen Naturforscher von GALILEI bis HEINRICH HERTZ und HELMHOLTZ, die nicht nur philosophisch geschult und orientiert war, sondern der die Philosophie zugleich wesentliche Förderung verdankt. Denn in den Voraussetzungen seiner naturwissenschaftlichen Forschungen sind nicht nur Momente philosophischer Natur mitenthalten, seine Forschungen erwachsen nicht nur auf dem Grund einer bestimmten philosophischen Weltanschauung, (1) und sie suchen in ihrer Weise dieselbe nicht nur wissenschaftlich zu sichern und zu begründen, sondern sie haben auch in bestimmender Form auf die Entwicklung der Philosophie eingewirkt. (2)

Wenn nun aus MÜLLERs wissenschaftlicher Gesamtarbeit diese beiden Seiten herausgehoben werden sollen, so kann es sich hier nur um die Kennzeichnung der Hauptformen jener beiden Momente handeln. Unter Verzicht auf das Einzelne soll versucht werden, das philosophische Grundgerüst jener Arbeit in seiner prinzipiellen Bestimmtheit aufzudecken. (3)


I.

Die gleichsam elementarste Beziehung zwischen MÜLLERs naturwissenschaftlicher Gesamtleistung und der Philosophie beruth auf der von ihm Anfang an mit Nachdruck erhobenen Forderung, daß überhaupt zwischen Philosophie und positiver Forschung eine wechselseitige Verbindung zu herrschen habe. Daß sich dabei seine Gedanken in der Hauptsache auf die Naturwissenschaft im Allgemeinen, auf die Physiologie im Besonderen richteten, ist nur natürlich. Aber schon in der Aufstellung dieser von ihm auch tatsächlich berücksichtigten Forderung liegt ein sowohl in geschichtlicher als auch in grundsätzlicher Hinsicht hohes Verdienst beschlossen.

Der Beginn von MÜLLERs Studien stand unter dem Einfluß der spekulativen oder, wie er auch sagt, der mystischen Naturphilosophie, und zu ihr hat er trotz aller Polemik Zeit seines Lebens ein inneres Verhältnis behalten. Zudem bedeutete ihm seine spätere, aber nur relative Abwendung von ihr keineswegs eine Absage an die Philosophie überhaupt. Denn er sieht, daß, abgesehen von den Konstruktionen des spekulativen Denkens, im Begriff der Philosophie noch andere, noch theoretische und methodische Probleme enthalten sind, die einer wissenschaftlichen Behandlung durchaus fähig sind, die der Vertreter der positiven Forschung wohl zu beachten habe, und an deren Lösung er tatkräftig mitwirken könne. Das ist der Standpunkt, von dem aus der erst Vierundzwanzigjährige seine akademische Laufbahn eröffnet. Am 19. Oktorber 1824 hält er bei Gelegenheit seiner Habilitation in Bonn eine öffentliche Vorlesung utner dem Titel: "Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung". Sie ist von programmatischer und grundsätzlicher Geltung für seine gesamte wissenschaftliche Arbeit.

Jenes Bedürfnis der Physiologie bezieht sich auf die Notwendigkeit ihrer Rechtfertigung als Wissenschaft. Und so wirft jene Vorlesung die prinzipielle, die erkenntnistheoretische Frage auf, ob denn die Physiologie dem Anspruch, der im Begriff der Wissenschaft steckt, genüge, ob sie Wissenschaft sei, oder welche allgemeinen Bedingungen erfüllt sein müssen, um jenem Anspruch zu genügen.

Für die Lösung dieser Frage wird ein Wissenschaftsbegriff zugrunde gelegt, der mit dem der  kritizistischen  Philosophie im Prinzip übereinstimmt. Denn weder die formale Kombination leerer Verstandesbegriffe noch deren analytische Behandlung, noch die bloße Ansammlung und Aufhäufung empirischer Stoffmassen könne als wissenschaftliche Erkenntnis gelten. Diese ist lediglich da vorhanden, wo Denken und sinnliche Erfahrung systematisch verbunden werden. Die "Verbindung des Gedankens mit der Erfahrung", so heißt es, "ist der höchste Zweck, welchen sich der Verfasser in seinen physiologischen Arbeiten vorsteckt und worin er die einzig wahre Methode, die Physiologie zu behandeln, erkennt." Und ganz im Sinne dieser grundsätzlichen Bestimmung stehen seiner epochemachenden Schrift: "Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes" (1826) als Motto jene Worte GOETHEs voran, die als der prägnanteste Ausdruck des kritischen Wissenschaftsbegriffs gelten können:
    Gehalt ohne Methode führt zur Schwärmerei,
    Methode ohne Gehalt zum leeren Klügeln,
    Stoff ohne Form zum beschwerlichen Wissen,
    Form ohne Stoff zum hohlen Wähnen.
    (Materialien zur Geschichte der Farbenlehre)
Dieser Gedanke der notwendigen Verbindung von Form und Stoff, von Verstand und Erfahrung bleibt für MÜLLERs ganz wissenschaftliche Tätigkeit maßgebend. Weder stimmt er der rationalistisch-deduktiven noch der empiristisch-positivistisch-induktiven Auffassung zu. Nur durch die Verknüpfung des deduktiven mit dem induktiven Faktor komme eine wirklich fruchtbare und brauchbare Forschungsmethode zustande. "Die wichtigsten Wahrheiten in denselben (sc. Naturwissenschaften) sind weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung, welche das Wesentliche vom Zufälligen in den Erfahrungen unterscheidet und dadurch Grundsätze findet, aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Dies ist mehr als bloßes Erfahren und wenn man will eine philosophische Erfahrung." (4)

Damit ist zugleich der Anteil der Philosophie oder des philosophischen Denkens am Zustandekommen der wissenschaftlichen Erkenntnis klargestellt und bestimmt. Das philosophische Denken bringt an den vielspältigen Erfahrungsstoff, es bringt an die Fülle und Verschiedenheit des Sinnlich-Einzelnen den Gesichtspunkt der Einheit, den Gedanken der Allgemeinheit heran. Seine Arbeit besteht in der Hervorbringung jener vereinheitlichenden Kategorien wie Sein, Veränderung, Quantität, Qualität, Raum, Zeit, Materie, Geist usw. (5) Dadurch trägt es dazu bei, daß der Stoff der Erfahrung begriffen, daß er erkannt wird. Aus der Betätigung der allgemeinen Verstandesbegriffe am Erfahrungsstoff erwächst allererst wirkliche Wissenschaft.

Doch soll dadurch der Philosophie keineswegs ein Primat über die Einzelwissenschaften zugesprochen werden. Das Verhältnis zwischen ihnen hat vielmehr den bereits erwähnten Charakter einer Wechselbeziehung, die für beide gleicherweise fruchtbar ist, (6) zu tragen.

Diesen Gedanken betonte MÜLLER zu einer Zeit, als die Verbindung zwischen jenen beiden Gebieten so gut wie ganz unterbrochen war, als beide ihre Wege unabhängig voneinander zu gehen suchten. Und er hat durch den energischen Hinweis auf die Notwendigkeit jener Wechselbeziehung in einer bis jetzt noch nicht genügend gewürdigten Weise dazu beigetragen, daß die Philosophie nach dem äußeren Zusammenbruch der konstruktiven Systeme, wieder im Sinne KANTs den Anschluß an die Naturwissenschaften vollzog und, statt eine Metaphysik des Seins zu bieten, in der Folge die bedeutsame Wendung zur Theorie und Grundlegung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis machte. Was MÜLLER selber an Ansätzen zu einer solchen Grundlegung entwickelte, ist bestimmt durch den interessanten Versuch einer Verbindung der genetischen, d. h. entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung der naturwissenschaftlichen Begriffe mit ihrer kritisch-prinzipiellen, die ihre Geltungsbedeutung ins Auge faßt.

Die Voraussetzung für jene Verbindung liegt offenbar im Bestreben, zwischen Nativismus [angeboren - wp] und Empirismus zu vermitteln. Wenn er auch äußerlich und den Worten nach bisweilen nur für den Empirismus Partei zu nehmen scheint, besonders da, wo Bemerkungen höchster Anerkennung über FRANCIS BACON eingeflochten sind, so ist doch in Wirklichkeit  seine  Stellung vielmehr auf der Seite KANTs.' Was ihn vor der ausdrücklichen Zustimmung zu dessen Standpunkt abhält, ist wohl darin begründet, daß er von der damals üblichen Auffassung der Vernunftkritik abhängig war, also in dieser das Grundwerk des Rationalismus und Nativismus sah und das Apriori im Sinne des Angeborenseins deutete.

Tatsächlich ist MÜLLER in umfangreicherem Maß Kantianer, als er selber wußte. Durch die Forderung, zwischen Philosophie und positiver Forschung habe eine ununterbrochene Wechselbeziehung zu walten, hat er einen Gedanken ausgesprochen, der die prinzipielle Voraussetzung und das Leitmotiv der späteren  neuen kantischen Bewegung  bildet. Für die Entwicklung dieser Richtung ist MÜLLER nicht ohne Bedeutung. Man muß also seiner gedenken, wenn man an diejenigen philosophisch interessierten Naturforscher und naturwissenschaftlich interessierten Philosophen erinnert, die, sie es mittelbar oder unmittelbar, sei es bewußt oder unbewußt, jene Entwicklung mitanbahnten und in ihr tätig waren.

Ihr zuzurechnen aber ist er, abgesehen von dieser prinzipiellen Überlegung auch noch aus Umständen historischer Natur. Bekanntlich wird zu den Begründern der neukantischen Bewegung außer SCHOPENHAUER, WEISSE und LOTZE, außer LIEBMANN, ZELLER und KUNO FISCHER auch HERMANN von HELMHOLTZ gezählt und zwar zunächst aufgrund eines Vortrags, den er zum Besten des Kant-Denkmals im Februar 1855 in Königsberg hielt und der den Titel trägt: "Über das Sehen des Menschen". Im Anschluß an die durch ihn begründete psycho-physiologische Kantauffassung (7) spricht er in diesem Vortrag von einer "Übereinstimmung zwischen den empirischen Tatsachen der Physiologie der Sinnesorgane mit der philosophischen Auffassung von KANT und auch FICHTE". Wenn es nun auch einem HELMHOLTZ nicht unmöglich gewesen ist, von sich aus den Gedanken einer solchen Beziehung aufzustellen, so wird man trotzdem den Einfluß seines Lehrers JOHANNES MÜLLER in dieser Hinsicht nicht außer Acht lassen dürfen. Wohl wahr HELMHOLTZ schon von Haus aus durch seinen Vater philosophisch, und zwar im Sinne FICHTEs und SCHELLINGs, stark angeregt. Wohl vertieft er sich als ELEVE des Friedrich-Wilhelm-Institutes in Berlin in seinem 2. Semester - es ist das Sommersemester 1839 - genauer in KANT, nachdem die vorangegangene KANT-Lektüre mehr den Charakter einer ersten Bekanntnischaft und des bloß Gelegentlichen gehabt hatte. Zu gleicher Zeit aber hört er Physiologie bei JOHANNES MÜLLER. Und wenn sich ihm die Ansicht aufdrängt, daß zwischen MÜLLERs Lehre von der Subjektivität der Sinnesempfindungen und der Theorie KANTs, vornehmlich wohl der in der transzendentalen Ästhetik als der Lehre von der "Subjektivität" der Anschauungsformen Raum und zeit, eine grundsätzliche Übereinstimmung walte, so kann man daran denken, es sei MÜLLER gewesen, der ihm jene Ansicht gleich zu Anfang seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit vermittelte. Allerdings, ob diese Ansicht in dieser Form zu Recht besteht, und welches überhaupt das Verhältnis der physiologischen Beweisführung zu KANTs Problemstellung und Methode ist, das ist eine Frage für sich.

Doch davon abgesehen, so besteht zwischen dem großen Physiologen und dem großen Kritizisten noch eine andere Beziehung positiver Natur. Sie zeigt sich in MÜLLERs wiederholter Ablehnung der Metaphysik, in seiner anscheinend unbedingten Zurückweisung jeder angeblichen Erkenntnis des Absoluten und in seiner scheinbar entschiedenen Vertretung des Phänomenalismus. So erklärt er im Gegensatz zu der Behauptung einer adäquaten Erkenntnis der Dinge ansich: "Das Wissen dehnt sich nicht auf die absolute Erkenntnis des Wesens des Dinges aus und ist nur insofern absolut, insofern gewisse Schlußfolgen aus einem Grundsatz, sei er Thesis oder Erfahrungssatz, mit absoluter Notwendigkeit folgen, womit aber nur eine gewisse Reihe von Erscheinungen oder Verhältnissen aufgeklärt ist." (8) Die Einschränkung der Erkenntnis auf das Reich der Erscheinungen gilt nicht minder wie für die Naturwissenschaften so auch für die Psychologie. "Die Erscheinungen der Seele werden erfahren, wie alle physischen Erscheinungen und die Psychologie ist den Naturwissenschaften durchaus ähnlich, auch hier läßt sich das Geschehen so beobachten, daß eine Ableitung der Erscheinungen möglich ist, aber das Wesen der Seele bleibt immer verborgen." (9)

Und auch diese metaphysikfeindliche Haltung teilt HELMHOLTZ mit seinem Lehrer. Aber gerade hier zeigt sich zwischen ihnen ein charakteristischer, aus der Verschiedenheit ihrer Persönlichkeit stammender Unterschied. HELMHOLTZ bleibt Zeit seines Lebens der erklärte und überzeugte Gegner der Metaphysik; weder bewußt noch unbewußt macht er ihr irgendwelche Zugeständnisse. Bei MÜLLER dagegen tritt an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung seiner Anschauungen eine Preisgabe seines kritischen Empirismus ein; es drängt sich, wenngleich ihm selber durchaus unbewußt, eine dogmatische Metaphysik in handgreiflicher Form ans Licht. Davon wird an gegebener Stelle zu sprechen sein.


II.

Die bisherigen Ausführungen sind nämlich noch nicht bis zur tiefsten, zur grundlegend-entscheidenden Beziehung MÜLLERs zur Philosophie vorgedrungen. Für diesen Zweck darf man nicht lediglich seine Zugehörigkeit zu den Grundgedanken des Kritizisms, man muß auch seine Stellung im Gesamtzusammenhang des deutschen Idealismus überhaupt ins Auge fassen. In Verbindung damit wird es möglich sein, die einzelwissenschaftlichen Leistungen MÜLLERs und diejenigen besonderen Kreise zu berühren, die ihm Anregungen oder positive Förderungen verdanken. Der tiefste, den deutschen Idealismus als solchen auszeichnende Gedanke besteht, so wird man formulieren dürfen, im Begriff der schöpferischen Spontaneität des Bewußtseins und damit in der Überzeugung von der grundlegenden teleologischen Wirksamkeit der Vernunft. Das zeigt sich in der  metaphysischen  Ausprägung des Idealismus: die Realität selber, die Wirklichkeit wird von der Aktivität des Geistes abhängig gemacht; sie wird als eine Schöpfung dieser Aktivität aufgefaßt und somit ihrer Substanz nach vergeistigt. Prinzipiell der gleiche Gedanke kommt in der  kritische  Ausprägung des Idealismus zum Ausdruck: hier handelt es sich nicht um die Bestimmung der Realität als solcher, sondern um die der  Erkenntnis  der Realität; diese Erkenntnis wird nicht als ein auf mechanischem Weg, ohne die Arbeit des Bewußtseins zustande gekommenes Abbild, sie wird nicht als ein toter Abklatsch einer irgendwie transmentalen Wirklichkeit aufgefaßt, sondern sie gilt als Schöpfung des Bewußtseins, als Produkt seiner synthetisierenden Spontaneität.

In der Entwicklung des deutschen Idealismus bewährt sich dieser aktivistisch-teleologische Grundgedanke als Fundamentalprinzip für die einzelnen philosophischen Disziplinen. Wir finden in der  Erkenntnistheorie  als die Idee der synthetischen Einheit der Apperzeption, in der  Psychologie  als den Begriff der Apperzeption, auf dem Gebiet der  Ethik  als Idee der Freiheit und endlich in der  Naturphilosophie  als Grundlage für die dynamische, energetische oder vitalistische Weltauffassung. Alle diese Bestimmungen sind Abzweigungen aus jenem Grundgedanken.

Und eben ihn vertritt auch JOHANNES MÜLLER, und zwar aus tiefster Überzeugung und mit umfassender Begründung. Damit ordnet er sich dem Zusammenhang der idealistischen Philosophie deutlich ein. Es ist ihm gewiß, daß dem Geist die "zeugende Urkraft" zukommt; und er fügt dieser grundsätzlichen Bestimmung die Worte hinzu: "Diese Gewißheit ließ einen unsterblichen Denker in seiner Weise sagen: Nicht die Gottheit denkt die Natur, die Gottheit - lebt die Natur, aber die Menschen denken sie." (10)

Diese idealistische Grundbestimmung entfaltet nun ihre Bedeutung auf drei verschiedenen Gebieten: In der Logik und Erkenntnistheorie; in der Physio-Psychologie und in der Naturphilosophie und Metaphysik.

1. Es wurde schon gezeigt, daß MÜLLER keineswegs als extremer Empirist oder Sensualist zu bezeichnen ist. Es wurde der Anteil hervorgehoben, den nach ihm die dem Subjekt eigentümlichen Verstandesformen am Aufbau der Erkenntnis besitzen. Niemals haben wir es in der Erkenntnis mit der Empfindung rein als solcher zu tun: "Vorstellung und Urteil machen aus der einfachen Empfindung etwas ganz Anderes." (11) Er erinnert oft und nachdrücklich daran, daß wir bei der Überlegung über den Charakter und Wert unserer Erkenntnis der "subjektiven Stellung" nicht uneingedenk sein dürfen, wie es in der "Vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes" heißt, (12) die wir zu den Dingen einnehmen. Und gleichsam abschließend kommt dieser subjektivistisch-aktivistische Gedanke zum Ausdruck in seiner großen Physiologie: "Wir empfinden beständig uns selbst im Umgang mir der sinnlichen Außenwelt und machen uns damit Vorstellungen von der Beschaffenheit der äußeren Gegenstände, welche eine relative Richtigkeit haben können, aber niemals die Natur der Körper selbst zu jener unmittelbaren Anschauung bringen, zu welcher die Zustände unserer Körperteile im Sensorium gelangen." (13) Diese Betonung der Abhängigkeit der Erkenntnis der Dinge vom Subjekt, die auf seiner Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten ruht, zieht sich durch alle seine Werke. Und im Zusammenhang mit dieser Überzeugung von der subjektivistisch-aktivistischen Grundstellung des Subjekts zu den Dingen steht, was hier nur anhangsweise angeführt sein mag, daß nach ihm auch die Vorstellung der Realität der Außenwelt im Menschen aus den Erlebnissen seines Zusammenstoßes mit den Dingen und des Widerstandes, den diese uns entgegensetzen, entsteht. (14) So befindet er sich in Übereinstimmung mit einer ganzen Gruppe von Philosophen von MAINE de BIRAN bis auf DILTHEY, die den Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und des Rechtes dieses Glaubens in der elementaren, schon vom Kind im Mutterleib gemachten Erfahrung von Impuls und Widerstand erblicken. (15)

2. Ebenso kurz kann der Nachweis gefaßt werden, daß MÜLLER auch in der Physiologie und der, wie er meint, mit ihr in nächster Verbindung stehenden Psychologie grundsätzlich vom Subjekt ausgeht und die Untersuchung auf die subjektive Seite der betreffenden Erscheinungen einstellt. Er erklärt prinzipiell: Die Methode, worin ich bei der Bearbeitung der Physiologie der Sinne die größte Befriedigung und Gewähr gefunden habe, zeichnet sich von anderen dadurch aus, daß sie überall von  subjektiven  Gesichtsphänomenen, welche hier die Urphänomene sind, auszugehen sich bestrebt. (16) Und dann weiter: "Die subjektiven Gesichtsphänomene, die man mit DARWIN, SCHERFFER und BUFFON Gesichtstäuschungen und zufällige Farben zu nennen gewohnt war, werden zum endlichen Heil der Physiologie als Gesichtswahrheiten erkannt, und führten zu den wesentlichen, dem Sinne selbst einwohnenden Energien." (17) Und so sei noch die Anführung einer markanten Stelle gestattet, die seinen Standpunkt und auch die Quintessenz seiner Physiologie und Psychologie enthält. Sie steht in den klassischen Ausführungen, in denen er in seinem "Handbuch" unter dem Titel: "Notwendige Vorbegriffe die Haupt- und Leitgedanken seiner Wissenschaft in gedrängter Form entwickelt hat, und die da lautet: "Ohne das lebendige Ohr gibt es in der Welt keinen Ton, sondern nur Schwingungen, ohne das lebendige Auge in der Welt kein Hell, keine Farbe, kein Dunkel, sondern nur die Oszillationen der imponderablen Materie des Lichts und ihren Mangel." (18) Das aber ist nur eine andere Formulierung jenes Wortes von GOETHE: "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken." (19)

Doch die bis jetzt gegebene Bestimmung über die Voraussetzung und den Grundgedanken der Physiologie und Psychologie MÜLLERs wäre unvollständig, und sie könnte zu einer falschen Auffassung führen, wenn nicht noch die Eigentümlichkeit der von ihm befolgten Methode angedeutet würde. Er ist ja nicht der Erste, der die Lehre von der Subjektivität der Sinnesempfindungen vertritt. In DEMOKRIT und EMPEDOKLES, in EPIKUR, DESCARTES, LOCKE, BERKELEY, HUME hat er seine Vorgänger. Neu aber und epochemachend ist die Art, wie er diese Lehre begründete, wie er sie methodisch durchführte. Erweist sie auch den subjektiven Charakter der Sinnesempfindungen, so ist sie ihrem Verfahren nach dennoch durchaus objektivistisch gefaßt; d. h. sie ruht auf naturwissenschaftlicher, auf exakter, auf empirisch-positivistischer Grundlage. Physiologische und anatomische Untersuchungen werden in ihren Dienst gestellt. Mit anderen Worten: Die Subjektivität der Sinnesempfindungen wird nicht auf dem unzuverlässigen Weg der Selbstbeobachtung festgestellt, sie wird vielmehr objektivistisch im Sinne von Naturwissenschaft begründet. Die Subjektivität der Empfindung bedeutet das Wesensmerkmal dieser Erscheinungen. Subjektivismus bedeutet eine Methode zur Bestimmung des Wesensmerkmals. Die Methode aber, nach der MÜLLER vorging, ist objektivistische, die natürlich ihren logischen Wert nicht dadurch einbüßt, daß sie auf das Subjekt angewendet wird. Durch diese objektivistische, naturwissenschaftliche Einstellung, die er schon in der 2. These seiner Dissertation (1822) durch die Worte: "Psychologus nemo nisi Physiologus" [Psychologie, aber keine physiologische - wp] zum Ausdruck brachte, hat er in folgenreicher Weise zur Einführung des Experiments in die Psychologie, das zur letzteren von der Sinnesphysiologie her eindrang, beigetragen. er ist dadurch zum Vorgänger E. H. WEBERs, FECHNERs, HELMHOLTZs, WUNDTs u. a. geworden. "Die neuere Sinnesphysiologie von Johannes Müller und E. H. Weber an", so sagt WILHELM WUNDT, "hatte, von älteren Anfängen ganz zu schweigen, die ersten wichtigen Schritte in der experimentellen Bearbeitung der Wahrnehmungsprobleme getan." (20)

3. Das  dritte  Gebiet, in dem MÜLLERs philosophische Grundüberzeugungen zur Geltung kommen, ist die  Metaphysik.  Das mag zunächst befremdlich klingen. Denn wir sahen, wie bestimmt der Gedanke vertreten wurde, daß die Erkenntnis auf die Erscheinungswelt beschränkt sei, wie energisch die Spekulation aus der wissenschaftlichen Arbeit verwiesen und die Beachtung der Unterscheidung zwischen Empirie und Metaphysik gefordert wurde. Es ist im Sinne KANTs, wenn davor gewarnt wird, die Grenzen der verschiedenen Wissenschaften nicht ineinander laufen zu lassen, weil sonst "keine derselben ihrer Natur nach gründlich abgehandelt werden kann." (21)

Diese prinzipielle Preisgabe der Metaphysik wird jedoch in doppelter Hinsicht nicht aufrechterhalten. Erstens erhält diese schon dadurch eine nicht unwesentliche Rehabilitierung, daß ihr im "außerwissenschaftlichen Leben" eine garnicht geringe Bedeutung und eine garnicht geringe Existenzberechtigung zuerkannt wird. So in einem interessanten, erst jüngst bekannt gewordenen Brief an LOTZE (vom 12. Juli 1851) (22). Hier weist er, allerdings mit ziemlicher Zurückhaltung, auf die Möglichkeit und auf die wissenschaftliche Berechtigung einer Betrachtungsweise hin, die der atomistisch-mechanistischen als der in den Naturwissenschaften fast allein anerkannten diametral gegenübersteht. Doch welchs diese Betrachtungsweise ist, bleibt trotzdem insofern nicht unklar, als gesagt wird, daß zur Erkenntnis der Organismen oder, wie MÜLLER gern sagt, der belebten und beseelten Wesen der Mechanismus unzulänglich sei.

Jener Brief ist ein Dankschreiben für die Zustellung von LOTZEs "Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens"; jenes aufsehenerregenden Versuches, auch das Gebiet der Lebenserscheinungen dem mechanistischen Gesichtspunkt restlos zu unterstellen. In dem Brief läßt MÜLLER den Gegensatz nicht scharf hervortreten. Brauchte er es doch auch nicht. Denn seine Werke bekundeten schon mit hinlänglicher Deutlichkeit seinen von LOTZE abweichenden Standpunkt, der also keineswegs auf das "außerwissenschaftliche Leben" beschränkt war.

Damit ergibt sich der zweite Punkt in der Preisgabe des Phänomenalismus und Empirismus. denn für die wissenschaftliche Bestimmung des Organischen bedient sich MÜLLER einer Theorie, die in der von ihm verwendeten Gestalt unzweifelhaft metapyhischen Charakter trägt. Es ist das sein  Vitalismus, sein teleologischer Energismus,  es ist das die  Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] des Begriffs der Lebenskraft  zu einer metaphysischen Wesenheit.

Daß damit eine Abbiegung in die Metaphysik eintritt, entgeht ihm einfach, ihm, der doch ein so scharfes Auge für alle Hypostasierungen besitzt, der besonders SCHELLINGs Naturphilosophie so streng als Mystik beurteilt und verurteilt. Man könnte sagen, er ist noch nicht Kritizist genug, als daß sich nicht an einem unbewachten Punkt der sonst so sorglich bewachten Grenzen ein unwissenschaftlicher Einbruch vollzöge. Die sich leicht aufdrängende Frage, worin der metaphysische Einschlag, den seine Forschungen in sich tragen, begründet sei und woher er gespeist werde, soll alsbald beantwortet werden.

Zunächst aber: Eingeführt wurde die Lebenskraft, weil ihm ohne sie das Organische weder begreiflich noch existierbar schien. Der Organismus geht nicht auf in der Summe seiner physikalisch-chemischen Teile. Es muß noch ein Etwas, eben die Lebenskraft, hinzutreten, damit aus dem physikalisch-chemischen Aggregat ein lebendiges Ganzes, ein Wirkungsganzes werde. (23)

Doch Geltung und Wirksamkeit der Lebenskraft sind nicht beschränkt auf die Konstituierung des Organischen. Erstens wird der Organismus kraft der in ihm wirksamen Lebensenergie zum  Erzeugungsfaktor  seiner Organe; er schafft den Mechanismus derselben und pflanzt ihn auch fort. (24) Zweitens zeigt auch das Reich des Anorganischen, ja alles Seiende überhaupt die grundlegende Mitarbeit der Lebenskraft; das Dynamische ist überhaupt Voraussetzung aller mechanischen, aller chemischen Wirksamkeit. (25) Es gibt, so heißt es einmal mit programmatischer Kürze, "überhaupt keine Materie, keinen Körper ohne Energie ... Die Materie als Materie allein wirksam im Sinn des Materialismus ist durchaus unwahr." (26)

So wird für die grundsätzlich abgelehnte atomistisch-mechanistische Konstruktion der Materie und im Anschluß an KANTs "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" die dynamische Theorie eingesetzt; d. h. als Komponenten der Materie werden zwei ursprüngliche Kräfte angenommen: Attraktionskraft und Repulsionskraft. daß die materialistisch-mechanistische Auffassung der Seele dann als aussichtslos und unsinnig verworfen wird, ist folgerichtig und einleuchtend. (27). Vielmehr ist die Lebenskraft überall vorhanden und überall wirksam. Sie ist die Substanz des Universums.

Deshalb darf man in ihr auch nicht bloß bewußten, logisch arbeitenden Geist erblicken, "man darf ihre blind notwendige Tätigkeit mit keinem Begriffbilden vergleichen." (28) So zieht MÜLLER, in Übereinstimmung mit dem ihm wohlbekannten LEIBNIZ, in das Reich des Geistigen auch das Un- und Unterbewußte mit hinein; sein Eintreten für den Gedanken der Lebenskraft läßt ihn sogar Worte nachdrücklicher Anerkennung für die damals arg verfemte vitalistische Seelentheorie ERNST STAHLs finden.


III.

Aus der universellen, ontologisch gemeinten Ansetzung der Lebenskraft ergeben sich vier grundsätzlich bedeutungsvolle Momente, die nicht nur für MÜLLERs Wissenschaft, sondern auch für seine ganze Weltauffassung charakteristisch sind. a) Die Unmöglichkeit, Geistiges, besonders Organisches, auf Materielles zurückzuführen und das Organische aus einer Kombination materieller Teile entstehen zu lassen, führt zur Abweisung der Theorie der  Generatio aequivoca  [Urzeugung - wp]. Es waren damals, um das Stattfinden der Erzeugung des Lebens aus Materie darzutun, chemisch-physikalische Experimente unternommen worden. MÜLLER weist darauf hin, daß ein solches Vorgehen "keine Gewißheit über nicht stattgefundene Täuschung" einschließe. (29) Überhaupt: "Die Generation aequivoca entrückt sich der exakten Forschung als ein Unerwiesenes und Unerweisliches." (30) "Wie zuerst die organischen Wesen entstanden sind, - - liegt außer aller Erfahrung und Wissen" (31). Und auf dem aprioristisch-konstruktiven Weg läßt sich natürlich noch weniger etwas zugunsten der Generatio aequivoca ausmachen. (32)

b) Wenn überall, wo Körperliches vorhanden ist, auch Geistiges ist, dann kann von einer Lokalisation des Geistigen an einer bestimmten Stelle keine Rede sein. Aus diesem Grund vertritt er in der Frage nach der Lokalisation der geistigen Tätigkeiten im Gehirn eine Anschauung, die man mit FECHNER als synechologische [Lehre vom Stetigen - wp] bezeichnen kann. Weder hat sich DESCARTES' Behauptung, daß der Sitz der Seele in der Zirbeldrüse sei, noch irgendeine andere Lokalisationshypothese bestätigen lassen. (33) Und so heißt es allgemein: "Es läßt sich keine Provinz des Gehirns nachweisen, worin das Gedächtnis, die Einbildungskraft usw. ihren Sitz hätten." (34) Auch noch andere Teile des Körpers als das Gehirn haben am psychischen Prinzip teil. Nur im Gehirn erscheint dieses Prinzip frei und tätig, "weil hier die Organisation zu allen seinen Bewegungen und Wirkungen auf die Kräfte anderer Teile, auf die motorischen Apparate und zur Aufnahme der Wirkungen der sensiblen Leiter ist." (35)

c) Sieht man aber von der besonderen Fassung ab, die dem Verhältnis zwischen Physischem und Psychischem für das Reich der Organismen zuteil wird, und fragt man nach der Bestimmung dieses Verhältnisses für die ganze Weite der Wirklichkeit, so stoßen wir nun auf JOHANNES MÜLLERs  Weltanschauung.  Diese ist weder Materialismus, da sie dem Geist Autonomie und spontane Schöpfungskraft, noch Spiritualismus, da sie der Materie Selbständigkeit und Wirklichkeit zuerkennt. Begrifflich kämen vielmehr zwei andere, kompromißartige Weltanschauungen in Frage, die sowohl den Geist als auch die Materie als wirklich anerkennen, und die sich auch in der Geschichte der Philosophie oft gegenübergestanden, ja oft gekreuzt haben. Es sind das der  psycho-physische Dualismus  und der  teleologische Pantheismus.  Er will sich nun weder nur für die eine, noch nur für die andere Weltanschauung erklären; (36) sondern es gilt ihm als Aufgabe, "die beiden Hypothesen durchzudenken, welche außer dem Gebiet der erfahrungsmäßigen Physiologie den Faden fortführen, wo er bei der empirisch-physiologischen Zergliederung notwendig abgebrochen wird." (37)

d) Und doch bleibt er dieser Entscheidung nicht treu. Motive verschiedenster Natur machen ihn zum Anwalt einer zwischen Theismus und Pantheismus schwankenen, dem letzteren etwas mehr zuneigenden  teleologischen Metaphysik.  JOHANNES MÜLLER ist im Grunde immer  Entelechist,  er ist  Aristoteliker  gewesen und geblieben, wie ihm überhaupt ARISTOTELES Zeit seines Lebens ein hochgeschätzter Führer war, dessen Formulierungen er sogar nicht selten verwendet hat. (38)

Das Charakteristische jener teleologischen Metaphysik besteht nun darin, daß die Zweckideen nicht allein als  causae finalis,  sondern geradezu als  causae efficientes  aufgefaßt werden. Der Bildung der organischen Wesen, wie der aller Wirklichkeit liegt "ein vernünftiger Schöpfungsplan" zugrunde, der sich zu seiner Verwirklichung der "vernünftigen Schöpfungskraft" bedient. In der Idee des Schöpfungsplanes ist die Idee des Ganzen enthalten, aus dem die einzelnen Teile der Wirklichkeit hervorgehen. Es ist ein weiterer, folgerichtiger Zug seines Aristotelismus, daß das Ganze als  idealiter et formaliter  [im Idealfall und tatsächlich - wp] vor den Teilen als seiend gilt, und daß es diese, im Sinne ihrer Einstimmigkeit mit sich, hervorbringt. (39)

Diese Metaphysik nun ist es, in der nicht nur MÜLLERs wissenschaftliche Arbeit, sondern in der überhaupt sein ganzes intellektuelles Dasein den eigentlichen Halt und die jenseits aller theoretischen Begründbarkeit liegende Gewähr besitzt. Daß er sich durch sie mit der Naturphilosophie der Romantik berührt, leuchtet ohne weiteres ein. Bewußt waren ihm nur die Beziehungen zu GIORDANO BRUNO (40) und LEIBNIZ. Aufs deutlichste aber tritt ihre Abhängigkeit von der ihm von Jugend an vertrauten Entelechielehre des ARISTOTELES hervor. Hatte er doch in seiner Vaterstadt Koblenz von 1810 - 1818 das (später zum humanistischen Gymnasium umgewandelte) Jesuitenkollegium besucht, wo er neben PLATO, dessen  Timaios  er besonders oft nennt, hauptsächlich ARISTOTELES kennen gelernt hatte.

Um die Beziehungen zur peripatetischen Philosophie aufrechtzuerhalten, kam hinzu, daß MÜLLER Zeit seines Lebens ein inniges Verhältnis zu seiner Kirche, der katholischen, bewahrte. Rang er doch noch zu Beginn seiner physiologisch-anatomischen Studien in Bonn (1819) mit dem alten Jugendgedanken, katholischer Geistlicher zu werden. (41) Und ist doch ARISTOTELES für die katholische Kirche  der  Philosoph, mit dem Wort DANTEs "der Meister derer, die da wissen." (42)

Den tiefsten Grund nun, aus dem alle diesem Momente hervorgingen, bildet sicherlich die starke religiöse, sogar leicht mystisch gefärbte und grüblerische Gemütsstimmung, die ihm neben seinem scharfen, kritisch-empirischen Geist eigen war. Sie ist es, die seine Gedanken über den Kreis der empirischen und analytischen Arbeit hinaus - und in das Gebiet der Metaphysik hineinführten. Sie ist es, die ihn seine - im ersten Teil dieser Ausführungen behandelte - theoretische Beziehung zur wissenschaftlichen Philosophie ergänzen ließ durch die Herausbildung eines übertheoretischen, auf Gefühlsmomenten ruhenden Verhältnisses zur Philosophie als Weltanschauung.

Diese Verbindung von kritischem Empirismus und religiös verankerter und religiös bestimmter teleologischer Metaphysik erinnert in gewissem Sinne an eine andere große Forscherpersönlichkeit, an ISAAC NEWTON, doch mit dem Unterschied, daß dieser nüchterner und rationalistischer erscheint als unser JOHANNES MÜLLER, in dem bei aller genialen Intellektualität doch ein mystischer Schwung und eine viel ausgesprochenere metaphysische Neigung wirksam sind. - -

Muß man also auch zugeben, daß durch die Einführung spekulativer Momente, wie die der "vernünftigen Schöpfungskraft" als wirkender Ursache, in die Wissenschaft, deren Grundlegung getrübt und deren unzweideutige methodische, nach einem Prinzip sich vollziehende Durchführung gefährdet wird, so soll damit über die Teleologie als solche nicht das Urteil gesprochen sein. Denn trotz der Geringschätzung, die dem Zweckbegriff lange Zeit sowohl von der Naturwissenschaft als von der Philosophie zuteil wurde, zeigt, abgesehen von systematischen Erwägungen, schon die geschichtliche Entwicklung eine entschiedene Wendung zur Wiederaufnahme dieses Begriffs unter die wissenschaftlich gültigen Arbeitsmittel. Von den verschiedensten Seiten her und mit den verschiedensten Begründungen erfolgen Nachweise für seine prinzipielle Unentbehrlichkeit (43). So darf man es keinen grundsätzlichen Fehler heißen, daß auch MÜLLER jenen Begriff beibehalten und verwendet hat. Ruht doch sogar in dieser Verwendung unter einem bestimmten Gesichtspunkt ein berechtigtes Moment, an das die modernen Theorien anknüpfen können. Der Fehler bestand nicht darin, daß er jenen Begriff überhaupt gebrauchte, sondern, daß er ihn in einem dinghaftem, substantialistischem Sinne gebrauchte. Verwendet man ihn in dieser Weise, dann tritt ein Rückfall in vorkantische, ja, denkt man an den Zweckbegriff im Besonderen, in vorspinozistische, in mittelalterliche Metaphysik ein. Dagegen bleibt kein Bedenken gegenüber seiner rein methodisch-kritischen Verwendung, d. h. gegenüber seiner Auffassung und Benutzung als heuristische Forschungsmaxime und regulativer Gesichtspunkt für die Erkenntnis, im besonderen für die wissenschaftliche Ermöglichung der Biologie. (44) Damit ist gesagt, daß die alte Metaphysik des Zweckbegriffs ins Transzendentale, ins Kritische umgeschrieben werden muß. (45) Dann wird sich der wissenschaftliche Wahrheitsgehalt, der in MÜLLERs Teleologie vorhanden ist, in seiner Fruchtbarkeit klar herausstellen.

Das aber bedeutet schließlich nichts anderes als die Forderung, auf die Entscheidungen zurückzugreifen, die KANT im Schlußteil seiner "Kritik der Urteilskraft" geboten hat. So führt der Weg von der dogmatischen, von der metaphysisch gemeinten Teleologie fort und hin zur kritischen Auffassung des Zweckbegriffes. Und JOHANNES MÜLLER reiht sich mit ihm in einem noch tieferen Sinne, als oben ausgeführt wurde, in den Zusammenhang und in den Fortschritt der modernen Philosophie ein; seine Lebensarbeit bekommt eine neue Bedeutung auf für diejenigen Probleme, die uns heute bewegen und beschäftigen.
LITERATUR Arthur Liebert, Johannes Müller, der Physiologe, in seinem Verhältnis zur Philosophie und in seiner Bedeutung für dieselbe [zugleich ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Neukantianismus] Kant-Studien Bd. 20, Berlin 1915
    Anmerkungen
    1) Vgl. OTTO LIEBMANN, Zur Analysis der Wirklichkeit, 3. Auflage, 1900, Seite 161.
    2) Schon äußerlich kommt MÜLLERs Verhältnis zur Philosophie dadurch zum Ausdruck, daß er oft und ersichtlich gern philosophische Autoren zitiert, ferner in seine Schriften mehr oder minder umfangreiche Übersetzungen von Teilen philosophischer Werke einfügt. So enthält z. B. sein Handbuch II, Seite 543 - 548 eine von MÜLLER selber herrührende Übersetzung der Lehrsätze aus SPINOZAs "Statikk der Gemütsbewegungen" (Ethik, 3. Teil).
    3) Wesentlich anders gerichtet ist die Arbeit von KARL POST, "Johannes Müllers Philosophische Anschauungen". Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, hrsg. von BENNO ERDMANN, Heft XXI, Halle 1905. POST will vornehmlich "das, was Müller an philosophisch Bedeutsamem als Sinnesphysiologie zu sagen hat", bringen (Seite 7). - Aus der Literatur vgl. noch: EMIL DUBOIS-REYMOND, "Gedächtnisrede auf Johannes Müller". Gehalten in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1858; veröffentlich in den Abhandlungen aus dem Jahre 1859 und RUDOLF VIRCHOW, "Johannes Müller", eine Gedächtnisrede, gehalten bei der Totenfeier am 24. Juli 1858 in der Aula der Universität zu Berlin. Berlin 1858. Beide Reden bieten nur gelegentliche und unzulängliche, ja oft schiefe Bemerkungen über MÜLLERs philosophische Grundanschauungen. Nach vollendeter Drucklegung meines Aufsatzes ist eine neue Arbeit über JOHANNES MÜLLER erschienen von P. NORBERT BRÜHL, "Die spezifischen Sinnesenergien nach Johannes Müller im Lichte der Tatsachen", 1915, Druck und Verlag der Fuldaer Aktiendruckerei, die ich nicht mehr zu berücksichtigen vermochte. Aber wie schon ihr Titel zeigt und ein kurzer Einblick in die Arbeit selber bestätigte, verfolgt sie andere Tendenzen als mein Aufsatz; sie scheint sachlich der soeben genannten Arbeit von POST nahezustehen.
    4) Handbuch der Physiologie des Menschen II, 1840, Seite 522
    5) Handbuch ebd., Seite 522
    6) Handbuch ebd., Seite 522
    7) Vgl. ALOIS RIEHL, Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant, Kant-Studien IX, 1904, Seite 261f
    8) MÜLLER, Handbuch der Physiologie II, Seite 521
    9) MÜLLER, Handbuch II, Seite 522
    10) JOHANNES MÜLLER, Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung, Seite 19
    11) MÜLLER, Handbuch II, Seite 258
    12) MÜLLER, Zur vergleichenden Physiologie, Seite 49f und a. a. O.
    13) MÜLLER, Handbuch II, Seite 258
    14) MÜLLER, Handbuch II, Seite 268f
    15) Vgl. FRISCHEISEN-KÖHLER, Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912, Seite 239 und 276f
    16) MÜLLER, Zur vergleichenden Physiologie usw., Seite Vf.
    17) MÜLLER, Zur vergleichenden Physiologie usw., Seite XV.
    18) MÜLLER, Handbuch II, Seite 261. Den Sinn jener "Notwendigen Vorbegriffe" bestimmt einmal in folgender trefflicher Formulierung HERMANN COHEN: Ästhetik des reinen Gefühls I, Seite 133f. Die notwendigen Vorbegriffe "bestehen in dem Grundgedanken, daß man das Bewußtsein nicht lediglich als Reaktion der Reize bestimmen darf; daß vielmehr die  Disposition zu einer solchen Reaktion  als Urbestand des Bewußtseins angenommen werden muß. - Die Disposition innerhalb des Nervensystems für die  Aufnahme  von Reizen muß als "Vorbegriff" zugrunde gelegt werden, damit diese nicht als  äußere Ursachen  das  Erste  bleiben, sondern gleichsam nur eine Fortsetzung bilden."
    19) Überhaupt empfand und äußert MÜLLER für GOETHE eine unendlich tiefe Verehrung; er sah in ihm das unerreichte Vorbild auf allen Gebieten, auch auf dem der Naturwissenschaften, und er bestrebte sich und glaubte, auf diesem ganz im Sinne GOETHEs tätig zu sein.
    20) WILHELM WUNDT, Psychologie, Festschrift für Kuno Fischer I, 1904, Seite 39
    21) KANT, Prolegoman § 1; vgl. MÜLLER, Zur vergleichenden Physiologie, Vorwort Seite XIX; Handbuch II, Seite 509, 513, 559
    22) MAX WENTSCHER, Lotze, 1. Band, 1913, Seite 367
    23) MÜLLER, Handbuch I, Seite 8 und öfter.
    24) MÜLLER, Handbuch II, Seite 505
    25) MÜLLER, Von dem Bedürfnis etc., Seite 17
    26) MÜLLER, Grundriß der Vorlesungen über die Physiologie, Bonn 1827, Seite 66f
    27) MÜLLER, Grundriß etc. Seite 67; Handbuch II, Seite 516, 517.
    28) MÜLLER, Handbuch II, Seite 23
    29) MÜLLER, Handbuch II, Seite 506
    30) MÜLLER, Handbuch II, Seite 506
    31) MÜLLER, Handbuch I, Seite 17
    32) MÜLLER, Handbuch I, Seite 17
    33) MÜLLER, Handbuch I, Seite 731f
    34) MÜLLER, Handbuch I, Seite 730; vgl. auch II, Seite 516
    35) MÜLLER, Handbuch I, Seite 715; vgl. II, Seite 507
    36) MÜLLER, Handbuch II, Seite 509f
    37) MÜLLER, Handbuch II, Seite 513
    38) Vgl. OTTO WILLMANN, Geschichte des Idealismus III, 1897, Seite 904 - 906. MÜLLERs Aristotelismus war sogar vielleicht nicht ohne Einfluß auf die Wiederbelebung der Aristoteles-Studien durch ADOLF TRENDELENBURG, seit 1833 MÜLLERs Kollege in Berlin. - Seiner Schrift: "Über die phantastischen Gesichtserscheinungen" hat MÜLLER seine Übersetzung der "physiologischen Urkunde", d. h. der Schrift des ARISTOTELES: "Über den Traum" angehängt.
    39) besonders Handbuch I, Seite 17f: "Wesen der lebendigen Organisation"
    40) Schon die Dissertation trug als Motto in italienischer Sprache ein Wort aus BRUNOs auch später mehrfach angeführten Schrift: De la causa, principio ed uno (neue italienische Ausgabe, Bari 1907, Bd. 1, Seite 181)
    41) DUBOIS-REYMOND, Gedächtnisrede, Seite 32. Fast allsonntäglich nahm MÜLLER am katholischen Gottesdienst teil; später, als er in Berlin war, an dem in der St. Hedwigs-Kirche. Überhaupt hat MÜLLER in seinem Habitus als Mensch und Persönlichkeit so manchen eindrucksvollen und charakteristisch ausgeprägten Zug. Darüber sei ein Wort gestattet. Außer seiner wissenschaftlichen Arbeit kannte er in der Hauptsache nur das Leben im Kreise seiner durch herzliche Liebe und treues Zusammenhalten miteinander verbundenen Familie. Eine Rolle in der großen Welt zu spielen, lag diesem ernsten, sachlich denkenden Mann nicht. Von den offiziellen und repräsentativen Verpflichtungen nahm er nur das Notwendige auf sich. Damit steht in Zusammenhang, daß es für den Außenstehenden und Fremden verhältnismäßig schwer war, an ihn heranzukommen und mit ihm in nähere Beziehung zu treten. In seinem Wesen verbindet sich Weichheit, liebevolle Milde und Nachsicht, Zartheit und eine tiefe Neigung zu träumerischem Insichgekehrtsein, wo es sich um menschlich-persönliche Dinge und um Fragen des Gemütslebens handelt, mit männlicher Entschiedenheit der Stellungnahme und des Urteils, rücksichtsloser Offenheit und Klarheit im Denken und Schreiben, sobald er wissenschaftlich arbeitete. Gehörte seine Gemüt seiner Familie und seiner Religion, so gehörte sein Verstand mit staunenerregender Ausschließlichkeit seiner Wissenschaft. Galt es in dieser einen Schritt, und sei es der winzigste, vorwärtszukommen, galt es beispielsweise, eine neu aufgefundene, bis dahin unbekannte Fischart zu bestimmen und zu klassifizieren, dann gab er sich dieser Arbeit hin mit einer Intensität und Einseitigkeit, die nicht selten in nahezu bizarrer Form auftrat. Aber diese Einseitigkeit, die nicht selten in nahezu bizarrer Form auftrat. Aber diese Einseitigkeit war doch nur ein Zeugnis und ein Ausdruck für die Größe und Kraft seines Geistes; und so bildet sie eine wichtige psychologische Voraussetzung für seine epochemachenden Leistungen.
    42) DANTE, Divina Comedia, Inferno IV, 131
    43) Vgl. BRUNO BAUCH, Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften, 1911, Seite 168f und ARTHUR LIEBERT, Das Problem der Geltung, 1914, Seite 157f und öfter.
    44) Vgl. BAUCH, a. a. O.
    45) Ein solches "Umgeschriebenwerden" empfahl und forderte in Bezug auf HEGELs Philosophie RUDOLF HAYM, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, Seite 468