p-4WindelbandH. HöffdingA. MesserF. MauthnerB. Erdmann    
 
AUGUST MESSER
Empfindung und Denken

"Ich schließe jetzt die Augen und suche mir die vorhin gesehenen Objekte oder die gehörten Geräusche wieder zu vergegenwärtigen. Dann habe ich Erinnerungsvorstellungen. Nehme ich mannigfache Veränderungen an dem vorhin Wahrgenommenen vor, lasse ich den Wald nicht mehr grüne, sondern gelbe Blätter tragen, die Kinder nicht mehr lärmen, sondern ein wohllautendes Lied singen, so sind das Phantasievorstellungen."

Vorwort

Dieses Buch wendet sich nicht nur an Fachgenossen, sondern an weitere Kreise. Vor allem möchte ich ihm Lehrer und Studierende der Philosophie und Pädagogik als Leser wünschen. Es trägt darum den Charakter einer einführenden Schrift; insbesondere ist mit Rücksicht auf den verworrenen Zustand der psychologischen Terminologie kein wissenschaftlicher Ausdruck gebraucht, ohne eine genaue Angabe seiner Bedeutung.

Eine Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin scheint mir aber nicht darin zu bestehen, daß lediglich "gesicherte Ergebnisse" mitgeteilt werden, sondern darin, daß zu völliger Klarheit gebracht wird, worum es sich in dieser Disziplin eigentlich handelt: welches die Gegenstände der Forschung sind, unter welchen Gesichtspunkten sie betrachtet werden, welches die bedeutsamsten Ziele und Methoden der Untersuchung sind. Wertvollere Ergebnisse sollen dabei natürlich nicht verschwiegen, aber auch ungelöste Fragen als ungelöste bezeichnet werden. Nicht nur in die Vorhalle der Forschung soll der Leser geführt werden, sondern in ihr Innerstes, und das sind eben die "Probleme".

Die beiden Gegenstände, die im Titel des Buches genannt sind, haben in der modernen experimentellen Psychologie in sehr ungleichem Maß Berücksichtigung gefunden. Während sich die Empfindungsforschung überaus reich entwickelt hat, mit den feinsten Methoden arbeitet und bereits in vielen Punkten zu sicheren Resultaten gelangt ist, hat die Psychologie des Denkens erst in den allerletzten Jahren von seiten der experimentellen Psychologen einige Beachtung erfahren.

Darum ist dann auch unsere Aufgabe diesen beiden Forschungszweigen gegenüber eine verschiedene. Hinsichtlich der Psychologie der Empfindung werden wir uns im wesentlichen darauf beschränken können, nach allen Seiten klarzustellen, was unter dem Ausdruck "Empfindung" eigentlich zu verstehen ist, und welcher Anteil im allgemeinen den Empfindungen bei den intellektuellen Prozessen zukommt. Hinsichtlich der Psychologie des Denkens aber galt es, überhaupt erst darzutun, daß es neben den Empfindungen, ihren Komplexen und Nachwirkungen besondere Bewußtseinsvorgänge gibt, die als "Denken" zu bezeichnen sind. Es waren sodann die bedeutsamsten Arten dieser Vorgänge aufzuweisen, und endlich war zu zeigen, wie sich die psychologische Behandlungsweise des Denkens von der seit alters her üblichen logischen unterscheidet.

So möchte das Buch ein wenig mithelfen, der Psychologie des Denkens eine größere Beachtung zu verschaffen; sie ist allzulange als "Stiefkind" in der psychologischen Forschung behandelt worden.



1. Einleitung

Die Ausdrücke "Empfindung", "Empfinden", und "Denken" sind im gewöhnlichen Sprachgebrauch so vieldeutig (1), daß es zweckmäßig erscheint, dem Leser zunächst  die  Bedeutungen zu bezeichnen, die sie in der Sprache der wissenschaftlichen Psychologie  nicht  haben. Damit wird sich zugleich eine vorläufige Orientierung verbinden lassen, über die Bedeutung, die ihnen in der Psychologie beigelegt wird, und somit auch über den Gegenstand unserer Schrift. Eine genauere Bestimmung wird freilich erst in unserer Untersuchung selbst erarbeitet werden müssen. Wir betrachten zunächst Ausdrücke wie: Freude, Trauer, Befriedigung, Reue usw. "empfinden". Derartige seelische Erlebnisse bezeichnet die heutige Psychologie als "Gefühle"; sie haben das gemeinsam, daß sie als  Zustände  des Subjekts, des Ich unmittelbar zu Bewußtsein kommen; ich fühle mich freudig oder traurig, befriedigt oder von Reue gequält. Diese Bedeutung liegt auch vor, wenn wir einen Menschen "empfindsam" nennen, wenn wir von einem "tiefempfundenen" Gedicht oder Vortrag reden.

Wie Freude und Trauer, so kann man - nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch - auch Lust zu etwas, Verlangen, Sehnsucht "empfinden". Diese Ausdrücke führen in das Gebiet derjenigen psychischen Vorgänge, die in der wissenschaftlichen Terminologie als "Begehren" oder "Wollen" bezeichnet werden. In ihnen weiß sich das Ich sozusagen bei sich selbst, bei seinen Zuständen, so strebt es hier über sich hinaus; Gefühle können insofern als rein zentral, Begehrungen als zentrifugal bezeichnet werden.

Endlich wird im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch der Ausdruck "empfinden" für seelische Vorgänge verwendet, die man als zentripetal charakterisiert hat, insofern in ihnen Eindrücke aufgenommen werden; man kan sie auch - und das dürfte zweckmäßiger sein - als "Gegenstandsbewußtsein" bezeichnen, insofern solche Eindrücke auf Gegenstände, die dem Subjekt als Objekte gegenüberstehen, bezogen werden. Es kann sich dabei um geistige und sinnliche Eindrücke handeln, um solche, die mit Gefühlen verbunden sind und um gefühlsfreie. So kann man "den Segen oder die Strafe Gottes", "die Kraft des heiligen Geistes", aber auch "Luft, Regen, die Sporen, eine Wunde, den Klang einer Fiedel" empfinden; man spricht von Empfindung des Lichts, einer Farbe, eines Geräuschs usw. Dazu kommt nun noch, daß in derartigen Fällen statt "empfinden" vielfach auch ohne Unterschied der Bedeutung "fühlen" gesagt wird.

Man zerlegt nun vielfach mit Hilfe der oben erwähnten Charakteristik seelischer Vorgänge und Zustände als Gegenstands-, Zustands-, und Ursachbewußtsein den gesamten Umfang der Bewußtseinserscheinungen in drei Teile (2). Unsere Beispiele aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben gezeigt, daß die Ausdrücke "empfinden" und "Empfindung" für Erlebnisse Verwendung finden, die diesen drei Gebieten angehören. Die wissenschaftliche Sprache konnte den Ausdruck nicht in einer solchen Vieldeutigkeit verwenden. Freilich eine strenge Eindeutigkeit ist auch heute noch nicht erzielt. Unsere Untersuchung soll auch dazu mithelfen; sie wird auch darüber aufklären, warum wir im Titel unseres Buches nicht das "Empfinden", sondern die "Empfindung" dem Denken entgegengesetzt haben. Hier kann nur noch gesagt werden, daß es die letzte Gruppe, der mit dem Ausdruck bezeichneten psychischer Erlebnisse ist, von der aus wir zu einer genaueren Bestimmung des Terminus "Empfindung" gelangen wollen. Wir gehen dabei aus von solchen Vorgängen, die die Psychologie "Wahrnehmungen" nennt (3). Es ist ja auch dem gewöhnlichen Sprachgebrauch völlig geläufig zu sagen, daß wir ein Licht, eine Farbe, ein Geräusch, einen Geruch usw. wahrnehmen. Eine genauere Analyse von Wahrnehmungen wird uns als eine wichtige Gruppe von Wahrnehmungselementen solche erkennen lassen, die wir als Empfindungen bezeichnen werden. Es sind, wie wir hier vorläufig bemerken können, Bewußtseinsinhalte einfachster Art, d. h. solche, die wir nicht weiter zerlegen können, wie grau, grün, gelb; Ton  c, d  usw. süß, sauer, hart, weich, warm, kalt usw. Sie sind es zugleich, die der Wahrnehmung ihren "anschaulichen" Charakter verleihen.

Auch im Ausdruck "Denken" lassen sich die mannigfaltigsten Bedeutungen unterscheiden. Die allgemeinste und unbestimmteste ist die, daß er seelische Vorgänge überhaupt bezeichnet; so, wenn man etwa sagt: "Was in uns denkte, ist nicht das Gehirn, sondern die Seele." Ebenso wenn die Innenvorgänge im Gegensatz zu ihrem Ausdruck gemeint sind: "Ich rede nicht, ich denke mir meinen Teil"; den ein solches "Denken" kann doch auch Gefühle, Wünsche, Entschließungen umfassen. Auch ist uns ein "Gedankenleser" ein solcher, der Innenvorgänge im weitesten Sinne erraten kann.

Gefühle und Willensvorgänge werden auch unter "Denken" mitbefaßt, oder sie kommen gar vorwiegend in Redensarten in Betracht wie: "Das gibt mir zu denken", "hoch oder niedrig denken" (das ist: gesinnt sein), "ein ehrlich (redlich) denkender Mensch"; auch steht es gelegentlich geradezu im Sinne von "vorhaben", "beabsichtigen", "wollen": "ich denke (oder: gedenke) morgen abzureisen"; "das nicht zu tun". So kann auch "an etwas denken" heißen: etwas zu erreichen suchen, z. B. "er denkt nur an seinen Vorteil". Auf das Grenzgebiet vom Praktischen und Theoretischen, von Ursach- und Gegenstandsbewußtsein führen Ausdrücke wie "an eine Vorschrift, Warnung usw. denken" im Sinne von: sie beim Handeln beachten, berücksichtigen.

Ganz auf dem Gebiet des Gegenstandsbewußtseins befinden wir uns, wenn "an etwas denken" lediglich bedeutet: sich einer Sache erinnern; natürlich können auch Gedanken an Gegenwärtiges oder Zukünftiges auftauchen. Während hierbei "denken" auf Bewußtseinsvorgänge bezogen wird, die sozusagen ohne unser Zutun kommen und gehen, wird der Ausdruck aber auch in dem Sinne verwendet, daß gerade das Merkmal der Aktivität, der eigenen Betätigung zum Zweck des Erkennens darin hervortritt: "ein denkender Kopf", "ein Denker", "das Denken unterscheidet den Menschen vom Tier", "ein Frauenzimmer, das denkt, ist ebenso ekelhaft wie ein Mann, der sich schmückt". (LESSING). Das Denken im Sinne theoretischer Betätigung, als Vorgang, der zum Gegenstandsbewußtsein gehört, ist es auch, das uns näher beschäftigen soll. Aber die darauf bezüglichen Ausdrücke können wieder in ihrer Bedeutung nach zwei Richtungen hin weisen. Zunächst kann das Denken vorwiegend als Mittel der Erkenntnis gemeint sein. Wenn ich z. B. sage: ich habe das nicht wahrgenommen, sondern bloß gedacht, so wird dabei offenbar dem Wahrnehmen eine größere Bedeutung für die Sicherheit der Erkenntnis beigelegt. Die umgekehrte Wertschätzung wird ausgesprochen, wenn von alters her zahlreiche Philosophen lehrten, nicht das sinnliche Wahrnehmen, sondern das Denken führe zur Erkenntnis der Dinge; was wir nicht denken können, kann auch nicht existieren, und was wir notwendig denken müssen, muß auch sein. In derartigen Redeweisen kommt es augenscheinlich auf den Ertrag des Denkens für die Erkenntnis an; sie weisen also in die Richtung der Erkenntnistheorie.

Die Psychologie aber beschäftigt sich nicht mit den Ergebnissen des Denkens als solchem, sie sucht das Denken selbst als Bewußtseinsvorgang in seiner Beschaffenheit zu erfassen und von andersartigen Bewußtseinsvorgängen zu unterscheiden. Im Gebrauch des Ausdrucks "Denken" schließt sie sich dabei an diejenige Verwendungsweise im allgemeinen Sprachgebrauch an, die ihn auf das Gegenstandsbewußtsein einschränkt, Gefühls- und Willensvorgänge also damit nicht bezeichnet. Aber auch so bedarf es für die wissenschaftliche Terminologie noch einer näheren Abgrenzung. Schon der gewöhnliche Sprachgebrauch verwendet übrigens nicht das Wort für  alle  Vorgänge des Gegenstandsbewußtseins. Wenn ich z. B. das vor mir liegende Blatt anschaue, so erlebe ich ein Gegenstandsbewußtsein, aber man wird das nicht als Denken bezeichnen. Wenn ich dagegen meine Augen schließe und mir das Blatt "bloß vorstelle", so würde es dem gewöhnlichen Sprachgebrauch wohl entsprechen zu sagen: "ich denke es", oder "ich denke daran". In gleichem Sinne sagt etwa der Mathematiker: "Denk dir einen Kreis mit eingeschriebenem Quadrat;" oder "man denke sich diese Linie verlängert".

Aber es wird zweckmäßig sein, wenn die wissenschaftliche Terminologie für derartige Reproduktionen früherer Wahrnehmungen (und für analoge Phantasievorstellungen) den Ausdruck Denken vermeidet. Sie haben nämlich mit den Wahrnehmungen das gemein, was man als anschaulichen, bildhaften Charakter bezeichnen kann. Gewiß mögen sie vielfach unlebendiger, blässer, unvollständiger, flüchtiger sein, aber eine unverkennbare Ähnlichkeit besteht doch. Wenn auch die Ausdrücke "Anschauung" und "anschaulich" ursprünglich ihre Verwendung nur für Wahrnehmungen und Reproduktionen des Gesichtssinns gehabt haben mögen, so lassen sie sich doch auch auf die der anderen Sinne übertragen. Auch Eindrücke des Gehörs, des Geschmacks, des Geruchs, des Tastsinnes usw. können wir als anschaulich bezeichnen und ebenso können wir derartige Eindrücke, etwa eine gehörte Melodie, den Geschmack einer früher genossenen Speise in anschaulicher Form reproduzieren.

Aber auch wenn wir weder für Wahrnehmungen noch für die anschaulichen (bildhaften) Erneuerungen von Wahrnehmungen (oder die Umgestaltungen solcher in Phantasievorstellungen) den Ausdruck "Denken" verwenden, so bleibt doch noch eine wichtige Gruppen von Vorgängen des Gegenstandsbewußtseins übrig, auf die wir vorläufig den Ausdruck beziehen können. Wir können nämlich an eine früher gesehene Landschaft, eine gehörte Musik, einen gehabten Gaumengenuß auch bloß "denken", ohne sie in irgendwie anschaulicher Form zu reproduzieren. Und das findet nicht etwa in seltenen Ausnahmefällen statt. Wenn wir über sinnlich wahrnehmbare Gegenstände reden oder mit solchen innerlich beschäftigt sind, ist es durchaus nicht immer so, daß sie uns anschaulich vor der Seele stünden. Und wie gar vieles, von dem wir reden oder über das wir nachdenken, läßt sich überhaupt nicht anschauen! Gleichwohl können wir es denken, es "meinen", und dieses "Denken" und "Meinen" ist ebensowenig anschaulich wie das Gedachte, das Gemeinte. Es gibt also Vorgänge des Gegenstandsbewußtseins, die unanschaulicher Art sind, und wenn wir für diese den Terminus "Denken" in Anspruch nehmen, so ist damit seine Bedeutung zwar erheblich enger als im Sprachgebrauch des Alltags, aber wir sind mit diesem doch auch in ausreichender Übereinstimmung. Wenn er nämlich Denken und Sprechen in engste Beziehung setzt, so werden auch wir finden, daß es die von uns sogenannten Denkvorgänge sind, die den Worten im Bewußtsein ihre Bedeutung, ihren Sinn verleihen.

Unsere nähere Analyse wird nun freilich zeigen, daß im wirklichen Bewußtseinsleben die anschaulichen und unanschaulichen Elemente: also einerseits die Empfindungen und ihre Reproduktionen, andererseits das Denken aufs innigste miteinander verwoben sind. Auch in den Wahrnehmungen und den anschaulichen Erinnerungs- und Phantasievorstellungen werden wir Denkelemente entdecken, andererseits finden, daß sich auch mit dem abstraktesten Nachdenken meist (oder gar immer?) anschauliche Bewußtseinsinhalte verbinden. Doch die genaue Abgrenzung kann erst später erfolgen. -

Gerade die Denkvorgänge sind nun in neuerer Zeit einer genaueren Untersuchung unterzogen worden. Besonders in dem von OSWALD KÜLPE geleiteten Würzburger Institut für experimentelle Psychologie hat man sich diesem Forschungszweig eifrig gewidmet. Schon eine Reihe von Schriften sind aus dieser Arbeit hervorgegangen, so die später näher zu bezeichnenden Veröffentlichungen von ACH, BÜHLER, DÜRR, KÜLPE, MARBE, SCHULTZE und mir. Auch das Hauptziel dieses Buches ist es, in dieses Forschungsarbeit einzuführen und sie selbst weiter zu fördern. Aber dazu war es freilich nötig, die Besprechung nicht auf die Denkvorgänge im eigentlichen Sinne einzuschränken, sondern auch die anschaulichen Bewußtseinsinhalte, die Empfindungen, zu berücksichtigen. Das empfahl sich nicht bloß aus dem didaktischen Grund, durch eine Vergleichung dieser verschiedenen Klassen die Eigenart einer jeden schärfer hervortreten zu lassen, es schien auch erforderlich zu sein, um die ganze prinzipielle Bedeutung dieser neueren Untersuchungen über das Denken darzutun. Sie treten nämlich durch ihre Ergebnisse in den Gegensatz zu einer psychologischen Richtung, die auch heute noch zahlreiche Vertreter hat. Es ist dies die von englischen Psychologen des 18. Jahrhunderts ausgehende "sensualistische" Psychologie. Sie führt diesen Namen deshalb, weil sie es versucht, die gesamten Bewußtseinserscheinungen auf Empfindungen der Sinne (sensus) zurückzuführen. Da sie zur Erklärung komplizierterer Gebilde noch die gesetzmäßigen Verbindungen von Bewußtseinsinhalten, bzw. ihren Nachwirkungen heranzieht, so hat man diese Richtung auch als "Assoziationspsychologie" bezeichnet. Sie empfiehlt sich leicht durch ihre Einfachheit: sie operiert ja nur mit  einer  Grundklassse von Elementen und  einer  Gesetzmäßigkeit ihrer Verbindung; sie ist auch für den in der psychologischen Beobachtung weniger Geübten besonders bestechend, weil sie die anschaulichen Bewußtseinselemente, die als solche die relativ leicht greifbaren sind, als die einzig vorhandenen ansieht. Eben darum hat sie auch stets viele Anhänger gefunden. Ihr gegenüber galt es, das Denken als eigenartigen Bewußtseinsvorgang geradezu erst wieder zu entdecken. In der Tat ist in den oben erwähnten Untersuchungen durch eine genauere und planmäßige Beobachtung gezeigt worden, daß die Beschreibung der Vorgänge des Bewußtseins ganz lückenhaft bleibt, wenn man lediglich die  anschaulichen  Elemente berücksichtigt, daß insbesondere die sensualistische Psychologie den eigentlichen Denkvorgängen gar nicht gerecht wird. Zu diesem Ergebnis sind aber auch unabhängig von den oben genannten Psychologen noch andere gelangt wie z. B. BINET, LIPPS, STUMPF u. a. Es muß auch betont werden, daß WUNDT mit seiner "Apperzeptionslehre" gerade dem, was sich aus dem Assoziationsmechanismus nicht erklären läßt, Rechnung zu tragen suchte.

Aber noch ein anderes, nicht in erster Linie psychologisches Werk ist zu nennen, das über diese Fragen viel Klärung schaffen kann; es sind die "Logischen Untersuchungen" von HUSSERL. Sie enthalten auch vieles, was für eine Psychologie des Denkens von großer Bedeutung ist und sie vollziehen außerdem mit großer Schärfe die - im einzelnen oft recht schwierig durchzuführende - Unterscheidung zwischen der psychologischen und der logischen Betrachtungsweise des Denkens.

Ähnliches darf von dem - bisher allein vorliegenden - ersten Band der  Logik  von BENNO ERDMANN gesagt werden, der unlängst in zweiter, völlig umgearbeiteter Auflage erschienen ist.


2. Empfindungselemente
der äußeren Wahrnehmung.

Wir besprechen zunächst die  "Wahrnehmung".  Ich will an einigen Beispielen zeigen, was ich darunter verstehe. Als besonders naheliegend nehme ich solche, die ich gerade erlebte, ehe ich diese Worte niederschrieb. Ich sah aus dem Fenster meines Studierzimmers hinaus, ich sah dabei einen Garten, einen Wiesenfläche und in der Ferne einen Wald auf einem sanft ansteigenden Hügel, ich bemerkte ferner, wie die Blätter der Bäumchen in dem gegenüberliegenden Garten sich unruhig bewegten; gleichzeitig hörte ich Vöge zwitschern und auf der Straße Kinder lärmen. All das sind Wahrnehmungen und zwar "äußere" oder "sinnliche" Wahrnehmungen, d. h. solche, die sich auf äußere (körperliche) Dinge, ihre Beschaffenheiten und Verhältnisse, ihre Veränderungen und Wirkungen beziehen. Von ihnen unterscheiden wir die "inneren" oder "Selbstwahrnehmungen", die ein jeder von seinen seelischen Erlebnissen haben kann Auch dieses Wahrnehmungsart soll durch Beispiele veranschaulicht werden. Wenn ich soeben feststellte, daß ich mancherlei sah und hörte, oder wenn ich bemerke, daß der Lärm auf der Straße mir ein Gefühl der Unlust erregt, so sind das innere Wahrnehmungen. Man erkennt leicht: ihre Gegenstände sind von denen der äußeren Wahrnehmung ganz verschieden. Bei ihr waren Garten und Wiese, Wald und Hügel, Vogelgezwitscher und Kinderlärm die Objekte, bei der inneren Wahrnehmung sind es meine Wahrnehmungserlebnisse selbst und die sich damit verbindenden Gefühle.

Die große Verschiedenheit der beiden Wahrnehmungsarten macht es erforderlich, sie getrennt zu behandeln. Die  äußere  Wahrnehmung soll uns zuerst beschäftigen: sie ist im folgenden auch stets gemeint, wenn von Wahrnehmung schlechthin die Rede ist.

Man nennt die Wahrnehmungen nicht selten auch Wahrnehmungsvorstellungen und setzt ihnen die Erinnerungs- und Phantasievorstellungen entgegen. Was unter diese zu verstehen ist, bedarf kaum der Erläuterung. Ich schließe jetzt die Augen und suche mir die vorhin gesehenen Objekte oder die gehörten Geräusche wieder zu vergegenwärtigen. Dann habe ich Erinnerungsvorstellungen. Nehme ich mannigfache Veränderungen an dem vorhin Wahrgenommenen vor, lasse ich den Wald nicht mehr grüne, sondern gelbe Blätter tragen, die Kinder nicht mehr lärmen, sondern ein wohllautendes Lied singen, so sind das Phantasievorstellungen. Der Kürze halber sollen im folgenden Erinnerungs- und Phantasievorstellungen, wo es auf ihre Unterscheidung nicht ankommt, schlechthin als Vorstellungen unterschieden werden, ein Sprachgebrauch, der auch schon sonst in der Psychologie eine ziemlich weite Verbreitung gefunden hat. Weiterhin soll uns aber auch der Terminus "Vorstellung" dienen, die Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Phantasievorstellungen zusammenzufassen und von anderen Bewußtseinsvorgängen zu unterscheiden. Die erste (engere) Bedeutung von  Vorstellung  ist also gemeint, wenn die Wahrnehmung den Gegensatz bildet, die zweite (weitere), wenn Erlebnisse, wie Gefühle, Willensakte davon unterschieden werden.

An der Wahrnehmung, jenem so einheitlichen Erlebnis, können nun mannigfache Bestandteile unterschieden werden. Sie herauszuanalysieren, soll jetzt unsere Aufgabe sein. Ermöglicht wird uns ihre Lösung durch die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit auf einzelne Seiten, Momente usw. der wahrgenommenen Objekte zu richten und von den anderen abzusehen. So kann ich etwa jetzt davon abstrahieren, daß es ein Wald und eine Wiese ist, die ich da sehe, ich kann lediglich auf das dunklere Grüne des Waldes und das hellere der Wiese achten; ich kann ebenso davon abstrahieren, daß das, was ich höre von Kinder- und Vogelstimmen herrührt, ich kann lediglich auf die Töne und Geräusche achten. Derartige einfachste Bestandteile von Wahrnehmungen, wie das Erlebnis von "grün" oder anderen Farben, das von Geräuschen und Tönen, nicht minder das von "kalt" und "warm", "hart" und "weich", "salzig" und "bitter" usw. nennt die Psychologie  "Empfindungen". 

Wir schließen uns diesem Sprachgebrauch an und  unterscheiden  also zwischen "Wahrnehmung" und "Empfindung". Den Wald z. B. "empfinde ich nicht, sondern ich "nehme" ihn "wahr". In diesem Fall gibt uns übrigens auch der allgemeine Sprachgebrauch recht: aber in anderen Fällen gewährt er uns keine Stütze; denn man kann nach ihm geradesogut sagen: ich "empfinde grün"; wie: ich "nehme grün wahr". Wir werden darum bedacht sein müssen, den Begriff der Empfindung noch genauer festzustellen und ihn von dem der Wahrnehmung noch schärfer zu unterscheiden.

Doch dürfte es vorher noch am Platz sein, ein paar naheliegende Mißverständnisse abzuwehren. Wenn wir aus der Wahrnehmung Empfindungen als einfache Elemente herausgelöst haben, so soll damit noch nicht gesagt sein, daß die Empfindungen die  einzige  Art von Elementen ist, aus denen die Wahrnehmung besteht. Es wird sich uns vielmehr im Laufe unserer Untersuchung ergeben, daß dies nicht der Fall ist.

Ebensowenig darf unsere Analyse der Wahrnehmung zu dem Glauben verleiten, es soll damit etwas über die  Entstehung  der Wahrnehmung aus diesen einfachen Elementen behauptet werden. Von "Entsteheung" kann hierbei in zweifachem Sinn die Rede sein. Es könnte damit einerseits die allmähliche Entwicklung der Wahrnehmungen überhaupt beim Kind, und andererseits das Zustandekommen der einzelnen Wahrnehmung beim Erwachsenen gemeint sein. Die Entwicklung der Wahrnehmung beim Kind zu untersuchen, ist gewiß eine bedeutsame Aufgabe, aber sie beschäftigt uns hier nicht. Was aber die Wahrnehmung des Erwachsenen betrifft, so besagt unsere Analyse nichts über deren Zustandekommen. Wenn wir sie in bestimmte Bestandteile zerlegen, so ist damit durchaus nicht gesagt, daß sie durch das "Zusammenfügen" solcher Elemente entstanden ist. Die Möglichkeit, eine Pflanze in Wurzel, Stengel, Blätter, Blüten zu zerlegen, beweist ja auch nicht, daß sie durch Zusammenfügung solcher Teile zustande gekommen ist. Auch finde ich im Erlebnis einer Wahrnehmung nichts von einem solchen "Zusammenfügen", und anderen Beobachtern wird es wohl gerade so ergehen. Wollte man aber zu  unbewußten  Verknüpfungsvorgängen seine Zuflucht nehmen, so sei bemerkt, daß wir uns in unserer Untersuchung auf das "Bewußte" beschränken wollen. Damit bezeichnen wir hier all das, was wir an unseren Erlebnissen (d. h. unseren seelischen Vorgängen) durch innere Wahrnehmung bemerken können.

Diese Beschränkung unserer Betrachtung auf das Bewußte können wir auch so ausdrücken, daß wir sagen: wir wollen hier lediglich  "reine  Psychologie treiben. Damit ist gegeben, daß wir von allem Physischen (Körperlichen), was man etwa zur Erklärung unserer Erlebnisse heranzieht, absehen. Es dürfte nicht überflüssig sein, auf diesen Punkt noch etwas näher einzugehen; denn gerade bei der Empfindung ist es nicht ganz leicht genau zu bezeichnen, was daran das eigentlich Seelische (Psychische, Bewußte) ist, weil auch das Körperliche dabei eine so große Rolle spielt.

Offenkundig ist z. B. beim Sehen mein Auge beteiligt, denn ich brauche es nur zu schließen, und die optische Empfindung, die ich soeben hatte, hört auf. So ist es wohl verständlich, daß die Erforschung der Sinnesempfindungen auch das Auge berücksichtigt und zunächst seine wundervolle Struktur in allen Einzelheiten festzustellen sucht. Aber dabei wird sie beim Sinnesorgan selbst nicht Halt machen können. Die Netzhaut erweist sich als Ausbreitung der feinen Fasern des Sehnerven; nunmehr ist dieser zu verfolgen bis in seine Einmündung in den Hinterhauptlappen der Großhirnrinde, jener 3 mm dicken, rötlich-grauen Zellen- und Faserschicht, die sich in reicher Faltung um die übrigen Gehirnteile herumlegt. Die Erfahrung zeigt, daß nicht bloß das Auge, sondern daß auch Sehnerv und die zugehörige Rindenpartie unversehrt sein müssen, damit die Gesichtsempfindungen in normaler Weise zustande kommen.

Ist die Untersuchung der  Struktur  dieser Gebilde Sache der  Anatomie,  so hat die  Physiologie  ihre  Funktionen  und überhaupt die darin ablaufenden  Lebensvorgänge  zu erforschen; zudem mag der  Chemiker  sich um die Erkenntnis ihres stofflichen Bestandes bemühen; er mag etwa feststellen, daß im Gehirn Eiweiß, Kali, Phosphor, Wasser usw. enthalten sind. Endlich kommt die  Physik  in Betracht; wir erleben ja normalerweise keine Grünempfindung z. B., wenn kein Licht und kein grüner Körper vorhanden ist. Die Physik aber belehrt uns, daß das Licht aus Ätherschwingungen besteht, und daß grüne Körper solche sind, deren Oberfläche nur Schwingungen von einer bestimmten Wellenlänge zurückwirft und die übrigen verschluckt; daß endlich die Schwingungen, die, vom Körper reflektiert, die Netzhaut des Auges treffen, den "Reiz" ausmachen, den den Anstoß gibt zu jenen physiologischen Vorgängen im Auge, im Sehnerven und im Gehirn.

Nun ist es aber von größter Wichtigkeit, die  Psychologie,  soweit sie eben als "reine" Psychologie lediglich die Bewußtseinserlebnisse selbst untersucht, von den anderen Wissenschaften, wie Physiologie, Physik usw. scharf auseinanderzuhalten. Der ganze, eben skizzierte Vorgang, von der Reflexion bestimmter Ätherschwingungen an bis zum Eintritt bestimmter Erregungen in die Großhirnrinde und der Ausbreitung in ihr, ist ein rein körperlicher (physischer). Hätte die Naturwissenschaft ihr Ideal, sämtliche physischen Geschehnisse auf Bewegungsvorgänge zurückzuführen, schon erreicht, so würde sie jenen Prozeß darstellen können als einen Komplex von Bewegungen zunächst des Äthers, dann der Moleküle und Atome, die Auge, Sehnerv und Gehirn bilden. Aber Bewegungen materieller Teilchen sind doch etwas anderes, als was wir mit und in jener Empfindung des Grün erleben. Wir sehen nicht Äther oder unsere Netzhaut, sondern wir sehen eben "Grün"; und in dieser Empfindung ist nichts von chemischen oder elektrischen Vorgängen in den Nerven und im Gehirn. Zwar können wir uns der Annahme nicht entziehen, daß jener physikalische Reiz und jene physiologischen Vorgänge im Innern des Organismus Bedingungen sind für das Zustandekommen der Empfindung, aber wir wissen gar nichts näheres darüber, wie sie es denn anfangen, jenes  psychische  Erlebnis, die Empfindung, hervorzurufen. Gewiß hat die Forschung die Funktion der Sinne, also - um bei unserem Beispiel zu bleiben - die des Auges aufgeklärt, aber damit sind wir noch ganz im  physischen  Gebiet. Dagegen hat die Nerven- und Gehirnforschung für die Erkenntnis des  seelischen  Geschehens selbst noch so gut wie nichts zu leisten vermocht. Es kann keine Rede davon sein, daß sie die Empfindungen etwas als Wirkung von Nerven- und Gehirnvorgängen "erklärt" hat. Denn dazu müßte sie aus den physischen Beschaffenheiten dieser Organe, deren Leistungen als naturgesetzlich notwendigen Effekt ableiten können, "so etwa, wie man die Leistung einer Lokomotive aus der Expansionskraft des heißen Wasserdampfs und dem Mechanismus der Maschinenteile als notwendige Folge deduzuieren kann". (4) Inwiefern trägt etwa "das Volumen, das absolute und das spezifische Gewicht, die Struktur und Textur, der Faltenreichtum und der Fettgehalt des menschlichen Gehirns" zur Entstehung von Empfindungen bei: die Wissenschaft gibt uns darauf keine Antwort. - Wir sehen aber so, wie uns die Erwägung der alltäglichsten Wahrnehmungsvorgänge hineinführt in eines der schwierigsten Probleme der  Metaphysik,  in die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele.

Aber mit Metaphysik wollen wir uns hier ebensowenig abgeben, wie mit Anatomie und Physiologie, Physik und Chemie. Unsere ganze Abschweifung auf jene Gebiete sollte nur zeigen, was alles  nicht  zum Forschungskreis der "reinen Psychologie" gehört. Zweckmäßig aber erschien dieser Exkurs, weil man es selbst bei Gebildeten nicht selten erlebt, daß sie das Psychische und das Physische verwechseln und ineinander mengen. Erstes Erfordernis für das Eindringen in eine wissenschaftliche Disziplin ist es aber, sich klar darüber zu werdebm welches eigentlich ihr Gegenstand ist, von welchem Gesichtspunkt aus sie ihn betrachtet und welche Fragen sie zu lösen unternimmt.

Wenn nun aber die reine Psychologie als solche unmittelbar nichts zu tun hat, mit den physikalischen und den sonst oben erwähnten Fragen: was bleibt ihr dann selbst zu tun? Sie will eben feststellen, wie beschaffen das Psychische, d. h. die Bewußtseinserlebnisse selbst sind, insbesondere aus welchen Arten von Elementen sie bestehen, wie diese Elemente zu psychischen Gebilden zusammengesetzt sind, welche Gesetzmäßigkeiten sich in der Struktur dieser Gebilde und im Verlauf der psychischen Vorgänge feststellen lassen. (5) Welch' weitgreifende und subtile Untersuchungen die Beschäftigung mit diesen Problemen nötig gemacht hat, und daß diese nicht ergebnislos gewesen sind, das zeigt schon das Empfindungsgebiet für sich zur Genüge. Jene populäre Unterscheidung der "fünf Sinne" ist längst überholt. Was ich empfinde, wenn ich das vor mir liegende Blatt berühre, das würde die Vulgärpsychologie des täglichen Lebens lediglich dem sogenannten "Gefühl" zuschreiben. Die wissenschaftliche Psychologie wird daran die Bewegungs- und Widerstandsempfindung der Sensibilität der Muskeln, Sehnen und Gelenke, von der Berührungsempfindung und andererseits der Temperaturempfindung des Hautsinnes unterschieden; von "Gefühl" wird sie dabei überhaupt nicht reden, es sei denn, daß sich Erlebnisse von Lust oder Unlust mit jenen Empfindungen verknüpfen. So haben wir überhaupt eine viel größere Zahl von Empfindungsklassen unterscheiden gelernt, als in jener dem populären Bewußtseins noch geläufigen Unterscheidung der fünf Sinne angenommen wird. Und wie hat man sich weiter bemüht, innerhalb jener Empfindungsklassen die einzelnen Qualitäten der Empfindung zu unterscheiden, ihre gegenseitigen Verhältnisse usw. festzustellen!

Man sieht, es fehlt der reinen Psychologie nicht an Arbeit; auch ist sie von einzelnen Forschern mit den erwähnten angrenzenden Disziplinen in eine fruchtbare Wechselbeziehung gesetzt worden. Denn so notwendig es ist, die Gegenstände der einzelnen Wissenschaften und ihre Fragestellungen sorgfältig zu sondern, so zweckmäßig ist es meist, wenn sich ihre Vertreter in ihrer Arbeit gegenseitig unterstützen, oder wenn der Erforscher eines Gebietes auch auf den angrenzenden heimisch ist. So haben gerade in der Empfindungsforschung psychologische, physiologische und physikalische Untersuchungen sich einander gefördert, und zwar umso mehr, je mehr man sich der prinzipiellen Unterschiede dieser Gebiete klar bewußt war.

Trotz dieser außerordentlichen Entwicklung der Empfindungsforschung ist man doch noch nicht zu einer allgemein anerkannten Definition der Empfindung gelangt. Eine klare Verständigung aber darüber, was wir unter diesem Terminus zu verstehen haben, ist uns für unsere Untersuchung von besonderem Wert. Um zu einer solchen Verständigung zu gelangen, scheint es dienlich, die Definitionen einiger bedeutender Psychologen einer kritischen Besprechung zu unterziehen.

FRIEDRICH JODL erklärt in einem "Lehrbuch der Psychologie" (6): "Unter Empfindung verstehen wir einen im Zentralorgan auf Veranlassung eines ihm von den peripheren Organen zugeführten Nervenreizes entwickelten Bewußtseinszustand, in welchem ein qualitativ und quantitativ bestimmtes Etwas (Inhalt, Aliquid) zur innerlichen Erscheinung kommt. Dieses wird in der englischen und französischen Psychologie auch als das präsentative oder perzeptive Element in der Empfindung bezeichnet."

Man sieht sofort: diese Definition geht über die Sphäre der rein psychologischen Beschreibung hinaus, indem sie den Reiz und das Zentralorgan herbeizieht. Dabei kann der Ausdruck "im Zentralorgan" noch dem nicht selten auftauchenden Irrtum Vorschub leisten, die Empfindungen seien eigentlich im Gehirn und würden von da in irgendeiner geheimnisvollen Weise hinausprojiziert. Unsere frühere Auseinandersetzung über den Unterschied des Psychischen von dem damit irgendwie in Zusammenhang stehenden Physischen hat den Leser hoffentlich gegen derartige Annahmen gefeit, die natürlich auch nicht im Sinne JODLs wären. Der Vorgang im Zentralorgan mag eine Bedingung sein für das Zustandekommen jenes "Grün"erlebnisses, das Grün, jenes Etwas (Inhalt), das JODL Empfindung nennt, ist nicht im Gehirn, sondern dort in der Ferne, an jenem Wald und an den Wiesen davor.

Halten wir uns nur an den rein psychologisch beschreibenden Inhalt der Definition, so besagt er, daß die Empfindung eine Bewußtseinszustand ist, in welchem ein qualitativ und quantitativ bestimmtes Etwas (Inhalt) zur innerlichen Erscheinung kommt. Mit dem Ausdruck "Zustand" kann hier nicht etwas Beharrendes oder wenigstens beträchtliche Zeit dauerndes gemeint sein, denn die Empfindungen können außerordentlich flüchtig sein. Die Qualität jenes Etwas ist in unserem Beispiel eben das "Grün"; quantitativ bestimmt (bzw. bestimmbar) ist es  einmal  hinsichtlich seiner Intensität, nämlich seines Helligkeitsgrades, sodann hinsichtlich seiner Extensität, seiner Ausdehnung in Raum und Zeit. Daß dieses Etwas "zur innerlichen Erscheinung kommt", bedarf einer kurzen Erklärung. "Innerlich" ist natürlich nicht räumlich zu verstehen. Es gibt freilich auch Empfindungen, wie z. B. Organempfindungen (Hunger, Durst usw.), die als irgendwo im Körper lokalisiert erlebt werden. Aber das ist mit "innerlich" hier nicht gemeint, sondern lediglich die Tatsache, daß die Empfindung nichts Äußeres, d. h. Körperliches (Physisches), sondern ein Bewußtseinserlebnis und insofern nur für das  eine  erlebende Subjekt da ist, diesem sozusagen innerlinch angehört. Daß Etwas "zur Erscheinung kommt", darf nicht so gefaßt werden, als stecke sozusagen  hinter  oder  in  der Empfindung noch ein von ihr verschiedenes Etwas, das sich in ihr und durch sie kundgibt. Daß es etwas derartiges gibt, soll nicht in Abrede gestellt werden, aber seine Berücksichtigung würd uns ja wieder in die Sphäre des Physischen (der physikalischen "Reize" und der physiologischen "Erregungsvorgänge") führen. Rein deskriptiv genommen, kann der Ausdruck nur besagen, daß im Empfindungserlebnis eben "Etwas" im Bewußtsein vorkommt. Demgegenüber kann man freilich bemerken, überhaupt bei allen Bewußtseinserlebnissen werde eben "Etwas" im Bewußtsein da sein. Wäre gar kein Inhalt im Bewußtsein, so hätten wir eben kein Erlebnis. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint geradezu "Inhalt" (d. h. jedes "Etwas" im Bewußtsein) und "Erlebnis", (der umfassendste Ausdruck für alles Psychische oder Bewußte) als gleichbedeutend. JODL aber scheint hier "Inhalt" in einem engeren, prägnanteren Sinn zu verwenden. Das zeigt deutlich eine andere Stelle, wo er das "Gefühl" im Unterschied zur Empfindung charakterisiert. Dort (7) schreibt er: "Das Gefühl bringt keine sachlichen oder dinglichen Momente zu Bewußtsein; es ist, wie die neuere englische und französische Psychologie es ausdrückt, nicht präsentativ, oder, wie neuere deutsche Psychologen zu sagen pflegen, es ist zuständliches, nicht gegenständliches Bewußtsein. Lust und Schmerz bedeuten nicht Gegenstände, die ich empfinde, sondern das Wie des Empfindens, die Art und Weise, wie die Person sich dabei befindet." Damit ist klar: wenn JODL die Empfindung als einen "Inhalt" bezeichnet, so denkt er dabei an ein Etas, das dem Ich sozusagen  gegenübersteht,  wie es gerade bei den Gesichtsempfindungen am deutlichsten ist. Das Gefühl ist also nach ihm gekennzeichnet durch einen  subjektiven,  die Empfindung durch einen  objektiven  Charakter.

Indem JODL die Unterscheidung von Gefühl und Empfindung in dieser Weise vollzieht, befindet er sich in sachlicher Übereinstimmung mit der Mehrzahl der heutigen Psychologen. So vor allem mit dem Hauptvertreter der heutigen wissenschaftlichen Psychologie, mit WILHELM WUNDT (8) Dieser führt aus: "Die Tatsache, daß die unmittelbare Erfahrung  zwei  Faktoren enthält, einen objektiven Erfahrungsinhalt und das erfahrende Subjekt, entsprechen  zwei Arten psychischer Elemente,  die sich als Produkte der psychologischen Analyse ergeben. Die Elemente des objektiven Erfahrungsinhalts bezeichnen wir als  Empfindungselemente  oder schlechthin als  Empfindungen:  z. B. einen Ton, eine bestimmte Wärme-, Kälte-, Lichtempfindung usw., wobei jedesmal alle Verbindungen dieser Empfindungen mit andern, sowie nicht minder die räumliche und zeitliche Ordnung derselben außer Betracht bleiben. Die  subjektiven  Elemente bezeichnen wir als  Gefühlselemente  oder als  einfache Gefühle." 

Man sieht: WUNDT ist bestrebt, bei seiner Definition sich auf den rein psychologischen Standpunkt zu stellen. Er erklärt darum ausdrücklich - und das unterscheidet seine Definition von der JODLs -: für die psychologischen Eigenschaften der Empfindung ist der Umstand,  daß  und  ob  sie von äußeren Sinnesreizen herrührt, gleichgültig. Damit ist auch gesagt, daß für die deskriptiv-psychologische Betrachtung, eine normale Empfindung, die durch Sinnesreizung und deren Fortleitung zum Zentralorgan bedingt ist, und eine Halluzination, die lediglich auf einer zentralen Erregung beruth, gleichartig sind. Der Wert beider Erlebnisse für unsere Erkenntnis ist natürlich fundamental verschieden: dort handelt es sich um die Erfassung eines vom Subjekt unabhängig bestehenden Wirklichen, hier um einen lediglich dem Subjekt angehörigen Inhalt, der freilich von diesem als Erscheinung eines selbständigen Gegenstands aufgefaßt werden wird, solange es nicht durch widerstreitende Erfahrungen oder Mitteilung anderer über den wahren Sachverhalt aufgeklärt ist. Aber doch ist es methodisch richtig, von diesem Unterschied in der reinen Psychologie abzusehen; denn die Abschätzung des Erkenntniswerts psychischer Erlebnisse ist nicht Sache der Psychologie, sofern sie sich nicht auf die Beschreibung der Erlebnisse beschränkt, sondern über das deskriptive Verfahren zu einem erklärenden übergeht, den Unterschied der in den physischen Bedingungen der Empfindung und der Halluzination besteht, berücksichtigen müssen, sie wird diese beiden aber deshalb nicht verschieden bewerten, sondern lediglich den Unterschied in der Bedingtheit feststellen. Es ist also durchaus dem prinzipiellen Standpunkt der reinen Psychologie entsprechend, wenn WUNDT die Berücksichtigung von physikalischem Reiz und physiologischer Erregung aus der Definition der Empfindung ausschaltet.

Die Abgrenzung aber, die er zwischen Empfindung und Gefühl vornimmt, findet u. a. auch die Zustimmung von THEODOR LIPPS. Ehe wir jedoch dieses näher darlegen, müssen wir kurz auf eine Unterscheidung eingehen, die LIPPS an der Empfindung selbst vollzieht, und die wir bei JODL und WUNDT nicht fanden. Er sagt nämlich (9): "Es ist eine Grundbedingung für die Psychologie, daß jederzeit und an jedem Punkt aufs bestimmteste unterschieden werden: die Empfindungsinhalte und die Empfindungen; ebenso die Vorstellungsinhalte und die Vorstellungen. Der empfundene Ton ist ein Empfindungsinhalt. Die Empfindung des Tones ist, phänomenologisch gefaßt (d. h. für den deskriptiv-psychologischen Standpunkt, wie wir es bisher nannten), die unmittelbar erlebte Beziehung zwischen mir und dem Ton, und sie ist für die über die phänomenologische Betrachtung hinausgehende Betrachtung der reale Empfindungsvorgang. Gleichartiges gilt von der Vorstellung."

Gewiß ist die Unterscheidung, die LIPPS vollzieht, möglich. Sie kann freilich leicht dazu verleiten, ein Produkt nachträglicher Reflexion in die Beschreibung des Erlebnisses selbst hineinzutragen. Man wird nämlich in der Wahrnehmung und in den an ihr unterscheidbaren Empfindungen in der Regel nichts von unserem Ich und einem Verhältnis jener Bewußtseinsinhalte zum Ich vorfinden. Nur wenn ich nachträglich überlege, daß doch alle diese Inhalte  meine  Bewußtseinsinhalte sind, daß sie meinem identischen Ich angehören, kann man sich, wie LIPPS das tut, das Bewußtseinserlebnis sozusagen als eine Linie mit zwei Endpunkten konstruieren. "Der eine Endpunkt ist der so oder so beschaffene Inhalt, der andere Endpunkt, besser der Anfangspunkt, ist das Ich." (10) Während wir also im Empfindungserlebnis lediglich auf den jeweiligen Inhalt (bzw. Gegenstand) gerichtet waren, sind wir in dieser nachfolgenden Reflexion nicht bloß auf diesen Inhalt, sondern auch auf das Ich des vorangegangenen Erlebnisses und seine Beziehung zum Inhalt gerichtet. Durch diese Berücksichtigung des Ich, dadurch, daß ich auch dieses zum Gegenstand mache und in eine Beziehung zum Inhalt setze, wird über die schlichte Beschreibung des Erlebnisses selbst hinausgegangen. Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, daß alle meine Erlebnisse eben "meine" sind und insofern dem "Ich" angehören, zu ihm in Beziehung stehen, aber dieses erlebende Ich ist nicht selbst Inhalt des Erlebnisses, höchstens kann das Ich eines vergangenen Moments in einer nachträglichen Reflexion für mich Inhalt werden. (11) Mit jener Zugehörigkeit zum Ich ist nichts anderes gesagt, als daß wir die Erlebnisse als "innere", als seelische (psychische) oder bewußte von den physischen Vorgängen unterscheiden und daß wir sie eben als "unsere" ansehen. Sie schweben also weder gleichsam beziehungslos im leeren Raum, noch sind wir je im Zweifel, ob sie uns oder anderen Subjekten angehören. Eben darum aber, weil diese Art der Zugehörigkeit zu einem Ich für  alle  Erlebnisse zutrifft, weil sie  alle  in diesem Sinne Ich-Erlebnisse sind, können wir hiervon beim Versuch, die einzelnen Erlebnis arten  (wie Empfindungen, Gefühle usw.) voneinander zu sondern, gänzlich absehen. Wenn wir also seither einfach von "Empfindung" sprachen, und weiter davon sprechen werden, so meinen wir damit das, was LIPPS "Empfindungsinhalt" nennt.

Was aber dessen deskriptive Charakterisierung betrifft, so führt LIPPS aus (12): "Empfindungsinhalte werden erlebt als schlechthin von mir Unterschiedenes und mir Gegenüberstehendes. Sie sind absolut "gegenständliche" Inhalte. Gefühle dagegen sind unmittelbar erlebte Qualitäten oder Bestimmtheiten des Ich. Sie sind also absolut subjektiv. Ich fühle mich erfreut, einer Sache gewiß, strebend, widerstrebend, aber ich fühle mich nicht blau, süß; vielmehr empfinde ich so von mir unterschiedene Objekte". Und an einer anderen Stelle (13) sagt er: "Man kann die Empfindungsinhalte als gegenständliche Bewußtseinsinhalte bezeichnen, wenn man damit sagen will, sie seien etwas von "mir" oder dem "Ich" Verschiedenes, das mir oder dem Ich zuteil wird, das ich erfahre, angesichts dessen ich mich rezeptiv verhalte, kurz, das ich habe. Man kann dieselben auch bezeichnen . . . als  objektive  Bewußtseinserlebnisse (dadurch unterschieden von der Gefühlen und allen Tätigkeiten und Akten). Auch "Gefühle" habe ich, aber sie sind nicht etwas, das ich empfange oder erfahre, sondern vielmehr etwas, das ich  bin,  oder in dem ich  mich  unmittelbar als irgendwie bestimmt erleben. Gefühle sind  zuständliche  Bewußtseinsinhalte".

Damit hätten wir dann, wie es scheint, eine einfache Definition der Empfindung erhalten: Empfindungen sind gegenständliche (objektive) Inhalte, Gefühle zuständliche (subjektive). Daß diese Begriffsbestimmung erst durch den Vergleich mit den Gefühlen zu gewinnen war, ist kein Nachteil. Wir kommen in der Regel erst durch Vergleichungen zu Aussagen über die Erlebnisse. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß deren Eigenschaften lediglich in Beziehungen zu andersartigen Erlebnissen bestehen und in diesem Sinne bloß "relativ" sind. Wo nichts ist, da kann auch keine Beziehung festgestellt werden; vielmehr setzt jede Relation absolute Beziehungsglieder voraus und eine absolute Beschaffenheit dieser Glieder.

In dieser Hinsicht wäre also gegen die angeführte Definition nichts einzuwenden, wohl aber hat man neuerdings zu zeigen gesucht, daß keine ausreichenden Gründe dafür vorliegen, Empfindungen und Gefühle als zwei ganz verschiedene Grundklassen psychischer Elemente anzusehen. CARL STUMPF, der sich durch sein großes Werk über "Tonpsychologie" als Meister der psychologischen Forschung bewährt hat, vertritt in seiner Abhandlung "Über Gefühlsempfindungen" (14) die Ansicht, die sogenannten "sinnlichen Gefühle" seien selbst als eine Klasse von Sinnesempfindungen anszusehen. In der Tat wird man ihm zugeben können: wenn nicht zwingende Gründe vorliegen, die eine solche fundamentale Scheidung rechtfertigen, so widerspricht es dem Grundsatz wissenschaftlicher Ökonomie, zwei besondere Gattungen zu statuieren. Für das wissenschaftliche Verfahren ist das aber insofern bedeutsam, als bei der Zusammenfassung der Empfindungen und der sinnlichen Gefühle in  eine  Gattung, dieselben Forschungsmethoden, die sich für die Empfindungen als fruchtbar erwiesen haben, ohne weiteres auchfür die sinnlichen Gefühle angewandt werden können.

STUMPF versteht aber unter "sinnlichen Gefühlen" oder "Gefühlsempfindungen" (wie er sie nennen will) zunächst: die rein körperlichen Schmerzen. Diese zerfallen wieder in Hautschmerzen (die übrigens schon gegenwärtig von den meisten Forschern den Empfindungen zugezählt werden) und in Schmerzen, die aus dem Inneren des Organismus stammen. Weiter rechnet STUMPF zu den Gefühlsempfindungen die Erlebnisse der Lust, die teils ebenfalls durch Hautreizungen entstehen, wie die Kitzel, Juck- und Wollustempfindungen, teils durch die vegetative Tätigkeit einzelner Organe oder des ganzen Körpers ausgelöst werden; endlich die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die sich mit den Empfindungen der anderen Sinne wie mit Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, Farben usw. in verschiedener Intensität verbinden. Dagegen sollen die sogenannten  "geistigen"  Gefühle, auch "Affekte" oder "Gemütsbewegungen" genannt (wie Liebe, Haß, Freude, Trauer u. a.) von der Klasse der Gefühlsempfindungen ausgeschlossen bleiben. Wohin sie zu rechnen sind, werden wir später sehen.

Die Hauptfrage ist nun: wie steht es mit dem von JODL, WUNDT, LIPPS u. a. angeführten Unterscheidungsmerkmal, wonach die Empfindung objektiv, die Gefühle subjektiv sind?

STUMPF bestreitet nicht, daß wir die Empfindungsinhalte des Gesichtssinns den äußeren Dingen in sich selbst zuschreiben und sie insofern objektivieren: Farbe, Ausdehnung, Bewegung denkt das gewöhnliche Bewußtsein als den Gegenständen innewohnend, auch ohne daß jemand diese gerade sieht. Aber er hebt hervor: bei anderen Empfindungen gilt das doch nicht im gleichen Sinn. Daß Zucker süß ist, bedeutet auch schon für die naive Auffassung, daß er süß schmeckt. Hier ist also der Empfindungsinhalt nicht schlechthin objektiviert, sondern in ihm meint man lediglich eine Beziehung zwischen Subjekt und Gegenstand zu erleben. Dasselbe gilt für die Gerüche und in gewissem Grad auch schon für Töne und Geräusche.

Nichts anders aber steht es mit den Erlebnissen von Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit (sinnlicher Lust und Unlust). Diese sollen nach der von STUMPF bekämpften Ansicht schlechthin subjektiv sein, d. h. als Zustände des Subjekts unmittelbar erlebt werden und eben dadurch von den Empfindungen völlig verschieden sein. Aber ist das wirklich der Fall? Zeigt es sich so bei einer unbefangenen Analyse und Beschreibung solcher Erlebnisse? Nennen wir nicht den kühlen Wein angenehm in demselben Sin, wie wir ihn kühl nennen und ihm diesen oder jenen Geschmack beilegen? Das zarte Grün der Wiese und das sanfte Blau des Himmels sind mir angenehm: erscheint ihre Annehmlichkeit, die wir in den Ausdrücken "zart" und "sanft" ihnen beilegen, nicht gerade so als ihre Eigenschaft wie ihre Farbe? Wenn ich die Glätte dieses Papiers oder meines Federhalters angenehm finde, erscheint diese Annehmlichkeit nicht gerade so auf der Gegenstandsseite wie die Glätte? Und wenn ich irgendetwas Ekelhaftes sehe, scheint nicht die Häßlichkeit ihm gerade so anzuhaften wie andere Eigenschaften?

Endlich ist noch der umfangreichen Klasse der Organempfindungen zu gedenken. Daß sie den Empfindungen beizuzählen seien, wird in der Regel nicht bestritten: gleichwohl werden sie meist ohne weiteres dem Ich als Eigenschaft beigelegt, also subjektiviert: ich fühle mich hungrig, durstig, müde, frisch usw.

Freilich ist es auch möglich, die Sphäre des Ichs sozusagen noch weiter einzuschränken und auch alle diese Organempfindungen von der Ichseite auf die Gegenstandsseite zu verlegen, sie zu Objekten der Beobachtung zu machen.

Es kann z. B. der Fall sein, daß ich soeben unwillkürlich geäußert habe: "Ich fühle mich sehr müde"; und ich vermag dann sofort aus diesem sozusagen naiven (unreflektierten) Erleben der Müdigkeit dazu überzugehen, die einzelnen Organempfindungen, aus denen sich dieser Zustand zusammensetzt, zu beobachten.

Das kann ich aber schließlich allen Bewußtseinsinhalten (im weitesten Sinne) gegenüber. Damit ist jedoch schon gesagt, daß der Charakter der Subjektivität und Objektivität  nicht  bestimmten Inhalten ein für allemal anhaftet (15), so daß es möglich wäre, nach diesem Merkmal eine fundamentale Unterscheidung vorzunehmen, die sich in allen Fällen bewährte.

Verhält es sich aber derart, so kommt auch der von den erwähnten Psychologen geltend gemachte Grund für die Auffassung von Empfindungen und (sinnlichen) Gefühlen als zwei ganz verschiedene Gattungen in Wegfall, und wir werden dem Vorschlag STUMPFs beistimmen dürfen,  die  "sinnlichen Gefühle", den Erlebnissen (bzw. den Erlebniselementen) die schon seither als "Empfindungen" bezeichnet wurden, zuzurechnen.' Wenn wir in dieser Weise davon absehen, zwei verschieden  Gattungen  zu statuieren, so wird damit natürlich nicht bestritten, daß die "Gefühlsempfindungen" von anderen Empfindungs arten  zu unterscheiden seien. Daß aber in der Gattung der Empfindungen mehrere Arten zu sondern seien, das ist ja längst anerkannt.

Stimmen wir aber STUMPF in dieser Weise zu, so folgt daraus, daß die von JODL, WUNDT u. a. aufgestellte Definition der Empfindung für uns nicht mehr verwendbar ist, da sie ja - soweit sie rein psychologischen Inhalts ist - lediglich jenen angeblichen Unterschied von Objektivität und Subjektivität zur Charakterisierung der Empfindungen im Gegensatz zu den Gefühlen verwendete.

Wir werden erst dann in die Lage kommen charakteristische Merkmale unserer, jetzt um die "Gefühlsempfindungen" erweiterten, Empfindungsgattung anzugeben, wenn es uns gelingt, neben diesen wenigstens noch  eine  Gattung von Erlebnissen oder Erlebniselementen aufzufinden, die sich von den Empfindungen deutlich abhebt. Unsere bisherigen Erörterungen werden aber ausreichend dargetan haben, was wir mit dem Terminus "Empfindung" bezeichnen wollen; das aber ist die Hauptsache. Ob es gelingt, von diesem Begriff eine kunstgerechte Definition zu geben oder nicht, ist schließlich eine Frage zweiten Grades. In der Tat begnügen sich manche Psychologen überhaupt damit, durch die Anführung einiger Beispiele kund zu geben, was sie mit dem Ausdruck "Empfindung" meinen. Dies kann aber auch für uns vorläufig umso eher hinreichen, als für unsere späteren Erörterungen intellektueller Vorgänge vorwiegend nur optische, akustische, motorische und etwa noch Tastempfindungen (und deren Reproduktionen) in Frage kommen, also Empfindungsarten, die sich auch vom psychologisch weniger Geschulten verhältnismäßig leicht erkennen lassen.

Ehe wir nun zur Untersuchung der Frage übergehen, ob nicht in den Wahrnehmungen neben den Empfindungen noch ganz andersartige Elemente anzutreffen sind, müssen wir noch auf einiges hinweisen, das zu den Empfindungen in engster Beziehung steht.

Da sind zunächst die  räumlichen  und  zeitlichen  Bestimmungen der Empfindung zu nennen. An beiden kann man wieder Eigenschaften und Beziehungen unterscheiden. Das gemeinsame Element aller räumlichen Eigenschaften ist die Ausdehnung, das der räumlichen Beziehungen die Entfernung. Räumliche Eigenschaften haften ursprünglich nur an zwei Arten von Empfindungen, an denen des Gesichts- und Tastsinns. Ausdehnung ist etwas Gesehenes oder Getastetes. Bei Tonempfindungen kann sich höchstens etwas Raumähnliches: Voluminöses oder Dünnes zeigen. Räumliche Beziehungen lassen sich für alle Empfindungen feststellen, weil alle mit Hilfe von Erfahrungen unter Benutzung jener beiden Raumsinne mehr oder minder genau lokalisierbar sind.

Die zeitlichen Eigenschaften sind alle auf die Dauer, die zeitlichen Beziehungen auf die Zeitordnung zurückführbar. Beide können an allen möglichen Empfindungen, ja überhaupt an allen Erlebnissen zum Bewußtsein kommen. Die Frage, wie sich unser Bewußtsein vom Räumlichen und Zeitlichen entwickelt, dürfen wir als eine genetische in unserer deskriptiven Untersuchung beiseite lassen. Noch ferner liegt uns das erkenntnistheoretische Problem, inwieweit Raum und Zeit auch unabhängig vom erkennenden Subjekt existieren.

Neben dem räumlichen und zeitlichen Charakter der Empfindungen, der die Psychologen schon längst beschäftigt, ist man in neuerer Zeit auch noch auf andere Bestimmungen aufmerksam geworden, die in ähnlicher Weise den Empfindungen so innig anhaften, daß sie nur durch Abstraktion von ihnen zu trennen sind (16). So vermitteln uns die beiden Raumsinne unmittelbar und ohne weitere Reflexion auch den Eindruck von  Bewegungen.  Wir sehen ebenso ohne weiteres, daß sich ein Pferd bewegt, wie daß es weiß oder braun ist und diese oder jene Gestalt hat. Ebenso empfinden wir Bewegungen mit dem Tastsinn, wenn wir etwa gestreichelt, gekämmt, abgebürstet werden, wenn beim Duschen das Wasser an unserem Körper herabläuft usw. Es handelt sich dabei nicht um eine einfache Kombination von räumlichen und zeitlichen Erlebniselementen, vielmehr ist das Bewußtsein des stetigen Durchlaufens einer Raumstrecke etwas Neues und Eigenartiges, das auf jene Elemente nicht einfach zurückgeführt werden kann, das aber it der gleichen sinnlichen Lebhaftigkeit und Unmittelbarkeit erlebt wird wie Farben und Figuren. In derselben Weise wie Ortsveränderung bei Bewegungen, erleben wir  Veränderungen  überhaupt, seien es solche der Empfindungsqualität wie bei Tiefer- oder Höherwerden eines Tones, oder der Intensität, wie bei seinem An- und Abschwellen, beim Heller- oder Dunklerwerden eines Lichts usw. Endlich dürfte das Bewußtsein von Ähnlichkeit, Gleichheit, Verschiedenheit, von Einheit und Vielheit (bzw. unbestimmten Mengen), von Melodien und rythmischer Gliederung unmittelbar durch Empfindungen ausgelöst werden.

Durch den Ausdruck "auslösen" soll angedeutet werden, daß ein derartiges Bewußtsein von Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, Einheit oder Mehrheit usw. eben doch etwas anderes ist als das Erleben von Empfindungen, so innig es mit letzterem zusammenhängen mag. Es können verschiedene Empfindungen oder Empfindungskomplexe im Bewußtsein da sein und doch kann das Bewußtsein der Verschiedenheit (oder Mehrheit) fehlen. Daß sie als verschieden oder als mehrere gemeint werden, das ist ein Erlebnis besonderer Art, das von den Empfindungen wohl zu unterscheiden ist und auf das wir deshalb auch in einem anderen Zusammenhang nochmals zurückkommen werden. Hier sollte nur betont werden, daß Erlebnisse dieser Art in Empfindungen ihre Grundlage haben und an und mit diesen enstehen können.

Man hat die verschiedensten Namen für die hier besprochenen Elemente vorgeschlagen. Sie Empfindungen zu nennen, also von Raum-, Zeit-, Ähnlichkeitsempfindungen zu reden, geht deshalb nicht an, weil das den Eindruck erwecken würde, sie seien eine besondere Klasse von Empfindungen neben den früher erwähnten; während sie doch in eigenartiger Weise als an den Empfindungen haftend erscheinen. Die Bezeichnungen, die man bisher vorgeschlagen hat: "Gestaltqualitäten" (von EHRENFELS), "fundierte Inhalte" (MEINONG), "Anschauungen" (EBBINGHAUS), dürften kaum allgemein durchdringen. Die beiden ersteren sind allzu fremdartig für so geläufige Dinge wie Raum, Zeit, Bewegung, was EBBINGHAUS richtig hervorhebt. Seine eigene Bezeichnung aber scheint mir zu wenig Stütze im Sprachgebrauch zu haben. Gewiß kann man von der Anschauung einer Bewegung oder Veränderung reden, aber im allgemeinen begreifen wir unter "Anschauung" die Empfindungen mit. Die Anschauung eines Körpers schließt nicht nur seine Form ein, sondern auch seine Farbe. Im Veraluf unserer Erörterungen wird sich uns auch noch eine Verwendungsart der Termini "Anschauung" und "anschaulich" ergeben, die mehr dem Sprachgebrauch entspricht. Wir werden uns darum für jene Elemente mit der Bezeichnung "Formen der Empfindung, bzw. der Anschauung" behelfen. Der Ausdruck "Anschauungsformen" ist ja durch KANT für Raum und Zeit einigermaßen üblich geworden. Seine Ausdehnung auf die anderen erwähnten Erscheinungen erscheint sachlich berechtigt; denn wie Raum und Zeit deshalb als formal bezeichnet werden können, weil eine Raumfigur und eine Zeitstrecke dieselbe bleiben kann, während die Empfindungen, die ihren Inhalt bilden, wechseln, so gilt ein Gleiches für Bewegung, Einheit und Vielheit usw., wo auch die Empfindungen, die die Träger jener Eindrücke sind, sehr mannigfach sein können, während diese identisch bleiben.

Weiterhin stehen in naher Beziehung zu den Empfindungen deren  Reproduktionen.  Da wir die Empfindungen durch Analyse und Abstraktion aus den Wahrnehmungen gewinnen, so können wir natürlich auch versuchen, die reproduzierten Wahrnehmungen, die "Vorstellungen", in ihre den Empfindungen entsprechenden Elemente und deren Formen zu zerlegen. Wie ich "Grün" oder einen bestimmten Ton "empfinde", so kann ich mir beide auch "vorstellen". Freilich zeigen sich dabei außerordentlich große individuellen Unterschiede, und auch beim einzelnen Individuum kann die Fähigkeit des Vorstellens auf den einzelnen Sinnesgebieten sehr verschieden sein. Gesichtseindrücke können etwa nur ganz matt, verschwommen, flüchtig reproduziert werden, Gehörseindrücke dagegen lebhaft und deutlich oder umgekehrt. Die einzelnen Individuen können natürlich ihre hierhergehörigen Erlebnisse, sowenig wie Bewußtseinserlebnisse überhaupt, jemals direkt mit denen anderer Individuen vergleichen, aber die genauen Schilderungen, die zuverlässige Beobachter davon gegeben haben, berechtigen uns doch, bedeutende individuelle Verschiedenheiten anzunehmen.

Auch hier ist man mit der Terminologie einigermaßen in Schwierigkeiten. Man hat z. B. den Ausdruck "reproduzierte Empfindungen" vorgeschlagen; nur steht dem entgegen, daß an "Empfindung" gerade die Nebenbedeutung des Nicht-Reproduzierten, sondern des primär Erregten haftet. Man wird deshalb passender von "sekundären" Elementen schlechthin rede dürfen, zumal wenn der Zusammenhang keinen Zweifel daran läßt, daß Elemente von Vorstellungen und nicht von andersartigen Erlebnissen gemeint sind. Vielfach unterläßt man es auch, zwischen den Reproduktionen von Wahrnehmungen und denen von bloßen Empfindungen zu unterscheiden; man nennt beide kurzerhand "Vorstellungen". Wo es auf den Unterschied nicht ankommt, mag dies auch zulässig sein; doch wollen wir uns diesem Sprachgebrauch nicht anschließen, weil der Terminus "Vorstellung" ohnehin noch in mehrfacher Bedeutung seine Verwendung finden wird.

Da unsere Hauptaufgabe hier zunächst die Analyse der Wahrnehmung ist, so muß betont werden, daß  diese  sekundären Elemente bei unseren Wahrnehmungen in der Regel eine bedeutsame Rolle spielen.' Meist ist freilich ihre Beteiligung dabei nicht direkt zu konstatieren, sondern wir sind darauf angewiesen, sie zu erschließen. Wohl am leichtesten läßt sich ihre Mitwirkung beobachten bei Wahrnehmungen von Gegenständen in der Dämmerung. Wir glauben etwa bei einem Spaziergang in einiger Entfernung einen mann in gebückter Stellung zu sehen, beim Näherkommen finden wir, daß es ein Strauch oder Baumstumpf war, dabei kann es sein, daß wir bei jener ersten Wahrnehmung unserer Sache ganz sicher zu sein glaubten. Ähnlicher Erlebnisse wird sich wohl jeder erinnern. Zur weiteren Veranschaulichung möchte ich einges aus eigenen Untersuchungen (17) mitteilen. Es handelte sich um einfache Versuche, die darin bestanden, daß eine Versuchsperson auf Zuruf des Versuchsleiters die Bedeckung von einem vor ihr liegenden Gegenstand entfernte, diesen ansah und das erste ihr daraufhin einfallende Wort aussprach (oder - in einer anderen Versuchsreihe - eine Aussage darüber machte). Sie hatte hierauf sofort alles, was sie bei dem Versuch erlebte, zu Protokoll zu geben. Uns interessieren hier solche Protokolle nur, insofern sie die Mitwirkung sekundärer Elemente bei der Wahrnehmung bekunden; und hierfür bieten sie allerdings ein paar deutliche Beispiele.

Das Objekt war ein Sacharintablett; die Äußerung der Versuchsperson lautete: "Das ist klein"; die Zeit vom Ansichtigwerden des Gegenstandes bis zum Beginn der Aussage betrug 2 Sekunden (mit einer Fünftelsekungenuhr gemessen). Im Protokoll heißt es u. a.: "Während ich das kleine Stückchen ansah, veränderte sich seine optische Erscheinung in ganz eigentümlicher Weise, und es sah vorübergehende aus wie ein Pfefferminzplätzchen, mehr durchscheinend und runder; dabei war, glaube ich, undeutlich und fragmentarisch das Wortbild "Pfefferminzplätzchen" akustisch vorhanden, aber sehr deutlich der Gedanke daran usw."

Hier ist es doch unverkennbar, wie sekundäre Elemente aus der Vorstellung eines Pfefferminzplätzchens mit der Wahrnehmung verschmelzen, ja deren Elemente geradezu überwuchern. Weitere Beispiele zeigen Ähnliches: Objekt: ein Stück zusammengepreßtes Stanniol. Aussage der Versuchsperson (zweivierfünftel Sekunden): "Das ist . . . (Pause einer dreifünftel Sekunde) ein Stück zusammengewickeltes Stanniol." Protokoll: "Zuerst mehr als Fläche gesehen; dann mehr als unregelmäßige Rundung und der Gedanke, daß Schokolade enthalten ist. Dabei vielleicht rudimentäres Wortbild "Schokolade", besonders aber änderte sich vorübergehend die Erscheinung derart, daß ich fast etwas Braunes durchschimmern zu sehen meinte. Dann Pause; darauf Aussprache automatisch: "Das ist" . . . bis dahin war der Name "Stanniol" und der Gedanke daran noch gar nicht da. Ganz automatisch kam auf einmal das Folgende."

Objekt: ein kleines, mit weißen Seidenpapier umwickeltes Päckchen, das zwei Stahlfedern enthielt. Aussage: "Stecknadel". Eine Phase des Erlebnisses wird so geschildert: "Dann Erinnerung, ich glaube, an meine Mutter und an einen Nähtisch und Ähnliches (sehr undeutlich) und die lebhhafte Vorstellung, daß Stecknadeln in diesem Paket wären; es war förmlich, als sähe ich sie." Objekt: ein kleines, altes, mit kleinen Rostflecken bedecktes Blechstück (das infolge trüben Wetters nur mangelhaft beleuchtet war). Protokoll: "Erste Phase: ich hatte die reine Erscheinung, gar keine gegenständliche Interpretation. (18) Zweite Phase: das Objekt erschien mir wie eine malayische Schriftnote. Es war die reine Jllusion, ganze Linien von Schriftzeichen habe ich gesehen. Dritte Phase: die Erscheinung ändert sich wieder, ich sah die Punkte und Unregelmäßigkeiten der Oberfläche als solche. Der silbrige Schimmer trat mehr in den Vordergrund als metallener Glanz, was vorher nicht der Fall gewesen war, hierbei ein Gefühl der Klarheit, und ganz automatisch sagte ich: das ist Blech."

Objekt: ein Huthalter; Aussage: "Zum Radfahren" (Zeit zweivierfünftel Sekunden). "Sofort Bekanntheit, Erinnerung an eigene Schnallen, und sogar gewisse Empfindungen an der Stelle, wo ich jetzt noch solche Schnallen (vom Radfahren vorhin) sitzen habe; dann gesprochen: Zum Radfahren. Jetzt nachträglich Einsicht, daß das falsch ist, bedingt durch die nochmalige Reproduktion des Gegenstandes, und Erkenntnis, daß dies ein Haken ist. Ich wundere mich; der Gegenstand schien ein ganz anderer geworden zu sein; kann nicht mehr sagen, was ich daran als Radfahrschnalle gesehen habe."

Endlich heißt es über die Wahrnehmung einer Photographie zweier Kinder: "Darauf Aufmerksamkeitswanderung (von den Kindern) zu den landschaftlichen Teilen der Photographie, die mir zuerst nicht so deutlich plastisch wie im nächsten Augenblick erschienen. Eigentümliche Jllusion der sich ausweitenden, vertiefenden Landschaft."

Hier haben wir dieselbe Mitwirkung sekundärer Elemente, wie in solchen Fällen, wo uns eine mit groben Pinselstrichen gemalte Theaterdekoration aus der Ferne die Jllusion einer wirklichen Landschaft erweckt. Erinnert sei ferner daran, daß bei bekannten und gewohnten Gegenständen oder Eindrücken meist ganz flüchtige und unvollständige Wahrnehmungen zum Erkennen genügen. Die Worte unserer Muttersprache, insbesondere unserer Mundart, verstehen wir vielfach auch, wenn sie ganz leise, undeutlich und rasch gesprochen werden. Hier werden eben reichlich sekundäre Elemente reproduziert, die das Empfundene verstärken und ergänzen. Anders, wenn wir eine uns nicht geläufige Fremdsprache oder einen uns ungewohnten Dialekt der Muttersprache reden hören. Hier stehen sekundäre Elemente in dieser Fülle nicht zu Gebote, und so brauchen wir natürlich intensivere und deutlichere Empfindungen - schon allein dazu, um die Wortklänge selbst aufzunehmen (die Frage des Verstehens ihrer Bedeutungen können wir dabei noch beiseite lassen). Wir haben darum natürlicherweise den Wunsch, daß der Sprechende möglichst laut, deutlich und langsam redet.

Beim Lesen übersehen wir leicht Druckfehler, d. h. vertauschte oder fehlende Buchstaben; offenbar, weil die "Spuren" der oft gesehenen Wortbilder wirksam werden und die nur unvollständig empfundenen Eindrücke des Wortes berichtigen oder ergänzen. - STUMPF erzählt in seiner "Tonpsychologie", einem Kapellmeister hätten beim Einstudieren einer Symphonie die Bläser an einer bestimmten Stelle gar nicht leise genug blasen können. Schließlich hätten sie in ihrer Verzweiflung die Instrumente bloß angesetzt und gar nicht geblasen. Da sei er endlich befriedigt gewesen und habe gesagt: "So ist's recht, meine Herren; nun bleiben sie auch dabei!" Die letzten Beispiele zeigen die Wirksamkeit sekundärer Elemente in ihrer gesteigertsten Form, insofern sie hier die fehlendenn primären geradezu ersetzen. WUNDT hat das Hineinwirken sekundärer Elemente in die Wahrnehmungen  "Assimilation"  (19) genannt. Er schränkt dabei den Namen auf die Fälle ein, wo primäre und sekundäre Elemente  demselben  Sinnesgebiet angehören. Dies ist auch bei allen angeführten Beispielen der Fall; nur das letzte macht eine Ausnahme; denn es ist der Anblick der Bläser, der sich unmittelbar mit der Vorstellung der Töne verknüpft: sekundäre Elemente akustischer Art gesellen sich also hier zu primären optischen, begünstigt freilich durch die akustischen Empfindungen, die unmittelbar vorausgehen und folgen und etwa auch gleichzeitig durch andere Instrumente bewirkt werden. So leitet dieser Fall hinüber zu einem andersartigen Zusammenwirken primärer und sekundärer Elemente, einem solche nämlich, wobei diese  verschiedenen  Sinnesgebieten angehören. Beispiele solcher  "Komplikationen"  (20), wie sie WUNDT nennt, bietet auch die tägliche Erfahrung. So werden beim (stummen) Lesen vielfach akustische und motorische Wortvorstellungen reproduziert, also der Klang der Wörter und die Eindrücke der Artikulationsbewegungen der Sprachorgane sind in sekundärer Form im Bewußtsein. Viele Personen führen allerdings beim Lesen gewisse Artikulationsbewegungen aus, so daß es sich dann nicht mehr oder nicht bloß um Bewegungsvorstellungen, sondern um Bewegungsempfindungen handelt. Komplikationen von optischen Empfindungen und sekundären Elementen des Tastsinns liegen vor, wenn wir beim bloßen Anblick einer Dolchspitze oder einer scharfen Schneide, einer rauhen, schmierigen oder glatten Oberfläche gewisse Tasteindrücke zu haben meinen. Ebenso glauben wir einer dampfenden Suppe direkt anzusehen, wie heiß sie ist: einem Einsblock sehen wir seine Kälte, einem Gewichtstein seine Schwere, einer großen leeren Pappdeckelschachtel ihr geringes Gewicht an. Auch aus meinen oben erwähnten Untersuchungen sei ein Beispiel angeführt. (21) Das Objekt war eine dünne Blechbüchse, die Aussage (nach dreivierfünftel Sekunde) lautete: "Das ist eine Federbüchse." Im Protokoll heißt es: "Bekanntheitseindruck sofort, aber der Ausdruck war nicht gleich da. Dabei gewisse Tastvorstellungen wie beim Aufmachen eines solchen Gegenstandes, wie wenn die Finger sich dabei mühten."

Es mag an dieser Stelle gestattet sein, einmal über die Aufgabe der Beschreibung zu derjenigen psychologischer Erklärung überzugehen, weil hier Gelegenheit ist, das Erklärungsmittel der sensualistischen Psychologie, die  Assoziation,  gerade auf dem Gebiet, wo es sozusagen seine Triumphe feiert, nach seiner Tragweite zu beurteilen. Was bedeutet überhaupt "Assoziation"? An einem Beispiel mag es aufgewiesen werden. Ich rieche ein bestimmtes Parfüm, und die optische Erinnerungsvorstellung einer dame taucht in mir auf, die dieses Parfüm zu benutzen pflegt. Man erklärt diesen Erinnerungsvorgang folgendermaßen: Von den früheren Wahrnehmungen der Dame her sind "Spuren" ("Gedächtnis-Residuen" oder "Reproduktionsgrundlagen" (22)) des Gesichts- und des Geruchseindrucks geblieben. Wenn nun solche Eindrücke zusammen oder in zeitlicher Folge im Bewußtsein waren, so bildet sich zwischen ihren Spuren eine gewisse Verbindung. Eben diese hypothetisch angenommene Verbindung der ebenfalls hypothetisch gesetzten Spuren darf im engsten und hypothetisch gesetzten Spuren darf im engsten und eigentlichen Sinn als "Assoziation" bezeichnet werden. Unter günstigen Umständen, z. B. bei gespannter Aufmerksamkeit oder starker Gefühlswirkung mag es zur Bildung einer Assoziation genügen, daß die Eindrücke  einmal  zusammen oder gleich nacheinander im Bewußtsein waren, in anderen Fällen bedingt die Wiederholung das Zustandekommen einer Assoziation. Ist nun aber eine solche vorhanden, so wird sich bei der "Erregung" der einen Spur die Erregung auf die andere fortpflanzen und eine ihr entsprechende Vorstellung wir im Bewußtsein erlebt werden. Auf unser Beispiel angewendet, besagt das: durch die erneute Wahrnehmung des Geruchs, wird die "Spur" der früheren gleichen oder ähnliche Geruchseindrücke erregt und infolgedessen im Bewußtsein auftretenden sekundären Elementen verschmelzen (in einem Vorgang der "Assimilation") mit den primären des neuen Eindrucks. Aber die Erregung dieser ersten Spur pflanzt sich auch zur zweiten fort, und so kommt die Vorstellung der Dame zustande, ohne daß ich sie diesmal wahrnehme. Nun nennt man auch das Auftreten einer zweiten Vorstellung aufgrund der assoziativen Verbindung ihrer Spur mit der einer anderen Vorstellung gleichfalls Assoziation. Genauer müßte man sagen: Reproduktion auf assoziativer Grundlage; aber da sich die kürzere Bezeichnung "Assoziation" dafür eingebürgert hat, so mag es dabei sein Bewenden haben. Assoziationen können sich sowohl zwischen den Spuren relativ selbständiger Vorstellungen, als auch zwischen den Spuren von Elementen  einer  Vorstellung bilden. Also auch die Vorgänge, die WUNDT Komplikation nennt, können insofern als Assoziationen bezeichnet werden. Zweifellos ist auch die Zahl der Fälle, bei denen dieses Erklärungsmittel anwendbar ist eine überaus große, aber es darf doch nicht übersehen werden, daß durchaus nicht alle Reproduktionen durch Assoziation bedingt sind.

Neuere Untersuchungen (23) haben gezeigt, daß infolge rein zentraler (d. h. im Zustand des Gehirns, bzw. seines etwa anzunehmenden psychischen Korrelats begründeter) Verhältnisse eine solche Erregung von Spuren eintreten kann, daß die ihnen entsprechenden Vorstellungen erlebt werden.

Ferner ist nicht zu verkennen, daß jede assoziative Reproduktion eingeleitet wird durch einen Reproduktionsvorgang, der seinerseits nicht auf Assoziation beruth. Denn daß durch eine Wahrnehmung, die früheren gleich oder ähnlich ist, die eine von zwei assoziierten Spuren erregt wird, das ist selbst kein Vorgang der "Assoziation". Also auf das, was WUNDT Assimilation nennt, ist die Erklärung durch Assoziation nicht anwendbar. Während bei dieser nun die reproduzierten Elemente mit den in der neuen Wahrnehmung enthaltenen primären innig verschmelzen, können sie auch relativ selbständig bleiben, so daß außer der Wahrnehmung eine ihr mehr oder minder ähnliche Vorstellung erlebt wird. Man nennt dies in der Regel Ähnlichkeitsassoziation, und man stellt diese als zweite Art der oben erwähnten, die als Berührungs- (Kontiguitäts) Assoziation bezeichnet wird, zur Seite. Aber hier kommte eine Verbindung  zweier  Spuren gar nicht in Betracht; es handelt sich lediglich um das Wiedererwecktwerden  einer  Spur. Wenn wir also den Ausdruck "Assoziation" einschränken auf jene Verbindung von Spuren und die Reproduktion auf Grund einer solchen Verbindung, so ist die "Ähnlichkeitsassoziation" gar keine Assoziation. Will man aber den Namen auch auf sie erstrecken, weil doch auch hier wie bei der Berührungsassoziation eine Vorstellung infolge einer anderen im Bewußtseins eintritt, so muß man sich doch bewußt bleiben, daß die Erklärung dieses Eintretens hier ganz anders verläuft und daß das eigentliche Erklärungsmittel der "Assoziationspsychologie", die Verbindung von Spuren, versagt.
LITERATUR - August Messer, Empfindung und Denken, Leipzig 1908
    Anmerkungen
    1) Vgl. die entsprechenden Artikel im "Deutschen Wörterbuch" von GRIMM, dem auch die meisten der im folgenden angeführten Beispiele entnommen sind.
    2) Bemerkt sei, daß wir hier von dieser Dreiteilung nur zum Zweck vorläufiger Orientierung Gebrauch machen; in welchem Sinne wir sie selbst anerkennen können, wird später darzulegen sein.
    3) Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß Empfindungen  nur  als Bestandteile von Wahrnehmungen vorkommen.
    4) OTTO LIEBMANN, Zur Analysis der Wirklichkeit, 3. Auflage, Straßburg 1900, Seite 538
    5) Diese  gesamte  Aufgabe der reinen Psychologie bezeichne ich auch als die der  "Beschreibung"  oder  "Deskription".  Vielfach nimmt man diese Termini in einem engeren Sinn; an bezieht sie lediglich auf die Angabe der Elemente und Struktur der psychischen Gebilde der  "erklärenden"  Psychologie zuweist, da es sich hier um Kausalzusammenhänge handelt und die Erklärung eben in der Angabe besteht, durch welche Ursache eine Wirkung hervorgebracht wird. Aber wir wollen die strittige Frage, ob und in welchem Sinn zwischen Bewußtseinsinhalten ein Kausalzusammenhang gesetzt werden kann, offen lassen; auch ist, wie ERNST DÜRR, "Einführung in die Pädagogik" (Leipzig 1908) mit Recht betont, "nicht einzusehen, warum Sukzessionszusammenhänge nicht ebensogut beschrieben werden sollen wie Gleichzeitigkeitszusammenhänge oder wie die einzelnen Glieder solcher Zusammenhänge." Ich nehme darum den Ausdruck "Beschreibung" im angegebenen  weiteren  Sinn und bezeichne als "Erklärung lediglich die Versuche durch Heranziehung außerbewußter Faktoren (Vorgänge, Dispositionen usw.) physischer oder psychischer Art die Bewußtseinsvorgänge begreiflich zu machen.
    6) FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie, 2. Auflage, Stuttgart und Berlin 1903, Bd. 1, Seite 199. Vgl. auch auch Seite 161
    7) JODL, a. a. O. Seite 161; vgl. Bd. II, Seite 2
    8) WILHELM WUNDT, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1905, Seite 34f.
    9) THEODOR LIPPS, Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1903, Seite 16
    10) LIPPS, a. a. O. Seite 3
    11) Das führt auch LIPPS a. a. O. aus, aber wenn er  alle  Bewußtseinserlebnisse durch das Bild der Linie mit zwei Endpunkten veranschaulichen zu können glaubt, so scheidet er nicht genug dasjenige, was sich an ihnen der schlichten Beschreibung darbietet, und was Produkt einer weitergehenden Reflexion ist. Vgl. zu der Frage auch BENNO ERDMANN, Logik I, 2. Auflage, Halle 1907, Seite 120
    12) LIPPS, a. a. O. Seite 16f
    13) In seiner Schrift über "Inhalt und Gegenstand", Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1905, Seite 515.
    14) CARL STUMPF, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 44, Leipzig 1907
    15) LIPPS erkennt selbst (Leitfaden der Psychologie, Seite 161f) an, daß man den Empfindungsinhalten in verschiedenem Grad Objektivität und Subjektivität zuschreiben kann.
    16) Ich verweise für das Folgende besonders auf HERMANN EBBINGHAUS, Grundzüge der Psychologie, Bd. 1, Leipzig 1902, Seite 410 - 488; vgl. auch ERNST DÜRR, a. a. O. Seite 87f und 129 - 169.
    17) "Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Denken", Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. VIII, 1906, Seite 1 - 224. Vergleiche auch Seite 128f.
    18) Dieser Teil der Aussage wird uns erst weiter unten verständlich werden.
    19) Siehe WUNDT, a. a. O. Seite 278f
    20) Siehe WUNDT, a. a. O. Seite 285f
    21) WUNDT, a. a. O. Seite 129 Anmerkung
    22) Es ist eine alte Streitfrage, ob diese Spuren rein physisch oder rein psychisch oder als körperlich und seelisch anzusehen sind. Für die letztere Auffassung entscheidet sich neuerdings BENNO ERDMANN (Logik I, 2. Auflage, Seite 128f) mit folgender beachtenswerter Begründung: Wären sie lediglich physich, also rein "mechanische Zustände oder Vorgänge, so müßten wir, weil in jedem Augenblick unseres wachen Lebens Unbewußtes bewußt und Bewußtes unbewußt wird, den gedankenlosen Gedanken für wahr halten, daß Bewegungen als solche geistige Vorgänge und geistige Vorgänge Bewegungen werden können." Also ist anzunehmen, daß die Gedächtnisresiduen  auch  psychischen Wesens sind. Da aber Tatsachen mannigfacher Art beweisen, daß "der gesetzmäßige Zusammenhang zwischen den psychischen und physischen Lebensvorgängen nicht aufhört, wenn Bewußtes unbewußt, und nicht neu einsetzt, wo Unbewußtes bewußt wird," so muß auch angenommen werden, "daß für die psychischen Gedächtnisresiduen ebensowohl korrelative mechanische Zustände und Vorgänge bestehen, wie für die Bewußtseinsdaten, aus denen jene erschlossen sind."
    23) MÜLLER und PILZECKER, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis", Zeitschrift für Psychologie, erster Ergänzungsband, 1900