p-4W. WundtF. HillebrandK. LamprechtK. MarbeJ. Eisenmeier    
 
OSWALD KÜLPE
Psychologie und Medizin
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"Wie man bei der Verwertung von Patientenberichten systematisch zu verfahren hat, kann uns die Geschichtswissenschaft lehren, deren bewunderungswürdige methodische Vollkommenheit für die objektive Psychologie in vieler Beziehung vorbildlich sein dürfte. Da spielt zunächst die Prüfung der Echtheit, der Unbefangenheit, der Sachlichkeit und Zuverlässigkeit der Berichte eine Hauptrolle. Ferner wird eine systematische Vergleichung mit anderen Berichten gefordert und durchgeführt und zwischen dem rein Tatsächlichen und seiner Deutung, Erklärung, Motivierung streng zu scheiden versucht."

Die Entwicklung der Wissenschaft zeigt uns im Großen und Ganzen einen Fortschritt vom Allgemeineren zum Spezielleren, eine Differenzierung und in Verbindung damit eine Trennung der Gebiete und Aufgaben. Aber bei diesem Übergang vom Gemeinsamen zum Individuellen, von gröberen zu feineren Unterschieden, vom relativen Gesamteindruck zur Analyse wird niemals so verfahren, daß sich das Ganze einfach in seine Teile auflöst, sondern es scheidet sich allmählich auch das Gebiet der allgemeinen Voraussetzungen und Probleme von der spezialistischen Aufstellung und Behandlung einzelner Fragen und Gegenstände. Die einheitliche Physik des Altertums ist nicht in besondere Naturwissenschaften einfach zerfallen, vielmehr hat sich neben diesen und außer ihnen eine Naturphilosophie erhalten, die zwar in fruchtbaren Beziehungen zu den physikalischen und chemischen, zu den anorganischen und organischen Disziplinen steht, aber von ihr eigentümlichen Gesichtspunkten beherrscht ist und eine logische Vorarbeit ebenso wie eine metaphysische Nacharbeit leistet. Nicht anders ist es mit der Ethik in der platonischen Philosophie ergangen. Auch sie ist nicht nur in Politik, Ökonomik, Moralwissenschaft auseinandergelegt worden, sondern auch hier ist ein allgemeineres Gebiet, eine Moral-, Rechts- und Wirtschaftsphilosophie zurückgeblieben, wo die Grundbegriffe und sonstigen Voraussetzungen ebenso wie die Ideale entwickelt und begründet werden, zu denen die Einzelwissenschaften nur die Richtung weisen und die Vorbereitung liefern. (1)

Einem ähnlichen Prozeß unterliegt zweifellos in unseren Tagen die Psychologie. Die Alten rechneten sie zu ihrer Physik, zu einer Naturlehre im weitesten Sinn des Wortes. Später wurde sie zu einem Teil der Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, als DESCARTES von einer Tierseele absehen zu dürfen glaubte. Aber schon im 18. Jahrhundert trennen sich eine rationale und eine empirische Psychologie voneinander, und die letztere, die mit einer gewissen Vorliebe getriebene Erfahrungsseelenlehre, wird auf Beobachtung, auf biographische Zeugnisse und andere empirische Grundlagen gestellt. Seit diese Psychologie sich die naturwissenschaftlichen Methoden und Hilfsmittel dienstbar machen konnte, hat sie einen spezialwissenschaftlichen Charakter und Betrieb angenommen, der eine Abtrennung von der Philosophie und einer philosophisch gerichteten Psychologie teils schon herbeigeführt hat, teils mit sich bringen muß und wird. In Amerika ist die Verselbständigung der einzelwissenschaftlichen Psychologie vielfach bereits eingetreten. Wenn es in Deutschland, dem Geburtsland der Psychophysik, der medizinischen und experimentellen Arbeiten, noch nicht geschehen ist, so liegt das hauptsächlich daran, daß noch kein rechter Weg gefunden worden ist, um einer selbständigen Psychologie eine Daseinsberechtigung im staatlichen System des Unterrichts zu gewähren. Gewiß gibt es auch Philosophen, die den Kontakt mit der experimentellen Psychologie nicht verlieren möchten, weil sie hier das fruchtbare Bathos [Tiefe - wp] der Erfahrung, der unmittelbaren Erforschung der Tatsachen zur Verfügung haben, woraus immer neue Triebe und Früchte der philosophischen Betrachtung zuwachsen. Andererseits jedoch beginnt sich auch bei uns die Beschäftigung mit experimentell-psychologischen Aufgaben mehr und mehr zur Lebensarbeit Einzelner zu gestalten, die einen ganzen Menschen erfordert und nicht durch eine Geschichte der Philosophie, Logik oder Ethik ergänzt zu werden braucht. So treibt der natürliche Entwicklungsgang von selbst zur Trennung einer einzelwissenschaftlichen und einer philosophischen Psychologie und damit zu einer Beantwortung der Frage nach der Stellung jener an unseren Universitäten.

Es ist nicht leicht, die Psychologie zu bestimmten anderen Wissenschaften in eine organische Beziehung zu bringen, nicht etwa deshalb, weil keine vorhanden wäre, sondern vielmehr deshalb, weil sehr viele bestehen. Daß die experimentelle Psychologie zur Logik, Ästhetik, Ethik ein enges und natürliches Verhältnis hat, bedarf kaum eines besonderen Nachweises. Die seit dem neuen Jahrhundert so lebhaft und erfolgreich betriebene Psychologie des Denkens hat mit der Logik in eine wertvolle Wechselwirkung zu treten begonnen. Die experimentelle Ästhetik und Pädagogik sind unmittelbare Ausläufer der experimentellen Psychologie, und die experimentelle Untersuchung des Willens verspricht der Ethik wichtige Anregungen zu liefern. Auch die Beziehungen zu den Geisteswissenschaften werden allmählich umfassender und fester. Die Sprachwissenschaft, die Religionswissenschaft, die Rechtswissenschaft mögen vor allem als Beispiele dafür dienen, daß das psychologische Laboratorium durch seine Verfeinerung und Vertiefung der Selbstbeobachtung und des Verständnisses für das Seelenleben Anderer der Untersuchung der in jenen Wissenschaften behandelten Phänomene hilfreich zu werden vermag.

Aber alle diese Verbindungsfäden lassen sich ebensogut ziehen und festhalten, wenn die Psychologie als ein Zweig der philosophischen Disziplinen gilt und gepflegt wird. Ihnen wird auch bereits im jetzigen System des Unterrichts und der Prüfungsordnung Rechnung getragen. Die Zerreißung des Zusammenhangs mit der Philosophie würde sogar eine Änderung der bestehenden Bestimmungen notwendig machen, die sich wohl unschwer herbeiführen ließe. Dagegen sind die äußeren Beziehungen zur Medizin gegenwärtig ganz aufgehoben. Zwar pflegt man einem heranwachsenden experimentellen Psychologen mit Recht zu empfehlen, außer Physik und Mathematik auch Anatomie und Physiologie zu treiben, damit er für die zahlreichen Berührungspunkte mit diesen Wissenschaften ein geschärftes Auge gewinnt. Aber vom Mediziner und selbst dem Psychopathologen wird in der Regel weder erwartet noch verlangt, daß er sich in der modernen Psychologie umgesehen und eine psychologische Betrachtungs- und Arbeitsweise kennen gelernt hat. Und doch kann es keinem Zweifel unterliegen, daß nicht nur die Psychologen aus der Beschäftigung mit medizinischen Fächern, sondern auch die Mediziner aus dem Einblick in die Psychologie einen reichen Gewinn davon tragen können.

Nun kann man freilich dagegen einwenden, daß eine so vielen Herren dienende einzelwissenschaftliche Psychologie schließlich niemandem etwas Rechtes wird bieten können. Dieser Einwand würde jedoch zunächst übersehen, daß die Psychologie keineswegs die einzige Wissenschaft wäre, die eine Mannigfaltigkeit von Interessen zu befriedigen hätte. Außerdem könnte später sehr wohl an eine Scheidung einer mehr geisteswissenschaftlich und einer mehr körperwissenschaftlich gerichtete Psychologie gedacht werden. Vorerst aber handelt es sich darum, daß der Psychologie überhaupt eine Stellung gewährt wird, die ihr einen einzelwissenschaftlichen Betrieb sichert und möglich macht. An jeder Universität muß ein psychologisches Institut mit entsprechenden Arbeitsräumen, Mitteln und Hilfskräften eingerichtet werden, und dazu ist der Anschluß an gegebene wissenschaftliche und didaktische Bedürfnisse, an ein System der Bildung erforderlich. So wie die Dinge liegen, kann nur die Verbindung mit der Medizin, ähnlich wie sie bereits für die Physik und Chemie, für die Botanik und Zoologie besteht, diesen Anschluß herbeiführen. Seit die Psychiatrie ein obligatorisches Prüfungsfach für Mediziner geworden ist, sollte sich die psychologische Vorbildung für den werdenden Arzt von selbst verstehen. Die moderne Entwicklung der Psychiatrie tendiert, wie uns scheint, zu einer eindringenden psychologischen Auffassung und Grundlegung, und nicht weniger hat die Normalpsychologie das rege Bedürfnis nach einer Ergänzung durch pathologische Beobachtungen und Erklärungen.

Wir brauchen daher für die Forderung eines Anschlusses an die Medizin nicht einmal auf die allgemeine Bedeutung hinzuweisen, welche die Psychologie für den Arzt besitzt. Wir können uns vielehr darauf beschränken, die besonderen sachlichen Wechselbeziehungen zu erörtern, welche für ein bestimmtes Gebiet des medizinischen Studiums und für die Psychologie obwalten. Es wird dabei genügen, anhand einzelner zwanglos ausgewählter Beispiele zu zeigen, daß die moderne Psychologie dem Psychopathologen auch bei seiner Einzelforschung sowohl in methodologischer als auch in sachlicher Hinsicht von größtem Wert ist. Die Beispiele werden insofern einen typischen Charakter tragen, als sie verschiedenen Gebieten angehören und zur Erörterung verschiedener Gesichtspunkte Anlaß geben. Namentlich aber sollen sie zum Besten gehören, was die moderne psychopathologische Forschung darbietet. Es wäre leicht, in den Arbeiten geringeren Ranges, an der Durchschnittsforschung ein psychologisches Exempel zu statuieren. Ergiebiger und wirksamer dürfte die Lösung der Aufgabe sein, die ich mir hier gestellt habe. Ich möchte nicht den Anschein erwecken, als wenn ich gerade an untergeordneten Erzeugnissen die Notwendigkeit einer psychologischen Ergänzung und Begründung dartun wollte.


I. Zur Methode der Untersuchung

Es ist in der modernen Psychiatrie eine große Mannigfaltigkeit von Methoden ausgebildet worden, um dem psychischen status praesens bei einem geisteskranken Individuum genau aufzunehmen und über seine Vorgeschichte einiges zu erfahren. Man bedient sich dabei außer der schlichten Beobachtung teils einfacher Experimente zur Prüfung der Sinnestätigkeit, der Merkfähigkeit, der Verstandesleistung und anderem mehr (2), teils einer Befragung der Kranken nach verschiedenen Gesichtspunkten (3), teils eines autobiographischen oder tagebuchartigen Verfahrens, um den Kranken selbst Gelegenheit zu geben, sich über ihre Zustände und Erlebnisse zu äußern.

Daß die experimentelle Psychopathologie von der experimentellen Normalpsychologie ausgegangen ist und nach wie vor unter ihrem Einfluß steht, wird niemand bestreiten. Es ist daher auch nur zu wünschen, daß die Fortschritte und Einsichten auf dem Gebiet der Normalpsychologie eine entsprechende Verwendung bei pathologischen Untersuchungen finden möchten. Allerdings sind die erheblichen Schwierigkeiten nicht zu übersehen, die einer Übertragung normalpsychologischer Methoden und Gesichtspunkte auf pathologische Fälle im Weg stehen. Man muß sich bei der Ausführung der Experimente dieser Schwierigkeiten bewußt bleiben und bei der Deutung der Ergebnisse davon Gebrauch machen. Wir wollen das beispielsweise an den durch Vorsicht und Besonnenheit ausgezeichneten psychologischen Untersuchungen an Manisch-Depressiven von MAX ISSERLIN (4) zu erläutern suchen. Hier sind Assoziationsreaktionen ausgeführt worden, d. h. es wurden den Kranken Reizworte zugerufen, die "mit der nächsten sich einstellenden Vorstellung" zu beantworten waren. Dabei "wurde darauf geachtet, daß die Versuchsperson nur mit vollem Verständnis der Aufgabe und möglichst frei" ihre Reaktion ausführt. Ein Reizwort kann zwar auch dann mit einem Reaktionswort beantwortet werden, wenn dieses schon vorher im Bewußtsein bereitgestellt war. Die mitgeteilten Beispiele scheinen jedoch zu zeigen, daß in den meisten Fällen das Reizwort erst zur Reaktion geführt hat. Die Zahl der Perseverationen [Tendenz seelischer Inhalte im Bewußtsein zu verharren - wp] und Wiederholungen ist verhältnismäßig gering, so daß sich fast überall Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion herstellen lassen.

In der modernen experimentellen Normalpsychologie ist unter der Herrschaft der neuen Ergebnisse über die Bedeutung der Aufgabe und der von ihr ausgehenden determinierenden Tendenzen immer größerer Wert auf die Instruktion und ihre Formulieren gelegt worden. Auch die Erfahrungen über den Einfluß der Suggestion bei hypnotisierten Personen haben gezeigt, daß es nicht genügt, aus dem Stegreif einige Worte über die auszuführende Leistung zu sagen, sondern daß die gewählten Ausdrücke, die Form des Satzes, der Tonfall, die Modulation der Stimme und anderes für das Verständnis und die Wirkung von Wichtigkeit sind. Man wird es daher als eine Regel aufstellen müssen, daß die Instruktion, die den Versuchspersonen erteilt wird, zunächst an Vorversuchen ausgebildet und erprobte, dann aber in konstanter Weise formuliert und wiederholt wird. Die eindeutige Feststellung der Aufgabe und die zweckmäßige Formulierung derselben gehören ebenso zu den Vorarbeiten eines psychologischen Experiments wie die Herstellung einer geeigneten Versuchsanordnung und die Prüfung der experimentellen Hilfsmittel.

Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei die Notwendigkeit einer vollen Verständigung zwischen dem Versuchsleiter und seinen Versuchspersonen. Er muß sicher sein, daß sie nicht nur die Aufgabe verstanden, sondern auch so verstanden haben, wie er sie gemeint hat. Bei der Verwendung zahlreicher psychologischer Ausdrücke im vulgären Sprachgebrauch muß man der Gefahren stets eingedenk sein, die aus einer Mißdeutung der eingeführten Termini entspringen. Man kann die Verständigung über sie auf verschiedenem Weg herbeiführen. In pathologischen Fällen wird eine Umschreibung, eine wörtliche Erläuterung wenig helfen. Hier wird es meistens am vorteilhaftesten sein, wenn die Versuchspersonen Gelegenheit bekommen, diejenigen Tatsachen, die ihnen bezeichnet werden, wirklich zu erleben. Selbstverständlich besteht außerdem noch die große Schwierigkeit, daß nicht immer auf einen guten Willen zu rechnen ist, die gestellte und verstandene Aufgabe zu erfüllen. Was hilft eine Instruktion, wenn sie auf Widerstand bei den Versuchspersonen stößt? Niemand ist leichter geneigt alle Maßnahmen eines Versuchsleiters zu durchkreuzen, als ein geistig abnormes Subjekt.

ISSERLIN hat die Assoziationszeiten seiner Kranken mit der Fünftelsekundenuhr gemessen. Da diese nun nicht dazu angehalten worden waren, immer gerade nur mit einem Wort zu reagieren, so erhebt sich die Frage, wann die zu messende Zeit als abgeschlossen gegolten hat, ob beim ersten überhaupt gesprochenen Wort oder beim ersten maßgebenden, den eigentlichen Träger der Reaktion bildenden Wort. Wie lassen sich ferner die Zeiten miteinander vergleichen, die bei einfachen Reaktionswörtern und die bei ganzen Sätzen erhalten worden sind? Wenn schließlich Zeiten bis zu 20 Sekunden und größere Reaktionszeiten aufgeführt werden, so wird man schwerlich anzunehmen haben, daß sich in der Zwischenzeit überhaupt keine Vorstellungen oder Gedanken eingestellt hatten. Von Wert wäre es auch, wenn bei solchen Versuchen nicht nur die Zeit bis zum ersten Reaktionswort, sondern auch die Dauer der ganzen Reaktion bis zu ihrem Abschluß festgestellt worden wäre. Mit Hilfe von zwei Fünftelsekundenuhren läßt sich das leicht erreichen, und gerade in diesen beiden Zeiten dürfte ein interessantes Kennzeichen des pathologischen Zustandes gefunden werden.

Von methodologischer Wichtigkeit ist auch die Frage nach der Einteilung und Ordnung der Ergebnisse. Im allgemeinen kann man dabei entweder erprobte Gesichtspunkte benutzen oder aus dem gewonnenen Material selbst welche zu gewinnen suchen. ISSERLIN hat sich des ersteren Verfahrens bedient, indem er das ASCHAFFENBURG-JUNGsche Schema auf seine Versuche angewandt hat, obwohl MAYER und ORTH ebenso wie WATT und CLAPARÉDE gewichtige Bedenken dagegen geltend gemacht haben und ISSERLIN selbst diese Bedenken auch als zutreffend anerkennt. Gewiß kann man nun darüber hinwegkommen, wenn man zwischen theoretisch-psychologischen und differentiell-diagnostischen Interessen unterscheidet und nur die letzteren für sich in Anspruch nimmt. Denn es ist unbestreitbar, daß zur empirischen Diagnose Kriterien gebraucht werden können, welche theoretisch nicht einwandfrei bestimmt oder begründet worden sind. Aber die Voraussetzung für die Zulässigkeit eines solchen Verfahrens besteht doch wohl darin, daß überhaupt zwischen dem in der Erfahrung gegebenen Material und den zu seiner Ordnung angewandten Gesichtspunkten eine eindeutige und vollständige Beziehung herstellbar ist, und daß die einzelnen Kategorien sicher unterschieden werden können. Schon der erste Entwurf jenes Schemas, den WUNDT den Versuchen TRAUTSCHOLDTs zugrunde gelegt hat, war jedoch nicht einfach aus der Analyse eines Materials von Reiz- und Reaktionsworten herausgewachsen, und seit dieser ersten Benutzung hat sich immer wieder die Schwierigkeit geltend gemacht und geltend machen müssen, daß man es zwei Worten nicht ohne weiteres ansehen kann, in welcher psychologischen Beziehung sie zueinander stehen (5). So kann man dann auch bei der Zuteilung der Wortbeziehungen an bestimmte Kategorien vielfach anderer Meinung sein, als ISSERLIN und braucht gewiß nicht zuzugeben, daß die äußeren und inneren Assoziationen sich zumindest ohne Schwankungen auseinander halten lassen. Das letztere wäre nur dann möglich, wenn man mit Sicherheit zwischen sinnvoller oder "inhaltlicher" und "formaler" Verknüpfung (WRESCHNER) unterscheiden könnte, was nicht selten zweifelhaft sein muß. Noch schwieriger wird die Anwendung speziellerer Unterschiede, wie der prädikativen Beziehung, der Koordination, der Identität, der Koexistenz usw. Ebenso wird bei einer solchen Zurückführung auf einfache Gesichtspunkte der Tatsache keine Rechnung getragen, daß mehr als eine Beziehung (mehrfache Assoziation nach WRESCHNER) zu einem Reaktionswort führen kann.

Bei der schwankenden Geltung, welche allgemeinen psychologischen Einteilungen zur Zeit noch zukommt, und bei der Entstehungsgeschichte jenes Assoziationsschemas, das von den späteren Forschern mehrfach ergänzt und berichtigt worden ist, weil es zu ihrer Erfahrung nicht passen wollte, ist es wohl besser, die Ordnung des Materials aus ihm selbst heraus zu entwickeln und nicht eine fertige Einteilung an dasselbe heranzubringen. Ich glaube, daß dadurch viel genauere Charakteristiken der einzelnen Versuchspersonen hätten gewonnen werden können, als es aufgrund jenes Schemas möglich war. Man denke etwa an die Neigung zur Satzform, an die Tendenz zur asymmetrischen Reaktion u. a. Jedenfalls sollte man sich darüber klar sein, daß die assoziative Grundlage einer Wortreaktion ohne die Anwendung einer Selbstbeobachtung niemals mit Sicherheit festgestellt werden kann, daß sie dagegen aus dem objektiven Material immer deutlicher entgegentritt, je ausführlicher die Reaktion gewesen, je mehr sie also über ein bloßes Wort hinausgegangen ist. Bei fortlaufenden Reaktionen kann man die Selbstbeobachtung am leichtesten entbehren. Darum sollten solche Versuche bei Geisteskranken wenn möglich mit einer phonographischen Aufnahme verbunden werden. Die Anwendung eines solchen Verfahrens an einer Kranken ist, wie mir scheint, das interessanteste und wichtigste experimentelle Ergebnis von ISSERLINs Untersuchung. Dabei zeigt sich zugleich, daß eine qualitative Analyse hier noch vieles zutage fördern könnte. Namentlich treten in dieser Aufnahme fortlaufender Reaktionsworte neue Anfänge, die mit dem früher Gesagten nicht mehr zusammenhängen, mehrfach auf. Der von ISSERLIN hierfür angewandte Name einer Richtungsänderung ist dafür kaum bezeichnend, weil er an der Kontinuität der einmal ausgelösten Bewegung festhält. Es scheint jedoch, daß die Überproduktion von Vorstellungen und Gedanken bei manischen Kranken mit einer Dissoziation verbunden ist, die ein selbständiges Auftreten der einzelnen ermöglicht. Daß eine solche Dissoziation vorkommen kann, ist uns aus Dämmerzuständen, Träumen, aus einer weinseligen Laune bekannt. Nicht eine Richtungsänderung liegt hier vor, sondern das Betreten getrennter Bahnen, von denen bald die eine, bald die andere im Bewußtsein zur Geltung kommt.

Wenn die Ereignisse der sorgfältigen und in ihren theoretischen Folgerungen in einem erfreulichen Maß an die Psychologie der Aufgabe anknüpfenden Arbeit von ISSERLIN etwas dürftig zu sein scheinen, so liegt das zum Teil auch daran, daß Übung und Einstellung keine Berücksichtigung gefunden haben, zum Teil aber auch daran, daß die den Versuchspersonen gestellte Aufgabe gar zu unbestimmt war. Je allgemeiner und vieldeutiger und auf je mehr Wegen realisierbar eine Aufgabe ist, umso schwieriger muß die psychologische Feststellung ihrer Bedeutung und Wirksamkeit im Bewußtsein der Versuchsperson werden. Unwillkürlichen Einstellungen zufälliger Art wird dadurch ein übergroßer Raum zugestanden, und die Frage nach einem Mangel oder einer Schwäche der determinierenden Tendenzen wird sich mit Sicherheit wohl nur aufgrund spezieller und eindeutiger Aufgaben beantworten lassen. Hätte die Aufgabe z. B. gelautet: Es soll mit dem erstbesten Wort so rasch wie möglich reagiert werden (wobei eine hinreichende Erläuterung selbstverständlich vorausgesetzt ist), so wäre sicherlich mehr erzielt worden.

Vielleicht wäre dann auch der Begriff einer Verflachung und Veräußerlichung des Reaktionstypus bestimmter geworden. Diese Bezeichnungen schließen ein Werturteil ein und sind darum nicht recht geeignet, einfache Tatbestände von Wortreaktionen zu charakterisieren und zu erklären. Daß die Klangeinstellung und damit die Klangassoziationen den Manischen am leichtesten gelingen, kann schwerlich auf besonders feste Assoziationen zurückgeführt werden und ist übrigens in der phonographischen Aufnahme nicht einmal erkennbar. Von besonderer Wichtigkeit dagegen wäre es zu wissen, ob ein Bedeutungsbewußtsein beim ideenflüchtig Redenden in unserem Sinne vorliegt. Vielleicht besteht hier eine ähnliche Dissoziation zwischen Gedanken und Worten, wie sie von HACKER in seinen Träumen konstatiert worden ist (6). Ebenso wäre es von Interesse, festzustelllen, wie die einzelnen Worte sich aneinander schließen, ob sie ganz spontan, nach einer eigenen Gesetzmäßigkeit kommen und gehen, oder ob noch ein gewisser Einfluß von Seiten des Redenden auf sie besteht. Die Beantwortung derartiger Einzelfragen dürfte uns in der Erkenntnis der krankhaften Zustände mehr fördern, als die Anwendung von Kategorien der Verflachung und Veräußerlichung.

Endlich scheint es mir schon aufgrund von ISSERLINs Befunden nicht unwahrscheinlich, daß sich verschiedene Typen der Ideenflucht werden unterscheiden lassen, und daß auch dieser Ausdruck sich als eine sehr unbestimmte und darum unzweckmäßige Bezeichnung erweisen wird. Daß wir es hier nicht mit einer besonderen Geschwindigkeit des Verlaufs von Vorstellungen und Gedanken zu tun haben, wie man früher annahm, ist von ISSERLIN im Anschluß an LIEPMANN bereits gezeigt worden. Aber am eklatantesten ist die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Lehre durch einen interessanten Fall von gedankenflüchtiger Denkhemmung, den J. SCHROEDER kürzlich beschrieben hat (7), dargetan worden, woraus mir zugleich hervorzugehen scheint, daß man selbst bei einfachen Assoziationsversuchen nicht immer auf Berichte der Kranken über das Zustandekommen ihrer Reaktionen zu verzichten braucht. Hier offenbart sich auch die Notwendigkeit, zwischen Denkakten und Gedanken zu unterscheiden. Wenn eine Frau erklären würde, sie habe Gedanken über die ganze Welt, und ein anderes Mal, der Gedanke sei ihr hier und gleich wieder dort, wenn eine zweite Kranke sagte: Ich hatte sehr viele Gedanken und doch keinen, und eine dritte: Je gedankenärmer man ist, und je langsamer man denkt, umso mehr Gedanken hat man eigentlich; wenn ich ganz gedankenleer war, dachte ich am lebhaftesten -, so lassen sich diese Äußerungen wohl nur so verstehen, daß die gegenständliche Seite eines Denkvorgangs, die Gedanken im Sinne von BÜHLER, in großer Mannigfaltigkeit und Fülle gegeben sind, daß es aber an einer Stellungnahme des Subjekts zu ihnen, an einer Denktätigkeit fehlt.

Ich bin mir wohl bewußt, daß es leichter ist, ideale Maßstäbe aufzustellen und anzulegen, als eine Untersuchung in ihrem Sinne durchzuführen, und bin weit entfernt davon, durch die Kritik von ISSERLINs Arbeit ihren Verdienst schmälern zu wollen. Daß selbst Fachpsychologen, an jenen Maßstäben gemessen, nicht zum Besten fahren, mögen uns einige Bemerknungen über eine Untersuchung von BINET und SIMON zeigen (8). Diese mit viel größeren Ansprüchen auftretende, aber keineswegs durch eine größere Kenntnis des gegenwärtigen Standes der experimentellen Psychologie ausgezeichnete Arbeit, wie die oberflächlichen und unzutreffenden Einleitungsworte zeigen, glaubt eine neue psychogenetische Methode durch das Studium der Zurückgebliebenen begründen zu können. Ein Imbeziller [geistig Behinderter - wp] von 40 Jahren läßt sich mit einem normalen Kind von 5 Jahren vergleichen, und da er auf der einmal erreichten Stufe stehen bleibt, so kann er beliebig lange über bestimmte Probleme dieses Entwicklungsstadiums untersucht werden. Ganz abgesehen davon, daß ein derartiger Gesichtspunkt keineswegs neu ist, hat man ihn nur mit großer Vorsicht anzuwenden. Woher weiß man denn, daß die geistig Zurückgebliebenen einfach auf einer bestimmten niederen Stufe erstarrt sind, so daß man sie für die Erkenntnis dieser Entwicklungsphase in dem Glauben benutzen darf, damit eine auch für die Normalen geltende Stufe erfaßt zu haben? So wenig man die Zwerge körperlich als stehengebliebene Kinder betrachten darf, so wenig sind die Imbezillen in geistiger Beziehung einem Kind bestimmten Alters gleichzusetzen (9). Auch übertreiben die Verfasser die Fruchtbarkeit ihrer Methode. Denn die wichtigste Quelle der psychologischen Erkenntnis, die Selbstwahrnehmung, wird bei den Imbezillen über ein kärgliches Sickern hinaus nicht ergiebig gemacht werden können. Außerdem sind wir hier von der zufälligen Beschaffenheit der Fälle abhängig. Schließlich kann man sehr zweifelhaft sein, ob die Untersuchung solcher Zustände vorläufig nicht vielleicht mehr durch die Normalpsychologie ermöglicht und gefördert wird, als umgekehrt diese durch jene.

Jedenfalls läßt die Schilderung und die Untersuchung der von BINET und SIMON beobachteten Imbezillen von 25 Jahren einen psychologischen Kritiker nur zu viel vermissen. Es fehlt an einer genügenden Hervorhebung der wesentlichen Merkmale ihres Zustandes. Dazu gehört zunächst die Unbeständigkeit der Aufmerksamkeit, die nach SOLLIER geradezu das konstitutive Merkmal der Imbezillität ausmacht. Dazu gehört ferner die motorische Inkoordination, die Unfähigkeit, zusammenhängende motorische Akte in einer bestimmten Ordnung auszuführen. Gerade für das Sprechen, dessen Bedingungen die Verfasser feststellen wollen, sind diese beiden Erscheinungen von größter Wichtigkeit. Drittens schien mir für die Kranke, so wie sie geschildert wird, charakteristisch, daß sie keine Tendenz zu sprechen hat, daß ihr überhaupt die Initiative fehlt, daß sie mehr ein reaktives Verhalten an den Tag legt und dabei in dieser Reaktivität wenig differenziert ist. Viertens würde ich die gute Ausbildung des akustischen Sinnes hervorheben. Sie liebt Musik, hat ein gutes Gehör, erkennt an der Intonation die Intention des Sprechenden. Wie wichtig das für die Beurteilung der Sprache der Kranken ist, geht daraus hervor, daß man ihr falsches Nachsprechen von Wörtern oder Lauten hiernach nicht auf eine schlechte Funktion ihres Gehörsinnes zurückführen kann. Fünftens fällt eine sehr geringe Perseveration auf, die sich sowohl auf emotionalem wie auf intellektuellem Gebiet zeigt. Sie wechstel rasch die Stimmung, und sie vergißt rasch, was sie vernommen oder getan hat. Auch diese Erscheinung kann für ihre Unfähigkeit verantwortlich gemacht werden, irgendwelche Koordinationen, die etwas Zeit erfordern, auszuführen. Ferner fehlt es bei den Verfassern ganz an einer systematischen Untersuchung des Gedächtnisses, des Gesichtssinnes, der motorischen Leistungen und der Aufmerksamkeit. Darin liegt der größte Mangel dieser Arbeit. Sie hat eine erstarrte Entwicklungsstufe zum Gegenstand, die ihr beliebig lange erlaubt hätte eine vollständige Aufklärung über deren Beschaffenheit zu erlangen, aber sie nutzt diesen Vorteil nicht aus, obwohl sie ihn selbst ihrer psychogenetischen Methode nachrühmt.

Es fehlt aber auch an systematischen Versuchen über den Gegenstand, der nach der Ansicht der Verfasser ihre speziellere Aufgabe gebildet hat, über das Verhältnis von Denken und Sprechen. Infolgedessen weiß man nicht, wo die Grenzen des Wortverständnisses liegen, die für seinen Umfang und für seinen Inhalt in Betracht kommen. Ebensowenig erfährt man, worin dieses Verständnis eigentlich besteht. Man kann es dadurch prüfen, daß man die Reaktionen untersucht, welche durch dargebotene Worte ausgelöst werden, indem man von der Voraussetzung ausgeht, daß die Sinngemäßheit der Reaktionen auf einem Verständnis der sie auslösenden Worte beruth. Eine sinngemäße Antwort und eine sinngemäße Handlung sind die Hauptklassen, in welche derartige Reaktionen zerfallen. Dabei kann die Wortreaktion eine bloße Bestätigung des Verständnisses, oder eine Anknüpfung an die Reizworte, oder eine förmlliche Beantwortung derselben sein. Die sinngemäße Handlung kann in einfachen, die Wirkung darstellenden Gebärden oder in der Ausführung eines Auftrages oder in symbolischen, das Verständnis ausdrückenden Bewegungen bestehen. Ob aber solche wahrnehmbaren Folgeerscheinungen ein Verständnis in unserem Sinne, ein wirkliches Auftreten von Bedeutungsbewußtheiten einschließen, oder ob darin lediglich ein ideomotorischer Ablauf vorliegt, ist damit noch nicht entschieden. Für eine derartige eindringendere Untersuchung in den Bewußtseinsbestand eines geistig zurückgebliebenen Individuums bedarf es noch der Ausbildung feinerer Kriterien.

Die Betrachtungen, welche BINET und SIMON über die Benennung eines Gegenstandes anstellen, werden durch einen Versuch unterstützt, der zeigen soll, daß die Darbietung eines Objekts bei der Imbezillen nicht, wie bei uns, die Bezeichnung hervorruft. Es wird ihr ein tampon vorgelegt und der Name papa eingeprägt. So kommt eine Assoziation eines Wortes mit einer Sachvorstellung zustande. Zeigt man der Imbezillen aber darauf den tampon, so kann sie papa dafür nicht sagen, obwohl sie das Wort ganz gut aussprechen kann. Aus diesem einen Versuch schließen die Verfasser, daß es der Imbezillen nicht gelingt, aufgrund der Vorstellung eines Gegenstandes die zu seiner Benennung dienende koordinierte Bewegung des Kehlkopfes hervorzurufen. Wir wollen davon absehen, daß der Bericht über die Einprägung der gestifteten Assoziation sehr ungenau ist und verschiedenen Fragen, deren Beantwortung für die Beurteilung des Ergebnisses von Wichtigkeit wäre, nur zu viel Raum läßt. Aber unbegreiflich ist, daß die Verfasser für die Stiftung der Assoziation ein Wort benutzt haben, das bei der Imbezillen bereits mit einer Bedeutung verbunden war. Die Verfasser scheinen an den seit MÜLLER und PILZECKER genauer bekannten Vorgang der generativen oder assoziativen Hemmung gar nicht gedacht zu haben. Es hätte natürlich ein indifferenter Laut für solche Versuche gewählt werden müssen, wenn ihnen eine Beweiskraft zukommen soll. Außerdem übersehen die Verfasser, daß die Imbezille überhaupt keine Tendenz zur Benennung vorgezeigter Gegenstände offenbarte, und daß die Reproduktionstendenz des zugerufenen Wortes (donnes moi le papa und dgl.) unter den gegebenen Umständen wesentlich größer war als die von einem gesehenen Gegenstand ausgehende Tendenz, ihn zu benennen.

Wir haben zwischen dem Wort als Mittel und als Ziel, zwischen dem Wort als Reiz und als Reaktion wohl zu unterscheiden. Als Mittel und als Reiz spielt das Wort für die Imbezille eine Rolle: es regt Reaktionen an, führt zu Handlungen und ist eine Bedingung ihres Verhaltens. Als Ziel und als Reaktion dagegen spielt das Wort für sie kaum eine Rolle: sie spricht sehr selten die Worte, die sie kennt, sucht ihren Sprachschatz gar nicht zu erweitern und benennt nicht die Gegenstände, die sie wahrnimmt. Hier liegen die eigentlich vitalen Wurzeln für das Ausbleiben spontaner Benennungen. Hier hätte darum auch die genauere Untersuchung einsetzen müssen. Hätte man die Benennung von Gegenständen mit vitalen Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht, so wären wahrscheinlich auch gewisse Gegenstände geeignet gewesen, eine bezeichnende Wortreaktion hervorzurufen.

Endlich muß auch zwischen dem Verständnis eines Wortes und der Fähigkeit, es zur Benennung von Gegenständen anzuwenden, wohl unterschieden werden. Vielleicht war das Wort bei der Imbezillen gar kein Bedeutungsträger. Diese Frage wird freilich von den Verfassern dadurch umgangen, daß sie ein Denken, welches ohne Bild und Wort möglich ist, in Überlegungen, Urteilen, Billigung oder Mißbilligung besteht, als ein intellektuelles Gefühl (!) und damit als einen ziemlich unbestimmten Vorgang kennzeichnen. Durch Bilder und Worte soll dieses unbestimmte Gefühl präzisiert werden. Als wenn Bilder und Worte das Denken in sich enthielten und nicht vielmehr auch bei einer Anwendung derselben ein unpräzises Denken möglich wäre! BINET betrachtet sich als den eigentlichen Begründer der neuen Denkpsychologie, die er mit seiner Ètüde expèrimentale de l'intelligence vom Jahr 1903 inauguriert hat. Diese Behauptung ist, wie ihn die deutsche Literatur lehren könnte, durchaus unrichtig, aber sie erfährt auch noch eine besondere Beleuchtung durch seine hier mitgeteilte Auffassung vom Wesen des Denkens. Aus dieser geht unzweifelhaft hervor, daß er zwar die relative Selbständigkeit des Denkens gegenüber den Vorstellungen und Worten erkannt hat, daß er aber in seiner Bestimmung als Gefühl ungefähr den gleichen unzutreffenden Standpunkt einnimmt, den WUNDT in seiner ablehnenden Kritik von BÜHLERs Gedankenversuchen vertreten hat.

Eine häufig angewandte Methode zur genaueren Erkenntnis psychopathischer Zustände ist die autobiographische. Es liegt auf der Hand, daß ihre Anwendbarkeit durch den Bildungsgrad der Kranken und durch die Art ihres geistigen Defekts beschränkt ist. Aber weniger bekannt scheint ihre Ergänzungsbedürftigkeit dort zu sein, wo sie in Kraft treten kann. Zumindest kann ich es mir nur so erklären, daß T. K. OESTERREICH in seiner lehrreichen Abhandlung über die Entfremdung der Wahrnehmungswelt und die Depersonalisation in der Psychastenie (10) sich ausschließlich auf ausführliche Eigenberichte solcher Kranker gestützt hat. So sehr man dem Verfasser darin bestimmen wird, daß eine vollständige Vorlage derartiger Berichte erforderlich ist, um auch anderen Forschern zur Prüfung und zur Analyse Gelegenheit geben zu können, so wenig wird man sich die Unzulänglichkeit dieser Grundlage für die Erkenntnis des Wesens und der konstituierenden Bedingungen der zu untersuchenden Krankheitsbilder verhehlen dürfen. Auch beim objektivsten Kranken pflegt die Geschichte seiner Krankheit durch persönliche Interessen bestimmt zu werden, die eine Kontrolle seiner Mitteilungen notwendig machen. Außerdem hat er seine eigene Terminologie, die nicht immer das beschriebene Erlebnis eindeutig bestimmen läßt. Dann ist der jeweilige Zustand des Kranken von Einfluß auf die Art seiner Schilderung. Ebenso ist die zufällige Beobachtung des Kranken eine Grundlage für die in seinem Bericht hervortretende Auswahl aus den stattgefundenen Erlebnissen. Endlich tragen diese Berichte vielfach einen summarischen Charakter und legen darum mehr Zeugnis ab für die Auffassung, die der Kranke von seinen Erlebnissen hat, als für diese selbst. Aus all diesen Gründen, zu denen noch andere in einzelnen Fällen hinzugefühgt werden können, ist eine Krankengeschichte, die der Psychasthenische selbst verfaßt hat, keineswegs als eine ausreichende Basis für theoretische Untersuchungen anzusehen. Die Exploration, geeignete Versuche und objektive Beobachtungen müssen hinzukommen und werden vielfach erst eine Entscheidung ermöglichen.

Aber auch die Verarbeitung der autobiographischen Krankheitsberichte sollte viel methodischer angelegt und durchgeführt werden, als es bei OESTERREICH geschehen ist. Man hat bei der Lektüre seiner Arbeit den unbehaglichen Eindruck, daß der größte Teil der in extenso mitgeteilten Berichte gar nicht ausgenutzt worden ist, daß ein offenkundiges Mißverhältnis zwischen der empirischen Grundlage und der theoretischen Erörterung besteht. Es ist dem Verfasser anscheinend nur darauf angekommen, die Äußerungen der Kranken über ihre Gefühle und deren Zusammenhang mit den Krankheitserscheinungen zu verwerten. Gerade hier aber hätte vor allem festgestellt werden müssen, was der so außerordentlich schwankende Gebrauch des Gefühlsterminus zu bedeuten hatte und in welcher Abhängigkeit er von der Umgebung der Kranken stand. Bei einem derselben habe ich die Vermutung nicht loswerden können, daß er in VOGTs Gefühlslehre eingeführt worden ist und nachher aufgrund derselben seine Zustände beschrieben hat.

Wie man bei der Verwertung solcher Berichte systematisch zu verfahren hat, kann uns die Geschichtswissenschaft lehren, deren bewunderungswürdige methodische Vollkommenheit für die objektive Psychologie in vieler Beziehung vorbildlich sein dürfte (11). Da spielt zunächst die Prüfung der Echtheit, der Unbefangenheit, der Sachlichkeit und Zuverlässigkeit der Berichte eine Hauptrolle. Ferner wird eine systematische Vergleichung mit anderen Berichten gefordert und durchgeführt und zwischen dem rein Tatsächlichen und seiner Deutung, Erklärung, Motivierung streng zu scheiden versucht. Dazu kommt für die Krankenberichte die Notwendigkeit, die grundlegenden Symptome von den bloßen Folgeerscheinungen zu trennen, die wesentlichen Züge aus den unwesentlichen herauszuheben und Korrelationen zu gewinnen, die auf einen gesetzmäßigen Zusammenhang bestimmter Erscheinungen schließen lassen. Nach all diesen Richtungen läßt die Verarbeitung, welche OESTERREICH an seinem Material vorgenommen hat, viel zu wünschen übrig, und so hat er sich dann auch in seinem neuen verdienstlichen Werk über die "Phänomenologie des Ich" (1910) bereits veranlaßt gesehen, die in der hier besprochenen Abhandlung vertretene Theorie nicht unerheblich zu modifizieren. Zwei Tatsachen mußten vor allem an der Annahme irremachen, daß die Entfremdung der Wahrnehmungswelt auf einer Veränderung des Gefühlslebens beruth. Erstens können Gefühle selbst bekannt oder fremd erscheinen und man wird sich die Sache gewiß nicht so zu denken haben, daß hier andere Gefühle die Grundlage dieses Eindrucks bilden. Zweitens zeigt der bekannte Fall von d'ALLONNES (12), daß es Kranke gibt, welche Gegenstände, die ihnen keine Gefühle mehr auslösen, nicht für fremd halten. Sie sind ihnen vielmehr genau so bekannt wie vorher. Derartige Beobachtungen sind auch dem normalen Bewußtsein geläufig.

Wir wollen damit kein Bekenntnis zu einer sensualistischen Theorie der Gefühle abgelegt haben, die zweifellos auch durch den interessanten Bericht von d'ALLONNES nicht erwiesen worden ist. Die ausschließliche Betonung der Viszeralempfindungen für das Gefühlsleben ist weder durch den Hinweis auf den Schauspieler, den Gelähmten und den Automaten, noch durch die Untersuchung von Frau ALEXANDRINE gerechtfertigt. Wenn der Schauspieler die Gemütsbewegungen, die er darstellt, nicht selbst zu fühlen braucht, so ist damit noch nicht gezeigt, daß seine viscera [Eingeweide - wp] keinen Beitrag zu seiner Darstellung liefern. Der absichtliche, künstliche, durch bloße Suggestion angeregte Gemütszustand unterscheidet sich freilich auf das bestimmteste vom natürlichen, spontan entstandenen, aber schwerlich dadurch, daß dort die Viszeralempfindungen fehlen, die hier vorhanden sind. Diese Empfindungen können zweifellos wichtige Bestandteile eines vollen Gemütszustandes bilden, aber sie brauchen darum nicht als seine einzigen Konstituentien zu gelten. Der Fall der Frau A. ist leider nicht genügend analysiert worden. Aber es liegt sehr nahe, ihre Äußerungen über ihre emotionale Unerregbarkeit, daß sie kein vibrement, keine Erregung spürt (cela ne me touche pas [Es betrifft mich nicht. - wp]), dahin zu interpretieren, daß sie dasjenige verloren hat, was ihr früher an ihren Gemütszuständen bei der großen Lebhaftigkeit, die sie ausgezeichnet hatte, die Hauptsache, wie körperliche Resonanz, die Mitwirkung der Organempfindungen. Wenn sie früher furchtsam war, überlief es sie kalt und sie war von Zittern und Aufregung befallen. Wenn sie früher ihre Angehörigen erwartete, dann hatte sie die Tendenz, ihnen entgegenzueilen und sie zu umarmen. Jetzt scheint ihr all das gleichgültig zu sein, sie umarmt ihren Mann wie einen Tisch, und das Eintreten ihres Sohnes macht sie nicht warm und läßt ihr Herz nicht höher schlagen. Damit scheint ihr die Furcht, die Freude, der Kummer, die Liebe zu fehlen. Und doch beklagt sie sich über ihren Zustand, nennt ihn ein großes Unglück und wünscht davon befreit zu werden. Statt der Kranken ohne weiteres zu glauben, wenn sie behauptet, keine Lust oder Unlust mehr zu fühlen, hätten gerade hier genauere Versuche einsetzen müssen. Sie erklärt ja auch, innerlich ihre Angehörigen noch zu lieben. Aber weil ihr Körper dabei unbeteiligt bleibt, so genügt ihr das nicht mehr und scheint ihr alles Gefühl erloschen zu sein. Daraus wird wohl nur auf die individuelle Natur des Falles geschlossen werden dürfen. A. ist eine sehr aufgeregte, körperlich alle Eindrücke auf das Stärkste miterlebende Person gewesen. Darum empfindet sie jetzt den Mangel diser körperlichen Resonanz so schwer. Ob sich das bei ruhigeren Individuum ebenso verhalten würde, ist zweifelhaft. Außderdem ist die sinnliche Sphäre bei A. offenbar besonders entwickelt gewesen, und sie hat ohne deren Beteiligung überhaupt keine Freuden und Leiden gekannt. Zweifellos aber hat dieser Fall die Bedeutung der Viszeralempfindungen für die emotionale Seite des Seelenlebens in das hellste Lich gesetzt und wohl auch eine Theorie der Entfremdung der Wahrnehmungswelt und der Depersonalisation, wie sie von OESTERREICH vertreten worden ist, unmöglich gemacht.

Diese Bemerkungen mögen genügen, um den Vorteil zu illustrieren, den die in der Normalpsychologie ausgebildeten Gesichtspunkte und Methoden für das in psychopathologischen Fällen anzuwendende Verfahren an die Hand geben. Die Methoden sind die planmäßigen Wege zur Erkenntnis. Je weiter die Wissenschaft fortschreitet, umso mehr differenzieren und verfeinern sich die Methoden. Wo wir uns ursprünglich mit einfachen Mitteln begnügen konnten, um vorerst eine Übersicht über den Tatbestand zu gewinnen, da wird das Bedürfnis nach speziellerer und gesicherterer Erkenntnis allmählich zu umständlicheren Erwägungen, zu komplizierteren Anordnungen und zur Einengung der bestehenden Möglichkeiten führen. Die letzten Gesetze, die elementaren Funktionen, das aus ihnen sich realisierende Sein und Geschehen sind in den empirischen Wisenschaften das Ziel der Forschung. Gewiß ist auch die Normalpsychologie von diesem Ziel noch weit entfernt, aber sie hat namentlich durch die Anwendung einer systematischen Selbstbeobachtung außerordentliche Fortschritte in den letzten Jahrzehnten machen können und einen Reichtum von Methoden und Gesichtspunkten ausgebildet, der auf zahlreichen Gebieten ihrer Anwendung Früchte zu tragen beginnt. Darum sollte es für den werdenden Psychopathologen selbstverständlich sein, einen normalpsychologischen Fond im Anschluß an die moderne experimentelle Wissenschaft zu erwerben und damit zugleich seine theoretische Einsicht und seine praktische Diagnose und Heiltätigkeit zu fördern.
LITERATUR Oswald Külpe, Psychologie und Medizin, Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. 1, Leipzig 1912
    Anmerkungen
    1) Vgl. dazu meine "Einleitung in die Philosophie", fünfte Auflage 1910, § 34, 4.
    2) Vgl. die Übersicht über die experimentellen Untersuchungen bei ADALBERT GREGOR, Leitfaden der experimentellen Psychopathologie, 1910
    3) Vgl. hierzu das "Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungsmethoden" von ROBERT SOMMER, zweite Auflage, 1905. Auf dieses Verfahren ist WUNDTs Bezeichnung der in BÜHLERs Versuchen benutzten Methode als Ausfragemethode anwendbar, während sie für die genannten Versuche selbst ganz unzutreffend ist.
    4) Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 22, Seite 302f
    5) Vgl. ARTHUR WRESCHNER im Ergänzungsband III der "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane", Seite 260f.
    6) Vgl. Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 21, Seite 24f. Über den Einfluß zunehmender Geschwindigkeit in der Abfolge von Reizworten auf die Assoziationsreaktionen und die daraus sich ergebenden näheren Bestimmungen einer Verflachung und Veräußerlichung vgl. HENRY JACKSON WATT im "Archiv für die gesamte Psychologie", Bd. 9, Seite 155f. Von besonderem Interesse für die Frage nach der Entstehung der sogenannten Klangassoziationen ist verner das Ergebnis von DAUBER (Zeitschrift für Psychologie etc., Bd. 59, Seite 251f) über die Reaktionen auf sinnlose Silben. Vgl. auch PAUL MENZERATH in der "Zeitschrift für Psychologie etc.", Bd. 48, Seite 51f.
    7) Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. II, Seite 57f.
    8) Langage et pensèe, Annèe psych. XIV, 1908.
    9) Auch REVAULT d'ALLONNES hat sich neulich im "Journal de psychol. norm. et pathol." gegen diese Parallelisierung ausgesprochen.
    10) Journal für Neurologie und Psychologie, Bd. VII, 1906
    11) Vgl. das ausgezeichnete "Lehrbuch der historischen Methode" von ERNST BERNHEIM.
    12) Revue philosophique, Bd. 60, 1905, Seite 592f