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RICHARD KRONER
Über logische und
ästhetische Allgemeingültigkeit

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"Aller Rationalismus lehrt, daß die Sinne irren und nur im Verstand die Quelle der Wahrheit strömt. Erst wenn sich die inadäquaten, verworrenen Idenn in klare und deutliche Vorstellungen, d. h. in mathematisch-physikalische Begriffe umgewandelt haben, entsteht wahrhaft Erkenntnis; daher ist es das Wesen der Wissenschaft, vom Schein zum Sein vorzudringen und vom Zufälligen das Ewige zu scheiden."

"Der bloße Inhalt hat keine Wahrheit und keine Wirklichkeit; die logischen Bedingungen, unter denen ein Inhalt überhaupt Wirklichkeit werden kann, gilt es zu erforschen, denn sie sind zugleich die Bedingungen der allgemeinen Gültigkeit der Erkenntnis."

"Das Moment der Existenz wird bedeutungslos ohne die in Wirklichkeitsurteilen mitbejahten Formbestandteile; denn die Wirklichkeit hat keine Wahrheit, wenn nicht der bloße Inhalt in Formen gedacht wird, deren Bedeutung für die Objektivität darin liegt, daß sie als Formen der Anerkennung transzendenter Normen zu betrachten sind."


II. Ausführender Teil

A. Die Begründung der
transzendental-logischen Allgemeingültigkeit

Die vorhergehenden Betrachtungen haben erwiesen, daß logische und ästhetische Allgemeingültigkeit letzten Endes ihre Dignität aus derselben Quelle schöpfen, insofern die Wurzeln ihrer Kraft auf dem Gebiet der "praktischen Vernunft" liegen. Ich habe versucht, diesen Standpunkt fremden Meinungen gegenüber zu verteidigen, und glaube damit dem kantischen Denken, zumindest seinen letzten und tiefsten Absichten nach, näher gekommen zu sein als irgendeinem anderen. Im Folgenden will ich nun an dieses Denken einen noch engeren Anschluß suchen, um für die Behandlung besonders der ästhetischen Probleme einen breiteren Boden zu gewinnen.

Den aus der empiristischen Zergliederung des Erkenntnisvorgangs notwendig entspringenden, von HUME folgerichtig entwickelten Skeptizismus zu widerlegen, insbesondere die durch diese Lehre wankend gewordenen Grundlagen der Wissenschaft neu zu befestigen und unangreifbar zu machen, war KANTs Absicht, als er die "Kritik der reinen Vernunft" zu schreiben begann. Aber nur die Disziplinen zu rechtfertigen, erschien ihm notwendig, die seit langen Zeiten "den sicheren Weg einer Wissenschaft gegangen waren"; dazu zählte er neben der Logik nur die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft, wie sie sich seit GALILEI entwickelt hatte. Durch die Einschränkung seines Augenmerks auf die genannten Wissenschaften gelang es KANT jedoch nicht, mit voller Deutlichkeit die letzte Verankerung der von ihm nachgewiesenen Allgemeingültigkeit der Erkenntnis aufzuzeigen, und die bei ihm in dieser Beziehung noch herrschende Dunkelheit hat sich bei den späten Nachfolgern seiner Lehre bitter gerächt. Denn in die scheinbar gelassene Lücke des Gedankens der Deduktion rückten sie mit einer neuen verfeinerten Skepsis ein, die sich Positivismus oder Empiriokritizismus (1) nannte. Diese Richtung suchte alles Wissen aus "Tatsachen" herzuleiten und glaubte damit die nur relative Geltung aller Erkenntnis erweisen zu können. Erst die Philosophie RICKERTs, welche die kantische Deduktion zu Ende gedacht hat, nimmt auch dieser Skepsis den Boden unter den Füßen weg, indem sie zeigt, daß jede relativistische und positivistische Theorie sich selber die Lebensadern zerschneidet, da schon der Sinn selbst jeder "Tatsache" die absolute Geltung des Gegenstandes der Erkenntnis, d. h. des Sollens voraussetzt. Die Undurchsichtigkeit der kantischen Deduktion, hervorgerufen durch den Zweck, die rationalen Wissenschaften zu begründen, liegt nur vor allem in der Verwebung zweier nirgends klar geschiedener Gedanken, die beide um den Begriff der Allgemeinheit kreisen, in diesem Begriff aber zweierlei meinen: einmal die Gültigkeit für alle erkennenden Subjekte ohne Sammlung der Stimmen und zweitens die Gültigkeit für alle erkannten Objekte ohne Sammlung der Fälle. Nennen wir mit KANT die erstere "Notwendigkeit" (2) und die letztere "strenge Allgemeinheit", so sah er in ihnen beiden Korrelatbegriffe, die aufeinander hinweisen, und außerhalb der strengen Allgemeinheit schien für Notwendigkeit gar kein Platz (3). Im Begriff der Regel aber fanden sich beide Bedeutungen in zweideutiger Einheit zusammen.

Ich schreite nun zuerst dazu, den Grund für diese Unzertrennlichkeit zweier selbständiger Begriffe bei KANT aufzudecken, und beginne zu diesem Zweck mit einer Analyse der Begriffe subjektiv und objektiv.


§ 1. Subjektiv und Objektiv

Die Bedeutung dieser Termini ist bei KANT durchaus keine einheitliche. Man könnte von einer "schlechten" und einer "guten Subjektivität" sprechen, die eine die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis behindernd, die andere sie fördernd. Erstere bezieht sich auf das empirisch individuelle Subjekt, letztere auf das erkennende Subjekt überhaupt. So lesen wir:
    "Hume wollte den Begriff der Ursache von einer öfteren Beigesellung dessen was geschieht mit dem, was vorher geht und einer daraus entspringenden Gewohnheit (folglich bloß subjektiven Notwendigkeit), Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten" (4),
andererseits aber haftet der Raum als Form der Anschauung an "der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts" (5), er ist "die subjektive Bedingung er Sinnlichkeit" (6) die einzige "subjektive und auf etwas Äußeres bezogene Vorstellung, die apriori objektiv heißen könnte" (7). Aus dieser letzteren Anführung ist zugleich ersichtlich, daß die "gute Subjektivität" gleichzusetzen ist der apriorischen Objektivität (8). In einer Anmerkung zu dieser Stelle setzt KANT ihr die Empfindung oder das Gefühl der Lust oder Unlust gegenüber; diese sind nicht notwendige Bedingungen der Gegenstände, sondern nur empirische Bestimmungen. Doch zwischen Empfindung und Gefühl besteht hinsichtlich ihrer Subjektivität noch ein weitgehender Unterschied, wie an anderer Stelle zu erfahren ist:
    "Alle Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen, aber kann objektiv sein (und da bedeutet sie das Reale einer empirischen Vorstellung), nur nicht die auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekt bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt." (9)
ZSCHOKKE (10) hat zu zeigen gesucht, daß sich in KANTs Urteilstheorie Ansätze zu einer Verlegung des Schwerpunktes eines jeden Urteils aus der Synthese in das praktische Moment der Bejahung finden, so daß die ansich subjektive Vorstellungsverbindung erst durch dieses Moment Objektivität erhält. Wenn man mit WINDELBAND (11) in der "Verlegung des philosophischen Standpunktes aus der theoretischen in die praktische Vernunft den schärfsten Ausdruck" erblickt "für die totale Umwälzung, welche in der Geschichte des modernen Denkens an den Namen KANTs geknüpft ist," so wird man in der Tat den Ansatz zu einer solchen Theorie für eine der bedeutsamsten Taten der Kr. d. r. V. erklären. Wie es darum historisch jedoch auch immer stehen mag, so werde ich an der von ZSCHOKKE gewählten Interpretaton dieser Lehre im Sinne meiner Auffassung eine Korrektur anbringen müssen. Der von ZSCHOKKE ausgeführte Gegensatz von subjektiv und objektiv ist gleichzusetzen mit unserem früher aufgestellten von psychischer Wirklichkeit und logischer Gültigkeit. Wir haben aber gezeigt, daß diese Sphären sich auf keine Weise ineinander überführen lassen. Ein psychisch Wirkliches wird durch den "angehängten" Begriff des Sollens nicht zu einem logisch gültigen Urteil oder Begriff. Schon in meiner Bekämpfung der von HUSSERL bevorzugten Distinktion von reell und intentional hatte sich mir die erkenntnistheoretische Entgegensetzung der subjektiven, individuellen Vorstellung einerseits, des objektiven, allgemeinen Gegenstandes andererseits als haltlos ergeben. Psychische Inhalte, wie bei KANT, die durch Gewohnheit entstandene Notwendigkeit, die Empfindung, das Gefühl der Lust oder Unlust stehen, wie auch ZSCHOKKE bemerkt, jenseits von wahr und falsch; ihre "schlechte Subjektivität" ist daher kein Gegenspiel zur erkenntnistheoretischen Objektivität. Die Assoziation ist dem Urteil so fremd, als sich Sein und Sinn fremd sind und nicht irgendwie auseinander abgeleitet oder aufeinander zurückgeführt werden können. Die Bestandteile des Urteils sind daher nie und nimmer psychische Inhalte. Deshlab kann ich ZSCHOKKE nicht recht geben, wenn er das Verhältnis von Synthese und Notwendigkeit in die Formel bringt:
    "Allerdings ist die Synthese die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] der Objektivität. Aber mit ihr sind noch keineswegs die Bedingungen erschöpft, da wie ich zeigte, dieselbe Synthese sowohl in der subjektiven Vorstellung vorkommt, die weder wahr noch falsch sein kann, als auch im Urteil." (12)
Da es mir mehr darauf ankommt, unsere Begriffe zu schärfen und zu klären als KANT zu interpretieren, so will ich nicht untersuchen, ob KANTs Meinung mit dieser Formel getroffen wäre (13), sondern sie auf ihre Rechtmäßigkeit hin prüfen. Aufgrund unserer Auseinandersetzungen im ersten Teil kann ich mich kurz fassen. Die subjektive Vorstellung wird nicht objektiv durch die Bejahung, denn sie gehört ihrem Begriff nach zur Sphäre des Seienden. Die Vorstellung aber, die durch die Bejahung objektiv werden soll, ist ein, durch logische Analyse entstandener Abstraktionsbegriff, der auf dem Boden der Erkenntnistheorie zu einem Grenzbegriff des "bloßen" Inhalts verblaßt. Gemeinsam ist diesem mit dem Begriff des psychisch-reellen Inhalts nur die Immunität gegenüber der Alternative wahr oder falsch, aber die Zweckgesichtspunkte, aus denen heraus beide Begriffe gebildet wurden, und die allein für ihre Verwandtschaft in Betracht kommen, sind einander völlig heterogen. Auch für ZSCHOKKE ist das "individuelle Subjekt selber ein Stück des empirischen Seins, eine Objektivität." (14) Die Synthese ohne Notwendigkeit = Assoziation als Vorgang im individuellen Subjekt ist daher selbst ein Stück der objektiven Wirklichkeit, d. h. aber ein Urteilsprodukt, kein Urteilsbestandteil.

Nur die aus dem Bestreben, HUME zu überwinden, herausgewachsene Richtung des kantischen Denkens erklärt die ansich unhaltbare und unfruchtbare Fragestellung, wie aus dem subjektiven Vorstellungsleben objektive Erkenntnis wird. (15)

Wie ich gezeigt habe, muß die "schlechte Subjektivität" bei erkenntnistheoretischen Erwägungen völlig aus dem Spiel bleiben.


§ 2. Die strenge Allgemeinheit

Aus dem gewonnenen Resultat will ich sogleich eine wichtige Folgerung ziehen; für KANT ergab sich aufgrund der oben geschilderten Fragestellung die Aufgabe, zur objektiven Erkenntnis von der subjektiven Assoziation aus hinzudringen. Wird Ernst damit gemacht, daß im objektiven Urteil eine individuelle Vorstellungsverbindung im logischen Sinn notwendig werden soll, so wird damit die Lösung des Objektivitätsproblems in seinem vollen Umfang verhindert. Denn nur die ihres individuellen, d. h. subjektiven Charakters entkleideten Verbindungen können dann Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, nur sie ermöglichen echte Objektivität. Dieser Punkt ist von hervorragender Wichtigkeit, er stellt sich uns dar als die notwendige Konsequenz eines durch einen falschen Ausgangspunkt bestimmten Gedankenganges. Von zwei Seiten her wurde KANT zu diesem Schritt gedrängt: HUME hatte 1.) die Kausalität als streng allgemeine und notwendige Regel bezweifelt und ihren Anspruch auf Gewohnheit zurückgeführt. Er hatte 2.) die impressions oder ihre reproduzierten Bilder, die ideas, als die zu verbindenden Inhalte proklamiert. Um diese Ideenassoziation als eine objektiv gültige zu rechtfertigen, konnte KANT nicht einfach die Bejahung hinzutreten lassen, sondern mußte in diesen Ideen das subjektive, d. h. aber das individuelle Moment auslöschen; um die strenge Allgemeinheit kausaler Regeln zu begründen, bedurfte er andererseits gar keines individuellen Inhalts, der hätte bejaht werden sollen; so liefen beide Motive zusammen, die Umwandlung der subjektiven Vorstellungsverbindung in eine streng allgemeine und notwendige Verbindung von Begriffen zu erwirken, den Weg von der Empfindung zum allgemeinen Begriff d. h. zum Begriff eines Allgemeinen im Sinne der Naturwissenschaft, zu nehmen, um die Bedingungen objektiver Erkenntnis aufzuzeigen. Dadurch kam gleichzeitig der Begriff gegenüber dem bloßen Affiziertwerden, der rezeptiven Sinnlichkeit, in die Stellung des apriorischen Faktors kat exochen [schlechthin - wp].

Das Subjektiv-Sinnliche wird durch ihn in die Sphäre des Allgemeinen und dadurch erst in die des Allgemeingültigen getragen. Wir haben schon mehrfach von der Anziehungskraft gesprochen, die das Allgemeine dem Begriff der Allgemeingültigkeit gegenüber zu haben scheint. HUSSERLs System steht im Bann dieser Kraft. Auch KANT zahlt ihr seinen Tribut.
    "Wenn das Urteil für alles, was unter einem gegebenen Begriff enthalten ist, gilt, so gilt es auch für jedermann, der sich einen Gegenstand durch diesen Begriff vorstellt." (16)
Hier liegt der tiefste Grund für KANTs Bevorzugung der strengen Allgemeinheit der Urteile hinsichtlich ihrer Objektivität. Wir das Einzelne lediglich als das der sinnlichen Sphäre Entstammende gedacht und ihm der Begriff als Überwinder der Subjektivität gegenübergestellt, wie dem bloß Psychischen das logisch Gültige, so fallen die logischen Gegensätze des singularen und des allgemeinen Urteils auseinander wie Sinnlichkeit und Verstand, wie Subjektivität und Objektivität. So wurde für KANT die objektive Realität der Dinge als der "Inbegriff von lauter Relationen" (17) zur Natur "als dem Dasein der Dinge, insofern es nach allgemeinen Gesetzen" (18) bestimmt ist, so ist es für ihn nicht genug, daß ein Urteil für jedermann zu jeder Zeit gelten soll, um objektiv zu sein, sondern die im objektiven Urteil verknüpfte Synthese muß "jederzeit und von jedermann gefunden werden können" (19), sie muß ihrem Inhalt nach frei von jeder raumzeitlichen Bestimmung, folglich die Synthese allgemeiner Begriffe sein. Dazu stimmt es dann freilich nicht, wenn er in seiner Logik sagt:
    "Ein Wahrnehmungsurteil ist bloß subjektiv; in objektives Urteil aus Wahrnehmungen ist ein Erfahrungsurteil. Ein Urteil aus bloßen Wahrnehmungen ist nicht wohl möglich, als nur dadurch, daß ich meine Vorstellungen als Wahrnehmungen aussage: Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr. Ich kann aber nicht sagen: er ist rot, denn dies wäre nicht bloß ein empirisches, sondern auch ein Erfahrungsurteil, d. h. ein empirisches Urteil dadurch ich einen Begriff vom Objekt bekomme." (2)
Diese Stelle ist umso interessanter, als der Begriff vom Objekt, hier ein vorwissenschaftlicher, wertbezogener Wirklichkeitsbegriff ist und sich toto coelo [völlig - wp] von jenem Objekt unterscheidet, das als Gegenstand der Erfahrung sich in "lauter Verhältnisse" auflösen läßt. Solche und ähnliche Stellen bilden jedoch die Ausnahme und passen nicht in das System der Kritik. Sie beweisen aber andererseits, daß auch für KANT das Problem der Begründung individueller Gegenständlichkeit bisweilen auftauchte, wenn es auch bei seinem auf Mathematik und mathematische Naturwissenschaft gerichteten Blick nicht zu seinem Recht gekommen ist. Wir werden sehen, wie diese Struktur seiner Gedanken, die ihn auch in der Ethik zu einer einseitig durch den Allgemeinbegriff im Sinne der Naturwissenschaft bestimmten Formulierung des kategorischen Imperativs hingetrieben hat (21), dem ästhetischen Urteil gegenüber zunächst völlig hilflos ist.

Ehe wir zu unserer Untersuchung des Verhältnisses von Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit im ästhetischen Gebiet schreiten, wollen wir aber unser Verständnis für die logischen Eigentümlichkeiten dieses Verhältnisses noch zu vertiefen suchen. Bei KANT, so haben wir gesehen, sind Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit unzertrennlich. Um die Ursache dieser Verknüpfung aufzuzeigen, ging ich im Vorhergehenden vom Begriff der Allgemeinheit aus und suchte seine Bedeutung für das Problem der Allgemeingültigkeit kennen zu lernen. Wir wollen jetzt einmal vom Begriff der Notwendigkeit ausgehen und nachforschen, ob er seinerseits in ausgezeichneter Weise dem logisch Allgemeinen verwandt ist, und also auch in ihm Motive für die kantische "Unzertrennlichkeit" liegen. Dabei wird sich uns das Problem der transzendentalen Deduktion aufrollen, und wir werden versuchen, einen Einblick in seine begriffliche Struktur zu erlangen.


§ 3. Die transzendentale Deduktion

Im Folgenden eine Darstellung der kantischen Deduktion zu geben oder in eine Diskussion über das höhere historische Recht der einen oder anderen Möglichkeit ihrer Auslegung einzutreten, kann nicht die Absicht unserer auf eine Klärung der Begriffe gerichteten Arbeit sein. Wohl aber werden diese Möglichkeiten für uns in einem systematischen Sinn in Betracht kommen, insofern wir in ihnen typische Gedankengänge zu sehen haben, über deren Wert und Unwert für den Zweck der Problemlösung, die wir vor Augen haben, ein Entscheid gefällt werden muß. Diese Grundlinien des Denkens will ich daher mit aller Schroffheit und Konsequenz zu zeichnen versuchen, ohne zu fragen, ob diese oder jene Auffassung "kantischer" ist. Der Zweck dieser Untersuchung läuft darauf hinaus, nachzuweisen, daß die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis sich auf die Möglichkeit singularer, das Individuelle meinender Urteile gründet, daß also das Band, das KANT zwischen strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit geknüpft hat, zerrissen werden muß. Ich stütze mich dabei auf das im ersten Teil Ausgeführte und werde im Verlauf meiner Überlegungen auch Gelegenheit nehmen, den von HUSSERL angebahnten Versuch einer Deduktion in unsere kritische Betrachtung einzustellen.

Der Begriff der Notwendigkeit, von dem wir ausgehen wollen, ist einer der Zentralbegriffe der Philosophie; er streckt seine Wurzeln bis in die letzten Tiefen aller Probleme; die Art und Weise, wie seine Bedeutung konzipiert, wie die Fäden gesponnen werden, die von ihm zum Sein und Erkennen laufen, gibt deshalb einem System die charakteristische Färbung. Unsere Aufgabe wird es sein, auf der eingeschlagenen via regia [Königsweg - wp] der Philosophie fortschreitend, den Begriff der Notwendigkeit möglichst metaphysikfrei zu bestimmen, oder was dasselbe sagen will, ihn nicht unbegriffen dem Gegenstand anheimzugeben, sondern eine wohlkonstruierte Brücke zwischen ihm und dem erkennenden Subjekt zu erbauen.

Wir müssen zu diesem Zweck am Begriff der logischen Allgemeingültigkeit zwei Seiten unterscheiden, die auseinander zu halten, bisher noch kein Bedürfnis vorgelegen hat. Der erste Teil sollte zeigen, daß jede logische Allgemeingültigkeit oder die Wahrheit eines jeden Urteils sich auf die Anerkennung eines Sollens gründet. Um die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis zu deduzieren, bedürfen wir jedoch der deutlichen Trennung der im Wahrheitsbegriff gedachten Momente der transzendentalen oder materialen und der immanenten oder formalen Wahrheit. Es versteht sich von selbst, daß diese Scheidung keine Einteilung der wahren Urteile nach sich zieht; ein Urteil kann formal wahr sein, ohne darum auch material wahr zu sein, wogegen ein materiales wahres Urteil nie formal falsch sein kann. Diese Einteilung bezieht sich auf das Verhältnis eines Urteils zur Wirklichkeit einerseits, zum Denken andererseits.

Urteile, die mit der Wirklichkeit übereinstimmen, nennen wir material wahr; Urteile, die den formal-logischen Normen gehorchen, formal wahr. Da der Begriff der logischen Allgemeingültigkeit schlechthin, wie der erste Teil dieser Arbeit gezeigt hat, sich auf den der Norm oder des Sollens überhaupt stützt, so wird auch die materiale Wahrheit der Urteile auf der Anerkennung von Normen ruhen, die wir transzendental-logische nennen wollen. Da die Wirklichkeit absolut individuell ist, so werden die transzendental-logischen Normen streng genommen nur die materiale Wahrheit singulärer Urteile begründen können. Wir werden diese Normen als konstitutive bezeichnen. Indessen dürfen wir den Begriff der "Übereinstimmung mit der Wirklichkeit" dahin erweitern, daß unter ihn die Objektivität jeder Erkenntnisart des Wirklichen fällt, und so werden wir alle Normen transzendental-logische nennen können, deren Anerkennung zur Voraussetzung jener Objektivität gehört. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Anerkennung der konstitutiven Normen aller Erkenntnis überhaupt erst eine objektive Geltung (materiale Wahrheit im engeren Sinn) verschafft, während die Anerkennung der transzendental-logischen Normen in einem weiteren Sinn (der methodologischen Normen, wie RICKERT (22) sie nennt), nur bestimmte Wissenschaftsgattungen begründet.

Nach dieser vorauseilenden Überlegung will ich nunmehr wieder an die Begriffswelt KANTs herantreten. Wir sehen, - ohne diese Absicht mit Belegen beweisen zu wollen - in der durch KANT geschaffenen Transzendental-Philosophie als den entscheidenden und wichtigsten Gedanken an: die Zurückführung der objektiven Erkenntnis auf die Formung eines bloßen Inhalts (der Empfindung, des Mannigfaltigen der Anschauung) durch Kategorien, wobei wir uns hinsichtlich der Definition der Kategorien nicht so sehr jenen Stellen anschließen wollen, wo sie als "die wahren Stammbegriffe des reinen Verstandes" oder "als reine Verstandesbegriffe", als "die Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrung" auftreten, sondern vielmehr jenen, wo sie als Regeln des Denkens definiert werden:
    "Sie sind nur Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. h. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben wurde, zur Einheit der Apperzeption zu bringen ..." (23)
Der einfache Gedanke der Deduktion ist dann der: Insofern unser Denken diesen Regeln gehorcht, produziert es allgemeingültige Urteile oder Urteile, die material wahr sind. Nachzuweisen bleibt, daß das Denken der Welt diesen Regeln gehorchen soll. Das geschieht durch die Reflexion auf Sinn und Ziel unseres erkennenden Denkens. Gehorchte das erkennende Denken jenen Regeln nicht, so verlöre es Sinn und Ziel. Folglich sind alle Urteile, die jenen Regeln gehorchen, teleologische notwendig. In diesem und nur in diesem Sinn sind auch die Kategorien die "Bedingungen des Denkens zu einer möglichen Erfahrung" zu nennen. Damit ist die "transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" geleistet. Sehen wir zu, welche Gedankenwege sich mit den eben vorgetragenen kreuzen, ihre Klarheit verdunkeln und die gesamte Leistung der Deduktion in dem von mir dargestellten Geist in Frage stellen oder gar aufheben. Der Begriff der Notwendigkeit, wie ich ihn soeben gebraucht habe, und wie er bei KANT öfters für die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, d. h. Gültigkeit ohne Sammlung der Stimmen steht, trägt einen Januskopf, dessen doppelte Zunge leicht unser Denken in die größten Verwirrungen stürzt. Für den naiven Verstand gibt es eine Notwendigkeit des Seins und Geschehens und eine Notwendigkeit des Denkens. SIGWART nennt erstere objektive, letztere subjektive oder modale Notwendigkeit (24); sagen wir der vielfachen Äquivokation [Mehrdeutigkeit - wp] der Termini objektiv und subjektiv wegen statt "objektive" besser "ontologische" Notwendigkeit, so eröffnet sich uns das schwierige Problem, zwischen ontologischer und modaler Notwendigkeit eine erkenntnistheoretisch durchsichtige Verbindung herzustellen. So einleuchtend der Unterschied beider für den ersten Blick zu sein scheint, so verführerisch und gefährlich wird er, sobald das Denken ihn zu vertiefen sucht.

Wir können hier nicht darauf ausgehen, dieses Problem allseitig zu erörtern, der Zweck unserer Betrachtung kann vielmehr nur darin bestehen, nachzuprüfen, in welcher Beziehung die ein oder andere Notwendigkeit zur materialen Wahrheit der Urteile steht, die zu begründen wir als die Aufgabe der transzendentalen Deduktion kennen gelernt haben. Dabei wird es sich zeigen, daß der Kategorienbegriff KANTs, insofern in ihm eine höchste Verallgemeinerung der naturbegrifflichen Allgemeinheit gedacht wird, seine Herkunft von einer Vermischung der beiden genannten Arten der Notwendigkeit ableitet und zu verwerfen ist. Um den Prozeß dieser Vermischung genau kennen zu lernen, müssen wir uns über das Wesen der Notwendigkeit des naturgesetzlichen Seins und Geschehens klar zu werden suchen und das Prinzip der Begründung dieser Notwendigkeit in kurzen Zügen darlegen. Die
    "reale (ontologische) Notwendigkeit ist entweder eine innere des Wesens oder eine äußere der Kausalität; immer aber eine hypothetische. Erkennbar ist sie nur in der Form allgemeiner Regeln, unter denen das Einzelne steht; umgekehrt wollen die unbedingt allgemeinen Urteile diese Notwendigkeit ausdrücken." (25)
So erkennen wir die Eigenschaften einer Pflanze als notwendig an, wenn wir sie aus ihrem Wesen begriffen, d. h. aus der Gattung abgeleitet haben, die Notwendigkeit der Gestirnbewegungen macht uns das Gravitationsgesetz einsichtig, indem wir den sigulären Fall unter ein logisch Allgemeines subsumieren. Um einen "Einblick in die Notwendigkeit der zeitlichen Folge von "Ursache und Wirkung" zu gewinnen, ist also "ein Umweg über allgemeine Begriffe von Kausalverhältnissen und eventuell Kausalgesetzen nicht zu vermeinden". (26) Verstehen wir unter Kausalität nichts anders als die erkennbare Notwendigkeit der zeitlichen Folge von Ursache und Wirkung oder diese Folge selbst, insofern in ihre Notwendigkeit ein wissenschaftlicher Einblick zu gewinnen ist, so werden im Begriff der Kausalität diese beiden Momente: Zeitfolge und Möglichkeit der Erkenntnis ihrer Notwendigkeit zusammengedacht, und wir gelangen zu dem kantischen Satz:
    "Dieser Begriff (der Ursache) erfordert durchaus, daß etwas A von der Art ist, daß ein anderes B daraus notwendig und nach einer allgemeinen Regel folge. Erscheinungen geben gar wohl Fälle an die Hand, aus denen eine Regel möglich ist, nach der etwas gewöhnlichermaßen geschieht, aber niemals, daß der Erfolg notwendig ist." (27)
Ob dieser Kausalitätsbegriff in der Tat diese kantische Formulierung durchaus erfordert, geht mich hier nichts an. Die Beantwortung dieser Frage gehört in eine Theorie der Kausalität (28). Ich stelle vielmehr nur fest, daß die von KANT proponierte [vorgeschlagene - wp] kausale Notwendigkeit unter allen Umständen ihre Gültigkeit nur einer schlechthin allgemeinen Regel verdankt, also durch die Subsumtion [Unterordnung - wp] einer gegebenen Folge von Erscheinungen (eines singularen Urteils) unter ein naturgesetzlich allgemeines Urteil erschlossen wird. In dem auf den individuellen Fall sich beziehenden Schlußsatz spricht sich die kausal-notwendige Verbindung im Sinne der kantischen Definition aus. Das einzelne kausale Urteil hat
    "in jedem Fall seine Gültigkeit nur aus dem Allgemeinen, welches im Konkreten erblickt wird, nur aus dem allgemeinen Gesetz, unter welches der Einzelfall um gewisser Momente willen subsumiert wird". (29)
An diese Gedankenreihe schließt sich jene eigentümliche Umbiegung des oben dargestellten einfachen Grundschemas der transzendentalen Deduktion an, durch die in verhängnisvoller Weise das syllogistische Verfahren in sie hineingetragen wird. Es besteht kein Zweifel, daß KANT selbst diese Umbiegung vollzogen hat; ein mächtiger Strom seines Denkens brach sich hier Bahn. Verfolgen wir den Lauf, den er nimmt und betrachten wir das Unheit, das seine Invasion anrichtet.

Wird jene erschlossene Notwendigkeit des singulären kausalen Falls identifiziert mit der Gegenständlichkeit eines singulären Kausalurteils, d. h. mit seiner objektiven Allgemeingültigkeit oder materialen Wahrheit, so wird der allgemeine Obersatz zur transzendentalen und gleichzeitig zur syllogistischen "Bedingung des Denkens zu einer möglichen Erfahrung". Das logische Allgemeine in seiner abstrakten Abgeschiedenheit erhält das Vorzeichen der Apriorität oder einsichtigen Notwendigkeit, es lebt sich aus in den synthetischen Urteilen a priori, den Obersätzen alles Erkennens und gleichzeitig den allgemeinsten Naturgesetzen; die in der Kategorie gedachte Regel erschöpft sich in der Subsumtion des Einzelnen, Individuellen unter die transzendentale Allgemeinheit.
    "Die Vernunftnotwendigkeiten, z. B. die Kategorien und die aus ihnen sich ergebenden Grundsätze des Verstandes können darum als das Gemeinsame oder Allgemeine angesehen werden, unter das sich der inviduelle Bestandteil als Exemplar subsumieren läßt." (30)
Ehe ich diese Auffassung einer Kritik unterziehe, werde ich versuchen, mich ganz in sie hineinzuversetzen, um ihre Denkungsart gründlich kennen zu lernen. Die Kategorien und Grundsätze werden also im Geist dieses "transzendentalen Syllogismus" zu den Stammbegriffen des reinen Verstandes, bzw. zu den allgemeinen Obersätzen allen Erkennens. Das naturwissenschaftliche Begriffssystem findet in ihnen seine Grenze nach obenhin, sie sind absolut allgemein, sowie die konkrete Wirklichkeit absolut individuell ist. So einleuchtend und scheinbar leicht verständlich diese Bestimmung ist, so viele Schwierigkeiten und Vieldeutigkeiten birgt sie dennoch in sich. Schon der Ausdruck "Obersätze alles Erkennens und gleichzeitig allgemeinste Naturgesetze", den ich soeben für die Grundsätze der Kr. d. r. V. gebraucht habe, macht mich auf ein kompliziertes Verhältnis zwischen Natur und Erkennen aufmerksam, das dieser Theorie zugrunde liegen muß. Um zu einem umfassenderen Verständnis der Struktur ihrer Begriffe zu gelangen, wollen wir uns die logischen Möglichkeiten, die in der Idee eines transzendentalen Syllogismus überhaupt schlummern, zu Bewußtsein bringen und nacheinander durchgehen. Und zwar wird es sich zeigen, daß diese Möglichkeiten von primitiven Formen aufwärts zu sublimieren aufsteigen, die vom Psychologismus stetig weiter abführen. Ich stelle in diesem Zusammenhang drei Typen auf, die in sich die markantesten Stufen in dieser Höherentwicklung begreifen und aus systematischen Gesichtspunkten heraus formuliert sind. Gleichgültig ist es dabei für meine Betrachtungsweise, welche historischen Gestalten die einzelnen Typen etwa angenommen haben: daß der erste die herkömmlich psychologistische Interpretation KANTs, der zweite den Standpunkt HUSSERLs, der dritte eine "echt"-kantische Denkrichtung widerspiegelt, und nur zur Erläuterung und konkreten Anschauung werde ich diese Parallelen heranziehen.

Die drei genannten Variationsmöglichkeiten des transzendentalen Syllogismus tragen folgenden Charakter:

1) Die Allgemeinheit der Erkenntnis wird als Naturnotwendigkeit aufgefaßt und als solche begründet; und zwar bieten sich hier wiederum zwei Wege, je nachdem die Analogie in der Notwendigkeit des natürlichen Seins oder in der des natürlichen Geschehens gesucht wird. So orientiert sich der eine Weg am naturwissenschaftlichen Gattungsbegriff. Er stempelt den "Verstand" zu einer "Organisation" oder einem "gemeinsamen Bewußtsein", das allen erkennenden Individuen gattungsmäßig zukommt. Der zweite Weg orientiert sich am naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff. Er faßt den "Verstand" unter der Kategorie des Geschehens, die Grundsätze als Gesetze des Erkennens, nach denen sich das Denken nicht richten - soll, sondern sich richten - muß. Dieser erste transzendental-syllogistische Typus subsumiert Wertbegriffe (Begriffe logischer Gültigkeiten) unter ein seiende Einzelheiten umspannendes Allgemeines.

2) Das naturbegriffliche Allgemeine verliert sein grob-naturalistisches Kleid und verfeinert sich zum Begriff einer Spezies oder spezifischen Idee der Erkenntnisakte. Dieser zweite Typus subsumiert seiende Einzelheiten (psychische Wirklichkeiten) unter Wertbegriffe.

3) Das syllogistische Schema allein bleibt übrig. Der Psychologismus ist überwunden, und erkenntnistheoretische Begriffe sind die Träger des Subsumtionsverfahrens. Das Allgemeine wird zur Kategorie als dem "erkenntnistheoretischen Gattungsbegriff" (31), dem "reinen Verstandesbegriff"; subsumiert wird ein (mehr oder weniger bestimmt definierter) Inhalt. (Die "Empfindung" KANTs). Dieser dritte Typus ist der tiefsinnigste und eben darum der gefährlichste; er kämpft in den kantischen Kritiken energisch mit der teleologisch gesinnten Deduktion, ja man darf sagen, er untergräbt und verdrängt diese vollkommen.

Aber auch die beiden ersteren Typen mögen KANTs Denken hier und da beeinflußt haben. So konnte ein F. A. LANGE in seiner "Geschichte des Materialismus" das "Bewußtsein überhaupt" als Gattungsorganisation schildern, und nicht weit davon liegt WINDELBANDs Darstellung:
    "Die Erzeugung des Gegenstandes geht also nicht im individuellen Bewußtsein vonstatten, sondern liegt diesem bereits zugrunde: für sie muß also ein höheres, gemeinsames Bewußtsein angenommen werden, das nicht mit seinen Funktionen, sondern nur mit deren Resultat in das empirische Bewußtsein des Einzelnen fällt." (32)
Eine solche Auffassung legitimiert sich aus Stellen wie dieser:
    "Daher sind Urteile entweder bloß subjektiv, wenn Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subjekt allein bezogen und in ihm vereinigt werden, oder sie sind objektiv, wenn sie in einem Bewußtsein überhaupt, d. h. darin notwendig vereinigt werden." (33)
Der zweite vom Naturgesetzbegriff ausgehende Weg, den mein erster transzendental-syllogistischer Typus einschlagen kann, wird von denen beschritten, die in den Kategorien Gesetzesbegriffe des reinen Denkens und in den Grundsätzen zugleich Gesetze des Verstandes erblicken, "ohne die Natur überhaupt nicht gedacht werden kann." (34) Die Unmöglichkeit dieses Könnens wird in der Einleitung zur "Kritik der Urteilskraft" als "einsichtige und beweisbare" einer subjektiv teleologischen gegenübergestellt. So entsteht der Schein, als handle es sich in ihr um ein "Müssen" (35), nicht um ein Sollen.

Doch vielleicht entstammt diese Unmöglichkeit einer idealgesetzlichen Notwendigkeit wie sie uns in Typus 2 entgegentritt? Verlassen wir somit den ersten, auf rein psychologistischer Basis aufgeführten Typus, er bedarf keiner weiteren Widerlegung, und wenden unsere Aufmerksamkeit zunächst dem zweiten zu. In ihm erkennen wir unschwer den Standpunkt HUSSERLs. Zum besseren Verständnis desselben führe ich zwei Stellen aus HUSSERLs "Untersuchungen" an, die in knappen, klaren Worten den Nerv dieser Deduktionsmethode bloßlegen.
    "Inwiefern die logischen Gesetze und in erster Liie die Idealgesetze des eigentlichen Denkens (wir würden sagen, die transzendental-logischen Gesetze) auch eine psychologische Bedeutung beanspruchen, und inwiefern auch sie den Lauf des faktischen psychischen Geschehens regeln, ist ohne weiteres klar. Jedes echte und reine Gesetz, das eine in der Natur gewisser Spezies gründende Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit ausdrückt, schränkt, wenn es sich auf die Spezies psychischer realisierbarer Inhalte bezieht, die empirischen Möglichkeiten der psychologischen (phänomenologischen) Koexistenz und Sukzession ein. Was in specie als unverträglich eingesehen ist, kann im empirischen Einzelfall nicht vereint, also verträglich sein." (36)
Und:
    "Widersinnig ist es, zu zweifeln, ob nnicht der wirkliche Weltlauf, der reale Zusammenhang der Welt ansich mit den Formen des Denkens streiten könnte. Denn darin läge, daß eine bestimmte, signifikant und hypothetisch, supponierte Sinnlichkeit, nämlich diejenige, welche uns die Welt ansich zur adäquaten Selbstdarstellung bringen würde, zwar fähig wäre, die kategorialen Formen anzunehmen, aber diesen Formen Vereinigungen aufnötigen würde, die durch das allgemeine Wesen derselben Formen generell ausgeschlossen sind." (37)
Ich verstehe die Herkunft und Tragweite dieser Worte nach den eingehenden Erörterungen meines ersten Teils und erkenne zugleich nach der dort geübten Kritik der Grundbegriffe, die hier im Spiel sind, die Unmöglichkeit, diese Theorie aufrecht zu erhalten. Die Begriffe der logischen Formen - das war das Ergebnis meiner früheren Untersuchungen, sind Wertbegriffe, nicht aber Speziesbegriffe zu psychischen Akten. Daraus folgt aber unmittelbar, daß sich die letzteren nicht unter erstere subsumieren lassen; daher kann auch auf solche Weise nicht die Herrschaft jener Formen über den "wirklichen Weltlauf" deduziert werden. In Wahrheit erhebt sich diese Ansicht nicht gänzlich aus dem Psychologismus, denn sie sieht in letzter Linie in der Erkenntnisnotwendigkeit nichts anderes als eine Notwendigkeit des "faktischen psychischen Geschehens". Wäre es aber richtig, daß die Allgemeingültigkeit des "empirischen Einzelfalls" ihre Geltungskraft einem in gewissen spezifischen Ideen gründenden Gesetz entleiht, so wäre alles Erkennen am Ende nur "Natur", nicht begleitet von dem Bewußtsein der Rechtfertigung und der Verantwortlichkeit; das "Gedachte" wäre kein Sinn- und Zweckvolles, als welches die Reflexion es antrifft, wie wir gesehen haben. Diese Formen des transzendentalen Syllogismus verwischen sämtlich die von SCHOPENHAUER in seiner Schrift "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde", so scharfsinnig unterschiedenen Begriffe der ratio fiendi [Grund des Werdens - wp] und essendi [des Seins - wp] einerseits, der ratio cognoscendi [des Erkennens - wp] andererseits.

Die oben zitierte KANT-Stelle sprach von einer Unmöglichkeit des Denkenkönnens: weder die Naturgesetzlichkeit, die der erste syllogistische Typus, noch die Idealgesetzlichkeit, die der zweite zum Thema hatte, konnten unsere Ansprüche auf eine einwandfreie Begründung dieser Denkunmöglichkeit befriedigen. So werden wir auf den dritten Typus hingewiesen, der, wie es scheint, eine eigengeartete transzendentale Notwendigkeit zu deduzieren vorgibt und als letzte Festung der Idee eines transzendentalen Syllogismus unseren Angriffen noch trotzt. Ich bestimmte oben meinen dritten Typus dadurch, daß ich die Subsumtion eines "Inhalts" unter ein Transzendental-Allgemeines als seinen wesentlichen Kern hingestellt habe. Durch die Subsumtion wird die "Empfindung" in die Sphäre der transzendentalen Allgemeinheit erhoben. Da KANT, wie ich gezeigt habe, davon ausgegangen ist, die Verwandlung des subjektiven, willkürlich im Individualbewußtsein sich folgenden Vorstellungsinhalts in die streng allgemeine und notwendige begriffliche Verbindung zu begründen, so konnte ihm die syllogistische Deduktion für diesen Zweck gerade die rechten Dienste tun. WINDELBAND (38) hat dieser Theorie einer beredten Ausdruck verliehen. Er spricht von einer "realen Bedeutung der logischen Dependenz [Abhängigkeit - wp] des Besonderen vom Allgemeinen". Ohne die "Bestimmtheit der Zeitfolge durch eine allgemeine Regel" könne "eine reale Zusammengehörigkeit des Veränderlichen nicht gedacht werden" (nicht nur nicht erkannt werden, wie SIGWART sagt). In dieser Bestimmtheit nämlich liege erst die Identität. Was versteht WINDELBAND aber unter "Identität?" "Gegenüber dem zeitlichen Wechsel der Vorstellungen, welcher die allgemeine Grundtatsache des Bewußtseins bildet", ist die Identität die notwendige Voraussetzung für "die reale Einheit und gegenständliche Zusammengehörigkeit des Mannigfaltigen". WINDELBAND basiert also seinen Identitätsbegriff auf die Ansicht, daß die transzendental-logische Gültigkeit aus der kategorialen Formung der psychischen Wirklichkeit stammt. Die oben nebeneinander hingesetzten Merkmale des psychischen Vorgangs und er in ihm gemeinten Bedeutung beherrschen auch hier den Begriff der erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit. Ich habe diesen so gedachten Begriff aber ablehnen müssen und schon bei der Kritik von ZSCHOKKEs Arbeit betont, daß die im Urteil zu verbindenden Inhalte nicht Vorstellungen, d. h. psychische Inhalte sein können, die im individuellen Bewußtsein einem zeitlichen Wechsel unterworfen sind; daher ist die dieser Veränderlichkeit und Subjektivität entgegengestellte Identität, die auch KANT in die transzendentale Deduktion einbezieht (39), als konstitutives Moment aufzugeben und den reflexiven Kategorien zuzurechnen.

Kausale Gegenständlichkeit ist also auch ohne diese Identität und d. h. ohne die Bestimmtheit der Zeitfolge durch eine allgemeine Regel zu denken, ja sie muß sogar, wenn auch nicht ohne sie erkannt, so doch ohne sie gedacht werden können. Ich hatte die Gegenständlichkeit im engeren Sinne definiert als die materiale Wahrheit singularer Urteile. Wird durch die syllogistische Subsumtion diese materiale Wahrheit deduziert? Dies ist der springende Punkt der ganzen Untersuchung und zugleich die Achillesferse des Gegners. Die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit - dieses Kriterium materialer wahrer Urteile - muß, wie wir sahen, gesucht werden in der Anerkennung konstitutiver Normen, die syllogistisch erschlossene Notwendigkeit aber setzt logisch allgemeine Urteile voraus. Besitzen solche Urteile materiale Wahrheit, und wie ist diese transzendental zu begründen? Wieder durch Syllogismen?

Dann kämen wir nie an ein Ende. Die allgemeinen Obersätze werden also als gültig vorausgesetzt, gemäß dem Dogma: was allgemein gilt, gilt auch für jedermann. Aber wir haben gesehen, daß Gelten überhaupt nichts anderes bedeuten kann als Gelten für jedermann oder als das Sollen der Anerkennung eines Sollens; wir haben erkannt, daß die Allgemeinheit keinen Vorzug hat hinsichtlich des Geltens, daß das Allgemeine nicht schon gilt, bloß weil es allgemein ist. Daß die Summe der Dreieckswiinkel 2 R beträgt, ist nicht deshalb wahr, weil wir es hier mit "allgemeinen" Gegenständen zu tun haben. Deshalb kann ich SIGWART zustimmen, wenn er sagt: Die von KANT
    "gewonnenen synthetischen Grundsätze und ihre Beweise haben die Überzeugung nicht hervorzurufen vermocht, daß wir es hier mit absolut notwendigen und selbstverständlichen Sätzen zu tun haben, deren Gegenteil zu denken unmöglich ist, und die a priori in unserem Verstand liegen; und auf der anderen Seite hat der Beweis, daß unsere wirklich eintretenden Empfindungen sich den Kategorien und apriorischen Grundsätzen fügen müssen der Fragen genug übrig gelassen." (40)
In der Tat, die syllogistische Deduktion kann uns diese Überzeugung nicht beibringen und läßt der "Fragen genug übrig". Ich werde im nächsten Abschnitt derer eine große Menge vorfinden und zu zeigen versuchen, welche Verwirrung auch auf ästhetischem Gebiet diese ganze Denkungsart anrichtet. In ihr wird die formale Logik mit ihrem die Begriffe nach Umfang und Inhalt ordnenden und schematisierenden Apparat wieder lebendig.

Es ließe sich geradezu ein transzendental- syllogistisches "Gesetz" formulieren: je kleiner der Inhalt, desto größer der Umfang nicht nur des Begriffs, sondern auch des Geltens. Die verheerende Wirksamkeit dieses Gesetzes werde ich ebenfalls im Folgenden noch reichlich zu beobachten Gelegenheit haben. Der Umfang des Transzendental-Allgemeinen ist absolut, kein individuelles Moment wird in ihm mehr gedacht, folglich ist der Umfang seiner Geltung ebenso allgemein. Wenn wir aber den Schluß von der Allgemeinheit auf die Allgemeingültigkeit als unberechtigt entschieden ablehnen müssen, so wird der Schwerpunkt verlegt auf die Begründung der materialen Wahrheit oder Gegenständlichkeit jener allgemeinsten Obersätze. Hätten wir zur Begründung von Urteilen keine andere Möglichkeit als die durch den Syllogismus gewährte, so blieben die synthetischen Grundsätze a priori die naive Voraussetzung für alles Erkennen, sowie die Naturwissenschaft die Geltung allgemeiner Urteile überhaupt in naiver Weise voraussetzt; dann hätte die Transzendental-Philosophie überhaupt nichts geleistet. Ich sehe aber gerade ihre Leistung darin, diese naive Voraussetzung als eine für das Erkennen ziel- und zweckvolle zu durchschauen. Wenn daher dem transzendentalen Syllogismus nicht die teleologische Deduktion seiner Obersätze als Ergänzung, die seinem Verfahren voranliegt, zu Hilfe kommt, verliert er jeglichen Sinn. Wird das zugestanden, so ist damit zugleich das andere Zugeständnis gemacht, daß wir neben der syllogistischen Möglichkeit einer Begründung eben noch die teleologische haben und in dieser die Seele der transzendentalen Deduktion erblicken müssen. Nach dem ich mich so dem usprünglich (vgl. oben) aufgestellten Schema wieder genähert habe, entsteht mir der Zweifel, ob die eben skizzierte Verschwisterung des teleologischen und syllogistischen Verfahrens in dieser Form unsere Zustimmung erhalten darf. Liegt denn, nachdem ich den transzendentalen Syllogismus allein für unzureichend erklärt habe, überhaupt noch ein Bedürfnis vor, die Voraussetzungen des Erkennes als allgemeine Urteile zu statuieren, die teleologische Notwendigkeit gleichzusetzen der syllogistischen Bedingung? Eben die Methode der teleologischen Begründung befreit uns gerade von diesem Zwang. Nur unter der Voraussetzung, daß die Allgemeingültigkeit singulärer Urteile sich nicht anders als syllogistisch begründen läßt, sind allgemeinste Obersätze teleologisch notwendig. Diese Voraussetzung trifft für Erfahrungsurteile im kantischen Sinn, d. h. für die zur Bildung empirischer Gesetze formulierten Urteile zu, deshalb sind in der Tat allgemeine Urteile überhaupt für die Naturwissenschaft teleologische notwendig (41), und die Anerkennung von (methodologischen) Normen des Allgemeinen ist daher die Bedingung der Gegenständlichkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Fällt obige Voraussetzung aber fort, - und die teleologische Begründungsmöglichkeit beseitigt sie gerade - so ist kein Anlaß mehr gegeben, allgemeinste Naturgesetze als teleologisch notwendige Voraussetzungen des Erkennens überhaupt zu postulieren, dann eröffnet sich vielmehr die Aussicht, singuläre Urteile selbst teleologisch zu deduzieren. Andererseits aber stellt sich heraus, daß allgemeinste Naturgesetze, gesetzt den Fall, ihre teleologische Begründung wäre mit der Umgehung meines Begriffs der konstitutiven Normen vollbracht, gar nicht imstande sind, singuläre Urteile im wörtlichen Sinn, also nicht: zur Bildung empirischer Gesetze formulierte, sondern unmittelbar die individuelle Wirklichkeit meinende Urteile syllogistisch als notwendig gültig zu erweisen. Denn die syllogistische Begründung erstreckt sich immer nur auf das Allgemeine im Besonderen. Die Kategorie, als naturbegrifflich Allgemeines gedacht, gelangte so gewissermaßen nur zur Herrschaft über ihre eigene Sphäre, aber sie erreichte nie die absolut individuelle Wirklichkeit und vermag folglich die materiale Wahrheit der Erkenntnis nicht zu erweisen. In den diese Wirklichkeit meinenden Urteilen und ihrer Geltung stoßen wir folglich auf die letzten Voraussetzung des Erkennens. Der Aufgabe, die sich uns so ergibt, diese letzten Voraussetzungen zu begründen, will ich nunmehr näher treten.


§ 4. Die Wahrheit der Wahrnehmungsurteile

Aller Rationalismus lehrt, daß die Sinne irren und nur im Verstand die Quelle der Wahrheit strömt. Erst wenn sich die inadäquaten, verworrenen Idenn in klare und deutliche Vorstellungen, d. h. in mathematisch-physikalische Begriffe umgewandelt haben, entsteht wahrhaft Erkenntnis; daher ist es das Wesen der Wissenschaft, vom Schein zum Sein vorzudringen und vom Zufälligen das Ewige zu scheiden. Daß in KANTs Philosophie diese große Tradition mächtig hineinragt, kann niemand leugnen. Daß er diese Tradition aber abzuschütteln und ihr gegenüber die berechtigten Ansprüche der Empiristen zu wahren suchte, wird allzu leicht übersehen und von denen mißachtet, die den im Vorigen entwickelten Gedanken eine beherrschende Bedeutung für die Transzendental-Philosophie überhaupt zusprechen. Die historische Bedingtheit und Abhängigkeit der Kritik der reinen Vernunft, nicht ihre Größe, zeigt sich in jener eben geschilderten Auffassung der Kategorie, die das Wesen derselben darin erblickt, daß durch sie das Bewußtsein der Gattung zur Sprache kommt, in dem Doppelsinn nämlich, daß mittels der Kategorie das gattungsmäßige, d. h. normale Denken das individuell gefärbte Urteil eines Einzelnen über einen einzelnen Vorgang zum Urteil über einen gattungsmäßigen Vorgang macht. "Den glänzendsten und vielleicht den sichersten Nachweis" der Kr. d. r. V. müssen wir vielmehr darin erblicken, "daß jede sogenannte Konstatierung von Tatsachen nur durch eine Anzahl von allgemeinen Voraussetzungen zu begründen ist." (42) Daß diese Voraussetzungen nicht Naturgesetze sein können, habe ich bewiesen. Ich muß daher nach einer neuen Allgemeinheit für sie suchen. Dabei kann es sich nicht um Fragen handeln, wie die, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Wahrnehmungsurteile einen wissenschaftlichen Wert besitzen, durch welche Methoden ihre Rektifizierung [Berichtigung - wp] im Sinne eines wissenschaftlichen Zwecks zu ermöglichen ist, sondern nur darum, was die Wahrheit der Wahrnehmungsurteile bedeutet, und worin sie ihre Begründung findet. Das Problem, das die Aufgabe stellt, ist vielen Mißdeutungen ausgesetzt, die seiner Lösung im Weg stehen. Gänzlich unzureichend für unseren Zweck ist natürlich jede Theorie, die sich in Erwägungen über psycho-physische Wechselwirkungen ergeht und von diesen die Wahrheit der Wahrnehmungsurteile abhängig macht. So, wenn SIGWART schreibt:
    "Ein Wahrnehmungsurteil kann nur insofern Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen, als die Sinnesaffektion, auf der es ruht, Ausdruck eines konstanten Verhältnisses zwischen dem vorausgesetzten Objekt und Subjekt, die Empfindung das untrügliche Zeichen einer objektiven Qualität ist, und nur insoweit als eine Gewißheit über dieses konstante Verhältnis, also über die absolut gleiche Organisation und Empfindungstätigkeit aller zu erweisen oder die Differenzen dieser zu korrigieren sind." (43)
Aber auch jene andere Vorstellung, als ob das Problem der Wahrnehmung in der Umwandlung eines subjektiven Bewußtseinsinhaltes in ein objektives Urteil liegen würde, trifft nicht die erkenntnistheoretische Schwierigkeit, die es zu überwinden gilt. Schon im Vorhergehenden hatte ich mehrmals Gelegenheit, dieser Ansicht zu begegnen und sie zurückzuweisen. So stellt BERGMANN z. B. das Problem der Wahrheit der Wahrnehmung an die Spitze seiner Untersuchung über "die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt" und formuliert es in der ebengenannten Weise.
    "Die Wahrheit einer Wahrnehmung besteht darin, daß ein Bewußtseinsinhalt und ein Seiendes vollständig zusammenfallen. Aber ein Bewußtseinsinhalt ist ein Subjektives, vom Bewußtsein, dessen Inhalt er ist, Abhängiges, ein Gebilde im Geist, was auch immer den Geist, es zu bilden veranlassen mag. Ein Seiendes dagegen bedeutet ein Objektives ..." (44)
Ich habe schon oben den im Urteil bejahten Inhalt als einen jenseits des Gegensatzes Subjektiv-Objektiv zu denkenden bezeichnet. Er gehört weder der schlechten Subjektivität an, noch ist er als gegeben zu betrachten, in dem Sinne, als wäre er etwas ohne das Bewußtsein, für das er beurteilter Inhalt ist. Daher hat die Wahrheit der Wahrnehmung es nicht mit diesem Inhalt zu tun, sondern nur mit dem Sinn des Wahrgenommenen, d. h. für - wahr - Genommenen oder als seiend Beurteilten, also mit dem Sinn einer logischen Gültigkeit. Der "bloße Inhalt" hat keine Wahrheit und keine Wirklichkeit; die logischen Bedingungen, unter denen ein Inhalt überhaupt Wirklichkeit werden kann, gilt es zu erforschen, denn sie sind zugleich die Bedingungen der allgemeinen Gültigkeit der Erkenntnis.
    "Die objektive Einheit allen Bewußtseins in einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) ist also die notwendige Bedingung sogar aller möglichen Wahrnehmung und die Affinität aller Erscheinungen ist eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist." (45)
Diese Stelle weist darauf hin, daß auch für KANT unser Problem, und wie der Ausdruck "sogar aller Wahrnehmung" anzudeuten scheint, als ein nicht eigentlich und ursprünglich in Betracht gezogenes bisweilen auftaucht. Aber flüchtig wie es erscheint, verschwindet es wieder vor dem Interesse, das die Begründung der Naturwissenschaft von ihm fordert.
    "Die Hume'sche Skeptizismus legt die Wahrheit des Empirischen, des Gefühls, der Anschauung zugrunde und bestreitet die allgemeinen Bestimmungen und Gesetze von da aus, aus dem Grund, weil sie nicht eine Berechtigung durch die sinnliche Wahrnehmung haben" (46)
Diese selbst verstand sich auch für den großen Überwinder der HUMEschen Skepsis von selbst; ihre Wahrheit war nicht angezweifelt worden und brauchte nicht begründet zu werden. Wir sind heute aus der unmittelbaren Polemik gegen HUME herausgewachsen, nichts destoweniger hat uns die Erneuerung seiner Grundlehren im Positivismus bewiesen, daß KANT, weil er an die Grundveste, die Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung, auf die aller Empirismus pocht, nicht rührte und ihre scheinbar selbstverständliche Geltung nicht bezweifelt hat, eine Lücke in der transzendental-logischen Begründung der Erkenntnis gelassen hat; RICKERTs "Gegenstand der Erkenntnis" hat diese Lücke ausgefüllt und damit freilich der Transzendental-Philosophie ein gänzlich neues Gepräge aufgedrückt. Es scheint, als wäre erst dadurch die Spannung zwischen Empirismus und Rationalismus gelöst und die Kluft, die auch bei KANT noch zwischen der Allgemeinheit des Verstandes und der Besonderheit des Wirklichen gähnt, in der von ihm selbst beabsichtigten Weise ausgeglichen. Sehen wir uns diese Wendung etwas näher an. Für uns ist ihr wichtiges Ergebnis die völlige Überwindung jedes transzendentalen Syllogismus, der, wie unsere Untersuchung noch zeigen soll, eine Lösung der ästhetischen Probleme unendlich erschwert und die Beziehung zwischen transzendental-logischer und ästhetischer Allgemeingültigkeit verdunkelt und fälscht. RICKERTs Begriff der transzendentalen Allgemeinheit ist an den "okkasionellen" [gelegenheitlichen - wp], die individuelle Wirklichkeit meinenden Bezeichnungen gebildet. So ist z. B. der Ausdruck "dies" allgemein,
    "denn er kann auf jedes einzelne Gegebene bezogen werden. Aber er kann andererseits nur bezogen werden auf individuelle Begebenheiten oder auf Urteile, welche diese oder jene Tatsache konstatieren; und dadurch unterscheidet sich dieser Begriff von den Begriffen der Urteilsformen, die nicht nur allgemeine Formen, sondern Formen von allgemeinen Urteilen sind." (47)
So verlegt RICKERT die Individualität oder Gegebenheit potentiell in die Form, in die Allgemeinheit; die Objektivität entsteht ihm nicht durch Subsumtion, sondern durch die Bejahung transzendental-logischer Normen in besonderen Fällen; die Wirklichkeit konstituiert sich für ihn in material-wahren, logischen Singularurteilen. Der Gedanke einer Beherrschung des "wirklichen Weltlaufs" durch subjektive Verstandesformen verliert seinen Sinn, wenn die Wirklichkeit als eine Totalität von Gültigkeiten gedacht wird, in denen das Moment der Existenz bedeutungslos wird ohne die in "Wirklichkeitsurteilen" mitbejahten Formbestandteile; denn die Wirklichkeit hat keine Wahrheit, wenn nicht der bloße Inhalt in Formen gedacht wird, deren Bedeutung für die Objektivität darin liegt, daß sie als Formen der Anerkennung transzendenter Normen zu betrachten sind.
    "So findet der Gedanke, daß alles Sein kausal bedingt ist, seine Rechtfertigung nur in dem Gedanken, daß das Sollen, welches die Kausalurteile anerkennt, transzendent gilt." (48),
und umgekehrt gelten Kausalurteile, weil der allgemeine Satz gilt: alles Sein ist kausal bedingt. Aber nicht die Allgemeinheit der Form verleiht dem Urteil seine Objektivität, sowie das Gesetz die seiende Einzelheit als Naturnotwendigkeit begreift, insofern in ihr das Allgemeine gedacht wird; sondern insofern das Besondere als Besonderes gedacht wird, verleiht ihm die transzendentale Form eine logische Notwendigkeit, die in einer bestimmten Wiese der Anerkennung des Sollens gründet. Weder eine naturgesetzliche, noch eine transzendental-gesetzliche Notwendigkeit ist es somit, welche den Inhalt den Formen unterwirft, sondern eine teleologische; nicht irgendein allgemeines Prinzip der "guten" Subjektivität gebietet gemeinsam über Wirklichkeit und Erkennen, wie der kantische Satz es ausspricht: Der Verstand schreibt der Natur die Gesetze vor; vielmehr zersplittert sich dieser Verstand in die Fülle der Wirklichkeit. Für uns hat es eine besondere Wichtigkeit, dies zu betonen, denn der Begriff der "guten" Subjektivität ist geeignet, den transzendentalen Syllogismus zu stützen, und wie wir noch sehen werden, seine Anwendung auf ästhetischem Gebiet zu ermöglichen. Ich wende mich somit jetzt, nachdem ich die Vorurteile aus dem Weg geräumt zu haben glaube, die der Behandlung der ästhetischen Probleme entgegen gestanden haben, diesen zu, und suche durch die Kritik der kantischen Bestimmungen hindurch zu neuen Resultaten zu gelangen.
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LITERATUR - Richard Kroner, Über logische und ästhetische Allgemeingültigkeit, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 135, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    1) siehe Windelband, Geschichte der Philosophie, dritte Auflage, Seite 534.
    2) In der Kr. d. r. V. tritt der korrespondierende Begriff in der Beurteilung des Schönen als "subjektive Allgemeinheit" auf. Siehe im folgenden § 5.
    3) "Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zueinander." B. Seite 4 (B = Originalausgabe der Kr. d. r. V., zweite Auflage)
    4) B. Seite 5.
    5) B. Seite 38.
    6) B. Seite 42.
    7) B. Seite 44.
    8) So auch B. Seite 129, wo Kant von der Schwierigkeit spricht, wie "subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben". Die Funktionen des Verstandes gehören somit ebenfalls der "guten Subjektivität" an.
    9) Kant, Kritik der Urteilskraft (Ausgabe Rosenkranz) Seite 46
    10) Walter Zschokke, Lehre vom Schematismus, Kant-Studien, Bd. 12, Berlin 1907, Seite 184f.
    11) Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 2, Seite 149.
    12) Zschokke, a. a. O., Seite 206.
    13) Viele Stellen, besonders in den Prolegomena, sprechen dafür, die Unterscheidung in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile dagegen, denn auch in den Wahrnehmungsurteilen steckt das Moment der Bejahung (sie sind "subjektiv gültig") in den Erfahrungsurteilen aber noch obendrei der "reine Verstandesbegriff".
    14) a. a. O. Seite 187
    15) Dieser Gesichtspunkt beherrscht besonders die Gedankenführung der "Prolegomena"; hier wird auch mit Nachdruck gegen Hume polemisiert und an seinem Verfahren das neue exemplifiziert (§ 28, 29, 30).
    16) Die Wichtigkeit dieser Bevorzugung des Allgemeinen wird uns bei der Behandlung der ästhetischen Allgemeingültigkeit zu deutlichem Bewußtsein kommen. (vgl. Abschnitt II dieses Teils)
    17) B. Seite 324, 341.
    18) Prolegomena, Seite 53 (Ausgabe Rosenkranz)
    19) Prolegomena, Seite 60.
    20) Logik, Seite 296 (Ausgabe Rosenkranz).
    21) vgl. Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 712f.
    22) vgl. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, V. Kapitel.
    23) B. Seite 145
    24) Sigwart, Logik I, dritte Auflage, Seite 235.
    25) Sigwart, a. a. O., Seite 261.
    26) vgl. Rickert, Geschichtsphilosophie, in "Philosophie im Beginn des 20. Jahrhundert", Festschrift für Kuno Fischer, zweite Auflage, Seite 348.
    27) B. Seite 124
    28) vgl. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 217.
    29) Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik, Seite 201.
    30) Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, Seite 32.
    31) siehe Lask, a. a. O., Seite 32.
    32) Windelband, Geschichte der Philosophie, Seite 446
    33) Kant, Prolegomena, Seite 66
    34) Kant, Kritik der Urteilskraft, Seite 21
    35) So z. B. Kant vom "Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Gesetzen nach allgemeinen Naturbegriffen (Kategorien)" sagt: daß "der Verstand damit unabsichtlich seiner Natur nach notwendig verfährt." (Kr. d. U. Seite 27) oder B. Seite 350: "Keine Kraft der Natur kann aber von selbst von ihren eigenen Gesetzen abweichen. Daher würden weder der Verstand für sich allein, noch die Sinne für sich irren; der erstere darum nicht, weil, wenn er bloß nach seinen Gesetzen handelt, die Wirkung (das Urteil) mit diesen Gesetzen notwendig übereinstimmen muß ..."
    36) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, Seite 670
    37) Husserl, a. a. O., Seite 672
    38) Windelband, Vom System der Kategorien, 1900.
    39) siehe B. Seite 132f.
    40) Sigwart, Logik I, dritte Auflage, Seite 425f.
    41) vgl. Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 679f.
    42) Windelband, Immanuel Kant, Zur Säkularfeier seiner Philosophie (ein Vortrag), Präludien, dritte Auflage, Seite 146
    43) Sigwart, Logik I, dritte Auflage, Seite 411.
    44) Julius Bergmann, Grundprobleme der Logik, 1882, Seite 86.
    45) Kant, Kr. d. r. V., Ausgabe A, Seite 123.
    46) Hegel, Enzyklopädie, § 39
    47) Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, Seite 180.
    48) Rickert, a. a. O., Seite 242.