cr-3ra-1G. Th. FechnerIndividualität als fiktive Konstruktion    
 
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS
(1882-1949)
Rationales und irrationales Erkennen

2. Sprache als Medium
3. Begriff als Aktionszentrum
4. Rationalisierung des Denkens
5. Rationalität und sensorische ...
  "Alles, was als reine Objektivität gilt, ist in Wirklichkeit eine verwaschene, unausgesprochene Subjektivität, eine reine Fiktion."

Die Erkenntnis als psychologisches Problem

Was "Erkenntnis" ist, ist keineswegs so klar und sicher, wie viele Philosophen meinen, die über den Ursprung der Erkenntnis oder andere sekundäre Fragen weitläufige Untersuchungen anstellen, ohne vorher den  Begriff der Erkenntnis  selber in allen seinen Möglichkeiten durchdacht zu haben.

Meist nehmen sie  eine  Art der Erkenntnis heraus und stellen dies als  Erkenntnis schlechthin  auf, ohne nachzuprüfen, ob es neben dieser  einen  Art der Erkenntnis nicht noch andere, ebenfalls berechtigte Arten des Erkennens gibt. So gilt zahlreichen Erkenntnistheoretikern die  mathematisch-naturwissenschaftliche  Erkenntnis als die einzige, deren Erforschung der Würde der Wissenschaft gemäß sei. Andere lassen daneben die durch die  historischen  Wissenschaften vermittelte Erkenntnis noch gelten.

Von einzelnen Forschern wird auch die  religiöse  Erkenntnis, zum mindesten als Problem, zugelassen. Meist jedoch gilt nur das als legitime Erkenntnis, was als "Wissenschaft" auftritt, obwohl auch  außerhalb  der Wissenschaft von Erkenntnis gesprochen wird. Sind nicht das Vorausberechnen künftiger Gewinnchancen beim Kaufmann, das Durchschauen feindlicher Diplomatenränke beim Politiker, das Herausarbeiten feinster Stilwirkungen beim Künstler auch Erkenntnisse, selbst wenn keine Wissenschaft darüber besteht?

Und darf man dem Tiere, das die eine Frucht meidet, weil sie ihm schadet, und die andere aufsucht, weil diese ihm zuträglich ist, Erkenntnis absprechen? Nein, es wäre ein gewaltsame Verengerung des Erkenntnisbegriffs, wollte man nur die wissenschaftliche Erkenntnis gelten lassen, d.h. diejenige, die "rational", "allgemeingültig" und "objektiv" zu sein behauptet. Wir legen daher unsern Untersuchungen zur Psychologie und Philosophie der Erkenntnis einen Erkenntnisbegriff zugrunde, der über den der Wissenschaft hinausgeht und  alle  Arten des Erkennens zu umfassen strebt.

Es wird hoffentlich nicht als bloße Definitionsfrage werden, wenn ich auch von einer  außer wissenschaftlichen Erkenntnis spreche. Nichts liegt mir ferner als Wortstreitigkeiten. Ich trete allerdings für die Berechtigung des allgemeinen Sprachgebrauchs ein, der jedoch nur von denen gewaltsam eingeengt worden ist, die außer der Wissenschaft keine Erkenntnis zugeben wollen, während doch die oben angeführten Beispiele das Bestehen einer solchen außerwissenschaftlichen Erkenntnis dartun.

Mag man also für diese letztere einen andern Namen vorziehen (für den Notfall könnte ich selber den Ausdruck "Erleben" vorschlagen, der in vielen Fällen besser träfe als die unklaren Begriffe "Instinkt" oder "Intuition"): die Hauptsache ist mir die Anerkennung eines psychologisch deutlich faßbaren Prozesses, der nicht rationale Erkenntnis sein will, auch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität keinen Anspruch macht, sondern durchaus irrationalen, konditionellen, bewußt subjektiven Charakter hat und doch in seiner Funktion und seinem Werte sich neben das wissenschaftliche Erkennen anreiht, so daß ich kein Bedenken habe, von einem  irrationalen, konditionellen, subjektiven Erkennen  zu sprechen.

Ja, die Analyse des rationalen Erkenntnisaktes wird uns sogar dartun, daß dieser keineswegs ein so in sich festgegründeter Vorgang ist, wie man uns glauben machen möchte, daß vielmehr die rationale Erkenntnis nur ein künstlich geschaffener Spezialfall irrationaler seelischer Vorgänge ist, ja daß die Wissenschaft selber irrationale Faktoren enthält. Die Herausarbeitung dieser irrationalen Erkenntnisweisen in ihrer Bedeutung ist das positive Ziel dieser Untersuchungen.


Was heißt nun überhaupt "Erkenntnis"?

Wir werden bei einer solchen Bestimmung nicht  ex cathedra  eine kategorische Forderung aufstellen, sondern zunächst ganz empirisch zu Werke gehen und überblicken, was alles als Erkenntnis gegolten hat und gilt. Und zwar können wir dabei einen doppelten Gesichtspunkt wählen, indem wir den Erkenntnisakt zunächst  als solchen  betrachten (was wir den  psychologischen Gesichtspunkt  nennen), und zweitens, indem wir fragen, wie weit eine dem Erkenntnisakt selber  nicht immanente,  damit nur "gemeinte"  Realität  aufgeschlossen wird (was wir den  erkenntnistheoretischen  oder  überpsychologischen Gesichtspunkt nennen.)

Beginnen wir mit der  psychologischen  Betrachtungsweise, so stellt sich uns zunächst jede Erkenntnis als ein psychischer Akt dar, aber als ein solcher, der eine spezifische  Wertsetzung  erfährt, die ihn eben als Erkenntnis charakterisiert. Nicht jeder seelische Vorgang, auch nicht jeder Denkprozeß ist eine Erkenntnis: es muß ein Plus hinzutreten, eine sekundäre Bejahung, eine  Bewertung . Erkenntnis ist ein spezifischer "Wert".

Die  Grundlage  dieses Wertes können die verschiedensten Akte sein: Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Urteile, Gefühle; sie alle aber erfahren, wenn sie als "Erkenntnisse" gelten sollen, eine besondere seelische Charakteristik, eine Bejahung, eine Wertsetzung, und diese erhebt sie zur Erkenntnis. Es kreuzen stündlich mancherlei Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken unser Gehirn, die wir keineswegs als Erkenntnisse ansprechen. Plötzlich greifen wir einen dieser vagen seelischen Vorgänge heraus, halten ihn gleichsam fest, bejahen ihn und erheben ihn so, eben durch diese Wertsetzung, zum Erkenntniswert.

Ich beschreibe damit den sekundären Akt der Bewertung rein formal, ohne zunächst den Gründen nachzuspüren oder gar die Berechtigung dieser Wertsetzung zu nachzuprüfen. Ich stelle nur rein psychologisch fest, daß als "Erkenntnis" im weitesten Sinne jeder psychische Akt gilt, der durch einen sekundären Akt als "wahr", als "richtig" oder ähnlich bewertet, kurz als logischer Wert gesetzt wird.

Es ist also für die psychologische Charakterisierung eines seelischen Vorgangs als "Erkenntnis" keineswegs ein "objektiver" Tatbestand notwendig, sondern nur eine subjektive Bejahung. Die Geschichte des menschlichen Geistes zeigt, welch verrückte und sinnlose Gedanken allenthalben als "Erkenntnisse" bewertet worden sind. Man lese nur etwa ein altes Lehrbuch der Medizin oder auch der Grammatik durch, um einen Begriff von diesen Wahngebilden zu bekommen, die alle als Erkenntnis gegolten haben. Da für all diese Hirngespinste eine "objektive", "erkenntnistheoretische" Rechtfertigung nicht erbracht werden kann, so müssen also subjektive, rein psychologische Momente diese Bewertung jener Vorgänge als "Erkenntnisse" bedingt haben.

Auch der  Ursprung  eines Gedankens wird vielfach als ein Erkenntniskriterium angesehen. Im Mittelalter war der Umstand, daß eine Ansicht durch die Bibel "offenbart" oder durch die Autorität des ARISTOTELES gestützt war, maßgebend. Später wird die Ableitung aus der "Erfahrung" wesentlich, woneben jedoch auch die Angeborenheit der Idee, das "lumen naturale" weiterbestand. KANT führt beide Umstände zusammen, indem er für die wahre Erkenntnis den Stoff durch die Erfahrung geliefert sein läßt, jedoch seine Verarbeitung durch die apriorischen Kategorien fordert. Bis in die neueste Zeit spielt das "Ursprungskriterium" eine große Rolle, wenn es auch in mannigfachsten Formen auftritt.

Die Folgen eines Gedankens sind neuerdings von den Pragmatisten vor allem als Merkmal der "Erkenntnis" herangezogen worden, die damit allerding nur, wie WILLIAM JAMES selber zugibt, einen "neuen Namen für alte Denkmethoden geliefert" haben. Denn in der Tat ist dies Wahrheitskriterium uralt, so alt wohl wie das Menschengeschlecht; auch der primitivste Wilde ist bereit, ein Mittel seines Medizinmannes für "richtig" zu halten, wenn es ihm hilft.

Und im praktischen Leben überall gilt jede Lehre für richtig, wenn man mit ihr "arbeiten" kann, wenn sie sich "bewährt". Trotzdem ist auch das pragmatische Kriterium nicht das einzige, sondern nur eins neben den andern, die wir hier aufzählen, zumal sich die praktische Verifikation keineswegs immer durchführen läßt.

Aber nicht nur das Individuum allein entscheidet über den Erkenntniswert eines Gedankens, auch die Übereinstimmung mit andern Individuen ist sehr wesentlich. Diese kann die  Autorität  einzelner überragender Persönlichkeiten sein, die einen Gedanken unterstützt, es kann eine  Majorität  der Volks- und Zeitgenossen sein, es kann der "consensus gentium" sein, in all diesen Fällen ist die überindividuelle Übereinstimmung ein starkes Erkenntniskriterium, und es braucht oft schmerzliche Überwindung, bis ein Genius sich loßreißt von der Macht eienr Autorität oder einer Majorität, die einen von ihm als falsch erkannten Gedanken stützen.

In der Tat dürfte sich nachweisen lassen, daß stets einer oder mehrere dieser Faktoren zusammen es bewirkt haben, daß seelische Inhalte als "Erkenntnisse" gewertet wurden. Auch der größte Unsinn kann als Erkenntnis angesehen werden, wenn das betreffende Individuum glaubt, den vermeintlichen Sachverhalt mit eignen Augen gesehen zu haben, oder wenn er mit andern Vorstellungen zusammenpaßt oder starke Lustgefühle auslöst oder sich als göttliche Offenbarung gibt oder praktisch wertvolle Folgen hat oder allgemein für wahr genommen wird.

Dem ganzen Mittelalter z.B. galt der Hexenwahn als "Erkenntnis". Woher dieser Irrglaube stammt, ist schwer nachzuweisen, jedenfalls setzte man ihn nachträglich mannigfach zur Bibel in Beziehung und gewann so für ihn eine autoritative Stütze. Da er sich auch sonst mit der hysterisch überreizten Gemütsart der Zeit und ihrem andern Aberglauben trefflich vertrug, ein wollüstiges Gruseln auslöste und allen möglichen grausamen Instinkten schmeichelte, auch vermeintlichen praktischen Nutzen zeitigte, ja sogar gelegentlich durch Zeugen, die ihre Autopsie beschworen, bestätigt werden konnte, da ferner alle Welt daran glaubte, so war für diese Zeit der Hexenwahn eben Erkenntnis, und es hat schwerer Arbeit bedurft, bis die Wertschätzung dieser Hirngespinste zerstört war.

Für uns Heutige jedoch kann der Hexenwahn ohne weiteres als Beispiel dafür dienen, daß ein Vorstellungskomplex ohne jede "objektive" Begründung zum Rang einer Erkenntnis aufrücken und von der Wissenschaft der Zeit tiefernst genommen werden kann. Denn es hat keineswegs an hochgelahrten Verteidigern dieser Idee gefehlt.

Indessen sollten wir uns hüten, allzu vornehm über das Mittelalter zu lächeln. Es ist sicher, daß vieles von dem, was wir heute als festbegründete Erkenntnis und Wissenschaft ansehen, in künftigen Jahrhunderten ebenfalls als Hirngespinst und Irrtum erwiesen sein wird. Denn es sind, wenn wir uns dessen auch im einzelnen Falle nicht immer klar bewußt werden, psychologische Tatsachen der aufgezählten Arten, nicht objektive Begründungen, die uns einen Gedanken für wahr halten lassen.

Wir sehen also, ein unbedingt entscheidendes psychologisches Kriterium der Erkenntnis gibt es nicht. Überall ist nur die Tatsache, daß ein seelischer Akt durch sekundäre Akte als Erkenntnis bewertet wird, wobei das Prinzip der Wertung sehr verschiedener Art sein kann.
Psychologisch betrachtet ist also jede Weltanschauung, wenn ich so die Summe dessen, was ein Individuum als Erkenntnisse ansieht, bezeichne, eine Sammlung von psychischen Inhalten, die aus den verschiedensten Gründen als Erkenntnisse gewertet werden. Jeder Mensch trägt sich in Gedanken und Vorstellungen herum, die auf Erfahrungen, andere die auf Fremdsuggestion, auf Autoritätseinwirkung oder auf Gemütsbefriedigung beruhen, er hält die einen für wahr, weil sie deutlich und klar, die andern weil sie nützlich sind und wieder andere darum, weil sie in das System seiner übrigen Meinungen hineinpassen, kurz: Weltanschauung ist stets auch im wissenschaftlichen Kopfe ein beeinander höchst verschiedenartiger Erkenntnisse.

Gibt es nun nicht jenseits dieser psychologischen Erkenntnisbewertungen, die strenggenommen alle keine objektive Sicherheit garantieren, nicht doch ein Kriterium, das in objektiver Weise Erkenntnis von Nichterkenntnis zu scheiden gestattete? Wenn die Erkenntnisakte kein immanentes Moment enthalten, das sie über jeden Irrtum hinaushebt, so gibt es vielleicht ein  transzendentes  Moment, das jene Garantie gewährte?

Und zwar meint man meistens, daß erst die Übereinstimmung mit einer transzendenten Realität die psychologische Erkenntnisbewertung legitimierte, daß das psychologische Erkenntniskriterium durch ein objektives, erkenntnistheoretisches Kriterium gegründet sein müsse. Und ist es nicht gerade diese Übereinstimmung mit einer transzendenten Realität, zum mindesten ein Hinausweisen über den Bewußtseinsakt selber, was den Charakter des Erkenntniswertes gegenüber dem ästhetischen oder religiösen Werte ausmacht?

In Wirklichkeit aber ist es umgekehrt! Ich betone das mit aller Schärfe.

Nicht so ist es, daß wir etwas als Erkenntnis bewerten, weil es einer transzendenten Realität entspräche, nein, weil wir etwas aus psychologischen Gründen als Erkenntnis bewerten, darum nehmen wir an, daß sich darin eine transzendente Realität erschlösse.
Das heißt also: nicht weil unsere Vorstellung von Gott der damit gemeinten objektiven Realität entspräche, nennen wir jene Vorstellung eine Erkenntnis, nein, weil diese Vorstellung unser Gefühl befriedigt schreiben wir ihrem Gegenstand Realität zu. - Nicht weil unser Begriff "Elektrizität" einer objektiven Realität ganz adäquat wäre, halten wir ihn für eine Erkenntnis, nein, weil wir damit arbeiten können, weil er uns brauchbar erscheint, sind wir von seiner Realität überzeugt. - Nicht weil der Baum vor meinem Fenster "objektiv" grün wäre, halte ich meine Grünempfindung für eine Erkenntnis; nein, weil ich im allgemeinen meinen Empfindungen vertrauen kann und ihre Zuverlässigkeit sich vielfach bewährt hat, nehme ich an, daß ihr eine transzendente Realität entspräche, sie also ein Erkenntniswert sei.

So paradox dieses Ergebnis auf den ersten Blick scheinen mag, so wird es doch durch die Geistesgeschichte in oft tragikomischer Weise bewiesen. Wir werden nachher darzutun haben, daß es eine "Abbildung" oder eine andere Form sicherer Übereinstimmung mit einer transzendenten Realität nirgends gegeben hat, daß aber nichtsdestoweniger jedem Bewußtseinserlebnis, das aus einem der oben aufgezählten psychologischen Gründe als Erkenntniswert gewertet worden ist, unbesehen eine solche Erschließun der transzendenten Realität zugesprochen worden ist.

Im übrigen stelle ich dieses Problem noch zurück und begnüge mich an dieser Stelle nur mit der Feststellung, daß nicht der erkenntnistheoretische Wert die Grundlage des psychologischen, sondern dieser die Grundlage für den erkenntnistheoretischen Wert ist, ja daß bis auf den heutigen Tag ein sicheres erkenntnistheoretisches Kriterium noch nicht gefunden ist.

Nun wird man vielleicht zugeben, daß in der Tat in den meisten Köpfen mannigfache Gedanken beieinander wohnen, die aus den verschiedensten subjektiven Gründen als Erkenntnisse angesprochen würden, indessen - so wird man einwenden - innerhalb dieser gäbe des doch bei ernstzunehmenden Menschen einen Fond, der jenseits aller Subjektivität stünde: das sei die  wissenschaftliche  Erkenntnis.

Man wird vielleicht einräumen, daß es mit der psychologischen Erkenntnisbewertung eine so schwankende und fluktuierende Sache sei, wie wir das beschrieben haben, man wird vielleicht auch eingestehen, daß ein erkenntnistheoretisches Wahrheitskriterium schwer zu finden sei - aber (so ruft man aus) mag es mit der prinzipiellen Begründung noch so schwach bestellt sein: wir  haben  doch eine Wissenschaft, wir  haben  doch ein weiträumiges Gebäude, das mannigfach bewohnbar ist, dessen Sicherheit allgemein anerkannt wird und schon durch sein bloßes Dasein allen Skeptizismus und Relativismus ad absurdum führt!

Wir nehmen diesen Einwurf auf und sehen in der Tat unsere erste Hauptaufgabe darin, die wissenschaftliche Erkenntnisart einer Kritik zu unterwerfen, indem wir ihre psychologischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien nachprüfen. Und zwar kennzeichnen wir die wissenschaftliche Erkenntnisweise im Gegensatz zu den schillernden relativen und subjektiven Erkenntnissen, von denen bisher die Rede war, als  rational,  allgemeingültig und objektiv.

Diese drei Momente nämlich scheinen die Wissenschaft über die übrigen Erkenntnisse hinauszuheben, so daß sie allen Anläufen, denen diese ausgesetzt sind, entrückt scheint. Sie gilt als "rational", d.h. auf feste Begriffe gegründet, sie gilt als "allgemeingültig", d.h. für jedes Denken schlechthin notwendig, und als "objektiv", d.h. aller psychologischen Bedingtheit ledig. Ich skizziere, indem ich die genauere Ausführung zunächst zurückstelle, einige der Hauptschwierigkeiten dieser Art der Erkenntnis, die sie zum mindesten als problematisch erscheinen lassen.

Die Bezeichnung "rational", die in verschiedenen Bedeutungen verwendet worden ist, wähle ich vor allem deshalb, um einen Gegenbegriff zu dem in meinem Sinne besonders wichtigen Begriff des "Irrationalen" zu gewinnen. Auf diesen Blättern bedeutet "rational":  begrifflich faßbar,  d.h. im Sinn der überlieferten Logik  klar  und deutlich definierbar, den logischen Forderungen der Identität, der Widerspruchslosigkeit usw. gemäß  gedacht. 

Eine rationale Erkenntnis ist also eine solche, die sich in feste Begriffe bringen läßt, Begriffe, die wieder untereinander in einem festen Verhältnis stehen und sich in ein festes  System  bringen lassen. Dabei macht allerdings die rationale Erkenntnis zwei Voraussetzungen, die sie keineswegs zu beweisen vermag. Sie nimmt an, daß das für den überindividuellen Verkehr, aber auch für die persönliche Fixierung des Begriffs (des geistigen Inhalts) notwendige  Zeichen,  das Wort, mit dem Begriff in eindeutigen Zusammenhang, eine gewisse Kongruenz zu bringen sei.

Und zweitens macht sie die Voraussetzung, daß die mit den Begriffen gemeinte Objektivität auch von diesen zu fassen sei. Da nun die logischen Begriffe klar und deutlich umgrenzte, mit sich selbst stets identische Gebilde sein sollen, so macht sie damit die Voraussetzung, daß auch die Objektivität in solche klar und deutlich umgrenzbare, mit sich identische Einheiten zerlegbar, kurz daß auch sie "rational" sei.

Beide Voraussetzungen sind, wie wir später darlegen werden, keineswegs bewiesen, ja sie sind nachweisbar falsch. Das hindert jedoch nicht, daß seit ältester Zeit das wissenschaftliche Denken stets mit solchen rationalen Begriffen gearbeitet hat und zum mindesten bestrebt war, die ganze Welt zu rationalisieren. Unser Ziel wird also die Nachprüfung sein, ob und wie weit die Sprache fähig ist, die geforderten rationalen Begriffe eindeutig zu bezeichnen. Und ferner wird unsre Aufgabe die Nachprüfung sein, ob der gesuchte Gegenstand der Erkenntnis, die Welt oder wie man sonst sagen will, wirklich in ein solches System rationaler Begriffe eingeht.

Der Begriff der rationalen Erkenntnis schließt in gewissem Sinne den der  Allgemeingültigkeit  mit ein. Indessen betrachten wir diesen besonders, weil auch er wichtige Voraussetzungen enthält, die nicht immer genügend betont worden sind. "Allgemeingültig" nämlich heißt: notwendig gültig für  jedes  Denken und Erkennen, also unabhängig von individuell -subjektiven Faktoren. Das ist eine logische Forderung, deren Erfüllbarkeit nur selten nachgeprüft worden ist, ja die überhaupt schwer nachprüfbar ist.

Im übrigen sieht die Forderung nach Allgemeingültigkeit des Erkennens nicht nur von den  Art verschiedenheiten der Denkfunktionen ab, sie zieht auch die  Grad verschiedenheiten meist recht wenig in Betracht, die ebenfalls die wirklich allgemeine Gültigkeit sehr stark beeinträchtigen. Es ist letzten Endes ebenso unbewiesen, daß jeder Dummkopf fähig sei, die allgemeinen Erkenntnisse zu fassen, wie es unbewiesen ist, daß gebildete Chinesen oder Hindus nach denselben Kategorien dächten oder zu denken vermöchten, wie moderne Europäer. AUch in diesem Sinn kann die Allgemeingültigkeit höchstens als Fiktion zugelassen werden.

Das dritte Charakteristikum der von uns kritisierten Erkenntnisart ist das, daß sie sich für "objektiv" ausgibt, was häufig als gleichbedeutend mit "absolut" gilt. Dieses Charakteristikum folgt aus der Forderung der Allgemeingültigkeit. Indem man nämlich behauptet, daß alle Subjektivität für diese Erkenntnis ausgeschieden sei, glaubt man, sozusagen die "reine Objektivität" oder die "Absolutheit" übrig zu behalten. Es wird angenommen, daß der Gegenstand der Erkenntnis "rein", d.h. ohne jede Färbung durch subjektive Faktoren erfaßt werde; denn wenn die Subjektivität immer dieselbe ist, so kann, wie man meint, leicht davon abstrahiert werden, und man würde so durch eine einfache Subtraktion die reine Objektivität erhalten.

Auch das ist, wie ich ausführlich darlegen werde, eine irrtümliche Voraussetzung. Sie steht auf der Höhe etwa folgender Erwägung: man gibt zu, daß unsere Farbempfindungen subjektiv-individuell sind, d.h. daß das eine Auge dort rot sieht, wo farbenblinde Augen grün sehen und was derartige Verschiedenheiten mehr sind; kann man darum nun die Qualität "ansich" des betrachteten Gegenstandes erkennen, wenn man von jeder Farbempfindung überhaupt abstrahiert? Nach der gekennzeichneten Subtraktionsmethode müßte man das annehmen.

Die Sprache spielt uns jedoch hier einen Streich. Sie redet von "Farblosigkeit", wo es sich in Wirklichkeit nur um keine  ausgesprochene  Farbe handelt. Versuchen wir von  jeder  Farbe zu abstrahieren, so stellen wir uns meist ein verwaschenes Grau vor, was jedoch keineswegs eine wirkliche Farblosigkeit und noch weniger die Qualität des Gegenstandes an sich ist.

So wenig wir uns jedoch eine wirkliche Farblosigkeit, d.h. eine Negation jeder Farbenempfindung vorstellen können, so wenig können wir uns überhaupt eine ganz unsubjektive Gegenständlichkeit denken. Alles, was als "reine Objektivität" gilt, ist in Wirklichkeit eine verwaschene, unausgesprochene Subjektivität, eine reine Fiktion.

Wir ziehen daraus den Schluß und werden das später noch genauer erörtern, daß der Begriff der "reinen Objektivität", der das Ziel der gekennzeichneten Erkenntnisweise ist, eine Unmöglichkeit ist und höchstens als eine für manche Zwecke brauchbare Fiktion gelten kann. Als höchstes Ziel alles Erkennens können wir jedenfalls derartiges nicht zugeben.

Die Fiktion der Allgemeingültigkeit
Wir haben, indem wir das rationale, allgemeingültige, objektive Erkennen charakterisierten, bereits kurz andeutend die Schwierigkeiten berührt, die in diesem Begriffe stecken. Der Hauptteil unserer Untersuchungen wird in größerer Breite das auseinanderlegen. Wir sind jedoch weit davon entfernt, die Bedeutung jener Erkenntnisart zu unterschätzen. Wir halten das rationale, allgemeingültige, objektive Erkennen für eine  Fiktion  im Sinne VAIHINGERs. D.h. wir geben die inneren Widersprüche des Begriffes zu, leugnen aber nicht im geringsten den Lebenswert, die praktische Brauchbarkeit und Bedeutung desselben.

Denn das Ergebnis dieser rationalen, allgemeingültigen und objektiven Erkenntnisweise ist ja die für unser ganzes Kulturleben so überaus wichtige  Wissenschaft.  Und zwar gilt das, wenn auch in verschiedener Art, sowohl von den Naturwissenschaften als auch von den Geisteswissenschaften (wobei es gleichgültig ist, ob man diese auch historische oder Kulturwissenschaft nennt).

Beide nämlich bedienen sich zur Formulierung ihrer Ergebnisse der Sprache und zwar einer Sprache, die vorgibt, mit rationalen, allgemeingültigen Begriffen zu arbeiten. Und beide behaupten, wenn auch zuweilen mit gewissen Vorbehalten, eine objektive, aller Subjektivität entrückte Wirklichkeit zu erschließen.

Der Physiker (wenn er nicht durch philosophische Kritik vorsichtig gemacht ist) nimmt an, daß er mit seinen Gesetzen eine allgemeingültige objektive Tatsächlichkeit formuliert. Und ebenso meint der Historiker, wenn er auf Grund seiner Quellen die Geschehnisse vergangener Zeiten feststellt, damit eine objektive Tatsächlichkeit festzuhalten, ("wie es eigentlich gewesen" um mit RANKE zu reden.)

Wir nehmen auch damit ein später genauer zu erörterndes Resultat voraus, wenn wir den Erkenntniswert der Wissenschaft nur für eine Fiktion erklären, womit, wie gesagt, die ungeheure praktische Bedeutung der Wissenschaft nicht in Frage gestellt werden soll. Was ich bezweifle, ist nur, daß die Wissenschaft eine Objektivität erschlösse, die aller Subjektivität entrückt wäre. Wir werden im Gegenteil nachweisen, daß es außerwissenschaftliche Mittel gibt, die jene Voraussetzungen aller Wissenschaft als fiktiv erweisen.

Es ist klar, daß wir, indem wir die rationale Erkenntnis kritisieren, das von einem Standpunkt aus tun müssen, der außerhalb ihrer liegt (wenn wir uns auch ihrer Mittel zu dieser Kritik bedienen, wovon noch zu reden sein wird). In der Tat erkennen wir außer der rationalen Erkenntnis auch eine  irrationale  an, d.h. eine

geistige Stellungnahme zur Welt, die ohne auf Rationalität, Allgemeingültigkeit und Objektivität Anspruch zu erheben, dennoch als Erkenntnis zu charakterisieren ist.
Der Nachweis und die Analyse dieses irrationalen Erkennens wird den Inhalt des zweiten, positiven Teils unserer Betrachtungen bilden.
LITERATUR - Richard Müller-Freienfels, Rationales und irrationales Erkennen, in Annalen der Philosophie hrsg. von Hans Vaihinger und Raymund Schmidt, zweiter Band, Heft 2, 1920