tb-1Kant und die EpigonenDie Marburger SchuleBedeutung Kants     
 
WILHELM WINDELBAND
Immanuel Kant
- Zur Säkularfeier seiner Philosophie -
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"Er gab eine gänzlich neue Welt; bei ihm erschien alles in ganz neuem Licht; er war, wie Jean Paul gesagt hat, ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal. Mit Recht hat man behaupten dürfen: es gibt, wenn man von allem Nebensächlichen absieht, bisher nur zwei philosophische Systeme: das griechische und das deutsche - Sokrates und Kant!"

"Aber was war es denn so besonderes an diesem Nachweis von der Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens? War denn nicht Ähnliches oft und mit vielen Gründen behauptet worden? Hatten denn nicht von diesen Grenzen der menschlichen Erkenntnis schon viele in vielen Absichten gesprochen? - die Skeptiker und die Mystiker, die Orthodoxen und die Positivisten? Gewiß! aber mit ihnen allen hat Kant prinzipiell nichts zu tun!"

"Die Erkenntnistheorie des Aristoteles involviert durchgängig die Ansicht, daß die im Begriff, im Urteil und im Schluß ausgesprochenen Denkbeziehungen Abbilder der realen Beziehungen zwischen den Gegenständen seien, deren Abbilder wiederum in den einzelnen Elementen des Denkens zu suchen seien. Hieraus ergaben sich die Probleme der theoretischen Philosophie nach Aristoteles."

"Vergleichen ist eine Tätigkeit des beziehenden Bewußtseins und tritt nur zwischen verschiedenen Inhaltsbestimmungen desselben Bewußtseins auf. Von einer Vergleichung eines Dings mit einer Vorstellung kann deshalb niemals die Rede sein, wenn nicht das  Ding  selbst auch eine Vorstellung ist. Was eine durch Vergleichung zu gewinnende Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zwischen einem nicht vorgestellten Ding und einer Vorstellung sein sollte, das kann niemand sagen oder ernstlich denken. Jene Auffassung, als ob Wahrheit Übereinstimmung der Vorstellungen mit Dingen wäre, kommt auch nur durch die gewöhnliche Ansicht zustande, als hätte man in gewissen Vorstellungen, nämlich in den sinnlichen Wahrnehmungen, die Dinge selbst. Dieser naive Sensualismus ist die Ursache eines Irrtums, dem, wie das gewöhnliche Bewußtsein, so auch die Wissenschaft bis Kant unterlegen ist."

Die altehrwürdige Gewohnheit, große Abschnitte unserer Zeitrechnung zur Veranlassung für eine festliche Erinnerung an bedeutende Männer, Taten und Ereignisse zu nehmen, legt den Jahrzehnten, in denen wir leben, viele Verpflichtungen auf. Nicht als wären wir ein sonderlich dankbares, mit dem geistigen Blick nach rückwärts gewendetes Geschlecht: aber es trennt uns eben ein Jahrhundert von der Zeit der höchsten Lebendigkeit deutscher Kultur, von der Zeit, wo sich bei uns Dichtung und Philosophie in ungeahnter Kraft erhoben und einander die Hände reichten, um aus Kampf und Gegensatz eine ganz neue Bildung zu erzeugen, - jener Zeit, wo Schlag auf Schlag Großes getan, Größeres gewollt, Größtes geahnt wurde.

Wer eine solche Feier ernst begeht, der tut es mit geteiltem Gefühl. Die Freude erwärmt ihn, daß der dankbare Aufblick zu jenen Höhen unseres nationalen Bildungslebens doch noch nicht ganz verloren ist, von denen uns die sittlichen und intellektuellen Kräfte herabgeflossen sind, welche, zu mächtigem tatkräftigem Strom vereinigt, sich befruchtend und gestaltend über den Boden unseres Volkslebens ergossen haben. Doch daneben tritt gewissenhafte Einkehr in uns selbst und damit der Überschlag des Verlustes, den wir neben gewaltigstem Gewinn seitdem doch an der Energie jener höchsten Kulturtätigkeiten erlitten haben.

So feiert nun, nachdem schon mancherlei Geburts- und andere Erinnerungstage festlich begangen worden sind, in diesem Jahr Deutschland, wenn auch nur still durch eine kleine Gemeinde vertreten, die Vollendung des ersten Jahrhunderts nach dem Erscheinen eines Buches - der Kritik der reinen Vernunft von KANT. Wir feiern das Buch und wir feiern den Mann. In Königsberg, der Stätte seiner Arbeit, hat man seinen sterblichen Resten eine neue Grabstätte bereitet und dabei, der Mode des Tages gemäß, den stummen Schädel gemessen, in welchem sich einst der größte Gedankenkampf abgespielt hat. Dort wie anderwärts sind zu würdiger Feier Reden gesprochen worden, die nun im Druck vorliegen, zahlreiche Schriften sind dieser edelsten Erinnerung der deutschen Philosophie gewidmet worden, die einen schon fertig, die anderen, auf lange Arbeit angelegt, erst im Entstehen: dicke Bücher und kurze Broschüren, gelehrte Werke und populäre Darstellungen sind in Masse erschienen und wer nicht selbst dazu Bedürfnis empfand, der mochte sich durch Preisausschreiben dazu anregen lassen. Nicht nur die philosophischen Zeitschrifen, auch die allgemeinen Revuen haben dem Moment Rechnung getragen und bis in die Unterhaltungsblätter und Zeitungsfeuilletons hat sich die Wirkung erstreckt, wo sich zwischen Novelle und Rösselsprung überall auch ein Plätzchen gefunden hat, um einige Anekdoten vom "großen Königsberger" aufzuwärmen und einige Notizen über seine Lehre mitzuteilen. So gering dabei oft der absolute Wert, so groß ist der relative Nutzen, wenn neben der Erfindungssucht, dem Politfieber und dem literarisch-musikalischen Dilettantismus auch nur flüchtig wieder an die wahren Schätze unseres geistigen Lebens erinnert wird. Und weit über Deutschlands Grenzen hinaus hat sich diese Festbewegung ausgebreitet: die Zeitschriften und Revuen fast aller anderen europäischen Völker geben davon Zeugnis und drüben, jenseits des Ozeans, haben sie eigens einen Philosophenkongreß nach Concord zusammengerufen, um sich mit Reden und feierlichen Akten an unserer Gesinnung zu beteiligen.

Was ist das für ein Buch, dem - einem Buch wohl zum erstenmal - die Ehre einer solchen Säkularfeier angetan wird? Jeder weiß es: es ist das Grundbuch der deutschen Philosophie. Mit ihm feiern wir den Triumpf des deutschen Geistes. Dieses Buch ist eine Tat, eine große Tat: es ist der Bruch mit aller früheren, es ist die Begründung einer ganz neuen Philosophie.

Wer KANTs Kritik der reinen Vernunft liest oder eines seiner späteren Werke, die sich auf ihr aufbauen und, wie sie nur durch jene möglich sind, zugleich auch die von ihr notwendig verlangte Ergänzung bilden, der empfindet sofort die absolute Originalität der neuen Lehre, die anfangs unverstanden blieb und nachher mit glühender Begeisterung ergriffen wurde. Es sind ganz neue Probleme, es ist behufs ihrer Lösung ein ganz neues Begriffsmaterial, es sind ganz neue Resultate, die uns hier entgegentreten. Diese Originalität muß zuerst betont werden, ohne zu vergessen, daß ihr mannigfach vorgearbeitet wurde, daß die Zersetzung des Alten, der schüchterne Anfang des Neuen schon lange vor KANT sichtbar war. Aber wie bei allen großen Taten, so genügt es auch hier zur Erklärung nicht, sich alle Anregungen kaleidoskopisch durcheinandergewürfelt zu denken. Das Neue begreift sich nur aus einem schöpferischen Prinzip, welches die Elemente zu sinnvoller Gestaltung anordnet. Und deshalb sollen auch hier nicht die einzelnen Fäden der Vorbereitung verfolgt, sonder der Meistergriff gezeigt werden, mit dem KANT sie zusammenfaßte.

Geht man dem Wesen dieser Originalität nach, so ist sie zunächst negativ: es ist die Emanzipation von den begrifflichen Formen, in welchen bei aller Verschiedenheit der Ansichten und Interessen die gesamten Diskussionen der früheren Philosophie geführt worden waren. KANTs Gedankengänge erscheinen als ein ganz Neues gegenüber dem Begriffsapparat, mit welchem alle vorhergehende Philosophie arbeitete: so verschieden die früheren Lehren unter sich sind, KANT gegenüber haben sie eine gewisse Gleichartigkeit, von der sich sein ganzes Denken scharf abhebt.

Diese Gleichartigkeit aller vorkantischen Philosophie beruth auf dem gemeinsamen Ursprung, den sie in der griechischen Wissenschaft hat. Die großen Systeme, der Platonismus der Aristotelismus, der Stoizismus, hatten sich im römischen Reich über die gesamte Kulturwelt des Mittelmeers als die bestimmenden Mächte der Erkenntnis ausgebreitet und von da aus haben sie mehr als einen Weg genommen, um sich die Herrschaft über das Denken der germanischen Völker zu gewinnen und zu sichern. Zuerst übernahm die mit der griechischen Begriffswelt völlig durchdrungene, in ihrem philosophischen Ausdruck durchaus davon abhängige Kirchenlehre die Erziehung der Germanen, die sie mit geringen, meist formalen Resten der antiken Bildung durchführte. Dann trat als wesentliche inhaltvolle Ergänzung der europäischen Gedankenwelt das Begriffssystem hinzu, in welches die Araber und die Juden des Mittelalters mit jahrhundertelanger Arbeit die griechische Philosophie verwandelt hatten: bereichert durch diesen zweiten Zufluß gelangte die christliche Wissenschaft zu ihrer größten Ausbreitung und zu ihrer vollkommensten begrifflichen Gestaltung. Und wenn dieser Ausbreitung endlich eine neue Bewegung entgegentrat, welche teils von Sizilien, teils von Byzanz her ihre Wellen zuerst nach Italien und dann immer weiter und weiter schlug - die Wellen der Renaissance -, so war auch deren Triebkraft zuletzt in Athen zu suchen. Auch die Opposition stammte aus derselben Quelle: der originale PLATON und der originale ARISTOTELES kämpften gegen ihre mittelalterlichen Verwandlungen. In der Mystik, in GIORDANO BRUNO, im protestantischen Peripatetizismus [Aristotelismus - wp] in der Formenlehre BACONs, in den eingeborenen Ideen bei DESCARTES und weiterhin bei SPINOZA und LEIBNIZ allüberall sind es griechische Begriffe, die gegen griechische Begriffe mit neuer Gestaltung und Begründung ins Feld geführt werden und selbst die Fragestellungen eines LOCKE, CONDILLAC und HUME sind in das griechische Begriffssystem eingeschlossen.

So weit alle diese Lehren auseinander gehen, eine Gleichartigkeit der Grundbegriffe, wie sie PLATON und ARISTOTELES formuliert haben, geht durch sie alle hindurch; und nur  eine  Erscheinung ist seit dem Beginn der neueren Zeit als ein Fremdartiges und Neues hinzugetreten: das ist die mathematische Naturwissenschaft, die, in der pythagoreisch-platonischen Schule nur erst gestreift, durch den Aristotelismus beiseite geschoben, in der Renaissance nicht ohne Anknüpfung an ihre antiken Vorbilder neu gegründet und mit gewaltigem Siegeslauf zu höchsten Zielen geführt wird. Sie ist das erste, spezifisch ungriechische Element im modernen Denken und es ist deshalb höchst bedeutsam, daß KANT von ihr die tiefste und nachhaltigste Einwirkung erfahren hat.

So sehr sie jedoch auch schon vor KANT die Philosophie zu bestimmen und ihre Begriffe darin einzuflechten begann, die Herrschaft des platonisch-aristotelischen Begriffssystems vermochte sie nicht zu erschüttern: sie stand in deren Rahmen wohl als ein Fremdes, das die Harmonie störte, aber sie sprengte ihn nicht. Darum blieb die systematische Grundlage des wissenschaftlichen Lebens dieselbe, die durch die Griechen bestimmte, bis KANT auftrat. In ihm eröffnet sich ein neues Gedankenreich. Wenn sich andere vorher gegen das traditionelle Begriffssystem erhoben, so geschah es hie und da an einzelnen Punkten.  Er  gab eine gänzlich neue Welt; bei  ihm  erschien alles in ganz neuem Licht; er war, wie JEAN PAUL gesagt hat, ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal. Mit Recht hat man behaupten dürfen: es gibt, wenn man von allem Nebensächlichen absieht, bisher nur zwei philosophische Systeme: das griechische und das deutsche - Sokrates und Kant!

Welches ist nun der Unterschied zwischen diesen beiden Systemen? Ich will versuchen, aus den Begriffsformeln den letzten Kern herauszuholen und gehe dabei von einer Reflexion auf die Verschiedenheit des Kulturhintergrundes aus, dem beide entsprossen sind.

Die griechische Philosophie ist das Produkt einer einfachen, in sich geschlossenen Nationalkultur und sie trägt deren Züge an sich. Das Bildungsleben der Hellenen entfaltete sich in einem harmonischen Zusammenhang. Die Mannigfaltigkeit der mythischen Vorstellungen war früh durch die Poesie zu ästhetischen Gestalten abgeklärt, in denen die Ideale des Volkes ein unsterbliches Leben führten: so bildeten die homerischen Gesänge die Grundlage aller Erziehung in Griechenland. Die sozialen Verhältnisse befreiten den Vollbürger von der Notwendigkeit alltäglicher Arbeit und in freiem Genuß politischer Unabhängigkeit durfte sich das Individuum der edleren Arbeit an den Gütern der Kultur hingeben. Dazu kam die Einfachheit des wirklichen Wissens, dessen Vereinigungin einem Kopf nocht keine Mühe machte, dazu kam vor allem der naive Glaube an eine Begrenztheit der Wirklichkeit, in deren schön geschlossener Runde das Land und das Leben der Griechen in den Mittelpunkt bilde. So ist es zu verstehen, wie in diesem Volk das wissenschaftliche Denken, das hier zuerst sich frei machte, das sich an einzelnen Hypothesen, an Sammlung und Beobachtung geübt und gestaltet hatte und das in SOKRATES sich selbst und seine normale Gesetzmäßigkeit entdeckte, nun auch verlangte, von sich aus mit seinen Gesetzen und seinen notwendigen Formbestimmtheiten bis in die Tiefe der Dinge wühlen zu können und das Universum in sich abzuspiegeln.

Griechentum ist Intellektualismus. Die Erkenntnistätigkeit, welche hier zum erstenmal um ihrer selbst willen geübt wird, wirft sich zur beherrschenden Seelentätigkeit auf: sie soll das Handeln bestimmen, in ihr wird auch das Prinzip der Sittlichkeit gesucht und von ihr wird angenommen, daß sie die ganze Weltwirklichkeit in idealer Form wiederhole. Alle griechische und alle von dieser abhängige Philosophie lebt in der Voraussetzung und arbeitet sich darin ab, daß mit dem menschlichen Wissen ein abschließendes, restlos die Wirklichkeit wiedergebendes Weltbild zu gewinnen sei. Sie will nichts anerkennen, was nicht erkannt ist, was sich nicht im begründbaren Urteil formulieren läßt.

In diesem Sinn ist der Aristotelismus, wie er die größte Kraft der historischen Wirkung entfaltet hat, in der Tat auch der reinste Typus des griechischen Intellektualismus. Sein höchster metaphysischer Begriff ist derjenige der Gottheit als des sich selbst denkenden Denkens und seine höchste Tugend ist die Kontemplation, die wissenschaftliche Betrachtung. Aber eben deshalb, weil die Tragweite der Erkenntniskraft als unbegrenzt angesehen, weil die in der Auffassung menschlicher Lebensverhältnisse ausgebildeten Begriffsformen ungeprüft auf die Deutung aller Erscheinungen übertragen werden, eben deshalb enthält dieser ganze Metaphysizismus eine geistige Ausstrahlung spezifisch menschlicher Vorstellungsformen: wie in der Weltbetrachtung der Mensch noch als Mittelpunkt des Universums, sein Geschick noch als Weltgeschick, so wird die begriffliche Ausmalung menschlicher Verhältnisse noch naiv als Welterkenntnis angesehen.

Hiergegen stellen wir die Kulturwelt der Gegenwart. So sehr in ihr die Verschiedenheit der einzelnen Nationen verfolgbar ist, im allgemeinen leben wir in einer abgeschliffenen Gesamtkultur. Uns umgeben viel verschlungene, äußerst problemreiche Verhältnisse des äußeren, des politischen und sozialen Lebens, uns umwogt mit stürmischen Wellen der tägliche Kampf ums Dasein. Unser Blick hat sich in das Unendliche erweitert, er kennt keine Grenze des Seins: aus tausend und abertausend Quellen auf dem ganzen Erdball rinnt uns ein Wissen zusammen, das nie mehr in in  einem  Kopf vereinigt und nie mehr auf eine einfache Gesamtformel gebracht werden wird. Längst müssen wir uns vor allem an die Vorstellung gewöhnen, daß wir nicht im Mittelpunkt des Weltlebens sitzen, sondern irgendwo in einem entlegenen Winkel ein bescheidenes Dasein fristen.

Und als ob es mit dieser Demütigung des Wissens durch sich selbst, als wenn es mit dieser Vielgespaltenheit unseres Kulturlebens noch nicht genug wäre, so geht durch unser ganzes Leben ein tiefer Riß hindurch. Seitdem die griechische Philosophie ihren heimatlichen Boden verlassen und sich in die wissenschaftliche Grundlage der Weltkultur verwandelt hat, fand sie sich einem Fremden, Übermächtigen gegenüber: der Religion, welche vom Orient her den europäischen Kontinent erobert hat. Mit rastloser Zähigkeit hat der Geist der griechischen Wissenschaft die Jahrhunderte hindurch daran gearbeitet, diesen Inhalt ganz zu durchdringen und zu bewältigen: es ist ihm nicht gelungen. Alle Systeme der mittelalterlichen Philosophie sind die vergebene Liebesmüh des Wissens, den Glauben aus sich zu reproduzieren. Wenn die Wissenschaft nach wie vor danach rang, den letzten Zusammenhang der Dinge zu verstehen, wenn es ihr sogar gelang, erst in geringer, dann in immer größerer Ausdehnung das religiöse Bewußtsein in sich hineinzuziehen, - zuletzt blieb doch eben dieses religiöse Bewußtsein mit logisch unvereinbarer Selbständigkeit daneben bestehen. Neben dem auf die griechischen Begriffe gebauten Rationalismus läuft der Mystizismus des Glaubens einher, hier mehr, dort weniger Raum für sich in Anspruch nehmend, aber niemals vollständig überwunden. Alle Stufen des Antagonismus zeigt die Geschichte dieser Gegensätze von der erstrebten Versöhnung bis zum erbitterten Kampf, bis zur Vernichtung des Denkens durch die starre Orthodoxie und bis zur Vernichtung des religiösen Bewußtseins durch die Aufklärung; das Charakteristische aber ist jene Lehre von der zwiefachen Wahrheit, der theologischen und der philosophischen, welche im Ausgang des Mittelalters aufkam und seither in Männern wie BAYLE und JACOBI und in vielen anderen Erscheinungen einen den neueren Begriffen sich mehr anpassenden Ausdruck gefunden hat.

So ist das moderne, um mit HEGEL zu reden, das "zerrissenes Bewußtsein". Es hat die Harmonie der unbefangenen Einfachheit verloren und müht sich an seinen inneren Widersprüchen ab. Die griechische Wissenschaft ist mit ihrem gesamten Begriffssystem ein unentbehrlicher Bestandteil unserer Kultur geworden, ein Besitztum der Menschheit in saecula saeculorum [von nun an bis in alle Ewigkeit. - wp] und an einer Reihe von Grundbegriffen auch der modernen Naturforschung, die sich ihr noch am selbständigsten gegenüberstellt, läßt sich zeigen, wie stark sie uns allen, manchem vielleicht ohne daß er davon weiß, im Blut steckt: aber sie hat aufgehört, für sich allein den abschließenden Rahmen unserer Weltbetrachtung zu bilden, sie kann im ganzen Zusammenhang unseres Geisteslebens nicht mehr das Höchste und Letzte sein.

Das ist nun die große Bedeutung der kantischen Philosophie, daß sie diesem veränderten Verhältnis der Kulturtätigkeiten zum erstenmal einen völlig adäquaten Ausdruck gibt, daß sie in großen Zügen diesen unseren geistigen Gesamtzustand ausprägt und das ist die Epoche machende Tat der "Kritik der reinen Vernunft", daß sie diesen Tatbestand mit strengster wissenschaftlicher Beweisführung zu einem unumstößlichen Bewußtsein bringt. Die Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnis, zeigt sie, reichen nicht aus und werden niemals ausreichen, um ein Weltbild, in dem Sinne, wie der jugendlich unbefangene Wissenstrieb es sich als Aufgabe gestellt hatte und wohl noch jetzt und immer stellen mag, mit notwendiger und allgemeiner Geltung hervorzubringen. Die Wissenschaft ist allein nicht imstande, jenes alle unsere Bedürfnisse umfassende Bewußtsein zu gewähren, welches wir als die Krönung unseres selbstbewußten Lebens erstreben müssen.

Auf diesem Aussprechen eines durch das ganze moderne Leben sich erstreckenden Geheimnisses beruhte zunächst bei uns in Deutschland die zündende Wirkung der kantischen Lehre. Sie fiel in eine Zeit literarischer Gärung, in der sich gegen eine alles wissende Aufklärung und eine alles beweisende Philosophie die Ursprünglichkeit genialer Naturen mit "Sturm und Drang" auflehnte, wo aus dem grauen Einerlei formalistischer Bildung die Phantasie ihre Feuergarben emporsteigen ließ und das leidenschaftliche Gefühl sein Zauberlicht über die Wirklichkeit warf. Diese Zeit sehnte sich nach Unerforschlichem; sie freute sich jeder rätselhaften Regung, die sie im Menschengemüt entdeckte, jede geheimnisvollen Schleiers, der sich über die Zusammenhänge der Wirklichkeit breitete. Des Wissens und des Beweisens satt, lebte sie in der Ahnung, im Gefühl, in der Einbildung. Und nun auf einmal bewies ihr der nüchternste und strengste aller Denker ihr Recht: er wies die Wissenschaft in ihre Schranken und proklamierte die Selbständigkeit des moralischen und des ästhetischen Urteils. Er wirkte deshalb auf die junge Generation ganz in derselben Weise wie schon vor ihm ROUSSEAU: jubelnd empfand man die Befreiung von den Formeln des Wissens und die Verkündigung einer Religion des allgemeinen Menschengefühls. So wurde vor allem SCHILLER von der kantischen Philosophie gepackt, SCHILLER, der dann die hohe Aufgabe erfüllte, ihr Prophet in der allgemeinen Literatur zu werden; und so haben sich später die Romantiker durch alle Phasen ihrer Entwicklung hindurch und in allen Richtungen ihrer vielverzweigten Tätigkeit an KANT emporzuranken versucht.

Aber was war es denn so besonderes an diesem Nachweis von der Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens? War denn nicht Ähnliches oft und mit vielen Gründen behauptet worden? Hatten denn nicht von diesen Grenzen der menschlichen Erkenntnis schon viele in vielen Absichten gesprochen? - die Skeptiker und die Mystiker, die Orthodoxen und die Positivisten? Gewiß! aber mit ihnen allen hat KANT prinzipiell nichts zu tun!

Nichts zunächst mit dem gewöhnlichen Skeptizismus, der von irgendwelchen methodologischen Voraussetzungen her die Möglichkeit einer vollkommenen Einsicht in die gesetzmäßigen Zusammenhänge der unserer Erfahrung zugänglichen Welt bestreitet. Gerade gegen diesen kehrt sich der kantische Nachweis mit voller Energie und es gibt wenige Menschen, welche von der Erkenntniskraft der Wissenschaft und von ihrem Recht, den gesamten Umfang unserer Erfahrungswelt zu bewältigen und zu durchdringen, so felsenfest überzeugt sind wie KANT. Seine ganze theoretische Philosophie ist nichts weiter als die systematische Besinnung auf die unumstößlichen und unumgänglichen, jedem normal denkenden Menschen von selbst einleuchtenden Voraussetzungen und Grundsätze, ohne die es überhaupt keine Verständigung der Denkenden untereinander und keinen Versuch wissenschaftlicher Konstatierung irgendwelcher Tatsachen, keine Verarbeitung dieses Stoffs zu Erkenntnissen gibt. In der Begründung der wissenschaftlichen Arbeit auf ihr unmittelbar evidenten Prinzipien besteht die Aufgabe und die Leistung der kantischen Erkenntnistheorie.

Darum darf seine Lehre am allerwenigsten mit jenem aus dem 18. Jahrhundert stammenden und für die "Jetztzeit" nur frisch aufgeputzten Positivismus verwechselt werden, der sich heutzutage an die Rockschöße KANTs zu hängen liebt, jenem Positivismus, welcher die menschliche Wissenschaft darauf beschränken will, einzelne Tatsachen festzustellen und, wiederum nur als Tatsache, einen gewissen Rhythmus ihrer zeitlichen Reihenfolge zu beobachten. Der glänzendste und vielleicht sicherste Nachweis, den KANT in der Kritik der reinen Vernunft gegeben hat, läuft darauf hinaus, zu zeigen, daß bereits jede sogenannte Konstatierung von Tatsachen nur durch eine Anzahl von allgemeinen Voraussetzungen begründet werden kann, welche zwar erst mit der allmählichen Entwicklung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu Bewußtsein kommen, welche aber durch alle die einzelnen Fälle, deren Begründung in ihnen zu suchen ist, nicht selbst erst begründet werden können. Kein Zeitpunkt ist zu bestimmen, keine Messung auszuführen, keine Wägung vorzunehmen, ohne daß man als Grund für ihre Anerkennung über die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse und über das Verhalten der Dinge im Ablauf des Geschehens eine Reihe von Grundsätzen stillschweigend voraussetzt, welche durch den Zusammenhang unserer Erfahrungen fortwährend bestätigt werden, welche darum erst durch die abstrahierende Aufmerksamkeit auf unsere Erfahrung von uns haben aufgefunden werden müssen, welche aber, weit entfernt, durch diese Bestätigungen, an denen sie zum Bewußtsein kamen, etwa auf induktivem Weg beründbar zu sein, selbst erst die Gründe für die notwendige Geltung einer, wie man zu sagen pflegt, erfahrungsmäßig konstatierten Tatsache enthalten. Niemals sind bloße Empfindungen und ihre Addition eine Erfahrung, welche auf wissenschaftliche Geltung Anspruch erheben kann, sondern jedesmal liegt eine Deutung der Wahrnehmung durch Grundsätze und Voraussetzungen vor, die als unmittelbar gewiß und selbstverständlich gelten. Dieses Selbstverständliche nicht zu sehen, ist die Kurzsichtigkeit des Positivismus: Philosophie im kantischen Sinne ist die Lehre von eben diesem Selbstverständlichen.

Wenn aber andererseits KANT für die Geltung dieser selbstverständlichen Grundsätze bestimmte Grenzen setzt, so hat diese Wendung seiner Argumentationen doch gar nichts mit allen den zahlreichen Versuchen zu tun, welche in der Geschichte der europäischen Völker gemacht worden sind, um jenseits solcher willkürlich bestimmten Grenzen entweder die Naturgewalt des individuellen Gefühls zu entfesseln oder die Autorität einer historischen Erscheinung einzusetzen. Der Glaube, für den KANT durch die Grenzbestimmung der wissenschaftlichen Erkenntnis Platz machen will, ist ganz anderer Art und die Gründe, welche diese Grenzbestimmung erzeugen, sind nicht in einem Hinschielen auf eine schon anderswie feststehende Überzeugung und im Bedürfnis, diese um jeden Preis zu retten, sondern in der Untersuchung über das Wesen der wissenschaftlichen Gewißheit selbst zu suchen.

Von allen diesen Formen der früheren Skepsis unterscheidet sich die kantische Kritik prinzipiell und zwar deshalb, weil sie die gemeinsame Voraussetzung überwunden hat, auf der jene sämtlich beruhen. Diese gemeinsame Voraussetzung aber ist dieselbe, welche durch den Vorstellungsmechanismus überall entsteht, welche deshalb im gewöhnlichen Bewußtsein zu jeder Zeit die herrschende gewesen ist und es voraussichtlich auch bleiben wird, welche endlich von der griechischen Wissenschaft in naivem und nie bezweifelten Vertrauen übernommen und unwillkürlich zur Grundlage ihres gesamten Begriffssystems gemacht worden war.

Diese von KANT überwundene Meinung ist die Vorstellung, als sei die menschliche Wissenschaft bestimmt und als habe sie darin ihr Regulativ, eine unabhängig von ihr bestehende Welt  abzubilden. 

Die nach den Gesetzen der Assoziation und der Reproduktion im historischen Fortschritt der Gattung entstandene, in der Sprache niedergelegte Fortschritt der Gattung entstandene, in der Sprache niedergelegte und in jedem Individuum sich wiederholende Vorstellungsweise betrachtet den vorstellenden Organismus als ein Glied der in räumlichen Beziehungen stehenden Welt von Dingen. Sie ist deshalb geneigt, auch den Erkenntnisprozeß entweder direkt als einen räumlichen Vorgang oder doch nach Analogie eines solchen zu betrachten, und selbst, wenn man sich von dieser Nötigung der Vorstellungsweise soviel als möglich frei zu machen sucht, unterliegt man noch dem Zwang der davon beherrschten Sprache, welche als Bezeichnung für die Verhältnisse des Denkens zu seinen "Gegenständen" kaum etwas anderes als sinnliche Tropen darbietet. Der Geist "steht" den Dingen "gegenüber"; wenn er empfindet und vorstellt, so tut er das, weil sie auf ihn einwirken oder weil er sich ihnen nähert; er "ergreift", er "erfaßt", er "begreift", er "erklärt" sie; und sie "drücken sich in ihm ab", "spiegeln sich in ihm", er "gibt sie wieder", er "reproduziert" sie, er "nimmt sie in sich auf", er "wiederholgt sie in sich" usw. Alle Theorien, welche die griechische und die von der griechischen abhängige Wissenschaft über die Entstehung der Vorstellungen aufgestellt hat, laufen darauf hinaus, eine Wechselwirkung zwischen dem Ding und der Seele zu statuieren und als das Produkt dieser Wechselwirkung ein Abbild des Dinges anzunehmen, welches dann den Inhalt der Empfindung oder Vorstellung ausmache. Wenn man auf diesem Weg den Anteil festzusetzen suchte, der am gemeinsamen Produkt einerseits dem Subjekt, andererseits dem Objekt zukomme, so ging man doch immer von der Grundannahme aus, daß in der Vorstellung sich der Gegenstand abbilde oder abbilden  solle.  Der gesamte antike Skeptizismus zielt darauf hin, zu zeigen, daß diese Abbildung infolge der Trübung durch mancherlei Medien immer nur unvollkommen vonstatten gehen könne. Die platonische Metaphysik beruth auf der Voraussetzung, daß, wie den sinnlichen Empfindungen die Körperwelt, so auch den Vernunftbegriffen eine unkörperliche Welt als das Original entspreche, dessen Abbild sie sein solle. Die Erkenntnistheorie des ARISTOTELES involviert durchgängig die Ansicht, daß die im Begriff, im Urteil und im Schluß ausgesprochenen Denkbeziehungen Abbilder der realen Beziehungen zwischen den Gegenständen seien, deren Abbilder wiederum in den einzelnen Elementen des Denkens zu suchen seien.

Hieraus ergaben sich die Probleme der theoretischen Philosophie nach ARISTOTELES. Daß die einzelnen Vorstellungen, die einer unmittelbaren Einwirkung der Dinge auf uns ihren Ursprung zu verdanken scheinen, deren mehr oder minder vollkommene Abbildungen seien, mochte als selbstverständlich erscheinen; wie aber die Vorstellungsverbindungen und ihre Produkte, die Urteile und Begriffe, die doch offenbar einem rein subjektiven, in der Seele sich abspielenden Prozeß entstammen, - wie diese auch noch Abbilder der Wirklichkeit sein sollten, das bildet das Thema all der Streitigkeiten zwischen Sensualismus und Rationalismus, zwischen Nominalismus und Realismus, welche, von den Stoikern begonnen, sich durch das ganze Mittelalter hindurchziehen und erst kurz vor KANT in resultatloser Antithese enden. Die beiden einzig konsequenten Antworten, die unter dieser Fragestellung möglich sind, stehen sich zum Schluß scharf gegenüber: entweder muß mit HUME angenommen werden, daß für keine dieser subjektiven Vorstellungsverbindungen behauptet werden darf, sie sie Erkenntnis in jenem Sinne einer Abbildung der Wirklichkeit oder es muß mit LEIBNIZ angenommen werden, daß eine "vorherbestimmte Harmonie" den notwendigen Ablauf der Vorstellungen als den Doppelgänger des gleich notwendigen Ablaufs der Wirklichkeit eingerichtet hat.

Die "Wirklichkeit" auf der einen Seite, die Vorstellung auf der anderen und diese, wenn sie Erkenntnis sein soll, das Abbild jener: das ist die Grundvoraussetzung der vorkantlichen Philosophie wie der ganzen gewöhnlichen Denkweise. Ob sie es sein kann, wie sie es sein kann - das sind die Probleme der vorkantischen Erkenntnistheorie. Überall liegt, ausgesprochen oder unausgesprochen, der Auffassung om Verhältnis des Denkens zu seinem Inhalt ein optischer Vergleich zugrunde. Die Seele soll, wenn sie erkennt, das sein, als was sie nach NIKOLAUS CUSANUS und GIORDANO BRUNO besonders LEIBNIZ mit einem oft zitierten Wort bezeichnet hat, ein "Spiegel der Welt". (1) Dann läßt sich scheint es, die Vergleichung ganz hübsch weiter führen: manche Spiegel sind trübe oder fleckig, andere verzerren die Bilder, welche sie wiedergeben, wenige sind so korrekt, daß das Bild völlig dem Gegenstand entspricht. Alle diese Unterschiede scheinen sich in der Erkenntnis und den Stufen ihrer Vollkommenheit wiederzufinden.

Also ist die Seele ein Spiegel der Welt meint! Es gibt vielleicht wenig Gleichnisse, welche so hinken wie dieses und wenige Ausdrücke, welche das, was sie sagen wollen, so schief bezeichnen. Selbst die Voraussetzung zugegeben, ist der Vergleich höchst unglücklich. Unter einem Spiegel versteht man sonst gewöhnlich einen Körper (A), dessen Oberfläche die von irgendeinem anderen Körper (B) ausgehenden Lichtstrahlen in der Weise reflektiert, daß vermöge ihrer wirklichen oder scheinbaren Wiedervereinigung sich in einem des Spiegel beobachtenden Auge (C) genau derselbe oder ein ähnlicher, nach bestimmten mathematischen Verhältnisse modifizierter Eindruck erzeugt, wie er vom wirklichen Gegenstand  B  hervorgerufen wird; jede Spiegelung also involviert insofern eine Täuschung, als das Spiegelbild an einem anderen, als dem vom wirklichen Gegenstand  B  eingenommenen Ort erscheint. Nicht von alledem ist in dem Verhältnis des Denkens zu seinen Gegenständen aufzufinden. Wenn das Spiegeln eine Täuschung mit sich bringt, - das Erkennen soll es gewiß nicht tun. Vor allem aber, der Prozeß des Spiegelns setzt außer dem Spiegel  A  und dem Gegenstand  B  noch einen Beobachter  C  voraus, welcher das durch  B  in  A  erzeugte Bild sehen soll. Niemand aber meint, daß sich die Dinge in der erkennenden Seele so abspiegeln sollen, daß ein Dritter sie darin wahrnehmen könne; sondern in diesem Fall ist der Spiegel  A  zugleich der Beobachter  C.  Ein kurioser Spiegel, diese erkennende Seele! ein Spiegel, der selber die ihn ihm erzeugten Bilder sieht und der manchmal sogar - Wunder über Wunder! - den Einfall hat, sich selbst zu sehen!

Die Verfehltheit des Vergleichs ist bezeichnend für die Unklarheit der Vorstellungsweise, welche durch ihn anschaulich gemacht werden soll. Wenn man gewöhnlich meint, die Wahrheit einer Vorstellung müsse darin bestehen, daß sie mit ihrem "Gegenstand" in derselben Weise übereinstimmt, wie ein Spiegelbild mit seinem Original, so kann diese Parallele in keiner Richtung ernstlich und klar zu Ende gedacht werden. Zwei Sinneseindrücke, der eine durch das Original, der andere durch die Spiegeloberfläche und ihre Reflexion des Lichts hervorgerufen, sind zwei vergleichbare Objekte, zwei Vorstellungen nämlich, welche in demselben Bewußtsein vereinigt sein und hinsichtlich der Identität ihrer Elemente und deren Verbindungsweise aufeinander bezogen werden können. Vergleichen ist eben eine Tätigkeit des beziehenden Bewußtseins und tritt nur zwischen verschiedenen Inhaltsbestimmungen desselben Bewußtseins auf. Von einer Vergleichung eines Dings mit einer Vorstellung kann deshalb niemals die Rede sein, wenn nicht das "Ding" selbst auch eine Vorstellung ist. Was eine durch Vergleichung zu gewinnende Ähnlichkeit oder Übereinstimmung zwischen einem nicht vorgestellten Ding und einer Vorstellung sein sollte, das kann niemand sagen oder ernstlich denken. Jene Auffassung, als ob Wahrheit Übereinstimmung der Vorstellungen mit Dingen wäre, kommt auch nur durch die gewöhnliche Ansicht zustande, als hätte man in gewissen Vorstellungen, nämlich in den sinnlichen Wahrnehmungen, die Dinge selbst. Dieser naive Sensualismus ist die Ursache eines Irrtums, dem, wie das gewöhnliche Bewußtsein, so auch die Wissenschaft bis KANT unterlegen ist. Wer sein Erinnerungsbild von einem Freund "mit dem Freund selbst vergleicht", um über die Richtigkeit des ersteren zu entscheiden, der führt doch nichts anderes aus, als eine Vergleichung zwischen seiner erinnerten und der nun durch die Sinne hervorgerufenen Vorstellung. Wer sich nach einer Hypothese eine Vorstellung von den Bestimmungen eines herbeizuführenden Ereignisses gemacht hat und nun zur Verifikation der Hypothese das Resultat seiner Berechnung "mit der Sache selbst" vergleicht, der konfrontiert doch nun und nimmermehr seine Vorstellung mit einem Ding, sondern zwei Vorstellungen, von denen die erste durch Nachdenken, die zweite durch Sinneswahrnehmungen gewonnen war. Die Übereinstimmung, in der man die *Wahrheit sucht, findet also in der Tat nur zwischen Vorstellungen verschiedenartigen Ursprungs statt und die Täuschung, als würden Vorstellungen mit Dingen verglichen, entsteht lediglich dadurch, daß für das gemeine Bewußtsein stets die jedesmaligen Sinneseindrücke unmittelbar als Dinge gelten.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Immanuel Kant - Zur Säkularfeier seiner Philosophie, ein Vortrag 1881, in Präludien, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    1) In der LEIBNIZschen Metaphysik freilich hat das Wort noch einen objektiven, tieferen Sinn, von dem hier nicht die Rede ist; gewöhnlich aber denkt man bei der Erwähnung dieses Ausdrucks nur an das oben behandelte Bild.