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RUDOLF WILLY
Der Empiriokritizismus als
einzig wissenschaftlicher Standpunkt


"Es gibt kein anderes, als das sinnlich und spezifisch menschlich bedingte Wissen. Und zwar bildet die menschliche Erfahrung nicht etwa nur eine sogenannte  Grenze des  Wissens im Sinne der Gewißheit, sondern unsere menschliche Erfahrung ist vielmehr eine unbedingt letzte Tatsache; der Weisheit Anfang und ihr Ende in umfassendster Bedeutung. Denn auch alles bloße Meinen und Vermuten, alles  Glauben, Ahnen und  Postulieren reicht in Wahrheit nicht über die Erfahrung hinaus; und alle gegenteiligen philosophischen Behauptungen sind Ausfluß des Selbstbetrugs und eines geschichtlich geheiligten Wahns."

"Daß überhaupt Urzeugung stattgefunden hat, ist gewiß; wie es aber dabei im besonderen hergegangen ist, weiß ich nicht, kann ich nicht wissen und bekümmere mich daher auch nicht weiter darum. Oder man kann andererseits eine bleibende, durch keine Wahrnehmung mehr zu verifizierende Hypothese darüber aufstellen, und das Problem und das Rätsel in dieser einzig noch möglichen Form zu lösen suchen und ja auch gewiß lösen. In diesem eben erörterten Sinn von  Grenzen des  Wissens und  Erkennens zu reden, hat also weiter nichts auf sich; führt zu keinen prinzipiellen Schwierigkeiten und nichts weniger als über die Erfahrung hinaus."

Erster Artikel


Vorbemerkungen

Nachdem RICHARD AVENARIUS den Standpunkt reiner Erfahrung sowohl in gewissen Hauptpunkten im "menschlichen Weltbegriff", als in großer biologischer Ausführung in seinem Hauptwerk  Kritik der reinen Erfahrung  durchgeführt hat, hätte die wissenschaftliche und philosophische Welt wohl hinlänglich Gelegenheit und nachgerade auch Zeit gehabt, den Empiriokritizismus kennen zu lernen.

In Wirklichkeit jedoch ist dies nur sehr ausnahmsweise geschehen. Nicht bloß Männer, welche ihre Ansichten längst abgeschlossen haben, sondern auch jüngere und jüngste Kräfte und unter ihnen wiederum solche, die sich tief zur Erfahrung herablassen oder ihr doch große Zugeständnisse machen - beweisen in ihren Schriften und Äußerungen teils, daß sie den Empiriokritizismus mit dem  Empirismus  schlechtweg identifizieren, teils, daß ihnen die Erfahrung eben doch lange nicht alles ist. Ohne uns nun im mindesten mit der Hoffnung zu schmeicheln, dem Empiriokritizismus bei den Philosophen zum Sieg zu verhelfen, so möchten wir dennoch den Versuch wagen, die empiriokritische und d. h. prinzipiell und rein empirische Weltanschauung von einem solchen Gesichtspunkt aus zu markieren, daß es künftig vielleicht wenigstens minder leicht sein dürfte, den Standpunkt reiner Erfahrung entweder vornehm zu ignorieren, oder ihn mit dem schulmäßigen, ganz und gar metaphysischen und daher keineswegs prinzipiell empiristisch gearteten sogenannten  Empirismus  zu verwechseln.

RICHARD AVENARIUS hatte es in seinen beiden Hauptschriften allein darauf abgesehen, seine philosophische Ansicht in großen Strichen und rein gegenständlich zu zeichnen. Er setzte dabei Leser voraus, die mit ihm seinen Standpunkt einzunehmen vorbereitet wären. Aber wie viele - wir meinen: wie wenige waren derart vorbereitet, um von vornherein und auf der ganzen Linie in rein beschreibender Art, die Hauptgedanken des Empiriokritizismus ohne störende Zutaten oder ohne verstümmelnde Lücken und Sprünge in sich aufzunehmen? Ein Verfahren dieser Art setzte offenbar jene Anpassungsfähigkeit des Lesers an den Verfasser voraus, wie sie sich tatsächlich nur zwischen gleichgesinnten und gleichgesinnten Individuen einzustellen pflegt. Nur bei Vorhandensein eines solchen Einklangs der Naturen ist der von AVENARIUS eingeschlagene Weg die angemessenste Weise der Untersuchung und Darstellung. Hier genügt schon die leiseste Andeutung und der zarteste Wink, um eine dem Leser selbst anheimgestellte Reihe von Folgerungen und nur teilweise ausgesprochene Voraussetzungen in ihm vollends wachzurufen.

Alle anderen, wie die meisten Neulinge, die metaphysischen Wildlinge und Jünger einer philosophischen Überlieferung, werden immer entweder über das Wichtigste hinwegsehen oder sich selbst in den Schriftsteller hineinlesen; und auf diese Weise entweder überhaupt nichts Bemerkenswertes, oder dann die  offenbarsten Widersprüche  entdecken. Neben der rein gegenständlichen Untersuchungsweise darf daher auch die kritisch-polemische Auseinandersetzung und Abrechnung ihr Recht behaupten; und von diesem Recht werden wir hier Gebrauch machen.

Zwar soll keineswegs das Zeichen des Kampfes, welches diese Abhandlung schon an ihrer Stirn trägt, zur zerstörenden Flamme werden, sondern nur wirken wie ein Ferment und der Sache selbst dienen. Wir wollen zeigen, in welchem Licht die Weltbegriffe der Schulphilosophie unserer natürlichen Anschauung erscheinen, wenn wir die reine Erfahrung und die metaphysischen Philosopheme so gegeneinander kontrastieren lassen, daß ihr Gemeinsames sowohl, wie ihr Unterscheidendes in voller Klarheit aufleuchtet. Dasselbe hat schon AVENARIUS in seinem  "menschlichen Weltbegriff"  gewollt und hat auch erreicht was er wollte. Er hat gezeigt: 1. daß in sämtlichen Weltbegriffen als gemeinsamer Kern die natürliche, uns allen gemeinsame Erfahrung steckt. Und diesr natürliche Erfahrungskern ist das dem Empiriokritizismus und den Schulphilosophemen gemeinsame.

AVENARIUS hat ferner gezeigt: 2. daß in einer prinzipiellen Abweichung ("Variation") von der rein natürlichen Erfahrung (Weltanschauung) das treibende Moment der schulphilosophischen Weltbegriffe liegt. Und dies von der natürlichen Erfahrung prinzipiell abweichende Moment ("Introjektion") ist das den Schulbegriffen eigentümliche und sie vom Empiriokritizismus unterscheidende. Denn das Ergebnis des  menschlichen Weltbegriffs  von AVENARIUS läßt sich zusammenfassen in den Satz: die "Introjektion", worin schließlich alle von der Erfahrung prinzipiell abweichenden Standpunkte zusammenfließen, führt in Wahrheit weder über die Erfahrung hinaus, noch leistet sie das mindeste zur Befriedigung eines wissenschaftlichen oder sonstigen Bedürfnisses  höherer Art;  sie leitet gerade im Gegenteil einen Vorgang ein, der zu einer fortschreitenden Zersetzung und Selbstauflösung der Erfahrung führt; und zwar derselben Erfahrung, welche sowohl dem Empiriokritizismus als sämtlichen davon abweichenden Standpunkten als gemeinsames zukommt. Ist somit der Empiriokritizismus nichts anderes, als die begrifflich ausgeweitete, gefestigte, geklärte und vervollständigte natürliche Erfahrung, so ist er dies, weil er einsieht, daß von einer philosophischen Betrachtungsweise überhaupt nur noch insofern die Rede sein kann, als das Material der Erfahrung neben den vielen und mannigfachen besonderen Bearbeitungen, welche es zuläßt, von selbst auch zu einer allgemeinen Verwertung seines Gehaltes führt.

Wenn also AVENARIUS im "menschlichen Weltbegriff" in der Tat dargetan hat, daß anstelle der verschiedenen philosophischen Standpunkte - mögen sie nun  Realismus  oder  Idealismus, Materialismus  oder  Spiritualismus, Empirismus (Positivismus oder  Rationalismus, Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus, Agnostizismus  - oder wie sonst noch heißen: die eine uns allen gemeinsame Erfahrung zu treten hat, so können wir, wenn wir nur das Ergebnis berücksichtigen, nichts anderes als dasselbe zeigen. Doch möchten wir, davon abgesehen, daß wir uns weniger rein theoretisch und beschaulich, als kritisch und polemisch verhalten, die Sache ansich selbst ein wenig anders, d. h. von einer anderen Seite ansehen, als das AVENARIUS im  menschlichen Weltbegriff  und in einer Reihe von Artikeln  über den Gegenstand der Psychologie  in dieser Zeitschrift (1894, Heft 2 und 4; 1895 Heft 1 und 2) getan hat. AVENARIUS stellte die Frage: was und wie beschaffen ist der illusionäre Vorgang, welcher die natürliche Erfahrung verdoppelt und widerspruchsvoll macht? Wir hier dagegen versuchen eine Antwort auf die Frage: welches sehr menschliche, von früh bis heute fortwirkende, mehr  praktische  als theoretische Motiv führt dazu, etwas  Besseres, Schöneres  und  Höheres  als die  gemeine  Erfahrung bietet, zuerst sehnlichst zu wünschen, zu erträumen, zu erdichten und schließlich in dieser oder jener, mehr einfach religiösen und rein gefühlsmäßigen Form zu  glauben;  oder durch Reflexion in Gestalt eines kleineren oder größeren philosophischen Systems zu  beweisen  oder doch als glaubhaft zu begründen und zu  postulieren.  Wenn es uns nun gelänge, das angedeutete Motiv als den geheimen Ursprung aller Metaphysik zu kennzeichnen, und eben dadurch die Metaphysik selbst all ihres höheren Schimmers zu entblößen: dann hätten wir vielleicht unserer Absicht gemäß zum "menschlichen Weltbegriff" eine kleine Ergänzung insofern geliefert, als einerseits das transzendente, mehr praktische als theoretische Motiv die Wurzel sowohl der Metaphysik als metaphysischen Erkenntnistheorie darstellt, und als andererseits die  "Introjektion"  des "menschlichen Weltbegriffs" im besondern wohl mehr den Charakter und Ursprung der metaphysisch-erkenntnistheoretischen Pseudoprobleme, als den Keim der allgemein-metaphysischen Weltvorstellung enthüllt.

Demgemäß werden wir zuerst die allgemein-empiristische und allgemein-metaphysische Seite der Sache, und d. h. den Empiriokritizismus und die Metaphysik vorführen, und dann zur Vervollständigung des allgemein-metaphysischen Kontrastbildes, dem Empiriokritizismus die metaphysische Erkenntnistheorie gegenüberstellen.



Der Empiriokritizismus
und die Metaphysik


I. Allgemeines

Daß wir von der Erfahrung ausgehen, daß wir sie an keinem Punkt verlassen und uns sogar ganz unbedenklich den Satz zu eigen machen: alles ist Erfahrung und die Erfahrung ist alles - hiergegen wird der Philosoph wohl triumphierend ausrufen: nun, wenn alles Erfahrung ist, dann sind also auch die Phantasien, die Träume und Halluzinationen Erfahrung, eine saubere Erfahrung, wie sie schon die alten Sophisten sehr wohl kannten, zu ihren Zwecken auch ausnützten und sogar theoretisch formulierten in der Aussage: alles ist, wie es jedem (jedem Beliebigen) in jedem (in jedem beliebigen) Augenblick erscheint. So schließt der Sophist und deutet uns damit an, daß es eine Erfahrung ohne menschliche Individuen, welche Erfahrungen machen, nicht gibt. Welche Erfahrungen aber die verschiedenen Individuen machen, und wie und in welchem Sinne sie dieselben verwerten, hierüber sagt uns der Sophist im Grunde nichts. Er hatte ein Interesse daran, dies vollkommen dahingestellt sein zu lassen, weil er es vielen recht machen wollte, und daher die vielen Meinungen der Menge, wozu er gewiß auch diejenigen seiner philosophischen Zeitgenossen rechnete, alle gelten ließ. Aber so tolerant und so schmiegsam, wie sich der Sophist zeigte und benahm, sind wir freilich nicht. Wohl stellen wir uns durchaus auf den Standpunkt des Sophisten im  allgemeinen;  sofern er nur behauptet, daß es ein  Seiendes  schlechtweg, ein  Ding-ansich  in irgendeiner Gestalt nicht geben könne, da ja auch die  Dinge  und das  Seiende  nur einen Sinn haben, wenn menschliche Individuen vorhanden sind, welche die Dinge wahrnehmen oder denken. Während nun aber der Sophist - wenigstens als Theoretiker - hierbei stehen bleibt, kommt es uns gerade darauf an, zwischen den verschiedenen wahrnehmenden und denkenden menschlichen Individuen Wertunterschiede zu machen. Wie wir in der menschlichen Gesellschaft neben Rechtschaffenen, Edlen und Arbeitsamen auch Schelme, Schälke, Marder und Hyänen und neben den Gesunden und Kräftigen auch Kranke und Schwächlinge antreffen: so treffen wir im besonderen hier eine Auswahl zwischen den  Erfahrungen  überhaupt, welche die Menschen machen. Wir setzen ein menschliches Individuum voraus, welches das Gattungsmäßige mit erhöhter Spannung, mit mehr Innigkeit und Gewalt durchlebt, und mit größerem und lebendigerem Geist anschaut und gestaltet, als dem mäßigen Durchschnitt entspricht. Dieses Individuum, dessen Aussagen wir uns anschließen, wird nun nicht mehr einfach und unterschiedslos von  Erfahrung  sprechen. Nicht nur die Träume, die blinden und willkürlichen Phantasien, auch die vereinzelten, zufälligen und vorübergehenden Wahrnehmungen und unfaßbaren Einfälle werden wir von den regelmäßig wiederkehrenden Begebenheiten, von der festen Erde und dem zuverlässigen Himmel, von den ausgeprägten Charakteren und Typen überhaupt, und endlich von den sinnvollen Gedanken und Werken unserer Mitmenschen unterscheiden; und fortan nur noch von einer zusammenhängenden und daher gesellschaftlichen theoretischen oder praktischen Erfahrung reden. Nicht als ob nicht jedes beliebige Erlebnis in einem rein psychologischen Sinn eine  Erfahrung  wäre oder doch sein könnte, aber da es uns nur auf diejenige Erfahrung ankommt, welche geeignet ist, unseren wissenschaftlichen Standpunkt des Empiriokritizismus zu kennzeichnen, so interessiert uns teils lange nicht alle Erfahrung, teils werden wir allen Grund haben die illusionäre und individuell-zufällige  Erfahrung,  welche wir gerade vom bleibenden und allgemeinmenschlichen Weltbild ausscheiden wollen, nicht als Erfahrung, sondern als Täuschung, Trug, Schein, Wahn und ähnlich zu bezeichnen.

Dieses Recht, das zusammenhängende und geordnete Weltbild als Erfahrung zu bezeichnen, wird uns nun aber der Metaphysiker aufs lebhafteste bestreiten. Der spekulative Philosoph wird gegen uns die Einrede machen: Gesetzmäßigkeit, Einheitlichkeit und Zusammenhang, das alles verdanken wir nicht der  Erfahrung;  die Erfahrung liefert nur die  Bausteine,  aber der Einklang der Bestandteile und ihr Aufbau zu einem Ganzen stammt anderswoher. Wer - sprich unser Gegner - nicht auf alles  Denken  und jeden  höheren  Gehalt verzichtet, überschreitet eben die Erfahrung, auch wenn er das Gegenteil behauptet:  Erfahrung  und  Denken  sind ja nicht dasselbe; und dennoch bedarf die Wissenschaft ebensosehr und noch viel mehr des Denkens als der Erfahrung. Das  Wissen  in seiner höchsten Form strebt überall danach, sich von der bloßen  Tatsächlichkeit  der Beobachtung und vom Experiment unabhängig zu machen und zur reinen  Deduktion,  der Gewißheit und  Notwendigkeit,  durchzudringen. Jedoch nicht nur der Höhepunkt der Wissenschaft läßt im Sinne des spekulationsbedürftigen Denkers die Erfahrung weit hinter sich, sondern schon den  wahren  Anfang allen Wissens denkt er sich teils durch allgemeine, von der Erfahrung nicht bloß unabhängige, sondern durch sie überhaupt nicht zu begründende und zu erweisende  Postulate  beglaubigt; und denselben  höheren, nichtsinnlichen  Charakter weist er allgemein den hypothetischen Vorstellungen und ganz besonders seinen metaphysischen  Erklärungen  bei.

Bei oberflächlicher Betrachtung nun möchte es wohl scheinen, nichts als ein eitler Wortstreit trenne den Empiriokritiker vom Metaphysiker; und im Grunde der Seele leben beide Parteien in der schönsten Eintracht. Denn es ist ja offenbar, daß der prinzipielle Empirist, wenn wir von der eigentlichen Metaphysik hier zunächst absehen, all die andern schönen und großen Dinge, welche der höhere Philosoph als  Denken, Vernunft  und dgl. von der  Erfahrung  unterscheidet, mit zur Erfahrung, wie er sie versteht, rechnet. Wenn wir jedoch die Gründe beachten, welche uns veranlassen, das gesamte natürliche und geistige, menschliche und außermenschliche  Sein  als Erfahrung zu bezeichnen, und hiermit das Verhalten des Metaphysikers vergleichen: dann werden wir sofort die unversöhnliche Schärfe des Gegensatzes verspüren.

Wir nämlich bekennen uns zu folgenden Sätzen:
    1. Alles  Geistige  ist nichts anderes als ein Spiegel und gemilderter Abglanz des Wahrgenommenen; gleichviel, ob wir uns in mehr anschaulicher und phantasiemäßiger Weise ein einst unmittelbar Erlebtes lebendig vergegenwärtigen, oder auf mehr abstrakt-begrifflichem Weg vieles Einzelne und zerstreut Erfahrene zur Einheit zusammenfassen.

    2. Alles Wahrgenommene ist ein  Sinnliches  und befaßt teils die mitmenschlichen (animalischen) und außermenschlichen Körper (Umgebung im weitesten Sinne) mit ihren konkreten Eigenschaften, Zuständen und Änderungen; teils fällt es mit Wohl und Wehe, mit den Stimmungen und Leidenschaften zusammen, welche Menschen und Tiere erfüllen und sich in Miene und Bewegung ausprägen.

    3.  Sein  und  Denken  decken sich vollständig und auf allen Punkten mit dem Wahrgenommenen und mit den Gedanken und Vorstellungen, welche sich auf Wahrgenommenes beziehen.

    4. Da wir nun herkömmlicherweise alles, was wir wahrnehmen, in erster Linie als Erfahrung bezeichnen; und da andererseits unsere früheren Sätze alle Phantasien und Gedanken mit dem Wahrgenommenen und Sinnlichen wesensgleich setzen, so ist insofern folglich alles Sein und alles Wissen Erfahrung.

    5. Es gibt kein anderes, als das sinnlich und spezifisch menschlich bedingte Wissen. Und zwar bildet die menschliche Erfahrung nicht etwa nur eine sogenannte  Grenze  des  Wissens  im Sinne der Gewißheit, sondern unsere menschliche Erfahrung ist vielmehr eine unbedingt letzte Tatsache; der Weisheit Anfang und ihr Ende in umfassendster Bedeutung. Denn auch alles bloße Meinen und Vermuten, alles  Glauben, Ahnen  und  Postulieren  reicht in Wahrheit nicht über die Erfahrung hinaus; und alle gegenteiligen philosophischen Behauptungen sind Ausfluß des Selbstbetrugs und eines geschichtlich geheiligten Wahns.
Gegen diesen letzten, abschließenden, alle früheren Bestimmungen umfassenden Satz müssen alle echten Metaphysiker, so verfeindet sie im übrigen unter sich selbst sein möchten, die tiefste Abneigung empfinden. Denn so widerstreitend ihre Meinungen über das  Geistige  und  Höhere,  über das  Sein  und seine  Erkennbarkeit  sich zeigen; und wie schwankend jede einzelne Ansicht an sich selbst erscheint - in einem Punkt finden sie sich alle zusammen: daß nämlich das  Denken  und das  Denknotwendige  etwas prinzipiell Anderes und Höherwertiges als das  Sinnliche  und Wahrgenommene bedeute und daher in einem so oder anders bestimmten Sinn über die Erfahrung hinausweise. Unsere Kritik jedoch wird zeigen, daß das  metaphysisch Höhere,  die Erfahrung vermeintlich Transzendierende oder auch nur als sogenanntes  Logisches  und eine besondere Funktion Ausübende schlechterdings nichts Positives aufweist, sondern eine schale Negation darstellt und nur dem Motiv entspringt, sich über den Grundcharakter aller Erfahrung hinwegzutäuschen. Was uns die Erfahrung überall, sowohl im Verkehr mit dem Nebenmenschen als auch im Hinblick auf Erde, Luft, Meer und Himmel deutlich offenbart, ist die Tatsache, daß nichts von allem, was wir wahrnehmen oder nach Analogie des Wahrgenommenen ersinnen können, einen unvergänglichen Bestand hat und  ewig  dauert.

Alles Große und Kleine, alles Hohe und Niedere, alles Herrliche und Erhabene, alles Süße, alles Lichte, alles Schreckliche, alles Täuschende und alle Wahrheit, das Schwerlastende, das Peinliche, das Veraltete, Windige und Wurmstichige, das Gesunde, Kraftvolle und Fruchtbare, das alles erscheint eines Tages, es wird und wächst, es wechselt und schwankt, es beharrt eine kürzere oder längere Dauer in relativ unveränderter Gestalt und kehrt fort und fort wieder. Nun jedoch verschwindet es, oft plötzlich und unversehens wie es auf den Schauplatz getreten, manchmal langsam mit zäher Widerstandskraft. Bald durch unabsehbare Zeiten wie am ersten Tag schwebend, bald in schmerzlich verblassender Pracht abwelkend, immer aber auf Nimmerwiedersehen.

Die Art nun, wie der Mensch sich mit dem Wandel und Wechsel abfindet, macht ihn entweder zum Empiriokritiker - schlicht und einfach zu reden, zum rein natürlichen Menschen, oder zum offenen oder versteckten Metaphysiker oder Jenseitsmenschen. Wer Werden und Vergehen nur schwer erträgt, wer davor flieht, wer sehnsüchtig die Arme nach einem Unveränderlichen im  absoluten  Sinn, nach dem  Unvergänglichen  und  Unendlichen  oder schlechtweg dem  Absoluten  ausstreckt: ein solcher glaubt durch grundsätzliche Verleugnung der Erfahrung ein prinzipiell Höheres als Erfahrung erreichen zu können. Da ein derartig widerspruchsvolles Beginnen keinen sachlichen Gründen, sondern nur einem zufälligen Motiv entspringt, so bezeichnen wir das geschilderte Verhalten als Transzendieren, und das entsprechende dazu führende Motiv als  transzendentes Motiv.  Und zum Metaphysiker nun machen wir jeden, der in irgendeiner, wenn auch vielleicht nur sehr abgeschwächten Weise noch sich vom transzendenten Motiv in seinem Denken oder Handeln bestimmen läßt.

Wer aber mit uns ohne transzendentes Motiv, und d. h. in positiver und sachlicher Weise, sich mit der Erfahrung abfindet, hat auch Werden und Untergang als notwendige Bestandteile unserer Erfahrung aufzuzeigen, und hat deutlich zu machen, daß ohne Veränderung und Ableben überhaupt kein Leben stattfindet. Dies nun wollen wir dadurch versuchen, daß wir die Grundbestandteile der Erfahrung als Momente des  Zeitinhaltes  betrachten. Wir werden finden, daß die Zeit zwar  Dauer  voraussetzt, welche man ins Unermeßliche ausdehnen kann, neben der Dauer aber ebenso sehr ein Vorübergehen und Nichtwiederkehren in sich schließt, welches sich zuletzt über alle ihre Inhaltsbestandteile erstreckt. Wir werden weiter sehen, daß die Transzendenz wirklich in nichts anderem besteht, als in der  Aufhebung  (Negation) der  Zeit.  Und da nun, was wir  Zeit  nennen, wie sich zeigen wird, in Wahrheit die Gesamtheit der Erfahrung bedeutet, von demjenigen Gesichtspunkt aus betrachtet, der sie im Mittelpunkt erfaßt und für sie daher gerade besonders charakteristisch ist: so liegt in der Aufhebung der Zeit nichts als eine Negation der Erfahrung.


II. Die Bestandteile der Erfahrung
als Momente des Zeitinhaltes

Wenn wir von der Zeit reden, so geschieht dies in dem vollen Sinn, daß wir eine Gegenwart unmittelbar und wirklich erleben, eine Vergangenheit erlebt haben, und eine Zukunft als Vorstellung oder Erwartung in uns tragen. Nicht immer ist es dies, was die  Zeit  bedeutet. Oft meinen wir damit nur den Maßstab der Zeitmessung, welcher immer durch eine Raumstrecke angedeutet wird. Und bekannt ist ferner, daß oft, wie z. B. sogar bei gewissen hervorragenden Denkern des Altertums, das Zeitmaß mit der Zeit verwechselt und die große Weltenuhr, die Bewegung am Himmel, zur Zeit selbst gemacht wird. Wir möchten nun nicht nur vor dieser Verwechslung warnen, sondern überdies bemerken, daß wir auf die philosophische Spekulation über Zeit und Raum gar nicht eingehen und sie kaum mit einer Silbe berühren werden. Der spekulative Philosoph spricht über unseren Gegenstand bald wie von einem geheimnisvollen Kaleidsokop, bald wie von einer unsichtbaren Perlenschnur, woran die  Erscheinungen  aufgerollt sind; und endlich macht er das Zeitliche zu einem unendlichen Nichts. Immer aber hat man das Gefühl: der Philosoph rede mehr im Traum, als daß er mit Klarheit und Sicherheit einen faßbaren Gedanken sich und andern vergegenwärtige. Es ist daher das Beste, wir halten uns ganz an unsere Frage: inwiefern die Zeiterfahrung mit der Erfahrung überhaupt zusammenfällt.

Daß unsere Erfahrung einerseits ein so wohlgeordnetes festes Gefüge bildet, und daß wir andererseits etwas in ihr erleben, dies hängt von zwei Umständen an: der relativen Unveränderlichkeit gewisser Bestandteile des Vorhandenen und einem fortwährenden Wechsel gewisser anderer Inhalte, welche wir vorfinden. Und zwar haben wir die Unveränderlichkeit so zu verstehen, daß gewisse Bestandteile fort und fort wiederkehren. Und den Wechsel müssen wir uns in dem durchgreifenden Sinn denken, daß vom Wahrgenommenen fortwährend einzelnes verschwindet und als solches nicht wiederkehrt, sondern nur im Gedächtnis noch fortlebt; und daß anderes eine Reihe bildet, deren Glieder uns in ununterbrochener Folge ein zum erstenmal Wahrgenommenes entdecken lassen. Es ist hierbei keineswegs vorausgesetzt und würde auch schwer nachzuweisen sein, daß das Gleichförmige und das Veränderliche im angedeuteten Sinn sich an jedem einzelnen Punkt der Erfahrung zeigen müsse. Wohl aber müssen wir annehmen, die Erfahrung zeigen müsse. Wohl aber müssen wir annehmen, die Erfahrung im Großen sei ein aus dem Gleichförmigen und Veränderlichen im festgesetzten Sinn Zusammengesetztes; daraus innig ineinander Verwobenes und zur Einheit Zusammengeschlossenes, weil in dieser Durchdringung der Gesamtbestand unserer Erfahrung besteht, wie wir ihn durch Betrachtung der Zeiterfahrung veranschaulichen wollen. Blicken wir nämlich auf unsere konkrete Erfahrung der uns umgebenden Körperwelt, auf uns selbst und unsere Mitmenschen, so finden wir, daß das überall Gegenwärtige, welches uns in der gleichförmigen Bewegung am Himmel den Maßstab zur Zeitmessung liefert, in besonders charakteristischer Weise als  Erde, Wasser, Luft  und  Himmel  angeschaut wird; und daß andererseits das Vergangene und das Künftige in ebenso deutlicher Weise sich im Menschen ausprägt, insofern er einerseits als Individuum geboren wird, sich entwickelt und stirbt, und insofern er andererseits als Mitglied der Gesellschaft, der wechselnden und wechselvollen  Geschichte  angehört. Die Zeit in vollem Sinn, wie wir sie erleben, mit ihren charakteristischen  Abschnitten: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft  ist denn auch in der Tat nichts anderes, als die Einheit, die Zusammengehörigkeit und das Bezogensein der konstanten, überall gegenwärtigen, uns umgebenden Körperwelt und der sich so oder anders auslebenden, fast nur in Vergangenheit und Zukunft schwebenden menschlichen Individuen. Und dies besagt: wir können von der Zeit nicht anders reden, als daß wir in ihr ein als vergangen oder künftig Bezeichnetes auf ein überall Gegenwärtiges, elches wir zum Zeitmaß wählen, beziehen, und so die Gesamterfahrung in ihre natürlichen und zusammengehörigen Abschnitte teilen. Wir können von einer sogenannten  reinen  Zeit ohne den zugehörigen, einerseits  dauernde  (gegenwärtigen) und andererseits  ver fließenden und  zufließenden (vergangenen und künftigen) Zeit inhalt  schlechterdings gar nicht, auch nicht einmal in  Gedanken  reden. Wenn wir dies dennoch tun und die  reine  Zeit in den Mund nehmen, so ist es nur eine Ungenauigkeit und bedeutet so viel als reine  Gegenwart diese allerdings können wir abstracto für sich festhalten und sie auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. Dies geschieht, so oft wir die Zeit messen; denn wir messen immer nur das Dauernde und d. h. das  Gegenwärtige,  nie das Vergangene und das Künftige als solches. Wohl aber müssen wir die Gegenwart stets auf Vergangenheit und Zukunft beziehen, sonst würde unseren Händen mit den Abschnitten der Zeit auch sie selbst entfallen; und daher eben kommt es, daß, inwiefern wir auch Vergangenes und Künftiges messen und überhaupt  er messen: wir insofern beides wie ein Gegenwärtiges betrachten. Sage ich den Eintritt und die Dauer einer Sonnen- oder Mondfinsternis voraus, dann muß ich, soll meine Voraussage zutreffen, die betreffende Zukunft wie einen Bestandteil eines überall Gegenwärtigen kennen, und sie von diesem letzteren nur insofern unterscheiden, als das Ereignis zur Zeit der Aussage noch ein Gedachtes ist und erst später ein Wahrgenommenes wird. In derselben Weise können wir einen größeren oder kleineren Zeitraum der vergangenen Menschheitsgeschichte nur dann betrachten, wenn wir ihn in die Sphäre der Gegenwart erheben und durch die Periodeneinteilung die Schwelle der Vergangenheit und Zukunft andeuten. Das Vergangene und Künftige selbst, d. h. irgendeine Erfahrung, sofern uns gerade daran liegt, sie als vergangen oder künftig zu bezeichnen, bildet immer nur den fernen, dämmernden Horizont beim Übergang von Tag in Nacht oder umgekehrt. Aber wie wir kein optisches Phänomen und keinen sichtbaren irdischen Gegenstand ohne Schatten und ohne Schatten werfenden Körper kennen, so gehört auch notwendig jener Übergang zu unserer Erfahrung überhaupt. Ja, unsere Erfahrung selbst ist eigentlich nichts als ein solcher Übergang und Vorübergang. Denn mag immerhin der Tag unserer Erfahrung, d. h. das Dauernde, überall Gegenwärtige und Gleichförmige derselben, verglichen mit ihrem Tagesanbruch und Abendwerden den weitgedehnten Vordergrund des großen Schauspiels darstellen, in welches uns unsere Welt einen kurzen Blick gestattet, dennoch sind wir auf allen Seiten von den bald stärkeren, bald leiseren Schatten der Götterdämmerung umflossen; schon darum, weil der Menschenwelt, ohne Beziehung auf welche die  uns umgebende  Körperwelt keinen Sinn hat, ihre Tage gezählt sind. Nun wird wohl der metaphysisch gesinnte Philosoph gerade an diesem Punkt sein Staunen ausdrücken und sagen: ist es nicht ungeheuerlich, das  Nichts  zum  Wesen  der Welt zu machen, und nötigt uns nicht offenbar die zerfließende und sich selbst aufreibende  Endlichkeit  zu einem  Absoluten,  wenn auch nur in  Gedanken,  vorzudringen? Wir aber antworten: das  Nichts  kommt ganz auf Rechnung des Metaphysikers; die Götterdämmerung, wovon wir reden, ist ja gar nicht das  Nichts,  sondern ein Teil unserer Gedankenwelt. Wir erfahren ja auch an uns selbst den Tod nicht; und dennoch reden wir nicht nur davon, sondern sind vollkommen davon überzeugt, daß wir dereinst fallen und untergehen werden. Wenn also der absolute Philosoph sich nur selbst recht versteht, dann muß er mit seiner logischen Entrüstung über unseren Standpunkt der  Endlichkeit  und  Relativität  ganz zurückhalten. Nicht die Logik unseres Standpunktes, sondern die Tatsache der allgemeinen Hinfälligkeit ist es, welche dem Metaphysiker so sehr zusetzt, daß er sogar kein Bedenken trägt, sich über allgemeine und unvermeidliche Tatsachen zu entrüsten.

Und wenn es nur der eigentliche Metaphysiker wäre, der sich auf seine Weise mit dem Absoluten tröstet, dann würden wir hierüber weiter keine Worte verlieren; denn dann wäre der Standpunkt reiner Erfahrung hinlänglich gesichert. Da indessen das transzendente Motiv viel weiter reicht und sich hinter einer Reihe scheinbar rein tatsächlicher und logischer Argumente verbirgt, so müssen wir uns hierauf einlassen und unseren vielleicht etwas paradoxen Hauptsatz, daß alles  Denken  und alles  Sein  die Erfahrung des sterblichen Menschen nirgends überschreitet, gegen jene Scheingründe in das geeignete Licht setzen.

Um mit den logischen Einwänden zu beginnen, so könnte man sich auf die  Unendlichkeit  von Raum und Zeit berufen, um zu beweisen, daß eben doch das  Denken  die Erfahrung überschreite.

Aber was bedeutet denn diese Unendlichkeit von Raum und Zeit? Wenn wir das Wort beibehalten wollen, so kann es unmöglich etwas anderes, als eine  konstante Erfahrung  bezeichnen. Dies entspricht nun vollkommen unserem Standpunkt, wonach die Zeit ja gar nichts, als die in ihre  natürlichen Abschnitte  (Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft) eingeteilt  Erfahrung selbst  ist; diese ihrerseits aber ist dann ja freilich als überall Gegenwärtiges und Einziges etwas Beständiges. Die raum-zeitliche Unendlichkeit im gewöhnlichen Sinn allerdings hat einen ganz anderen Ursprung. Danach soll die Zeit unendlich sein, weil sie unendlich  ausgedehnt  sein muß; da ja sonst an einem Punkt die Zeit aufhören würde, was doch unmöglich ist. Aber hier in dieser unendlichen Ausdehnung hört die Zeit nicht erst an einem bestimmten Punkte, sondern schon von vornherein auf. Denn die Zeit als Ausgedehntes ist ja nichts als eine lahme Metapher für eine Röhre, eine Linie, oder für ich weiß nicht was. Was also scheinbar evident ein Überschreiten der Erfahrung durch die  Denknotwendigkeit  der unendlichen Zeit beweist, gerade das bestätigt aufs deutlichste unsere Ansicht, daß das  Denken  die Erfahrung in diesem hierfür besonders angerufenen Fall ganz besonders  nicht  überschreitet. Die Zeit ist ja eben nur deswegen  unendlich,  nicht weil das Denken die Erfahrung  über schreitet, sondern weil es überall in unserer menschlichen  Zeiterfahrung  schreitet.

Ganz genau wie mit der Unendlichkeit der Zeit, verhält es sich mit derjenigen des Raumes. Da wird wohl durch den Anblick des Himmelsgewölbes verleitet werden und uns gewöhnt haben, den Raum wie ein Gefäß und wie eine Umfassungsmauer zu denken, und da wir andererseits, man mag in Gedanken so weit fortschreiten als man will, uns natürlich immer  im  Raum befinden, weil der Raum als allgemeine Eigenschaft der Körperwelt zur überall gegenwärtigen Erfahrung gehört: so entspringen hieraus jene bekannten, sich gleichmäßig auf Raum und Zeit beziehenden dialektischen Schwierigkeiten, welche die Frage hervorrufen: sind Raum und Zeit  endlich  oder  unendlich?  Diese Schwierigkeiten verschwinden wie auf einen Schlag, sobald man sich nur entschließen will, sich jener Phantasmen zu entschlagen, welche den Raum wie ein zweites leeres Ding oder Hohlmaß neben anderen Dingen als störende Zutat in die überall konstante und allgegenwärtige Raumerfahrung einschieben. Nach Zertrümmerung dieser phantastischen Kammern und Kugelschalen bleibt dann allein die einzige, allgemeine Raumererfahrung übrig, die nun wieder in derselben einzig zulässigen Weise als  unendlich  bezeichnet werden kann, wie wir das bei der Zeit gesehen haben.

Aus diesen Gründen, weil nämlich der Raum als allgemeine Eigenschaft der Körperwelt in analogem Sinne wie die Zeit, und d. h., wie wir sagen müssen, wie die Erfahrung als Ganzes selbst ein überall Vorhandenes ist, hat man ein Recht, wie wir das gewöhnlich so machen, Zeit und Raum zu parallelisieren und miteinander zu nennen; zumal wenn wir bedenken, daß die gleichförmige Bewegung die Zeit mißt, und wir, solange wir uns nur praktisch verhalten, weil es sehr bequem ist, ohne Gefahr das Zeitmaß mit der Zeit selbst verwechseln dürfen. Weiter jedoch in dieser Raum- und Zeitparallele dürfen wir nicht mehr gehen. Insbesondere haben wir stets im Auge zu behalten, daß wir die Zeit nicht wie den Raum als reine Eigenschaft in abstracto für sich festhalten können.

Ohne diese Einsicht ist die Gefahr vorhanden, daß wir arg in die Irre schweifen und uns durch jene, mit einer gewissen verführerischen Scheintiefe behafteten Spekulationen einer  reinen Zeitanschauung,  wie sie durch eine starke Autorität begünstig werden, zu Schlüssen oder gar Theorien, die wir hier nur leise andeuten können, verleiten lasen, das Einfachste und Klarste unverständlich und widerspruchsvoll zu machen.

Wenn wir hiermit die falsche Unendlichkeit verscheucht haben, so ist dies, wie wir doch noch ausdrücklich bemerken müssen, dadurch geschehen, daß wir die Frage: ob Raum und Zeit  endlich  oder  unendlich  seien, zu den falsch gestellten Fragen rechnen. So wenig es einen Sinn hat, von einer rechten oder linken Seite der Welt, oder einem Oben oder Unten des Himmels und der Erde zu sprechen; ebensowenig hat das  endlich  oder  unendlich  hinsichtlich Raum und Zeit die mindeste Bedeutung. Wenn wir von ethischen, von ästhetischen und optischen, an ihrem besonderen Ort ohne weiteres verständlichen Unendlichkeits-Analogien absehen, so gehört überall sonst das Unendliche zu den mathematischen Größenbeziehungen. Und dem gebildeten Leser brauchen wir nicht besonders auseinanderzusetzen, was das  unendlich  in der Mathematik zu bedeuten hat. Uns genügt, nur kurz darauf hinzuweisen, daß das mathematische  unendlich  zum  endlich  durchaus keinen Gegensatz bildet; sondern nichts ist, als die allgemeinste mathematische Größenvorstellung, welche ihren Ursprung der konstanten Bewegungsänderung verdankt. Weil nun aber die Größenvorstellung nur entweder auf Zahlen, auf konkrete Vorgänge und Einzelbeziehungen überhaupt Anwendung findet, so kann schlechterdings nicht gefragt werden, ob Raum und Zeit endlich oder unendlich seien. Sie sind ja eben weder konkrete Vorgänge, noch abstrakte Zahlgrößen, noch Einzelbeziehungen überhaupt, sondern allgemeinste Erfahrungen, welche die spezifisch-mathematische Größenvorstellung nur als Teilerfahrung in sich schließen.

Vermutlich noch mehr als diese rein logischen Unendlichkeitsargumente werden für Viele die Zustände und Begebenheiten vor der Menschwerdung gegen unseren anthropologischen Standpunkt zu sprechen scheinen. Wie - wird man fragen - reimt sich die Bedingtheit allen  Sein und  Denken durch den sterblichen Menschen mit der Tatsache, daß lange  bevor  es einen Menschen gegeben hat, schon die verschiedensten Tiergeschlechter, und weiter zurück unser Sonnensystem und beliebig viele ähnliche Welten existiert haben? - Haben wir also hier in diesen weit zurückliegenden Weltzuständen nicht etwas vor uns, was offenbar unsere Erfahrung überschreitet? und wie kann da noch unser Hauptsatz: daß die Erfahrung des sterblichen Menschen alles sei und bedeute, worüber wir denken können, bestehen? Wir betrachten die Frage zunächst nur mit Rücksicht auf jene Zeiträume, in welchen es überhaupt noch gar keine Tiergeschlechter gab oder nicht mehr geben wird; und behalten uns für die vormenschlichen Tiergeschlechter eine besondere Besprechung vor.

Wie also hat man die Aussage zu verstehen: es gab eine Zeit oder wird eine solche geben, wo noch kein organisches Leben existierte oder wo ein solches nicht mehr existieren wird? Da die Frage selbst nicht ohne die  Zeit  gestellt werden kann, so macht uns unsere Antwort umso geringere Schwierigkeiten und ist umso rascher fertig, als wir ja hierauf indirekt schon durch unsere Betrachtung der allgemeinen Zeiterfahrung geantwortet haben.  Es gab eine Zeit oder wird eine Zeit geben  kann ja doch, wenn, wie hier offenbar geschieht, Vergangenheit und Zukunft gerade von der Gegenwart besonders unterschieden werden, nichts anderes besagen, als daß wir uns in  Gedanken  in Vergangenheit oder Zukunft versetzen. Die vergangene oder künftige Beschaffenheit der Körperwelt, sofern sie wirklich als solche angesehen wird, und nicht mehr oder noch nicht in die Gegenwart hereinragt, ist daher einfach ein Bestandteil unserer Gedankenwelt und wird ganz nach Analogie unserer gegenwärtigen (wahrgenommenen), uns umgebenden Körperwelt gedacht, nur insofern modifiziert, als die Bestandteile und Zustände derselben in einer solchen Kombination - und quantitativ so gesteigert oder gemindert angenommen werden, daß, wie in unserer Gegenwart an bestimmten Punkten - um auf unseren speziellen Fall zu kommen - infolge der lebenzerstörenden oder solches überhaupt nicht zulassenden Naturbedingungen (Umgebungsbeschaffenheiten) keine Organismen gedeihen können: so in sehr ferneliegenden Zeiten diese lebensfeindlichen Bedingungen auf die gesamte Körperwelt  - in Gedanken -  ausgedehnt werden. Es würde schon ein Abweg sein und der menschlichen Erfahrung widerstreiten, wenn man hinsichtlich der urweltlichen, organismenlosen Zustände sagte: wir müssen uns denken, daß, wenn wir unter diesen Umständen wahrnehmen könnten, dann würden wir jene dunkle Welt erfahren, auf welcher sich kein Leben bewegt. Da wir jedoch bei den beschriebenen Umständen nicht wahrnehmen können und dennoch etwas erfahren, so erfahren wir das eben als  Gedanke  und nie anders als in Form des Gedankens. Und daraus folgt, daß die Körperwelt  ohne  uns keine Körperwelt mehr, und daher sogleich wieder  mit  uns ist, nämlich zu unserer Gedankenwelt gehört und als solche überhaupt und in jeder Beziehung nur in Betracht kommt.

Und wie verhält es sich mit dem zweiten Teil unserer Frage? Da es eine vormenschliche Tierwelt gibt, wie steht es mit der Welt  vor  uns in diesem Fall? Müssen wir diesmal nicht nur eine Welt  vor  uns, sondern überdies eine solche  ohne  uns annehmen?

Allerdings! Aber wo bleibt dann die menschliche Erfahrung? Sie verschwindet auch jetzt nicht, sondern zieht sich nur zusammen. Denn die Tierwelt - und wäre es der geringste Wurm - müssen wir, wenn wir, wie es hier geschieht, das tierische Leben nur im Zusammenhang der allgemeinsten Erfahrung betrachten, einfach als  primitive Mitmenschen  ansehen. Die vormenschliche Tierwelt samt ihrer Erfahrung ist daher in keinem anderen Sinne ohne uns, wie unsere Jugend ohne unser Alter, und wie überhaupt die früheren Epochen der Menschheit ohne die späteren sind.

Die, wie wir nun sagen können,  a potiori  [hauptsächlich - wp] so bezeichnete menschliche Erfahrung bleibt daher auch jetzt vollkommen gewahrt. Denn davon abgesehen, daß, wie wir alsbald zeigen werden, die tierischen Individuen doch insofern immer mit uns und nie ohne uns sind, als in ihnen die menschliche Erfahrung teils im Keim liegt, teils wie ein vergröbertes und vereinfachtes Stück derselben sich ausnimmt; so können wir uns die Sache auch dadurch vereinfachen, daß wir auf unserem allgemeinen Standpunkte alle Tiergeschlechter, den Menschen mit eingeschlossen, wie eine einzige große Familie, deren Glieder alle gleichzeitig leben, betrachten dürfen. Die biologische Entwicklung ist ja nicht so zu denken wie ein vorbeiwandelnder Festzug, dessen einzelne Gestalten an uns vorübergehen und verschwinden, sondern so, daß auch die ältesten und niedersten Geschlechter noch zu unserer Gegenwart gehören, so daß die heutige Tierwelt die Gesamtheit aller Tiergeschlechter überhaupt darstellt. Nun sind zwar manche Arten und Gattungen ausgestorben und unsere Gegenwart kann mit der Vergangenheit in dieser Hinsicht durch keine Zwischenglieder (wie wir wenigstens hier annehmen wollen) mehr verbunden werden. Da wir es hier jedoch nicht mit Entwicklungsgeschichte zu tun und uns daher auch mit keiner zeitlichen Bestimmung der Aufeinanderfolge der einzelnen Glieder einzulassen haben, so dürfen wir insofern in der Tat auf unserem Standpunkt die  aus gestorbenen  Geschlechter  einfach wie  verstorbene Einzel individuen ein, und derselben, sich fort und fort geschlechtlich ergänzenden Familie betrachten.

Und nun zurück zu unserer Behauptung, daß die Tierreihe als primitive Menschenwelt aufzufassen sei. Da wir die Tiere als  beseelte  Wesen bezeichnen, was in unserem Sinne nur heißen kann, daß wir auch den Tieren eine wie immer geartete, aber doch jedenfalls eine  Erfahrung  zuschreiben, welche sie von ihrem Standpunkt aus machen, wie wir dies vom unsrigen aus tun; so haben wir also nur die Frage zu stellen, wie wir uns die denkbar primitivste Erfahrung, um sie, von unserem spezifisch menschlichen Standpunkt aus, wenn auch nur als matten Gedankenschein, eben doch noch als  Erfahrung  zu kennzeichnen, wohl zu denken haben. Um uns die denkbar primitivste Erfahrung zu vergegenwärtigen, brauchen wir jedoch nur das allgemeine Schema aller Erfahrung mit jenen besonderen Modifikationen zu vereinigen, welche wir einerseits als einfachste Tierkörper, und andererseits als Wahrnehmungen und Nach-Wahrnehmungen bezeichnen, wie wir sie als unsere  eigenen  Elementarerfahrung durch unsere Hauptsätze [siehe oben] für unseren vorliegenden Zweck als genügend gekennzeichnet ansehen, dann würden die Erfordernisse beider Bedingungen (des allgemeinen Schemas und der besonderen Modifikationen) etwa in folgender Art erfüllt sein. Wir denken uns eine einfache Zelle als selbständigen Tierkörper; diesen Tierkörper setzen wir mi anderen seinesgleichen einer umgebenden Körperwelt aus und nehmen nun weiter an, daß infolge einer bestimmten Zustands- und Änderungsbeziehung zwischen Umgebung und Tierkörper die Individuen sich bewegen, Druck-, Temperatur-, Tast-, Spannungs- und Erschlaffungswahrnehmungen machen, sich behaglich oder unbehaglich fühlen, und so eine Zeitlang fortleben und zuletzt absterben. Dies nun dürfte annähnern das denkbar Äußerste an Leben und Erfahrungsregung sein, um überhaupt noch von Erfahrung und  Seelenleben  reden zu können.

Und wenn es im einzelnen Fall ja gewiß unmöglich ist, die Grenze zwischen Tier, Pflanze und anorganischem Umgebungsbestandteil zu ziehen, so dürfen wir doch keinesfalls jene Grenze ignorieren oder verwischen, und ihm Interesse eines falsch verstandenen sogenannten  Monismus  mit den Allerwelts-Anthropomorphisten und Hylozoisten in die Planzen und Steine eine Seelenbevölkerung einquartieren. Wer die primitive  Tierseele  nicht mehr als Erfahrung, welche  wir  machen (wenn auch nur als Gedanke machen), beschreiben und kennzeichnen kann, und bei  unbewußten Geistern  und schlafenden  Monade  wohnt: der mag nur gleich aus der ganzen Welt ein Wintermärchen machen, welches von niemand geträumt wird. Die Gnomen, Elfen, Zwerge und Riesen schlafen schon längst, und da unsere animistischen Philosophen die uns umgebende Welt ja ganz vergessen haben, so müßte es doch lauter umgebungslose,  reine  Geister geben, die ja nun nicht einmal mehr eine Wand hätten, um ihre Träume zu projizieren. Wenn jemand sagte, das Hemd, welches ich auf meinem Leib trage, besteht nicht aus Leinwand und nicht aus Wolle, sondern aus unsichtbar kleinen Hemdchen, und der Stoff des Hemdes ist nur die Hemd- Erscheinung,  so würde man diesen ergötzlichen Unsinn allgemein belachen. Aber weshalb lacht man nicht, wenn der Philosophe dem  Allgeist   (Urwillen, Ursubstand)  seine Opfer bringt, und eine Schar von Gläubigen ihm wie einem Priester gehorcht? Rein logisch haben wir in beiden Fällen dasselbe Unding, das erstemal ein ganz gewöhnliches Hemd, welches aber gleichzeitig ganz und gar kein Hemd ist; das zweitemal ein gewöhnliches menschliches Individuum; aber ohne Fleisch und Blut, ohne Antlitz, ohne Gebärden, ohne Teilnahme und ohne Verkehr mit seinesgleichen. Und dennoch haben wir recht, wenn wir diesmal nicht lachen, sondern höchstens nur lächeln. Die uns allen anhaftende Beschränktheit ist grenzenlos und so groß, daß das transzendente Motiv auch über reiche und überall sonst starke Geister Macht gewinnt und ihnen im  Allgeist,  im  Ding ansich im zeitlosen  göttlichen Denken,  gleichwie in der  Materie  und im  weltschaffenden Äther  das  Unendlich  und  Absolute,  das  Unvergängliche  und  Ewige  vorspiegelt.

Danach hat man wohl ein Recht, zwischen den Menschen und das primitiv-tierische Individuum ein beliebig abgestuftes animalisches Zwischenreich einzuschalten - aber dabei bleibt es: ein anders als ein animalisches und ein animalisch bedingtes  Seelenleben  kommt als unfaßbarer und daher überhaupt bedeutungsloser Einfall gar nicht in Frage. Denn, auch wenn wir von den Göttern und unsterblichen Heroen ganz absehen und uns im Rahmen der allgemeinen Erfahrung menschenähnliche Wesen denken wollten, wie sie etwa auf anderen Sternen wohnen, so gelangen wir um keinen Schritt weiter als wir schon sind. Diese als zwar hypothetischen, aber keineswegs transzendenten, sondern nur außerirdischen Individuen müßten entweder wie wir selbst Menschen sein, oder wie unsere Mitgeschöpfe Tiere darstellen. Menschen und Tiere aber haben wir hier schon genug und brauchen nicht noch alle Welträume damit anzufüllen. Wären es jedoch Sterbliche, aber so etwas wie Übermenschen, dann würden wir ja schon von ihrem erdrückt und müßten uns nur Glück wünschen, wenn unsere Astronomen von Spuren dieser Art unbehelligt und uns am Leben erhalten blieben. Schon hier auf Erden übrigens machen wir die Erfahrung, daß zwischen höher und niedriger begabten Individuen nur ausnahmsweise ein intimer und zugleich dauernder Verkehr stattfindet. Ein solcher Verkehr nämlich setzt immer mindestens eine gewisse Kongenialität voraus. Was bleibt ohne sie anderes übrig, als jene uns durch das Leben teils aufgenötigten, teils vielleicht durch einen freundlichen Zufall gewährten Beziehungen des Alltags und des Augenblicks. Wenn also schon hier auf Erden ein beglückendes Verhältnis stets eine starke Geistesverwandtschaft voraussetzt, und andererseits immer in Gefahr schwebt, durch Eifersucht getrübt zu werden: was für ein Interesse können wir haben, die Gestirne mit Wesen zu bevölkern, welche, auch wenn sie existieren, uns doch so fremdartig bleiben müßten, daß wir sie nicht einmal bewundern und nachahmen könnten?

So einleuchtend und einfach die Einsicht ist, daß wir außer unserer menschlichen Erfahrung (im weitesten Sinne) schlechterdings nichts, auch nicht einmal in  Gedanken,  zu suchen haben und auch tatsächlich nichts finden: so führt philosophische Sensationslust doch immer wieder dazu, die tollsten Märchen aufzutischen, und von pseudosphärischen und mehr oder weniger als dreidimensionalen möglichen (!) Räumen und Raumanschauungen (!) einen Unterhaltungsgegenstand zu machen und mathematische Theorien darüber zu entwickeln. Hierbei jedoch halten wir uns nicht auf: das krasse Mißverständnis ist leicht durchschaubar, und gehört derselben Pseudoproblematik an, wie wir sie *oben in unserer Besprechung der Unendlichkeiten kennen gelernt haben. Derartige bedenkliche Wahnideen sind nur aus dem Drang begreiflich, in unserer Welt nur den Theatervorhang zu sehen, wohinter die  tiefsten,  die unfaßbarsten Geheimnisse verborgen liegen, wovon man doch schon in unserem  jetzigen  Zustand wenigstens eine  Ahnung  haben möchte. Und wenn hinter dem berühmten  Geist,  dessen Kraft zu einer die ganze Welt umfassenden mathematischen Intelligenz gesteigert gedacht wird, etwa mehr - wofür einige Wahrscheinlichkeit spricht - gesucht werden möchte, als eine absichtlich übertriebene Fiktion, um eine nur phantasiemäßig mögliche naturwissenschaftliche Perspektive zu eröffnen: dann würde auch dieser Geist zum Inventar jener Kinderphantasien gehören, welche weltmeilengroße Riesen durch die Bäume wandern lassen. Nun haben sich ja auch geistreiche Schriftsteller solcher Szenen bedient, um ihre Einfälle zu einem spaßhaften Mummenschanz zu gestalten. Aber vom Humor der Sache versteht der Metaphysiker gewöhnlich nicht viel. Ja, wir hegen sogar die Vermutung, daß er sein Gebiet der Denkbarkeiten für unermeßlich und daher alles für  möglich  hält. Und was ist nicht alles  denkbar?  und wenn ja, doch auch  möglich?  Denn wer möchte das Gegenteil  beweisen?  (!) Dies ist tatsächlich die Art, wie der Metaphysiker seine kritische Vorsicht an den Tag legt.

Unsere philosophische Generation ist von einem obskuren  Agnostizismus  angesteckt, den sie als höchste philosophische Weisheit auskramt; sie scheut jede Tageshelle des Gedankens und scheint sogar überhaupt, infolge ihres metaphysisch verkrümmten Gehirns, es verlernt zu haben, gerade in die Welt zu sehen. Wie wir dergleichen Einreden zurückzuweisen hätten, dies liegt ja eigentlich indirekt alles schon in unserem Bisherigen ausgesprochen; und insofern könnten wir es einfach dem denkenden Leser überlassen, unsere Antwort selbst vollständig zu machen. Doch wollen wir nichts, was zur Deutlichkeit beiträgt, versäumen. Später werden wir dieses Reich der ungewissen  Ahnung  hinlänglich kennen lernen, und weiter bemerklich machen, was das viele  Unbekannte  zu bedeuten hat, welches wir zwar nicht  wissen  könnten, aber doch auch nicht zu leugnen berechtigt wären, und zur  Erklärung  sogar besonders nötig hätten.

Hier möchten wir noch einen Punkt erledigen, der am besten an diese Stelle gesetzt wird; er betrifft die schon viel und von berühmter Seite gesetzt wird; er betrifft die schon viel und von berühmter Seite verhandelte, aber immer noch nicht erschöpfte Frage: ob das Problem der eigentlichen Menschwerdung im Sinne der Entstehung von  Empfindung  und  Bewußtsein  ein lösbares sei, oder uns ein  ewiges Rätsel  aufbürde.

Die berühmte Rede "über die Grenze des Naturerkennens" hat sich bekanntlich im letzteren Sinn entschieden, ein Ergebnis, welches von metaphysischer Seite weidlich und mit Behagen dahin ausgebeutet wird, daß nun, nachdem uns der Verstand still steht, der  Glaube  geborgen sei. Ohne weiter auf die angedeutete Rede Rücksicht zu nehmen, können wir die Frage leicht dahin beantworten, daß wir bei der Entstehung des  Bewußtseins,  da sie ja in die  Zeit  fällt, immer selbst zugegen sind; entweder in Gedanken oder als Zeugen, welche die Sache, nämlich den Vorgang einer Geburt wahrnehmen. Ob wir uns in Gedanken zurückversetzen und im  Geiste  zusehen, wie aus einem anorganischen Umgebungsbestandteil durch  Urzeugung  ein primitiver organischer, sei es pflanzlicher oder tierischer Körper mit den entsprechenden, im einzelnen Fall also auch  seelischen  Funktionen, wie der Funke aus der Asche hervorspringt; oder ob wir denselben Vorgang als Ablösung eines Bestandteils des mütterlichen Organismus zum selbständigen Individuum in unserer gegenwärtigen Welt wahrnehmen, dies kommt  prinzipiell  auf eins hinaus.

Wo liegt hier das Rätsel? Da schließlich immer und überall die ultima ratio eine  Tatsache  ist, die eben einfach ist, weil sie ist, so hat es keinen Sinn, die Entstehung des  Bewußtseins  (Zeugung und Geburt) schlechtweg als  Rätsel  zu bezeichnen. Denn in diesem allgemeinen Sinn müßte man dann überhaupt alles, alles Wahrgenommene und alles Gedachte so benennen. Auch wenn der spekulative Philosoph sich bei der Erfahrung nicht beruhigt, und über sie hinweg eine  Erklärung  aufstellt oder eine  Ahnung  kund tut: so ist dies ein Ereignis wie sonst ein anderes, und die Folge davon, daß es in unserer Welt zufällig Metaphysiker gibt. Ein  Rätsel  kann sich also niemals auf die Erfahrung als solche, sondern nur auf bestimmte Forderungen beziehen, die wir von ihr zwar gerne erfüllt haben möchten, welche sie uns jedoch verweigert. Und nun sehen wir sogleich ein, daß wir insbesondere von  unlösbaren  Rätseln in einem zweifachen, wohl von einander zu unterscheidendem Sinn reden können. Bezeichnen wir ein wissenschaftliches  Rätsel  dann als gelöst, wenn es uns gelingt, eine relativ zusammengesetzte und zum Teil inkohärente und lückenhafte Gruppe oder Kette von Tatsachen durch erweiterte Kenntnis in relativ einfache Bestandteile oder Vorgänge zu zerlegen, und durch Einschiebung einer Reihe von Zwischengliedern als ein Ganzes zu übersehen, welches, als annähernd unveränderlich und mit kontinuierlichen Übergängen seiner Änderungsreihen oder ineinandergreifender Einzelgruppen versehen, den Charakter des  Gesetzes  oder des natürlichen  Systems  aufweist, dann bietet uns in diesem Sinn die Erfahrung freilich ungelöste  Rätsel  genug. Deswegen aber doch nocht nicht unlösbare Rätsel; vielmehr besteht ja gerade die wissenschaftliche Arbeit darin, das Einzelmaterial der Erfahrung in immer weiterem Umfang durch methodische Hilfsmittel und glückliche Einfälle zusammenhängend und einheitlich zu gestalten. Aber auch angenommen und sogar bereitwillig zugegeben, daß in diesem Sinne unlösbare (konstante) Rätsel bestehen bleiben, welche wir uns noch dadurch als besonders unauflösbar und undurchdringlich denken wollen, daß sich die verschiedenen zur Lösung versuchten Theorien teils unter sich, teils mit den Tatsachen in Widerspruch verwickeln; so daß zuletzt nichts anderes übrig bleibt, als einfach bei gewissen vereinzelten Tatsachen, die sich nun einmal keinem geschlossenen Kreis und keinem abgerundeten System fügen, stehen zu bleiben, dann ist mit der Einsicht in diese  Notwendigkeit  das  Rätselhafte  eigentlich verschwunden. Denn von einem Rätsel können wir nur solange sprechen, als wir an seine Lösung glauben. Haben wir die gegenteilige Überzeugung gewonnen, so daß an die Stelle eines bisherigen Rätsels eine einfache Tatsache tritt, dann ist auch das Rätsel selbst verschwunden. Denn Tatsachen als solche ein Rätsel zu nennen, wissen wir, hat (vom Psychologischen abgesehen) gar keinen Sinn. Das Gesagte findet speziell auch Anwendung auf unser Problem der Entstehung des  Bewußtseins  in Form der Urzeugung, worauf wir uns hier allein beschränken wollen. Sollte es sich zeigen, daß die hier in Frage kommenden Vorgänge nicht nur zur Zeit noch unbekannt sind, sondern uns für immer verschlossen bleiben, weil dieselben - wie wir einmal annehmen wollen - einer vorweltlichen Ereignisreihe angehören, die sich in unserer Gegenwart überhaupt und unter keinen Umständen mehr wiederholt, nun, dann kann man entweder sich damit begnügen zu sagen: Daß überhaupt Urzeugung stattgefunden hat, ist gewiß; wie es aber dabei im besonderen hergegangen ist, weiß ich nicht, kann ich nicht wissen und bekümmere mich daher auch nicht weiter darum. Oder man kann andererseits eine bleibende, durch keine Wahrnehmung mehr zu verifizierende Hypothese darüber aufstellen, und das Problem und das Rätsel in dieser einzig noch möglichen Form zu lösen suchen und ja auch gewiß lösen. In diesem eben erörterten Sinn von  Grenzen  des  Wissens  und  Erkennens  zu reden, hat also weiter nichts auf sich; führt zu keinen prinzipiellen Schwierigkeiten und nichts weniger als über die Erfahrung hinaus.

Wenn jedoch der Metaphysiker die Frage nach der Entstehung des  Bewußtseins  erhebt, dann allerdings kann es leicht geschehen, daß die unlösbaren Rätsel nicht verschwinden wollen und immer wiederkehren. Wer sich mit dem Verfasser der "Grenzen des Naturerkennens" zu der Äußerung bekennt: es bleibt vollkommen und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von  Atomen  nicht durchaus gleichgültig sein sollte, wie sie liegen und wie sie sich bewegen, sondern aus ihrem Zusammenwirken vielmehr  Empfindung  und  Ich-Bewußtsein  hervorgehen - wer so spricht, muß wohl aus einem doppelten Grund bei einem unlösbaren Rätsel stehen bleiben. Zunächst nämlich ist es schon das  Wesen  von  Kraft  und  Stoff,  was hier  ewig unbegreiflich  bleibt. Weshalb dieses  Wesen  jedoch unbegreiflich bleibt, sagt uns der spekulative Naturphilosoph nicht. Und warum nicht? Weil niemand als er selbst diese Unbegreiflichkeit zustande gebracht hat; sie ist eben gar nichts anderes, als jener potenzierte, die Erfahrung in der Wurzel zerstörende und sie bis auf den letzten Rest auslöschende Widerspruch, daß die uns umgebende Körperwelt  "Kraft und Stoff"  gar nicht wirkliche, d. h. von uns wahrgenommene Körper samt allen ihren konkreten Eigenschaften und Änderungen sind, sondern ein  Ewiges  und  Unendliches,  in transzendenter Ferne Schwebendes, uns  Unerreichbares,  in keiner  Zeit- und Raumerfahrung,  die ja das konkrete menschliche Individuum voraussetzt, Existierendes, und im  Absoluten  und d. h. im Nichts Verschwimmendes und Zerrinnendes. Zwischen dem Absoluten und dem Nichts einerseits und unserer Raum- und Zeiterfahrung andererseits nun gähnt freilich eine Leere und ist eine Kluft aufgetan, die nur durch ein Wunder ausgefüllt werden kann. Und was für ein Wunder: das Wunder aller Wunder, welches selbst die leisesten Erfahrungsanalogien getilgt hat. Wie Gott die Welt aus  Nichts  gemacht hat, so müssen die ewigen  Kraft  und  Stoff  unsere Erfahrungen aus dem Nichts hervorbringen.

Denn  Kraft  und  Stoff,  welche hervorbringen, sind ja selbst das Nichts. Davon abgesehen, daß die Verwunderung darüber sehr spaßhaft ist, weshalb die  Atome,  welchen es doch gleichgültig sein sollte, ob sie oder anders liegen, eine Welt hervorbringen, begreifen wir also sehr wohl, daß dieses Rätsel ewig unlösbar bleibt. Wer nicht mehr, wie der Naivgläubige, sich beim Wunder beruhigt oder sogar danach ein Verlangen trägt; wer mit anderen Worten nicht mehr wundergläubig ist, aber sich selbst, ohne daß er davon Einsicht hat, infolge unserer Erziehung und unserer tausendfachen Abhängigkeit von der geschichtlichen Überlieferung zum Wundermann macht: ein solcher allerdings wird als Mann der Erfahrung und Wissenschaft den unerträglichen Zwiespalt stark genug fühlen, und sich von diesem peinlichen Gefühl, so gut es geht, dadurch zu befreien suchen, daß er ein bleibendes und unlösbares Rätsel öffentlich und als Autorität aussagt und so die Lastm welche ihn allein allzusehr bedrückt, auf uns alle abwältzt.

Indessen, auch wenn wir  Kraft  und  Stoff  in unserem Sinne, also einfach als wahrgenommene Körperwelt voraussetzen, so könnte vielleicht jemand in der Entstehung des  Bewußtseins  doch noch ein dem eben besprochenen ganz analoges Rätsel entdecken. Wir selbst nämlich haben die  Umgebung  samt ihren Änderungen und Eigenschaften, von den Wahrnehmungen, den Gefühlen und Gedanken als  psychischen  Inhalten unterschieden, und wollten keineswegs die Grenze zwischen Umgebungsbestandteilen und animalischen Individuen verwischt wissen. Dies zugegeben, könnte nun jemand fragen: wie sollen wir uns - um wieder die Urzeugung als geeignetes Beispiel vorzunehmen - hier den Übergang von der Umgebung in ein animalisches Individuum denken? Springt bei diesem Übergang, im ersten Aufleuchten des  Bewußtseins,  nicht etwas durchaus neues und ganz und gar anderes als die Umgebung selbst, aus dieser letzteren hervor? Die Mechanik der Bewegung, auch so wie wir sie  wahrnehmen  und  denken,  ist doch nicht dasselbe wie ein  Gedanke  selbst, wie ein  Gefühl  und eine  Willensregung;  und auch nicht dasselbe wie ein wahrgenommener Körper selbst, insofern derselbe gerade ein von uns Wahrgenommenes und daher eine Wahrnehmung und als solche ein  psychischer  Inhalt ist.

Was auf unserem Standpunkt die Unterscheidung der psychischen Bestandteile und Änderungen von den physischen Dingen und Eigenschaften und den mechanischen Bewegungen allein noch bedeuten kann, das werden wir in einem anderen Zusammenhang noch schärfer hervorheben. Jetzt kommt es uns darauf an, deutlich zu machen, daß der Übergang eines Umgebungsbestandteils in ein animalisches  Individuum  - im Sinne der  Entstehung  dieses Individuums - keineswegs als Übergang einer sogenannten physischen Änderung in eine  psychische  Regung zu denken ist. Vielmehr ist der Übergang von der Umgebung in das - wie wir voraussetzen - zum erstenmal entstehend animalische Individuum als ein durchgängig physischer und d. h. als ein solcher zu denken, welcher zwischen gewissen Umgebungsbestandteilen und dem neu sich bildenden selbständigen Tier körper  stattfindet. Aber woher denn das  Psychische?  Nun, gar nirgends woher - so wenig wie auch das Physische irgendwoher kommt; sondern zusammen mit dem Psychischen als unsere überall gegenwärtige Erfahrung immer schon da ist. Unsere Erfahrung ist ja ein Zusammengesetztes; und zwar zusammengesetzt teils aus sogenannten  physischen  Bestandteilen und Änderungen, teils aus sogenannten  psychischen  Inhalten und Zustandsreihen; und endlich ist sie ein Mischprodukt aus  physischen  und  psychischen  Bestandteilen. Solche aus beiderlei  (physischen  und  psychischen)  Bestandteilen zusammengesetzte Mischprodukte sind nun gerade die animalischen Individuen. Nehmen wir nun noch an, daß gewisse  physische  Beschaffenheiten immer nur dann vorhanden sind, dieselben  psychischen  Eigenschaften jene  physischen  Beziehungen und Zustände voraussetzen, so daß ganz allgemein jede Beziehung von  physischen  und  psychischen  Vorgängen immer ein Verhältnis der  Gleichzeitigkeit  in sich schließt: dann wissen wir auch die Antwort auf die Frage, wie man sich das Entstehen des  Bewußtseins  zu denken habe. Diese Antwort lautet: haben wir einen reinen Umgebungsbestandteil, d. h. ein rein aus  physischen  Beschaffenheiten Zusammengesetztes, so ist nun auch weiterhin eine solche Änderung dieses Bestandteils denkbar, daß als  unzertrennlicher  Begleiter dieser neuen  physischen  Beschaffenheit eine  psychische  Reihe  (Bewußtsein)  eintritt. Diese allgemeine Denkarbeit stimmt mit den Grundzügen unserer Erfahrung vollkommen überein. So gut nämlich, wie bei einer gewissen Temperatur eine Flamme auflodert, bei einem bestimmten elektrischen Spannungszustand ein Funke überspringt, bei Annäherung oder Durchdringung chemischer Agentien eine ganz neue Verbindung mit ganz anderen Eigenschaften entsteht, oder auch eine Explosion die nächste Umgebung erschüttert: weshalb sollte nicht ebensowohl derselbe Funke, dieselbe Explosion und dieselbe Licht- und Farbenerscheinung als  Psychisches,  d. h. als  Gedanke,  als  Vorstellung als  Wahrnehmung als  Gefühl,  als  Affekt  und  Wollung,  als  Leidenschaft  und  Stimmung  zutage treten, sobald ihr unzertrennlicher Begleiter vorhanden ist? Denn auch alle  physischen  einfacheren Vorgänge oder zusammengesetzteren Erscheinungen ereignen sich ja nur, nachdem die entsprechenden Bedingungen und Vorbedingungen als  unzertrennliche Begleiter  eingetreten sind.

Wen dieser Aufschluß immer noch nicht befriedigt, weil er vielleicht nicht  begreifen  kann, wie so das  Psychische  ein unzertrennlicher Begleiter gewisser  physischer  Bedingungen sein soll, dem wäre zunächst zu erwidern: wer hierin Schwierigkeiten findet, müßte wohl auch in der allgemeinen Tatsache, daß es überhaupt Veränderungen, daß es ein Mannigfaltiges und vielfach Zusammengesetztes gibt, etwas Anstößiges entdecken. Und allerdings trifft man ja häufig und gerade auch in naturwissenschaftlichen Kreisen die zum Axiom versteinerte Ansicht ausgebildet, daß wir nur das  Mechanische  und höchstens noch diejenigen Änderungen  begreifen,  welche das einfache Schema der Bewegung durch Mitteilung und Übertragung befolgen.

Welch ein aller natürlichen und lebendigen Erfahrung widersprechender und Hohn sprechender  Rationalismus  und Scholastizismus in diesem Dogma steckt, werden wir später sehen. An dieser Stelle begnügen wir uns mit der vorläufigen Bemerkung, daß wohl die Kühe, wenn sie philosophierten, gewiß nur das Grüne und das Gras  begreiflich  finden - und daher die Welt als eine einzige große Weidefläche zum allein  wahren Sein  machen würden.
LITERATUR - Rudolf Willy, Der Empiriokritizismus als einzig wissenschaftlicher Standpunkt, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 20, Leipzig 1920