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LEOPOLD von WIESE
Von Lebensidealen
[V o r t r a g]

"Das griechische Grundwort  Idee  bezeichnet zuerst eine Gesichtswahrnehmung: durch die Fenster der Augen und die Dinge in unser Inneres, werden Bilder, die wir behalten auch wenn wir die Augen schließen. Aber bei diesem Sein in uns gewinnen die Dinge einen geistigen Charakter: aus verschiedenen Anschauungen bildet sich ein Allgemeines, dem die konkreten Dinge der Wirklichkeit nur wie Arten einer Gattung und nur unvollkommen entsprechen."

"Es liegt keineswegs im Wesen dessen, was wir Lebensideal nennen, ein absolut Jenseitiges zu bleiben. Es kommt auf die innere Wahrheit desselben an; und von der kann eine so weite Abirrung stattfinden, daß das Ideal zur Karikatur und uns zum Götzenbild wird, das sich gleichwohl unwiderstehlich der Seele bemächtigt, was die Sprache mit dem Wort  Idol  bezeichnet."

"Das wahrhaft Tragische ist immer der Kampf für eine Idee, die sich im Menschen zu einem Ideal ausbildet, die größer ist als er, und für die ein Opfer zu werden kein Unglück im gewöhnlichen Sinne ist, sondern Sieg und Verklärung der Idee."

"Es geschieht nicht selten, daß Jünglinge, wenn sie die Hindernisse der harten Wirklichkeit empfinden, ohne Erkenntnis der Irrtümer ihres jugendlichen Idealismus ins Gegenteil umschlagen, und wie aus Trotz zu einem Zynismus übergehen, der sich von allem Idealen abwendet. Wie oft versinken sie nach kurzem Traum höherer Lebensziele unwiederbringlich in die niedrigste Prosa gemeiner Lebensbeschränkt- heit, da kaum eine Asche von dem rasch verloderten Feuer zurückbleibt. Sie vermehren die große Zahl derer, die von eine ewig Wahren und Guten nichts hören wollen und nur an das glauben, was greifbar da und nützlich ist."



Hochgeehrte Versammlung! (1)

Man hat mich gefragt, ob es zeitgemäß sei, jetzt von Idealen zu reden; jetzt, das heißt in einer Zeit, die sich wie keine zuvor dem Realismus ergeben hat, die lauter Gegenwart ist, und in ihrer Hast um greifliche Dinge in Gefahr gerät, den Sinn für die Güter der unsichtbaren Welt zu verlieren. Wenn es so ist, so liegt gerade darin eine Rechtfertigung in der Wahl des Themas. Auch bleiben ja bei allem sonstigen Wechsel die Natur und die tiefsten Bedürfnisse der menschlichen Seele, mag man sie auch auf eine Weile zum Schweigen bringen, dennoch dieselben. Das Wort  Ideal  hat darum für Viele noch immer die Wirkung, wie wenn die Seele beschwingt würde, sich in höhere Regionen zu erheben; und bringt nicht Vielen auch diese Zeit des Kirchenjahrs wieder Stille und Sammlung, hinaufzugehen gen Jerusalem, der hochgebauten Stadt? Ist es ferner bei allem Streit der Gegensätze und bei aller Not des Werdens dennoch eine große Zeit, worin wir leben, so ist sie es nur durch die großen Aufgaben, die Gott zu einer Prüfung der Geister in sie gelegt hat; und die Erkenntnis solcher Aufgaben ist nichts anderes als die Anschauung großer Ideen, die auf Verwirklichung warten. So fehlt es nicht an Anlaß, das Gebiet des ideellen Lebens zu betreten. Ich glaube, wir legen einen guten Grund zur Verständigung, wenn wir uns zuerst im Sprachgebrauch orientieren.

Es wäre eine interessante und für die Geschichte der Geisteskultur fruchtbare Untersuchung,  wann  die jetzt gebräuchlichen Fremdwörter zur Bezeichnung geistiger und sittlicher Verhältnisse in allgemeinen Gebrauch gekommen, und dan die Stelle welcher deutscher Wörter sie getreten sind. Das Wort  Ideal  ist bei uns etwa vor hundert Jahren erst heimisch geworden. Bei LESSING und KANT findet es sich schon, ohne daß es sich mit einem vorhandenen deutschen völlig deckt. Es war eine Bereicherung der Sprache, aber für welchen Begriff? Für unseren Zweck genügt darüber Folgendes:

Das griechische Grundwort  Idee  bezeichnet zuerst eine Gesichtswahrnehmung: durch die Fenster der Augen und die Dinge in unser Inneres, werden Bilder, die wir behalten auch wenn wir die Augen schließen. Aber bei diesem Sein in uns gewinnen die Dinge einen geistigen Charakter: aus verschiedenen Anschauungen bildet sich ein Allgemeines, dem die konkreten Dinge der Wirklichkeit nur wie Arten einer Gattung und nur unvollkommen entsprechen. So konnten die Philosophen die Idee, also nun das mit dem geistigen Auge Erblickte, als das eigentlich Wesenhafte der Dinge bezeichnen, als das Urbild, wovon das wirklich Existierende nur ein Abbild, oft ein Zerrbild ist. Ist so die Idee der höchste allgemeine Begriff, welchen sich der Verstand von den Dingen bildet, das begriffsmäßig Vollkommene, so ist das  Ideal  die individuell gewordene Idee; individuell sowohl nach der sachlichen wie nach der persönlichen Seite: die reinste schönste Gestalt, welche etwas in unserer Vorstellung und unserem Gemütsleben annimmt. Wir werden später sehen, daß es auch Idealbilder ohne Idee geben kann, die ebendeshalb wertlos sind. Ideen gehören mit Notwendigkeit zum inneren Haushalt der menschlichen Seele, wenn sie sich über das nächste Lebensbedürfnis erheben will; und wie dem leiblichen Daseein, wenn es nicht verkümmern soll, Luft, Licht und Nahrung unentbehrlich sind, so dem geistigen Freiheit, Liebe, Wahrheit, d. h. ein Leben in und für Ideen.

Das was in die Existenz tritt, ist den Bedingungen der zeitlichen Unvollkommenheit unterworfen; aber seine Bestimmung ist doch, daß die Idee in ihm mehr und mehr wirklich wird. Der vorhandene Staat ist nicht der vollkommene; aber alles gesunde Leben in ihm ist ein Streben zur Verwirklichung seiner Idee. Die erscheinenden Dinge unterliegen dem natürlichen Wandel und sind vergänglich; die Ideen haben das wahre Sein und sind unvergänglich; wie die Prinzessin, die Schülerin des PLATO, im  Tasso  ausruft: "ich weiß es, sie sind ewig, denn sie  sind."  Die Sonne strahlt immer in demselben Licht, mag es sich vom reinen Blau des Himmels über die Erde ergießen, oder durch dunkle Wolken gedämpft zu uns kommen. Ebenso hat das Ideal ein himmlisches Dasein, ist ansich und in seiner Vollkommenheit den Zufälligkeiten irdischer Existenz entrückt. In welchen Himmel hast Du geblickt, als Du dieses Angesicht maltest? fragte der Papst den Maler RAPHAEL bei einem Madonnenbild. Aber wie die schöpferische Kunst ein Ideal vergegenwärtigen kann, so liegt es auch keineswegs im Wesen dessen, was wir Lebensideal nennen, ein absolut Jenseitiges zu bleiben. Es kommt auf die innere Wahrheit desselben an; und von der kann eine so weite Abirrung stattfinden, daß das Ideal zur Karikatur und uns zum Götzenbild wird, das sich gleichwohl unwiderstehlich der Seele bemächtigt, was die Sprache mit dem Wort  Idol  bezeichnet.

Daß das Ideale in dieses Lebens engen Raum, daß es in der menschlichen Natur Platz hat, ist ihr Eigenstes und macht ihren besonderen Charakter aus, diese wunderbare Vereinigung des Zeitlichen und Ewigen in uns, eine Quelle höchster Beseligung und tiefsten Elends. Aufrecht, das Haupt nach oben gerichtet, stellt der Mensch die Hoheit und den Adel seiner Natur vor allen Geschöpfen dar; seine Seele kann sich in den Himmel emporheben: aber ein Gesetz der Schwere und der Trägheit führt sie zurück und hält sie am Boden fest: wie zwischen zwei Magneten, die sich ihn streitig machen und ihn wechselnd auf und nieder ziehen. Vor diesem Rätsel unserer Doppelnatur stehen wir bei wiedererwachendem Bewußtsein davon haben wir zuerst immer die Empfindung eines tiefen Mißverhältnisses. Die Gewohnheit des Lebens beruhigt sich bei der Tatsache, daß es so ist; aber der Rückschluß vom Vorhandenen auf ein Verlorenes ist in allen Zeitaltern zum Ahnen oder Glauben geworden, daß es einst anders war mit unserem Geschlecht, daß im Anfang ein Vollkommeneres war, ein Zustand, aus dem eine eigene Entartung den Menschen ins Exil, ins Elend getrieben hat und nach dem sie nicht aufhören sich zurückzusehnen. Bestimmter, tiefer und anschaulicher bezeichnet es die Offenbarung als die Folge eines tiefen, durch Sünde verschuldeten Falles aus dem Himmel einer beseligenden Gemeinschaft. Der Fall war ein Zerschellen, und die Zerstörung eine doppelte: aus der Einheit mit Gott, und aus der Einheit mit uns selbst sind wir gefallen: siehe da die tiefste Ursache unserer irdischen Unseligkeit.

Das ganze Leben nun des Einzelnen und der Völker hat den Zug zurück zu dieser verlorenen Einheit: Herstellung, Befreiung, Wiederbringung: das Verlangen danach ist der innerste Trieb der Seele; es ist das allgemeine Seufzen der Kreatur; und so hat PASCAL den Menschen einen entthronten König genannt, der seine Herkunft und seine Krone nicht vergessen kann. Das höchste und beste Tun des Menschen, mag es sich auf ihn selbst, mag es sich auf andere und seine Umgebung beziehen, welchen anderen Ursprung kann es haben als diesen? Derselbe Zug geht durch die Weltgeschichte und durch das beschränkte Leben des Einzelnen. Ein Sollen in uns, weit hinausgehend über Wollen und Tun, hört nicht auf, uns an diese Lebensaufgabe zu mahnen. Auch bei den bedeutendsten Menschen, was ist die Summe ihres Lebens, als daß sie gerungen haben, sich selbst von irdischen Banden frei zu machen, den Ideen des Guten, Wahren Raum zu schaffen in der Welt, und dadurch auch auf Andere befreiend einzuwirken. Welch ein Anblick, diese Aufeinanderfolge der Geschlechter! Sie wachsen auf und steigen ins Grab, ein anderes füllt die Stelle, und so geht es fort - und jeder der Unzähligen hatte ein Herz voller Wünsche und Begehren nach dem, was der irdischen Unvollkommenheit gegenüber als das Bessere, Befriedigung Gebende erschien, so groß der Irrtum dabei sein mochte. Alle Poesie, der Ton der Klage und der Freude, er gilt einem höheren Glück, einer tieferen Befriedigung, als die Alltäglichkeit des Lebens sie darbietet.

Das allem Idealen Gemeinsame ist hiernach der Gegensatz des natürlich gegebenen Realen, Wirklichen; doch so, daß diesem dabei immer der Begriff der Armut und Unvollkommenheit anhaftet. Aber dieses Gefühl einer Ungenüge ist nur der eine Faktor; ihm gesellt sich sofort der andere zu, die schöpferischen, uns über die irdische Beschränktheit hinaustragenden Kräfte in uns; die geschäftigste von ihnen ist die Phantasie: am Unvollkommenen weckt und nährt sie den Sinn für das Vollkommenere; sie zieht uns aus dem unbefriedigenden Nahen in die räumliche und zeitliche Ferne, in eine Region des Reinen, Freien, Mühelosen: es ist der entgegengesetzte Pol des Heimwehs.

Der Kontrast des natürlich Wirklichen und des Idealen ist da: er fällt mit mehr oder weniger Bewußtsein davon in jedes menschliche Dasein. Uns kommt es darauf an, zu betrachten, wie er aufgenommen wird, ob es eine unausgefüllte Kluft bleibt, der Gegensatz seine Schärfe und Härte behält, oder ob irgendwie ein Ausgleich und eine Versöhnung gefunden und möglich ist. Dies ist das eigentliche Ziel unserer Betrachtung.

Es wird gut sein, sie nicht sofort auf das rein Persönliche zu beschränken, was für mich oder dich ein Ideal ist zu haben, zu sein, zu erlangen. Lassen Sie uns vielmehr, um das Einzelleben besser zu verstehen, den Blick zuerst ein wenig dahin erweitern, wie der Idealismus im Leben der Völker erscheint. Es ist kein Umweg, den wir damit betreten. Wir werden sehen, welch verschiedene Befriedigung der ideale Trieb sucht, und wie sich im Allgemeinen das persönlich Besondere spiegelt. Vollends den Hintergrund unserer deutschen Volksart, wie sie in unserer Geschichte und Literatur erscheint, können wir nicht entbehren. Wieviele Lebensideale haben sich bei uns z. B. an SCHILLER und an JEAN PAUL entzündet, und diese sind doch, wie jeder nationale Schriftsteller, allein aus der Totalität des Geistes und der Natur seines Volkes verständlich. Wir wollen für unseren Zweck nur auf zwei Völker blicken, bei denen ideale Bestrebungen stärker und reiner als bei anderen hervorgetreten sind: die Griechen und die Deutschen; sie sind darin geistig verwandt, jene die Träger des antiken Idealismus, diese des christlichen.

Das hellenische Volk erscheint uns in seinen ersten Zeiten wie in der Jugend des Menschengeschlechts stehend: jene innere Entzweiung wird noch wenig empfunden. Was wir Sentimentalität nennen, dafür haben sie keinen Namen, weil sie die Sache nicht kennen. Wir sehen ein glückliches und befriedigtes Naturdasein; und wie sie selbst Natur waren, so war das Ziel ihres idealen Strebens und Schaffens auch nichts als eine veredelte Natur. Damit befinden wir uns auf dem Gebiet der Kunst. Sie gibt schöpferisch dem Idealen ein reales Dasein. Die Griechen kannten keine Idee, die ihnen nicht sogleich eine plastische Gestalt angenommen hätte. Ein Wort des Sinnes, wie es bei LESSING vorkommt: RAPHAEL würde derselbe Maler gewesen sein, auch wenn er ohne Hände geboren wäre, hätte kein Grieche sagen können. Ihr ganzes Leben war von diesem künstlerischen Idealismus durchdrungen, und ihre wie in einem unerschöpflichen Naturtrieb hervorquellende Kunstübung ist die Bewunderung aller Zeiten geblieben. Körperliche und geistige Schönheit oder Vollkommenheit zu unterscheiden lag dem hellenischen Sinn fern: das Schöne ist ihnen immer auch das Gute, und so sprachen sie auch ihr Gottesbewußtsein in dieser Form einer menschlich idealisierten Natur aus. Die Dichter und die Künstler schufen ihnen ihre Götter, und so glaubten sie mehr an die Kunst als an die Götter. Aber bei ihren großen Dichtern, bei AESCHYLUS oder SOPHOKLES spricht sich doch schon ein Verlangen, ein Ringen nach dem Glauben an einen heiligen, gerechten Gott aus; und ihre Tragödien sind zugleich sehr geeignet darzutun, wie Ideale der höchste poetische Gehalt des Menschengeistes sind. Während ihre Brüder in einem blutigen Hader gegeneinander stehen, hat  Antigone  ein Ideal geschwisterlicher Liebe im Herzen und geht dafür in den Tod. So ist das wahrhaft Tragische immer der Kampf für eine Idee, die sich im Menschen zu einem Ideal ausbildet, die größer ist als er, und für die ein Opfer zu werden kein Unglück im gewöhnlichen Sinne ist, sondern Sieg und Verklärung der Idee.

Außer den Dichtern sind es besonders die Philosophen, welche den Gedanken an eine höhere Idealwelt Ausdruck geben. Ich nennen nur einen, dessen Name auch dem weniger Kundigen wie ein Symbol des Idealen klingt, PLATO. Er hat von der Entzweiung der menschlichen Natur eine tiefe Erkenntnis und Empfindung. Dieses irdische Dasein in seiner tausendfachen Gebundenheit vergleich er mit dem Leben in einem unterirdischen Kerker, worin die Gefangenen von Jugend auf angekettet stehen und im Licht, welches durch den Eingang von oben hereinfällt, nur die Schatten der Dinge wahrnehmen, die sich in der oberen Welt bewegen: so halten sie aus Gewohnheit diese Schatten [plato] für die Dinge selbst, und sind, wenn sie aus dem Gefängnis hervortreten, unfähig geworden, mit ihren an das Dunkel gewöhnten Augen das Licht zu ertragen. Kommen sie aber schließlich dazu, die Herrlichkeit der Dinge im reinen Sonnenlicht zu erkennen, und sprechen sie zu ihren früheren Genossen der Kerkerdunkelheit davon als vom Schöneren und Begehrenswerteren, so werden sie von ihnen als Unsinnige verlacht. Wie tief empfunden spricht aus diesem Bild die Klage über das menschliche Los, sich lieber an den Schatten zu weiden, als im Licht der Wahrheit wandeln zu wollen.

Diese helle Erkenntnis nun geht ihm immer auf die Ideen, auf das Gute, Wahre, Schöne  ansich während es, wie es mir und dir  erscheint,  ein vielfach betrübtes Nachbild sein kann. Woher wissen wir aber von diesem wahrhaftigen Sein? PLATO sagt: es ist eine Wiedererinnerung. Vor unserer Geburt, ehe die Seele in den Kerker dieses Leibes eingeschlossen wurde, war sie im Himmel, und lebte ein seliges Dasein mit den Göttern und im Anschauen der reinen Begriffe des Urbildlichen. Durch die Geburt vergaß sie das alles, und begegnen ihr nun in diesem irdischen Dasein Erscheinungen edlerer, höherer Art, so dämmert es ihr auf wie eine Erinnerung an das einst Geschaute; die Flügel fangen an ihr zu wachsen, sich wieder aufzuschwingen woher sie stammt. Die ausgebildetste Gestalt erhalten bei PLATO die Ideen im wunderbaren Bau seines Staatsideals.

Als aber im Altertum die jugendlich sorglose Befriedigung am Natürlichen und an den Phantasiegebilden vor dem denkenden Geist nicht länger Bestand hatte, tat sich eine ungeheure Kluft auf zwischen den idealen Erscheinungen und Wünschen und der Wirklichkeit, und nichts ist da, was sie auszufüllen vermag, nichts, was einen Trost gewährt. Und als sich auch die römische Welt an ihrem Realismus gesättigt hatte, da sind es Stimmen ebenso der düsteren Resignation wie der Verzweiflung, welche auf die Unmöglichkeit hinweisen, den reißenden Strom zwischen den beiden weit getrennten Ufern zu überbrücken. Ein Repräsentant dieser Stimmung ist der ältere PLINIUS, wenn er ausruft:
    "O ein Wesen voller Widersprüche, der Mensch, das unglückseligste aller Geschöpfe; bei der größten Beschränktheit ins Unendliche gehende Wünsche; seine ganze Natur eine Lüge, die größte Armseligkeit mit dem größten Hochmut."
Dies ist ein Selbstzeugnis über den tragischen Ausgang des Altertums.

Und als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn: es kam die Verkündigung eines "Friedens auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen"; und die Christenheit geht ihm alljährlich entgegen mit dem Bekenntnis: "Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem was ewig steht". Gott selbst in seiner Unendlichkeit zu erkennen ist dem ewigen Leben vorbehalten: den huldvollen Menschensohn zu verstehen war schon hier den Menschen möglich. Das Altertum war in allen seinen idealen Vorstellungen nicht über den Menschen hinausgekommen: in  Christo  hatte die Menschheit ein göttliches Vorbild, und in ihm war nun für alles sittliche Leben ein bestimmtes Maß und Gesetz gegeben. Wir werden hinfort darauf zu achten haben, wie dies erkannt und aufgenommen ist.

Das Christentum überbot alles Bisherige an Idealität des Wesens und der Forderungen. Es nimmt uns schon hier in eine Gemeinschaft auf, die nicht von dieser Welt ist und die allmächtige Kraft, die uns darin erhält, der Glaube, ist "eine Zuversicht zu dem, das man nicht sieht", und soll sogar zur Liebe werden zu Einem, der uns zuerst geliebt hat, dem nie gesehenen Freund unserer Seele -, Forderungen, die dem natürlichen Menschen unmöglich erscheinen; und dennoch sind sie es, die die Sehnsucht der Welt zu stillen bestimmt waren, und die sie verwandelt haben.  Christus  selbst, der Allerverachtetste, und dennoch  Gottes Sohn  und der Schönste unter den Menschenkindern; und so bei denen, die ihm angehören: "sie wandeln auf Erden und leben im Himmel".

Der Idealismus des Altertums war teils ästhetisch und philosophisch, teils politisch gewesen: in der christlichen Welt zieht er seine Nahrung aus den Tiefen des Gemüts, und hat vielmehr einen sittlichen und religiösen Charakter.

Die ersten christlichen Jahrhunderte versuchten es, vollständig Ernst zu machen mit dem neuen Lebensprinzip; ebenso das Mittelalter, die am meisten ideal gerichtete Zeit der ganzen Geschichte. Als Grundzug tritt die innige Hingebung des ganzen Daseins an religiöse Ideen hervor. Nur aus dieser Sehnsucht nach oben versteht man die Sprache seiner Poesie, seiner himmelanstrebenden Dome, seiner ganzen Kunst. In ihrer tiefen Innerlichkeit, in dem triumphierenden Bewußtsein, teilzuhaben an einem über das irdische hinausreichenden ewigen Leben, geht die seelenvollere christliche Kunst über alle Wirkungen antiker Plastik hinaus. Derselbe ideale Zug liegt in den großen mittelalterlichen Unternehmungen der Fürsten und Völker, wie in der unbedingten Aufopferung des Einzelnen für heilige Zwecke. Mit dieser vertieften Lebensauffassung mußte aber auch der Kontrast größer werden zwischen dem was  ist  und dem was  sein soll Die Disharmonien, von denen das Leben zerrissen wird, traten viel schroffer und gewaltiger hervor als in der alten Welt, wo mit einfacheren Mitteln lange eine gewisse Ganzheit des Lebens, ein harmonischer Einklang der Kräfte, erreichbar war. Die Bedingungen, dasselbe auf christlichem Boden zu erreichen, waren unendlich schwerer, während die menschliche Natur dieselbe blieb.

Bei den Deutschen war schon von den Römern in der Religion, in ihrer Schätzung der Frauen und in ihrer reineren Sittlichkeit ein idealer Zug wahrgenommen worden. Diese natürliche Innerlichkeit wurde ein bereiter Boden für das Christentum, und erhielt durch dasselbe einen tieferen befruchtenden Inhalt. Das ganze Geistesleben des Volkes ging in diese Richtung mit der vollen Hingebung seiner natürlichen Treue und Liebe ein, und kannte Jahrhunderte hindurch keine höheren Interessen.

So konnte gerade Deutschland das Land der Reformation werden. Aber es kam eine Zeit, wo das Unheil der politischen Zersplitterung des Reichs nicht nur den nationalen Sinn schwächte, sondern auch die Reformation nicht mehr zu ihrem Recht und ihrer Kraft kommen ließ. Das allseitige Bildungsstreben und die ganze geistige Regsamkeit des Volks verlor damit allmählich die sichere Grundlage seiner alten Tatkraft. So wurde ihm sein geistiger Vorzug zur Ursache der Schwäche. Was half es ihm, der Inhaber von Ideen und der Aufsteller von Idealen zu sein, wenn es am Vermögen fehlte, den Gedanken mit der Wirklichkeit zu verbinden? Während es darüber sann, blieb es lange Zeit weit hinter den Völkern zurück, die sich besser auf den Realismus des Lebens verstanden. In dieser Beziehung ist besonders das vorige Jahrhundert lehrreich. Der Wert der alten positiven Grundlagen des deutschen Volkslebens, des nationalen historischen Bodens und des christlichen Glaubens, wurde verkannt. Man machte sich mehr und mehr von beiden los, wie von Schranken, die den freieren Aufschwung hemmten. Es war eine Rückkehr zum Naturalismus der alten Welt.

Die idealen Vorstellungen, mit denen die Zeit sich erfüllte, haben darum alle etwas Abstraktes und sind wie eine Flucht vor der Wirklichkeit. Welche Rolle spielte in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Idee des Weltbürgertums und eines allgemeinen Natur- und Vernunftrechts; ebenso in Religion und Sittlichkeit die Forderung eines weitherzigen unklaren Humanismus. Die Aufklärung setzte die Menschheit an die Stelle der Christenheit, und Naturwahrheit sollte das höchste Gesetz auch für das sittliche Leben sein. Konsequenz entnahm sofort der pädagogische Idealismus der Zeit, an JEAN-JAQUES ROUSSEAU genährt, von daher seine Prinzipien, die Jugend zu reiner Humanität zu erziehen. Aber es ist immer nur der einzelne Mensch für sich, isoliert, nicht wie er sein und leben soll im Dienst einer sittlichen Idee, oder im Zusammenhang der Gemeinschaft mit der Nation, dem Staat, der Kirche. Neben dem edlen menschenfreundlichen Idealisten PESTALOZZI steht auf diesem Gebiet gleich auch eine Karikatur desselben Strebens, BASEDOW und seine Genossen. Je ärmer und enger die Wirklichkeit, desto schrankenloser die Träume und Theorien.

Allgemeiner bekannt ist die gleiche Entwicklung unserer Literatur, die dadurch eine merkwürdige Verschiedenheit von der klassischen Literaturperiode Englands und Frankreichs hat. Nicht auf nationaler Grundlage baute sie an, sondern auf dem Altertum und auf dem Fremdländischen, besonders dem Französischen; gewiß zu einer Bereicherung des deutschen Geistes, aber zugleich zu einer Schwächung seines Grundcharakters und zum Schaden seines nationalen und kirchlichen Lebens. Ich kann es nicht ausführen, wie die Erkenntnis dieser Abirrung vorbereitet wurde nach der einen Seite schon durch LESSING und GOETHE, ebenso durch KLOPSTOCK, selbst einer Herold zündender Ideale: eine tiefergehende Wirkung nach der sittlichen Seite übten sie nicht. Der Idealismus wurde noch mehr durch sie ein Surrogat für ernsten religiösen Lebensgehalt. Welch ein Abmühen z. B. auch beim Philosophen JACOBI, festeren Boden zu gewinnen. Wer seinen  Woldemar  und  Allwil  kennt, weiß, daß es dennoch bei einem Bau in die Luft blieb. Diese Darstellungen erhabener Seelenzustände machen voll, aber nicht satt; und bei aller idealen Hoheit bricht doch die tiefe Bedürftigkeit des sich selbst überlassenen Menschenherzen überall hervor, und der Ausgang ist in Ratlosigkeit und ungelöste Dissonanz.

Von keiner Seite ging aber eine tiefere und verbreitetere Einwirkung auf die Vorstellungen von Lebensidealität aus, insbesondere auch bei der deutschen Jugend, als von SCHILLER. Bei ihm werden allezeit Viele den willkommensten Ausdruck der Freude und des Entzückens an ihren Idealen, sowie des Schmerzes über die Enttäuschung finden, und er selbst wird im Andenken der Nation wie eine ideale Gestalt fortleben; denn er ist sich darin vollkommen gleich geblieben. Sein und GOETHEs Hervortreten hatte viel Ähnliches. Der eine begann mit den  Räubern,  der andere mit  Werther:  in beiden Dichtungen derselbe Sturm und Drang mit dem Vorhandenen zu brechen und das Gesetz reiner Naturwahrheit als einzige Norm aufzurichten; aber bei GOETHE kam es bald zu dem beruhigten Trieb, die objektive Wirklichkeit des Natur- und Menschenlebens in ihrem poetischen Gehalt darzustellen.

SCHILLER wollte in entgegengesetzter Richtung aus einer höheren Sphäre die Poesie herniederleiten in das bedürftige Menschendasein. Bei ihm folge auf die stürmische Schwärmerei des Jünglings in den ersten Dramen, die edlere im  Don Carlos:  der Plan für die Glückseligkeit der Welt ist fertig; aber "das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif, Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden." Wie streng hat SCHILLER selbst in späteren Jahren über die erträumten Freiheitsideal seiner Jugend gerichtet! - Dann seine reiche, schwungvolle Lyrik, Worte des Wahns wie des Glaubens. Ihm selber stand von seinen Gedichten lange keines höher als "Das Ideal und das Leben: "Wollt ihr hoch auf Flügeln schweben, Werft die Angst des Irdischen von euch; Fliehet aus dem engen Leben In des Ideales Reicht." Es ist das Reich der Schönheit, durch das er zur Wahrheit zu gelangen hofft, das Reich, das "ausgestoßen jeden Zeugen menschlicher Bedürftigkeit." Aber schon im nächsten Jahr: "die Ideale sind zerronnen, Die einst das Trunkene Herz geschwellt, - Der rauhen Wirklichkeit zum Raube, Was einst so schön und göttlich war". Gleichwohl wurde bei ihm die lyrische Idealität durch die darauf folgende philosophische nur bekräftigt; sie führte zu einem vollständigen System ästhetischer Erziehung. Aber bei der erkannten Unmöglichkeit, die Ideale in das Leben einzuführen, geht es dennoch aus in den Ton der  Resignation,  für die das so überschriebene Gedicht einen erschütternden Ausdruck hat.

Ein anderer und total verschiedener Repräsentant des damaligen idealistischen Geisteslebens in Deutschland ist JEAN PAUL. Er flüchtet sich aus der dürftigen Wirklichkeit in seine innere Welt, wo immerfort schmerzliche, sehnsüchtige, humoristische und idyllisch-befriedigte Stimmungen miteinander wechseln, und in allem was er poetisch geschaffen hat, sich wiederspiegeln. Er bekennt es selbst:
    "Ich konnte nie mehr als drei Wege auskundschaften glücklich zu werden: der erste, der in die Höhe geht, ist, soweit über das Gewölk des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mir ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie in eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. Der zweite ist, gerade herabzufallen ins Gärtchen, und da sich so einheimisch in eine Furche zunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. Der dritte schließlich, den ich für den schwersten und klügsten halte, ist der, mit den beiden anderen zu wechseln."
Von Versöhnung und Friede ist da nichts zu finden, und kein Mensch hat dies auch bei ihm gefunden. Er charakterisiert sich ganz in dem sentimentalen Ausruf im  Hesperus:  "Der Mensch hat hier 2½ Minuten, eine zum Lächeln, eine zum Seufzen, und eine halbe zum Lieben; denn mitten in dieser Minute stirbt er."

Oder haben dann die  Romantiker  tiefer und nachhaltiger auf eine Läuterung und Stärkung des idealen Lebens der Nation eingewirkt? Auch sie sind vorübergeschwebt wie ein wunderbares, tiefgedachtes Bild. Sie wollten der Dinge Wert und Wesen nur nach ihrem poetischen Gehalt schätzen, und fanden dessen vollauf im Volk und in der Geschichte der Vorzeit. Aber so, abgewandt vom Gegenwärtigen, lebten sie in ferner Vergangenheit, und über die Wirklichkeit liebten sie es sich durch die Gebilde einer idealen Phantasiewelt zu täuschen. So mußte die Sehnsucht nach der blauen Blume unbefriedigt bleiben, und das Element ihrer Weltanschauung wurde darüber zur Ironie, die auf das fruchtlose Bemühen der Idee, im Leben eine Gestalt zu gewinnen, lächelnd herniederblickt.

Da half dem deutschen Volk seine tiefe Demütigung im Anfang dieses Jahrhunderts zu einer Selbsterkenntnis; und nachdem noch die Zeit der Befreiungskriege ein Feuer der Begeisterung für hohe und herrliche Ideale bei Jünglingen und Männern und durch das ganze deutsche Volk hin angefacht, beginnt dann eine Reaktion, mit der deutlichen Absicht, allen unpraktischen Idealismus los zu werden, und das Mißverhältnis zwischen der Bildung und den Aufgaben der Wirklichkeit auszugleichen. Damit sind wir freilich bereits auf dem besten Weg, ins andere Extrem zu geraten.

Wir sind schon arm und unproduktiv geworden in Philosophie und Poesie. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts steht der Philosoph LEIBNIZ mit dem Optimismus seiner  Theodizee,  daß diese Welt gut und ein Werk göttlicher Weisheit ist; und noch im zweiten Dezennium [Jahrzehnt - wp] dieses Jahrhunderts trug die idealistische Weltauffassung FICHTEs viel zum allgemeinen Aufschwung der Gemüter bei. Jetzt macht, wie es scheint, keine philosophische Lehre so viele praktische Eroberungen gerade auch bei jüngeren Männern aller Stände als die SCHOPENHAUERs, mit ihrem Pessimismus, d. h. der Leugnung alles Idealen. Sie fängt an, sich wie ein dunkler Schatten auf das deutsche Gemütsleben zu legen, die trostlose Lehre, daß dieses Leben ein fortgesetzter Betrug, daß es alle Hoffnungen täuscht, nur gibt, um zu nehmen, und daß nichts darin unseres Strebens und Ringens wert ist. Es soll nicht mehr wahr sein, daß jeder Einzelne wie die Völker einen doppelten Charakter haben, einen der Natur und einen der Verheißung, worin das Zeitliche sich mit dem Ewigen verbindet; sondern im Diesseits wird es alles abgetan und erschöpft.

Ein realistischer Zug geht durch die ganze Zeit; auch die Kunst folgt ihm wie willenlos, und verliert deshalb mehr und mehr ihre erhebende Kraft über die Gemüter. Den ästhetischen Idealismus als ein Gemeingefühl der Nation haben wir hinter uns. Diese Sonne wärmt nicht mehr; und kaum begreift man heute noch, daß JEAN PAUL die Geister einst entzücken konnte. Der Realismus, von den ungeheuren Erfolgen der Naturwissenschaften getragen, dringt unwiderstehlich auch in die Bildung des niederen Volkes ein, und langt nur zu bald beim Materialismus an, wo der Glaube an ein geistiges und höheres Leben, das die Welt aller Erscheinungen trägt und im Innersten zusammenhält, aufhört.

Ist aber darum, weil das Leben ärmer und an den Idealen geworden ist, die das Glück und den Reichtum früherer Zeiten ausmachten, alles Ideale aus der Welt und aus dem Herzen verschwunden? So ist es nicht; auch das öffentliche Leben ist nicht entleert davon. Denn dünkt es Manchen eine Lust, jetzt zu leben, so ist es nur darum, weil sie im Geist aus der Gährung, inmitten deren wir uns noch befinden, die hehre Gestalt eines großen, in sich einigen und dadurch mächtigen deutschen Vaterlandes emporsteigen sehen.

Aber wäre auch das allgemeine Leben noch ärmer, das persönliche behält sein unruhiges Verlangen, das in Wünschen und Vorstellungen von Glück und Befriedigung nicht aufhört, Ideale zu erzeugen. Wie reich ist dieses Vorstellungsleben von dem, was sein könnte und sein sollte um uns, in uns, für uns! Denn während die egoistischen Naturen nur für sich Wünsche hegen, sehen die Anderen ihr Glück nur im vollkommeneren Zustand eines engeren oder weiteren Lebenskreises, dem sie angehören.

Da schwebt Manchem ein allgemeiner Friede vor, der die Völker der Sorge enthebt, wie sie am besten für den Krieg gerüstet sind; oder das Ideal von einem Staat, einem Gemeinwesen, wo jeder das Seine hat und tut, wo unter einem geliebten Oberhaupt ein neidloser Wetteifer in freier Selbstverwaltung und in einem tätigen Gemeinsinn alle Stände verbindet; wo alle die, denen ein Teil der Leitung des Ganzen anvertraut ist, auf der Höhe ihres Berufs stehen, wo alle Kräfte des Staatsregiments ergänzend ineinandergreifen; wo ein von lebendigem Nationalbewußtsein getragenes Volksleben, durchdrungen von christlichem Geist, in sich das Gesetz der Ordnung und guter Sitte hegt; wo die Kirche selbst einen wahrhaft priesterlichen, in der Liebe zum HErrn und in der Bruderliebe geeinigten Stand der Geistlichen zu Hütern des Heiligtums hat. Oder im Privatleben das Ideal einer Ehe, als wahrhafter Seelenharmonie, und eines Familienlebens, wo Vater und Mutter im Mittelpunkt des Ganzen, dessen Odem der Geist des Evangeliums ist, ihres Ehrenstandes froh werden; wo die Kinderschar, ein fröhlich aufstrebender Nachwuchs, an Leib und Seele gedeiht, jedes in seiner Art, unberührt vom Mehltau des bösen Beispiels; wo alle Glieder, auch die Dienstboten, in treuer Anhänglichkeit und  einem  Sinn zusammengehalten werden; dann im engen Bund mit der Familie eine Schule, wo Einsicht und Liebe verbunden sind, jedem Bäumchen seinem eigenen Wuchs und Blüte zu bewahren. Oder uns verlangt nach einem unsere eigenen Kräfte erhöhenden Gemeinschaftsleben, nach der edlen Geselligkeit, die der kleinen Mittel der Zerstreuung und des Zeitvertreibens nicht bedarf; wir wünschen nur mit Menschen zu verkehren, die sich im Reden und Tun nicht durch egoistische Zwecke, sondern nur durch Wahrheit und Liebe bestimmen lassen. Und wie wir uns wohl mit hohen Vorstellungen tragen von einem herrlichen Früchte verheißenden Jugendalter, von einer klaren, sicheren und entschlossenen Manneskraft, von der ruhigen Milde des Alters, so wird die Vorstellung leicht zum Wunsch für uns selbst, einer leiblichen und geistigen Gesundheit zu genießen, bei der wir im regen Spiel aller unserer Kräfte, in königlicher Herrschaft über uns selbst, frei von der Verletzlichkeit der Eigenliebe und allen anderen Hemmungen der Art, Gutes zu schaffen und dem Leben einen reichen Inhalt zu geben vermögen; uns verlangt nach einem fruchtbaren, nicht Dornen und Disteln tragenden Feld, wo wir die uns verliehenen Gaben brauchen können zu Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen: es ist die Vorstellung von einer glücklich ausgestatteten Persönlichkeit, die durch ihr Sein, ihr Können, Wissen und Tun reich ist im Geben und Empfangen; fähig und sicher, Vertrauen, Liebe und Freundschaft zu gewinnen und sich zu erhalten, und so unberührt zu bleiben von der Sorge vor einem nutzlosen, in sich unbefriedigten Leben und einem traurigen, vereinsamten Alter.

Doch wozu noch mehr? Die Mannigfaltigkeit ist unendlich, und ebenso die Relativität in Art und Grad, je nachdem ein Jeder steht, innerlich und äußerlich. Je dunkler der Hintergrund, desto stärker der Konstrast, wie der Reisende  Mungo Park  in der "Brennenden Wüste", immer von den lieblichen wasserreichen Tälern seiner Heimat träumte. - Die Beispiele genügen, die Empfindung des scharfen Gegensatzes hervorzubringen, welchen die Rückkehr in die Wirklichkeit aus der Region idealer Wünsche mit sich führt. Eine Enttäuschung folgt der andern.

Wie weit bleiben die tatsächlichen Zustände des Staates hinter seiner Idee und hinter den utopischen Idealen zurück; und ebenso die der christlichen Gemeinschaft: ein aus dem Heidentum Bekehrter kam nach Europa; das Land der Christen wollte er sehen, in dem das Gesetz ihres Herrn und Meisters die Richtschnur für alles ist, wo Jeder streng gegen sich und voll Liebe gegen den Nächsten in Gerechtigkeit und Friede alle wie Brüder miteinander leben. So ließ ihn die Ferne hoffen. Was er in der Nähe sah, erfüllte ihn mit Entsetzen, und er eilte in seine wilde Heimat zurück. - Und so Mancher hat, wo er den großen Aufgaben des öffentlichen Lebens gegenüber männliche, hingebungsfähige Charaktere zu finden hoffte, ein kleines, egoistisches Geschlecht getroffen, unfähig die Zeit zu begreifen, und ohne Mut und Kraft ihren Forderungen gerecht zu werden.

Ebenso wie im eigenen Leben, vor allem in der Jugend: kühn und ungestüm schwingt sie sich über die äußeren Schranken des Standes und anderer Hemmnisse hinweg und umgibt sich mit herrlichen Gebilden der Vorstellung, - und zuletzt sinkt es meistens wieder in Trümmer. "In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling; Still auf gerettetem Boot treibt in den Hafen der Greis." Wie keine Jahreszeit, der Frühling, der Sommer nicht so verläuft, wie es in ihrem Begriff zu liegen scheint und wie wir es wünschen: nein, die Kälte im Frühling tötet die Blüten, das Wetter zerschlägt die Saaten -, so entzieht sich das Leben unserer Berechnung: die Welt ist aller Schmerzen und eines namenlosen Elends voll; und wo sich ein ersehntes Glück zu verwirklichen angefangen hat, wie oft und bald stürzt alles wieder zusammen, und auf jede Erfüllung fällt banger Zweifel und der Todesschatten der Endlichkeit: "Immer noch ergreift mich wieder die Sorge der Vergänglichkeit, Irdisch, Hoffen, irdisch Leid" -, ein vergebliches Ringen überall. Die seligen Höhen der Ruhe und Vollendung und eines ungetrübten frohen Genusses menschlichen Daseins scheinen unerreichbar; und wie die Last der Leiblichkeit so oft die Schwingen des Geistes lähmt, so läßt es überhaupt die Macht und der Druck des Natürlichen und Realen zum Idealen nicht kommen.

Etwas hiervon erlebt Jeder früher oder später; Keinem wird die Erfahrung der Nichtigkeit seiner Hoffnungen ganz erspart. Und was ist die Wirkung?

Den Idealismus der Jugend verletzt sehr bald die rauhe Wirklichkeit wie der rücksichtslose Realismus des reiferen Alters. Die Folgen davon sind oft verhängnisvoll für die ganze Zukunft des Menschen. Wie oft wiederholt es sich doch, daß ein junges Leben in das Morgenrot seines Erdentages hinausblickt, voll froher Ahnung, was er bringen wird: Hoffnungen und Pläne werden ein voller Strauß von Blumen; und wie lange währt es, so sind sie verwelkt in der Hand. Die Jahre vergehen, keine der Hoffnungen erfüllt sich; das geträumte Glück des Seins und Werdens und des Besitzes bleibt aus; und lagert sich über die Seele ein Dunkel des Mißmuts und Verzagens; die Last des unbegriffenen Lebens hemmt allen frohen Aufschwung. Für Viele ist es mit dem Ideal, das sie für ihr Leben gehegt haben, wie mit einer unglücklichen Liebe: es bleibt nur die Bitterkeit der Resignation, die auch die Liebesfähigkeit verzehrt, die trostlose Stimmung, in der SCHILLER ausrufen konnte:
    "Alle meine Freuden hab ich dir geschlachtet
    ich werfe mich vor deinen Richterthron
    empfange meinen Vollmachtsbrief zum Glück
    ich bring ihn unerbrochen dir zurück
    ich weiß nichts von Glückseligkeit."
Ähnlich machte sich der Weltschmerz Lord BYRONs Luft. - Was anderes liest man auf so manchem Antlitz, als den Schmerz dieser Täuschung, die Krankheit am Leben, das nur getragen wird wie ein Verhängnis?

Soll es so sein, ist es so recht? Lebt doch jedes andere Geschöpf in Übereinstimmung mit sich selbst und erfüllt, in sich befriedigt, seinen Lebenskreis: ist etwa der Mensch der einzige Mißton in der Harmonie dieser Welt?

Wie im Verhalten zu den Idealen überhaupt, so spielt auch bei diesen Wirkungen der Enttäuschung über sie, Temperament und Lebenserfahrung eine große Rolle. Man könnte davon eine ebenso mannigfaltige wie ergötzliche Reihe von Charakterbildern zeichnen.

In dem grünenden Alter, das ein unveräußerliches Recht zu haben meint, die Welt nach seinen Idealen zu messen, das in großem Stil für sich und die unvollkommenen Zustände um sich her ideale Pläne entwirft, wo gegenüber den abgelebten Alten, den Philistern, die Jugend allein das rechte, zur Weltverbesserung bestimmte Israel ist, da geschieht es nicht selten, wie man auf Universitäten erlebt, daß die Jünglinge, wenn sie die Hindernisse der harten Wirklichkeit empfinden, ohne Erkenntnis der Irrtümer ihres jugendlichen Idealismus ins Gegenteil umschlagen, und wie aus Trotz zu einem Zynismus übergehen, der sich von allem Idealen abwendet. Wie oft versinken sie nach kurzem Traum höherer Lebensziele unwiederbringlich in die niedrigste Prosa gemeiner Lebensbeschränktheit, da kaum eine Asche von dem rasch verloderten Feuer zurückbleibt. Sie vermehren die große Zahl derer, die von eine ewig Wahren und Guten nichts hören wollen und nur an das glauben, was greifbar da und nützlich ist. Zwischen solchen im Kreis des gewohnheitsmäßigen Tuns und Genießens dahinlebenden Menschen spielt eine nach Höherem verlangende und noch eine Lust der Freiheit atmende Seele oft eine wunderliche Figur: sie können einander nicht verstehen und nicht gerecht werden; dem bornierten Nützlichkeitssinn muß das Andere wie eine unpraktische Träumerei erscheinen.

Zu den Trägen kommen die still resignierten Seelen, die Hoffnungslosen und Kleinmütigen. Sie verlieren den Glauben an die Ideale nicht; aber sie geben es auf, und trauen sich nicht die Kraft zu, eine Vermittlung derselben mit der Wirklichkeit zu finden; es ist so, wie wenn Einer etwa lieber gar nicht heiratet, wenn er sein Ideal der Ehe verwirklichen zu können nicht hoffen darf. Sie tragen das Gefühl eines verfehlten Lebens mit sich, und tun eben ihre Schuldigkeit, solange sie können und müssen. Andere spinnen sich in die Welt ihrer Vorstellungen dermaßen ein, daß daraus eine Abkehr und krankhafte Scheu vor der Wirklichkeit wird, von der sie immer fürchten in ihren glücklichsten und liebsten Empfindungen verletzt zu werden: "Ein Wahn, der mich beglückt, ist eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt." Ein sicheres Kennzeichen falscher Ideale ist immer auch diese Sentimentalität, die Empfindsamkeit, die doch kein Herz hat.

Auf dem Standpunkt der Resignation ist die Form des Humors immer noch die erträglichste, wo der Schmerz der Entsagung gemischt ist mit der Freude am Spiel des Hereinleuchtens und sich immer wiederaufhebens der Idee. Aber viel häufiger schreitet die Resignation fort bis zu der hohnlachenden Verzweiflung, die nur im Unglauben einen Trost sucht, und da endet, wo es heißt: "Lasset uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!"

Das sind Zustände, die Gott nicht gewollt haben kann, und die nur daher rühren, daß wir selbst seine herrlichsten Gaben in Übel verkehren. Ideale, die uns, oder durch die wir Andere, mit denen wir zu leben haben, unglücklich machen, sind gewiß nicht die rechten. JOHANNES schließt seine erste Epistel mit der Warnung, sein Herz an Trugbilder zu hängen: "meine Kinder, hütet euch vor Idolen!"

Die Schuld solcher Verirrungen liegt oft in einer reichen Phantasiebegabung, der es an Zucht gefehlt hat. Wie gefährlich ist gerade beim weiblichen Geschlecht die Geschäftigkeit einer müßigen Phantasie! Eine, die zur Erkenntnis davon gelangt war, klagte: mir wird bange, wenn ich das Flügelrauschen der Phantasie über mir vernehme; denn meine Gedanken stehen mir niemals gegen meine Gefühle, und nur zu oft habe ich für Gottes Stimme genommen, was nur die Frucht meiner Einbildung war. Solche Seelen haben ihre Freude daran, sich aus dem niederen Flachland wie mit Ikarusflügeln in höhere Regionen aufzuschwingen. Sie verkennen leicht den Wert dessen, was sie in der Wirklichkeit umgibt, und lernen die Bedingungen nicht verstehen, darin zufrieden zu leben. In ihrer Gefühlsschwäche verschmähen sie das Gute, das nahe liegt und das jeder Tag bringt, und ziehen es vor, ein erträumtes Glück zu genießen, wobei, wie wir uns ja im Träumen immer passiv verhalten, die Kraft ihres Willens und Tuns unberührt bleibt. Eine ferne, nebelhafte Idealität gilt ihnen mehr als das erreichbare Nächste.

Ich erinnere mich eines jungen Mannes, mit dem ich auf einer Reise zusammentraf, und der in einer solchen törichten Jagd nach einem Absoluten begriffen war. Er hatte STEFFENs "Vier Norweger" gelesen und es stand bei ihm fest: nur in der Ehe mit einem norwegischen Mädchen kannst du glücklich werden. Der Ausgang seiner Entdeckungsreise gehört so völlig dem Gebiet des Komischen an, daß ich ihn hier mitzuteilen mich enthalten muß.

Doch alles das, was wie im Kindesalter bei geschäftiger Phantasie durch den Kopf fliegt: das möchtest du sein, das möchtest du haben, flüchtige bloße Phantasiegebilde, können wir beiseite lassen; es sind Ideale, die gaukelnd in der Luft schweben, und denen wie den prosaischen Idealen der Selbstsucht keine Idee zugrunde liegt. Aber warum haben auch die reineren und die festeren Gestalten, Ideale aus bestimmten Ideen erwachsen, so oft weder Bestand noch Frucht? Man kann doch nicht sagen, daß z. B. die Ideale, für welche man sich im vorigen Jahrhundert so allgemein erwärmte und schwärmte, ideenlos gewesen wären. Es galt ja, dem Leben Gehalt und Würde zu geben, es harmonisch zu gestalten. Aber der Irrtum war, dies einseitig auf ästhetischen Weg zu erstreben, mit daher entnommenen Mitteln die Dissonanzen des irdischen Daseins in reine Klänge auflösen zu wollen, und sich dabei in subjektiver Selbstbefriedigung von den großen allgemeinen Interessen, denen zu dienen wir berufen sind, und von den konkreten Forderungen des gegenwärtigen Lebens abzukehren. Es war also ein Vergreifen in den Mitteln und eine verderbliche Flucht und Isolierung.

So wird es überall sein. Wahrhafte Ideale werden wir nur da finden, wo ein Mensch darin nicht eine subjektive Genugtuung sucht, nicht lediglich seine persönlichen Ansichten und Wünsche verwirklichen will, unbekümmert, wie sie sich zu den Gedanken Gottes verhalten, aus denen allein die unsrigen Wahrheit, Kraft und Leben empfangen können. Auf diesen Zusammenhang und die in ihm begründete objektive Notwendigkeit der hohen Ziele kommt alles an. Die Gräfin STOLLBERG sagte treffend von SCHILLER: "Er trägt die Menschheit wie eine schöne Blume in der Hand, aber das Gefäß mit der nährenden Erde darunter fehlt." Darum vermag er auch keinen wirklichen Trost zu finden. Was empfiehlt er als Balsam für sein Herz, dem seine Ideale zerronnen sind? "Beschäftigung, die nie ermattet" - und nicht anders läßt GOETHE seinen  Faust  und seinen  Wilhelm Meister  zur Ruhe kommen, als durch ernste Beschäftigung für gute bürgerliche Zwecke. Man muß gestehen, es ist, auch nach der Wahl des Ausdrucks "Beschäftigung", wie ein Hausmittel, das empfohlen wird, und dahinter steht doch eine Resignation, aus der nimmermehr des Lebens Ruhe oder Kraft und Schönheit erwachsen kann.

Auf  dem  Standpunkt muß das Glück der Ideale sehr zweifelhaft erscheinen, und die Versuchung nahe liegen zu glauben, daß schließlich die doch besser daran sind, die ruhig ihres Weges gehen, ohne sich damit zu schaffen zu machen, mögen es nun nüchterne Verstandesmenschen sein oder phlegmatische Naturen, oder auch solche, die alles höhere Streben aufgegeben haben, und das alles nur für ein Hirngespinst und eine Chimäre halten. Aber stehen diesen wirklich nur solche gegenüber, die in einer Wolkenregion wohnen wie Träumer, und den Weg zurück nicht finden können; oder gibt es eine gesunde Mitte zwischen  Don Quichote  und  Sancho Pansa,  zwischen idealistischer Schwärmerei und dem derben Realismus der gemeinen Wirklichkeit?

Es wird wohl dabei bleiben, daß der Adel der menschlichen Natur bei denen zu finden ist, die in der Liebe zu idealen Lebensgütern glücklich sind, und im Kampf dafür ihren Beruf gefunden haben, die bei allem Verfehlten und Mißlungenen nicht verzagt und nicht müde werden, den geflügelten Seelen, die beim niederziehenden Druck der irdischen Dinge immer wieder den belebenden Ruf vernehmen: Schwing dich auf in die reinere Luft der Höhe!

Zu welchen Menschen schauen wir mit der größten Verehrung auf und erinnern uns ihrer mit nie ersterbender Liebe? Sind es nicht die, deren Leben darauf gerichtet war, heilsame und fruchtbare Gedanken, die ihnen wie eine Mission gegeben waren, in engeren oder weiteren Kreisen zu verwirklichen, die mit ihrem Wollen allezeit gleichsam vor dem Thron einer Idee standen, Menschen, in denen die Macht der Wahrheit und der Ernst der Liebe persönlich geworden war und den Grundton ihres Seins und Tuns ausmachte? Wer je den Eindruck einer solchen Persönlichkeit empfunden hat, vergißt es nicht, wie er selber dadurch gehoben und von den Kräften einer unsichtbaren Welt berührt wurde: mögen wir dabei an Fürsten im Staatsregiment oder im Reich des Geistes denken, auch an solche, die bei ihren Bestrebungen den lähmenden Widerstand der stumpfen Welt erfuhren, und deren sie nicht wert war. Viele sind dahingestorben ohne ihre Ideale erfüllt zu sehen, und dennoch machten diese das Glück ihres Lebens aus; und ihr Tun war unverloren; denn es gehorchte ewigen Gesetzen, und wies prophetisch auf eine bessere Zeit hin. Oder mögen wir auch in die Enge kleinerer Verhältnisse blicken, wo heldenmütige Naturen, Männer wie Frauen, Gedanken Gottes in einem aufopfernden Leben tätiger Liebe zu verwirklichen streben. Wir denken an solche Menschen, die auch in dem Einerlei, der Alltäglichkeit und der Unruhe der kleinen Lebenszwecke die großen nie aus den Augen verlieren; das Ideale ruht in ihrem Herzen wie ein in die Tiefe gesenkter Schatz, der auch durch die Wellenbewegung der Oberfläche hervorblinkt.

An dieser Stelle können wir nun nach dem, was bereits darüber gesagt wurde, zusammenfassen, worauf im Gegensatz zum falschen Idealismus im sittlichen Gebiet der wahre beruth.

Bei Persönlichkeiten der eben bezeichneten Art werden wir immer finden, daß ihr Leben eine innere Einheit hat, daß all ihr Tun von einem festen Mittelpunkt ausgeht, durch den ihr Denken und Wollen bestimmt wird, und daß nicht die beschränkte Menschenkraft oder gewöhnliche menschliche Berechnung von aus wirksam ist, sondern daß das menschliche Vermögen mit den Kräften einer höheren Welt in Verbindung steht, und von da sich nährt und erfrischt.

Wie ein solcher Lebensmittelpunkt, eine solche innere Einheit und Ganzheit gewonnen wird, kann dem Christen nicht zweifelhaft sein. Wahre religiöse Einwirkung ist überhaupt nie etwas Isoliertes, sondern geht immer auf die ganze Persönlichkeit des Menschen. Im Christentum tritt diese Tendenz am stärksten hervor. In wem das christliche Bewußtsein zu voller Klarheit kommt, der erkennt, daß ihm das Leben gegeben ist wie ein Stoff, den er gestalten soll - ja, auch zu einem Kunstwerk. Seine Natur ist darauf angelegt: "zum Bilde Gottes schuf er ihn". Aber es kann Keiner ein wahrer Künstler sein ohne Ideal, und wie die Kunst ausartet, wenn sie nur einer sinnlichen Ergötzung dient, und keine höhere Idee zur Anschauung bringt, so können auch im sittlichen Leben wahrhafte Ideale nur sein, die am Ewigen und Göttlichen teilhaben. Den Menschen ist dies für immer gegeben in  Jesu Christo,  dem Abglanz des Wesens Gottes, dem leuchtenden, niemals untergehenden Stern am Himmel unseres Seelenlebens. Darum ist es kein Vergangenes: "sie  sahen  seine Herrlichkeit"; es ist ein ewig Gegenwärtiges; auch für uns ist sie sichtbar. Er ist das Bildungsideal für Jeden, der in dieser Welt geboren wird: "So Viele auf ihn getauft sind, die haben ihn angezogen". - Von der Taufe an soll dieses Leben eine fortgehende Wiedergeburt unseres natürlichen Menschen sein, zur Herstellung seines Bildes, "auf daß jeder ein Mensch Gottes werde zu allem guten Werk geschickt".

Dies ist das der Menschheit gegebene Lebensgesetz, wovon der Prozeß der Weltgeschichte und jedes Einzellebens abhängig ist. Die Athmosphäre, die uns umgibt, ist daher von christlichen Elementen erfüllt. Darin kann man leben, und das Grundprinzip gleichwohl ignorieren, sich davon abkehren, gerät dann aber immer ins Leere, Willkürliche und Subjektive, wie das an idealen Begriffen, z. B. dem der Freiheit, leicht nachgewiesen werden könnte.

Die Philosophen können das Recht völliger Voraussetzungslosigkeit in Anspruch nehmen, und in Deutschland sind ihnen die Dichter gern gefolgt. Sie können dabei glänzende und ideale Gebilde schaffen; aber die Ideen haben dann, wie wir gesehen haben, keine lebenschaffende Kraft und können weder Trost gewähren beim Zerfall der irdischen Herrlichkeit, noch enthalten sie ein Korrektiv gegen egoistische und phantastische Verirrungen des Idealismus. Aber darin eben besteht die Probe. An der Wiedergeburt in  Christo  dagegen hat Erkenntnis, Wille und auch die Phantasie Anteil, und es ist nicht eine bestimmte Richtung allein, welche unsere Kräfte dadurch erhalten, sondern es ist eine Ergänzung, eine tatsächliche Lebensmitteilung und fortgehende Verjüngung. Da fehlt es nicht an Trost und an Stärkung. Hat das Christentum das Bewußtsein der inneren Entzweiung des Menschenlebens geschärft, so hat es auch die Mittel gegeben, sie zu überwinden. - Der HErr hat es selbst gesagt: "in der Welt habt ihr Angst: aber seid getrost, Ich habe die Welt überwunden." So ist nun infolge der Lebensgemeinschaft mit  Christo  Himmel und Erde kein absolut Getrenntes mehr, und nur auf dem Glauben an diese Vereinigung beruth alles ideale Leben der Menschen. Nur dadurch, daß wir schon hier die Kräfte der zukünftigen Welt schmecken und daraus Lebensmut und Freudigkeit ziehen, bleiben wir davor bewahrt, diese Erde für ein Jammertal zu halten.

Unser tägliches Gebet spricht dieselbe Zuversicht aus; "wie im Himmel, also auch auf Erden". Es ist die erste Bitte nach der, daß Gottes Reich komme. Dieses selige Reich des Friedens ist also nicht schon fertig vorhanden, sondern ein werdendes, auch durch uns werdendes, wobei der Glaube, daß es ist, ein ewiges, aber für uns schon hier beginnendes Sein hat, ohne weiteres vorausgesetzt wird. Dieser Glaube soll sich nicht irren lassen durch die tausend Gegensätze, die uns so leicht verletzen und entmutigen: sie sollen versöhnt werden; denn alles wahre Leben beruth auf der Versöhnung scheinbarer Gegensätze. Und wie oft erkennen wir schon hier diese Versöhnung: das himmlische Reich ist kein ewig jenseitiges; wie bleiben nicht mit  Moses  auf dem Berg Nebo stehen; aber ebensowenig ein völlig diesseitiges: wir sind hier auch nicht mit dem HErrn auf Tabor. Darum haben wir uns ebeso vor der resignierenden Verzagtheit zu hüten, wie vor dem ungeduldigen Idealismus, der schon hier die Verwirklichung des Höchsten und Besten sich vollziehen sehen will. Von solchen schwärmerischen Idealisten, die das Gesetz des ruhigen Werdens und Wachsens nicht kennen, und von dem Unheil, das sie stiften, weiß die Staaten- wie die Kirchengeschichte bis in die Gegenwart herein zu erzählen. Dahin gehört es ebensowohl ein Donatus der Zeit, der es übersah, daß die Kirche hienieden nicht schon ein Stand der Heiligen, sondern der Heiligung ist, dahin die Puritaner; und wie CROMWELL, so nicht minder die Fanatiker, auch die edelsten, aller Revolutionszeiten, die ihre Lebensideale im Sturm zu Stand und Wesen bringen wollten. Und kommen nicht im Privatleben unzählbare Beispiele derselben Ungeduld vor?

Vor dem anderen Extrem, der verzagenden, widerstandslosen Resignation, bewahrt man sich durch nichts besser als dadurch, daß man in Gottes Namen selbst Hand anlegt. Ist schon im gewöhnlichen Leben das Tun die beste Schutzwehr gegen kleinliche Furcht und Sorge und die gegen alle Grübelgespenster, so besteht gerade im Reich Gottes kein Vorrecht des bloßen Genießens. Es gibt recht unfruchtbare Moralistenideale von erhabener Tugend; Worte, Worte, bloß Theoriengüter und leere Allgemeinheiten. Nein, wie das Leben der Ideen bedarf, um wahr zu sein, so bedar immer auch die Idee des Lebens, um wirklich zu werden, und ihre Kraft zu erproben. Nicht im Ruhen, sondern im Werden ist das Leben der Ideen. Der Geist muß leiblich werden, Gestalt und individuelles Leben gewinnen. Nichts ist geeigneter, ideales Streben in Mißkredit zu bringen, als der Spiritualismus, bei dem alles innerlich bleibt. Der Mensch ist erst vollständig als ein handelnder; und jeder gute Gedanke, der aus dem Reich der Liebe stammt, will auch zur helfenden Hand und zu einem befreienden und förderlichen Tun werden. Das ganze Neue Testament zeigt bei jedem sittlichen Gesetz diese innere Konsequenz: die Wahrheit und ihr Weg ins Leben sind immer beieinander; der Idealismus des christlichen Geistes bewährt sich immer an der Realität des Lebens.

Alle wahre Liebe hat am erhöhten Leben, womit sie die Seele füllt, den unmittelbaren Beweis ihres göttlichen Ursprungs, und ihr Tun ist immer eine Einigung des Zeitlichen mit dem Ewigen, mag es im Großen oder im Kleinen sein. Siehe an deinen Stand in den heiligen Geboten Gottes! Welch eine Quelle der Befriedigung ist oft das Liebeswirken gerade in den einfachsten Lebensverhältnissen und die Treue in den nächsten Pflichten! Es ist eine Ordnung Gottes in seinem Reich, daß man sich dem Ideal am sichersten nähert, wenn man die gegebene Wirklichkeit richtig schätzt und benutzt.

Die Kraft der Selbstverleugnung, welche der natürliche Mensch dabei oft zu üben hat, liegt in dem Glauben an die ewige Liebe Gottes, die dies zu deinem Heil so gewollt hat - "Laß dir an meiner Gnade genügen" - in dem Frohgefühl, an seinem Reich teilzuhaben. Ihre selige Frucht ist die Zufriedenheit und die Ergebung in seinen Willen, die heitere Ruhe, Klarheit und Sicherheit des Seins, die man erwirbt, wenn man so von sich los, und doch eigentlich erst zu sich selbst gekommen ist, zum wahren Selbst, das jeder verborgen in sich trägt.

Wir haben einen Blick getan in die wunderbare Tatsache, daß es in diesem wirren Weltwesen ein Reich des Friedens gibt, daß darin Irdisches und Himmlisches, Zeitliches und Ewiges, keine absoluten Gegensätze und kein bloßes Nacheinander sind, daß es möglich ist, das irdische Tagewerk zu vollbringen mit himmlischem Sinn, und daß dies die Grundlage aller wahren Lebensidealität ist und des Friedens, den die Welt nicht geben und nicht nehmen kann. "Wen die Zeit wie Ewigkeit und die Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Streit."

So sind wir bei dem, was zu suchen wir ausgingen. Dieses Reich ist die Stätte, wo Gott selbst uns die Wiederherstellung der verlorenen Einheit mit ihm und mit uns selbst, darbietet. Und auch damit kehren wir in unseren Anfang zurück, daß die Ideen im Sehen ihren Ursprung haben. Es kommt darauf an, daß wir Augen haben, recht zu sehen. "So ihr Glauben habt, werdet ihr die Herrlichkeit des HErrn erblicken." Sie umgibt uns zu unserem Trost und Schutz, wie damals des  Elias,  dem die Augen aufgetan wurden, die Heere Gottes zu sehen um ihn herum. "HErr, daß ich sehen möge!" Es ist die Bitte um Erkenntnis des wahrhaften Ideals, was die Liebe Gottes nicht als einen Schmuck in dieses menschliche Dasein verwebt, sondern ihm zur Grundlage gegeben hat. Es ist die menschlichste und eine göttliche Kunst, im Gegebenen das Gute finden und auf diese Weise  sehen  zu lehren.

So geht unsere Betrachtung unwillkürlich in eine pädagogische Aufgabe über. Die Erziehung hat immer ideale Zwecke, wie man sie auch bezeichnen mag. Wer im angegebenen Sinn erziehen will, auch sich selber, muß die Kräfte kennen und benutzen, welche in diesem Reich wirksam sind. Es sind zerstörende, erhaltende und aufbauende.

Sie zerstören den natürlichen Wahn der Eigenliebe, sie erhalten und benutzen die natürliche Lebensbasis und allen Reichtum des Geisteslebens. Da ist nichts von pietistischer Enge. Man muß größer davon denken. Es muß Ihm alles dienen, auch die Kunst und die Philosophie, die Entwicklung des Staatslebens, die Bewältigung der Natur, und so für die Jugend die Schätze des Altertums, und selbst die poetische Freude an SCHILLERs Idealen. Irrte er auch, daß man nur durch das Morgentor des Schönen zur Wahrheit gelangt: diese Idealität ist dennoch Vielen ein Schutz gegen andringende Gemeinheit geworden, und im reiferen Alter, wo dergleichen Ideale, wenn sie des rechten Zusammenhangs entbehren, ihre Ohnmacht beweisen, den Frieden zu geben, nach dem jedes Gewissen ringt, werden sie Manchem eine Brücke zum positiven Christentum. ALso wie die Schrift sagt: "Es ist alles euer, ihr aber seid Christi." Und auf dieses selige Sein und Bleiben in Ihm und Wirken durch Ihn ist die auferbauende Kraft des Reiches Gottes gerichtet in jedem, der Ihm angehört.

Die Zukunft, die vor der Jugend liegt, ist wie ein fremdes Land, in das sie reisen soll: nichts ist nötiger, als sie dazu mit dem zu versehen und auszurüsten, was sie nach der Beschaffenheit des Landes durchaus nicht entbehren kann. Kenntnisse an sich tun es nicht. Tiefer geht das Bedürfnis der Bildung des Gefühls, des Willens, der Phantasie. Nur zu gewöhnlich steht die Jugend, weil das versäumt ist, wie den Verlockungen des Scheins und der Lust, so der rauhen, unbarmherzigen Wirklichkeit ratlos gegenüber. Da liegen die wichtigstens Aufgaben der Erziehung. Soll die Jugend vor dem verführerischen Idealismus bewahrt bleiben, so muß sie früh lernen, daß der Mensch gar nicht dazu da ist, glücklich zu sein, in einem vulgären Sinn des Wortes, und daß der Schmerz eine Bedingung des Daseins ist. Aber soll sie darum zu einer gedrückten Resignation, zu einem trüben Ernst erzogen werden? Das ist so wenig gemeint, daß gerade das Entgegengesetzte, die frohe Zuversicht eines aufstrebenden, tätigen Lebens das pädagogische Ziel sein muß. Erreicht kann es nicht werden, wenn nicht auch irdisches Leid und Entbehrung als eine Ordnung Gottes begriffen wird. Was für ein Segen liegt in einem rechtverstandenen Leid; wie erglänzt oft da erst die rechte Geistesschönheit und die Kraft der Liebe! Also aufnehmen lernen soll es auch die Jugend schon mit dem was schwer und schmerzlich scheint, aber eigentlich gerade das ist, wodurch sie früh der Idealität inne werden kann, zu der wir geschaffen sind.

Das ist eine schwache, feige und kurzsichtige Pädagogik, die nicht zu rechter Wehrhaftigkeit wie gegen die Lust, so gegen den Schmerz erziehen will, die keine Zucht über, die Gefühle zu beherrschen, um einem höheren Gesetz mit fröhlichem Gemüt dienen zu können. Das aber wird nur in der Schule  der  Ideale gelernt, die schon in dieser Zeitlichkeit eine Bürgschaft unserer ewigen Bestimmung sind. Nichts trauriger als eine frühzeitig alte Jugend ohne Ideale und ohne Begeisterung für sie, kein größeres Glück als die rechten Ideale im Herzen tragen, die, wenn alle anderen versagen, nicht aufhören dem Leben Licht und Halt zu geben.

Und gerade in der Gegenwart, welcher Zeit geht das junge Geschlecht entgegen! Die Entfaltung des weltlichen Lebens überflügelt schon nicht nur das kirchliche, sondern das tiefere Gemütsleben überhaupt, und der siegreiche Fortschritt der menschlichen Herrschaft über die Natur nimmt auch die Geister gefangen. Was wird aus unserem Volk, wenn es dabei nicht die idealen Höhepunkte im Herzen und Gewissen bewahrt. Ohne sie führen auch die großartigsten Forschritte im Materiellen und in der Industrie sicher zur Barbarei, und bei scheinbarer Fülle zur Lebensverarmung. In einer solchen Zeit der Erweiterung und unruhigen Vermannigfaltigung alles äußeren und öffentlichen Lebens gilt es mehr denn je: Man muß die Sterne im Auge behalten, wenn man sich auf der Erde orientieren will. Darum hat die Erziehung keine wichtigere Aufgabe als das in aller Unruhe und allem Wechsel Feste, Dauernde und Ewige kennen und  lieben  zu lehren.

Wollte Gott die zur Erziehung Berufenen, die Familie, die Kirche und die Schule, schlössen in diesem Sinne ihre Dreiheit immer mehr zur Einheit des Wollens und Tuns zusammen, deren letztes Ziel kein geringeres ist als die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. -



Nachwort

Es war nicht meine Absicht, die anwachsende Vortragsliteratur meinerseits diesmal weiter zu vermehren. Daß es dennoch geschieht, mögen Die verantworten, deren Wünschen ich nachgebe, weil ich auf ihr Urteil Wert lege. So mag also auch diese Laienpredigt hinausgehen, und versuchen, ob sie ebenso Leser findet, wie sie empfängliche Hörer gehabt hat. Ich lasse um ihres allgemeinen Inhalts willen die Zuschrift eines Freundes darüber folgen: ´
    "Ich verstehe übrigens sehr wohl Deine Scheu vor der Veröffentlichung, um die man Dich gebeten hat. Ein Vortrag wie dieser ist ja keine Gedankenarbeit, bei der es gleichgültig ist, ob der Geist sie durch das Ohr oder durch das Auge empfängt. Seine eigentliche Bedeutung und Wirksamkeit liegt darin, daß das eigene persönliche Leben voll durch die beseelte Rede pulsiert, und so der ganze Mensch sich dem Hörenden gegenüberstellt und hingibt. In aller Beredsamkeit liegt das Hinreißende viel mehr in dem, was der Redner ist, als in dem, was er denkt und sagt. Ganz besonders gilt dies, wenn er einen Gegenstand hat wie der, den Du dir diesmal, nicht willkürlich gewählt hast. Da kommt es vor allem darauf an, daß der Hörer den Eindruck eines entsprechenden Lebens im Redner selbst empfängt, damit dasselbe gleichsam in einem geistigen Händedruck wie ein elektrischer Funke von Einem zum Andern überspringt und sich mitteilt. Bei einem Auditorium wie das, welches Du nun so oft schon hier vor Dir gesehen hast, und zu dem Du in einem Wechselverhältnis geistiger und gemütlicher Gemeinschaft stehst, darfst Du und mußt Du gerade auf eine solche Wirkung rechnen; und es ist sehr natürlich, daß Du keine Lust hast zu sprechen, wo Dir kein Echo entgegentönt, und die Worte, die aus Deinem innersten Lebensgrund quellen, "der unbekannten Menge" dahinzugeben.

    Und doch, laß Dich durch dieses natürliche Gefühl nicht abhalten. Auch die unbekannte Menge ist ja eine Gemeindes von Menschen, von näher oder ferner, aber dennoch verwandten Brüdern; und es müßte doch wunderlich zugehen, wenn die Persönlichkeit auch ohne die Zutat des Tons, des Blicks, der ganzen äußeren Erscheinung, sich nicht auch in den gedruckten Worten geltend machen sollte, wenn nur diese Worte selbst nicht bloß gedachte, sondern innerlich empfundene und erlebte sind. Und wenn Dir selbst dabei jenes Wechselverhältnis fehlt, das aus dem lauschenden Kreis der Zuhörer begeisternd auf den Redner zurückwirkt, so stelle Dir dagegen das Bild des Lesers im stillen Kämmerlein vor, der die wenigen Blätter mit Dank wie für einen kurzen freundlichen Besuch zurücklegt. "Wirf dein Brot in den Strom: Gott wird es dem Hungrigen zuführen!"

    Also, ich bitte Dich, laß Dein Wort hinausgehen in die Öffentlichkeit. Vielleicht begegnet es auch hie und da Einem, der mit uns jung gewesen ist, der mit uns geschwärmt hat in einer Zeit, die dem Idealen mehr zugewandt war als die jetzige, und dem es nun zugleich eine liebe Erinnerung und ein tröstliches Zeugnis ist, daß die rechte Jugend uns nicht entflogen, daß uns die inhaltsvolleren Ideale des Lebens durch keine Täuschung und Enttäuschung abhanden gekommen, vielmehr daß sie im schönsten Sinne erfüllt sind, wenn auch ihre Gestalt eine andere sein mag, Als die jugendliche Phantasie sich vorbildete. Vielleicht lockt und mahnt es auch in der heranwachsenden Generation, deren Mangel an Idealität und Begeisterung im Vergleich mit unserer Jugendzeit wir beklagen, den Einen oder den Anderen daran, daß er in einer Zeit, die groß im Realen ist, des Idealen nicht vergißt, das auch in der reichsten Wirklichkeit allein das Wesentliche und Ewige ist.

    Es tut heutzutage wohl Not, daß Jeder, der eine Stimme hat, der Menschheit davon predigt, ins Ohr und auf den Dächern, zur Zeit und zur Unzeit. Und wenn Deine Stimme sich zunächst an die Gebildeten wendet, und es scheinen möchte, als ob nur für sie die Ideale des Lebens da sein könnten, und den unzähligen Tausenden, die sich abmühen nur für die Möglichkeit des armen Daseins, die Erhebung in die Welt der Idee versagt wäre, so mögen aus Deinen Worten gerade die Gebildeten lernen, daß die rechte Idealisierung des Lebens für Alle, die Gebildeten wie die Ungebildeten, die Reichen wie die Armen, die Herren wie die Diener, in der Heiligung des Lebens besteht, der Heiligung durch Glauben und Liebe.

    Unsere Zeit ist der Arbeit zugewandt, der realen, produktiven Arbeit: aber jede Arbeit, auch die geringste, und in rauher Wirklichkeit drückendste, die saure, tägliche Arbeit schwerer niedriger Dienste, ist eine ideale, wenn sie geheiligt wird durch Treue, Demut, Selbstverleugnung."


LITERATUR - Leopold von Wiese, Von Lebensidealen, Berlin 1868
    Anmerkungen
    1) Der Vortrag ist am 23. März diesen Jahres im evangelischen Verein zu Berlin gehalten. Einige Stellen sind im Druck um weniges erweitert worden. Im Übrigen siehe das Nachwort.