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JOHN LOCKE
Die Vernünftigkeit
des biblischen Christentums


"Der Zustand des Paradieses war ein solcher der Unsterblichkeit, eines Lebens ohne Ende, dessen Adam mit dem Tag, an dem er aß, verlustig ging. Von nun an begann sein Leben zu schwinden und sich zu verzehren; es ging ein Ende zu, und glich bis zu seinem wirklichen Tod der Frist, die einem Verbrecher zwischen der Fällung des Urteils und dessen Vollstreckung bleibt, die ja in sicherer Aussicht stand. Nun zog der Tod ein, dem früher der Zutritt verwehrt war, und enthüllte sein bisher unbekanntes Antlitz."

"Als aber die Austreibung des Menschen erfolgte, wurde er der Mühsal, der Angst und der Hinfälligkeit eines vergänglichen Daseins preisgegeben, das bestimmt war, im Staub zu enden, von dem er angenommen war, und zu dem er zurückkehren sollte, ohne irgend mehr Leben und Bewußtsein zu haben als eben dieser Staub, aus dem er geschaffen war."


Vorrede

Die unbefriedigenden Widersprüche, die sich in den meisten der mir bekannt gewordenen theologischen System finden, haben mich veranlaßt, um zum Verständnis der christlichen Religion zu gelangen, mich ausschließlich der Lektüre der heiligen Schrift zuzuwenden, auf die sich jene Systeme alle berufen. Was ich auch Grund aufmerksamer und vorurteilsfreier Forschung daraus ermittelt habe, lege ich Dir, Leser, im Folgenden vor. Sollte Dir durch diese meine Bemühung Erleuchtung und Befestigung in der Wahrheit zuteil werden, so danke mit mir dem Vater des Lichts, daß er sich zu unserem Verstand herabgelassen hat. Solltes Du aber nach gerechter, unvoreingenommener Prüfung finden, daß ich Sinn und Inhalt des Evangeliums mißverstanden habe, so bitte ich Dich, mich als wahrer Christ im Geist des Evangeliums, der der Geist der Bruderliebe ist, und mit maßvollen Worten in der Lehre vom Heil zurechtzuweisen.


Für jeden Leser des Neuen Testaments ist es unverkennbar, daß die Lehre von der Versöhnung, das heißt aber die Lehre des Evangeliums, auf der Voraussetzung zum  Fall Adams  beruth. Wir müssen deshalb, um zu verstehen, was uns durch CHRISTUS wiedergebracht ist, uns vergegenwärtigen, was wir nach Aussage der Schrift durch ADAM verloren haben. Diese Frage habe ich einer eingehenden und vorurteilsfreien Untersuchung für wert erachtet, da ich beobachtet habe, wie die beiden Extreme, in die die Menschen gerade hier verfallen, entweder die Grundlagen aller Religion erschüttern oder aber das Christentum seines Inhalts fast völlig entleeren. Die einen nämlichen haben behauptet, wegen der Übertretung ADAMs, von dem doch Millionen nie gehört hatten, der auch von niemand bevollmächtigt war, für ihn zu handeln oder seine Stellvertretung zu übernehmen, sie seine Nachkommenschaft zu ewiger, unendlicher Strafe verdammt. Den andern dagegen erschien etwas derartiges mit der Gerechtigkeit oder der Güte des großen, unendlichen Gottes so wenig vereinbar, daß sie lieber meinten, es bedarf keiner Erlösung und es gebe demgemäß auch keine, als daß sie sie aufgrund einer Voraussetzung zugegeben hätten, die Ehre und Ansehen jenes unendlichen Wesens so schwer geschädigt haben würde. So machten sie JESUS CHRISTUS zum bloßen Wiederhersteller und Verkündert der reinen natürlichen Religion und taten damit dem ganzen Inhalt des Neuen Testaments Gewalt an. Und in der Tat, der Verdacht, daß damit beide Richtungen in ihrer Art dem geschriebenen Gotteswort Unrecht getan haben, wird sich jedem aufdrängen, der dieses ganz schlicht als eine Sammlung von Schriften auffaßt, die Gott für die Heilsunterweisung der ungelehrten großen Masse der Menschheit bestimmt hat, und die deshalb durchweg und in allen wesentlichen Stücken in einem einfachen, unmittelbaren Sinn der Worte und Sätze aufzufassen sind, den diese jedenfalls im Mund der Redenden gehabt haben; diese verwandten sie im Einklang mit der Ausdrucksweise ihrer Zeit und ihres Landes, ohne die gelehrten, gekünstelten und gequälten Auslegungen, die in den meisten theologischen Systemen ausgeklügelt und ihnen untergelegt werden, je nach den Anschauungen, in denen der einzelne groß geworden ist.

Wer frei von einer derartigen Befangenheit die Schrift liest, erkennt, daß der Zustand, dessen ADAM verlustig ging, derjenige des vollkommenen Gehorsams war, den das Neue Testament als  Gerechtigkeit  bezeichnet, während allerdings das entsprechende Wort des Urtextes im Englischen mit Rechtschaffenheit (righteousness) übersetzt wird. Durch diesen seinen Fall verlor er den Frieden des Paradieses und den Baum des Lebens, d. h. er verlor Seligkeit und Unsterblichkeit. Dies wird deutlich aus der Strafe, die für die Übertretung angedroht wird, und dem Urteilsspruch Gottes über diese. Die Strafandrohung lautet: "Welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben" (Genesis 2,17). Und in welcher Form wurde sie vollstreckt? ADAM aß in der Tat, jedoch an dem Tag, da er aß, starb er nicht wirklich, wohl aber wurde er aus dem Paradies hinaus und vom Baum des Lebens hinweggewiesen und für alle Zeiten von diesem fern gehalten, damit er nicht davon äße und ewig lebte. Aus all dem ergibt sich, daß der Zustand des Paradieses ein solcher der Unsterblichkeit, eines Lebens ohne Ende war, dessen ADAM mit dem Tag, an dem er aß, verlustig ging. Von nun an begann sein Leben zu schwinden und sich zu verzehren; es ging ein Ende zu, und glich bis zu seinem wirklichen Tod der Frist, die einem Verbrecher zwischen der Fällung des Urteils und dessen Vollstreckung bleibt, die ja in sicherer Aussicht stand. Nun zog der Tod ein, dem früher der Zutritt verwehrt war, und enthüllte sein bisher unbekanntes Antlitz. Vgl. PAULUS: "Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und der Tod" - d. h. ein Zustand der Sterblichkeit und Vergänglichkeit - "durch die Sünde" (Röm. 5,12). Und "Sie sterben alle in Adam" (1. Kor. 15,22), d. h. aufgrund seiner Übertretung sind alle dem Tod verfallen und sterben auch wirklich.

Dieser Gedanke tritt an den angeführten Stellen so klar zutage und entspricht so sehr der Gesamtauffassung des Neuen Testaments, daß niemand bestreiten kann, daß nach der Lehre des Evangeliums durch die Sünde ADAMs der Tod über alle Menschen gekommen ist. Uneinigkeit herrscht nur über die  Bedeutung des Wortes Tod Einige nämlich definieren ihn als einen Zustand der Verschuldung, in den nicht nur ADAM, sondern auch alle seine Nachkommen so tief verstrickt gewesen sind, daß sie ausnahmslos eine endlose Qual im ewigen Feuer verdient hätten. Ich will mich an dieser Stelle nicht weiter darüber auslassen, inwieweit eine derartige Vorstellung nach menschlicher Auffassung mit der Gerechtigkeit und Güte Gottes vereinbar ist, da diese Frage schon oben berührt wurde. Aber es scheint mir immerhin eine eigentümliche Auslegung eines Gesetzes, das doch wie alle Gesetze ganz klar und unmißverständlich gefaßt sein muß, wenn mit dem Tod ein ewiges Leben in der Qual gemeint sein sollte. Könnte man wohl auf den Gedanken kommen, daß aufgrund eines Gesetzs, das besagt: Auf Felonie [Treuebruch gegen den Lehnsherren - wp] steht der Tod, ein Schuldiger gerade nicht das Leben verlieren, vielmehr in fortgesetzten, ausgesuchten Qualen am Leben erhalten werden soll? Und würde jemand, dem das widerfährt, finden, daß er gerecht behandelt wird?

Daneben wird zugleich behauptet - und dies ist eine noch weniger annehmbare Auslegung -, der Tod sei auch ein Zustand notwendigen Sündigens, einer mit jeder Tat sich erneuernden Beleidigung Gottes. Die Ankündigung: "an dem Tag, da du von der verbotenen Frucht ißt, sollst du sterben", würde demnach besagen: du und deine Nachkommen sollen in alle Zukunft unfähig sein, etwas zu tun, das nicht sündig und für mich beleidigend wäre und darum mit Recht meinen Zorn und Grimm verdient. Ist wohl anzunehmen, daß ein rechtlich denkender Mensch dem Gehorsam seiner Untertanen solche Bedingungen auferlegen würde? Noch weit weniger aber darf man annehmen, daß der gerechte Gott als Strafe für eine einzige Sünde, über die er ergrimmt war, die Menschen in die Notwendigkeit versetzt hat, fortdauernd zu sündigen und so die Beleidigung um ein Vielfaches zu vermehren. Eine Erklärung für diese seltsame Auslegung werden wir vielleicht an einigen mißverstandenen Stellen des Neuen Testaments finden. Ich muß gestehen, daß ich meinerseits unter Tod hier nichts anderes verstehen kann als das  Aufhören des Daseins,  den Verlust sämtlicher Lebens- und Sinnesfunktionen. Ein solcher Tod kam über ADAM und alle seine Nachkommen für seinen ersten Ungehorsam im Paradies; ihm würden sie für alle Zeiten verfallen gewesen sein, hätte JESUS CHRISTUS nicht die Versöhnung erbracht. Wenn mit dem ADAM angedrohten Tod die Verderbnis der menschlichen Natur in seiner Nachkommenschaft gemeint wäre, so wäre es sehr auffallend, daß das Neue Testament an keiner Stelle darauf Bezug nimmt, und es nirgends ausspricht, daß wegen ADAMs Fall die Verderbnis über alle Menschen gekommen ist, wie das vom Tod gesagt wird. Vielmehr wird, soweit mir gegenwärtig ist, einem jeden nur seine eigene Sünde zur Last gelegt.

Eine andere Stelle des Urteilsspruchs lautete: "Verflucht sei der Acker um deinetwillen; mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Feld essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zur Erde werdest, davon du gekommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden." (Gen. 3,17-19) Hieraus erhellt sich, daß das Paradies nicht nur ein Ort der Unsterblichkeit, sondern auch ein solcher der Glückseligkeit war, frei von Plage und Leid. Als aber die Austreibung des Menschen erfolgte, wurde er der Mühsal, der Angst und der Hinfälligkeit eines vergänglichen Daseins preisgegeben, das bestimmt war, im Staub zu enden, von dem er angenommen war, und zu dem er zurückkehren sollte, ohne irgend mehr Leben und Bewußtsein zu haben als eben dieser Staub, aus dem er geschaffen war.

So wie ADAM aus dem Paradies vertrieben war, so wurden auch alle  seine Nachkommen  außerhalb desselben geboren und zwar alle wie ihr Vater ADAM in einem Zustand der Sterblichkeit, ohne den Frieden und die Seligkeit des Paradieses. "Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und der Tod durch die Sünde" (Röm. 5,12). Hier wird nun aber der übliche Einwand erhoben werden, über den so mancher nicht hinwegkommt: wie ist es mit der Gerechtigkeit Gottes vereinbar, daß die Nachkommen ADAMs für seine Schuld leiden, daß die Unschuldigen für die Schuldigen bestraft werden? Ganz recht, weil jemandem etwas vorzuenthalten, worauf er keinerlei Anspruch hat, nicht Strafe heißen kann. Auf den Zustand der Unsterblichkeit im Paradies steht den Nachkommen ADAMs aber ein Anrecht ebensowenig zu als irgendwelchen anderen Geschöpfen. Vielmehr, wenn Gott ihnen ein zeitlich beschränktes endliches Dasein schenkt, so ist das seine freie Gabe, die sie seiner Güte zu verdanken haben, als Recht aber nicht beanspruchen können. Gott fügt ihnen also auch keine Unbill zu, wenn er ihnen dieses Dasein nimmt. Hätte er der Menschheit etwas entzogen, was ihr von rechtswegen zukam, oder hätte er sie ohne alle Schuld und Übertretung ihrerseits in einen Zustand des Elends versetzt, der schlimmer gewesen wäre als ein Nichtsein, so wäre das in der Tat mit unserer Vorstellung von Gerechtigkeit schwer in Einklang zu bringen, schwerer noch aber mit der Güte und mit den anderen Eigenschaften des höchsten Wesens, die dieses sich selbst zuschreibt, und die ihm sowohl die Vernunft als auch die Offenbarung zuerkennen müssen, falls wir nicht geradezu die Begriffe Gut und Böse, Gott und Satan auf den Kopf stellen wollen. Die Frage, ob ein solcher Zustand äußerster, unabänderlicher Qual schlimmer ist als ein Nichtsein, wird gegenüber der unhaltbaren Philosophie und der törichten Metaphysik gewisser Leute ansich schon durch den gesunden Menschenverstand bejaht. Für alle Fälle hat aber die bündige Erklärung JESU (Mt. 26,24) es über allen Zweifel hinaus erhoben, daß es einen Zustand gibt, wo es dem Menschen "besser wäre, nie geboren zu sein". Daß aber andererseits ein zeitlich beschränktes Dasein, wie wir es jetzt führen, trotz aller Hinfälligkeit und aller tagtäglichen Nöte besser ist als ein Nichtsein, geht aus dem hohen Wert hervor, den wir selbst darauf legen. Obwohl also "alle in ADAM sterben", so wird doch tatsächlich jeder nur für sein eigenes Tun bestraft. "Gott wird einem jeden geben" und zwar "nach seinen Werken" (Röm. 2,6). "Denen die gehorchen der Ungerechtigkeit, Ungnade und Zorn; Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen, die da Böses tun" (Röm. 2,8f). "Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl CHRISTI, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat, bei Leibesleben, es sei gut oder böse" (2. Kor. 5,10). Und CHRISTUS selbst, der wußte, wofür er die Menschen am jüngsten Tag verdammen würde, versichert uns an den beiden Stellen, wo er sein Verfahren beim Weltgericht kennzeichnet, daß das Verdammungsurteil nur über die "Täter der Ungerechtigkeit" ergehe, die versäumt haben, durch Werke der Liebe das Gesetz zu erfüllen (Mt. 7, 23; Luk. 13, 27; Mt. 25,42). Nirgends aber erfolgt die Verurteilung eines einzelnen um dessentwillen, was sein Urvater ADAM getan hat, was doch kaum unerwähnt geblieben sein würde, falls es ein Grund wäre, weshalb jemand dem Feuer mit dem Teufel und seinen Engeln zugewiesen würde. Und seinen Jüngern sagt CHRISTUS, wenn er mit seinen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters wiederkomme, werde er "einen jeglichen vergelten nach seinen Werken" (Mt. 16, 27).

Daß ADAM aus dem Paradies vertrieben wurde und alle seine Nachkommen außerhalb desselben geboren wurden, hatte zur Folge, daß alle Menschen sterben und für immer unter der Herrschaft des Todes verharren mußten, d. h. rettungslos verloren waren.

Aus diesem Zustand des Todes versetzt JESUS CHRISTUS die ganze Menschheit wieder in den Bereich des Lebens. "Gleichwie sie in ADAM alle sterben, also werden sie alle in CHRISTO lebendig gemacht werden" (1. Kor. 15,22). Eine Erläuterung dazu gibt der Apostel in dem unmittelbar vorangehenden Vers 21: "Sintemal durch einen Menschen der Tod und durch einen Menschen die Auferstehung der Toten kommt", woraus hervorgeht, daß das allen Menschen durch CHRISTUS wiedergebrachte Leben dasjenige ist, das sie bei der Auferstehung erlangen. Dann überwinden sie den Tod, dem sonst die ganze, auf ewig verlorene Menschheit unterworfen geblieben wäre, wie sich dies aus der Beweisführung des PAULUS über die Auferstehung (1. Kor. 15) erhellt.

So wird durch den zweiten ADAM den Menschen das Leben wiedervermittelt, damit keinem durch den Fall ADAMs etwas verloren geht, worauf er durch eigene  Rechtbeschaffenheit  einen Anspruch haben könnte. Rechtbeschaffenheit nämlich, d. h. eine pünktliche Erfüllung des Gesetzes, scheint nach der heiligen Schrift einen Rechtsanspruch auf ewiges Leben zu begründen. "Dem der mit Werken umgeht", d. h. des Gesetzes Werke erfüllt, "wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern  aus Pflicht"  (Röm. 4,4). Und Offenbarung 22,14 heißt es: "Selig sind, die seine Gebote halten, auf daß sie  Anrecht  haben am Baum (1) des Lebens", der im Paradies Gottes ist. Wenn also irgendjemand aus ADAMs Geschlecht gerecht ist, so soll er den Lohn dafür, nämlich ewiges Leben und Unsterblichkeit, nicht etwa deshalb einbüßen, weil er ADAMs sterblicher Enkel ist. CHRISTUS wird alle wieder lebendig machen; dann wird jeder einzeln gerichtet werden und sein Urteil empfangen, je nachdem er als rechtbeschaffen erfunden wird oder nicht. "Die Gerechten" werden, wie unser Heiland sagt (Mt. 25,46), "zum ewigen Leben eingehen", und keinem wird dies vorenthalten werden, der erfüllt hat, was der Herr dem Schriftgelehrten zur Weisung gab, der fragte, was er tun solle, um das ewige Leben zu erben: "Tue das, d. h. das im Gesetz Geforderte, "so wirst Du leben" (Luk. 10,28).

Auf der anderen Seite scheint es der unabänderliche Ratschluß der göttlichen Gerechtigkeit zu sein, daß kein Ungerechter, d. h. keiner, der sich einer Übertretung des Gesetzes schuldig gemacht hat, ins Paradies hineingehört. Vielmehr soll für einen jeden, wie für ADAM, der Sold der Sünde im Ausschluß aus jenem glücklichen Zustand der Unsterblichkeit bestehen. Dies stimmt so vollkommen mit dem ewigen, feststehenden Gesetz von Gut und Böse überein, daß davon so gesprochen wird, als könne es gar nicht anders sein. JAKOBUS sagt (1,15): "Die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod", gewissermaßen als naturnotwendiges Ergebnis. "Die Sünde ist in die Welt gekommen, und der Tod durch die Sünde", sagt PAULUS (Röm. 5,12), und "der Tod ist der Sünde Sold" (Röm. 6,23). Der Tod ist der Ertrag aller und jeder Sünde. "Verflucht sei jedermann,, der nicht bleibt in all dem, das geschrieben steht im Buch des Gesetzes, daß er es tue" (Gal. 3,10). Eine Begründung dafür gibt JAKOBUS (2,10f): "So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig. Denn der da gesagt hat: Du sollst nicht ehebrechen, der hat auch gesagt: Du sollst nicht töten", d. h. wer an einem einzigen Punkt das Gesetz übertritt, sündigt gegen die Autorität, die das Gesetz aufgerichtet hat.

Damit sind uns die festen, unabänderlichen Normen für Leben und Tod gegeben. Unsterblichkeit und Seligkeit kommen den Rechtbeschaffenen zu. Wer in völliger Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz gelebt hat, ist dem Bereich des Todes entrückt. Dagegen ist Ausschluß aus dem Paradies und Verlust der Unsterblichkeit das Teil der Sünder, all derer, die in irgendeiner Form gegen jenes Gesetz verstoßen, und ihm nicht völlig genügt haben, indem sie sich irgendeine Übertretung haben zuschulden kommen lassen. So werden die Menschen durch das Gesetz vor die Entscheidung von Leben und Tod gestellt, je nachdem sie rechtbeschaffen oder nicht rechtbeschaffen, gerecht oder ungerecht, pünktliche Erfüller oder Übertreter des Gesetzes sind.

Da jedoch "alle gesündigt haben" (Röm. 3,23) und "der Herrlichkeit Gottes ermangeln", d. h. des himmlischen Gottesreiches, das oft seine Herrlichkeit heißt, so daß "durch des Gesetzes Werke niemand (weder Juden, noch Griechen) gerechtfertigt werden konnte", so ergibt sich, daß damals kein Mensch ewiges Leben und Seligkeit zu erlangen vermochte.

Vielleicht wird man fragen: Warum hat Gott den Menschen ein so schwer zu erfüllendes Gesetz gegeben, das zur Zeit des Apostels kein Nachkomme ADAMs ihm gengt hatte, wie aus Röm. 4 und Gal. 3,21f hervorgeht?

Antwort: Es war ein Gesetz, wie es die Heiligkeit Gottes erforderte, und wie es zugleich der Natur des Menschen entsprach. Sonst hätte ja Gott ihn als vernunftbegabtes Wesen erschaffen, ohne doch zu verlangen, daß er nach dem Gesetz der Vernunft lebt; er hätte vielmehr der Zügellosigkeit des Menschen und seinem Ungehorsam gegen seine eigene Einsicht und das seiner Natur entsprechende Gesetz Vorschub geleistet, d. h. er hätte bei seinen Geschöpfen Anordnung, Verwirrung und Gottlosigkeit gutgeheißen. Denn daß dieses Gesetz das der Vernunft oder, wie es auch genannt wird, das Gesetz der Natur war, werden wir seiner Zeit sehen. Und wenn vernünftige Geschöpfe nicht vernunftgemäß leben, wer soll sie entschuldigen? Gestattet man ihnen in  einem  Stück eine Abweichung von den Geboten der Vernunft, warum dann nicht auch in einem anderen? Wo soll man die Grenze ziehen? Irgendwelchen einzelnen Geboten Gottes (und die Gebote der Vernunft sind ja doch  seine  Gebote) nicht zu gehorchen, ist offene Auflehnung; setzt man sich an einer einzelnen Stelle über sie hinweg, so wird damit Regierung und Ordnung aufgehoben, und es können den gesetzwidrigen Ausschreitungen zügelloser Menschen keinerlei Schranken gezogen werden. Das Gesetz war somit, wie PAULUS es ausdrückt (Röm. 7,12) "heilig, gerecht und gut"; es war so, wie es unter allen Umständen sein mußte.

Da also jedem, der einer Sünde schuldig war, der Tod, d. h. ein Aufhören des Seins mit Gewißheit bevorstand, so würde die durch Christus bei der Auferstehung wiedergebrachte Gabe des Lebens von keiner großen Bedeutung gewesen sein (insofern auch hier wieder der Tod über alle Menschen hätte kommen müssen, weil "sie allzumal Sünder sind"; und der "Sold der Sünde", zu allen Zeiten, sowohl nach, als vor der Auferstehung, der Tod ist), hätte Gott nicht ein Mittel gefunden, um manche zu rechtfertigen, nämlich alle die, welche einem andern, von ihm gegebenen Gesetz gehorchten, das im Neuen Testament als  "Gesetz des Glaubens"  bezeichnet wird (Röm. 3,27) und dem  Gesetz der Werke  gegenübersteht. Deshalb bestand die Strafe derer, die ihm nicht folgen wollten, darin, daß sie ihre Seele verloren (Mk. 8,3538), d. h. aber, wie sich aus den Zusammenhang der Stelle ergibt: ihr Leben.

Um klarer zu erkennen, um klarer zu erkennen, was mit dem Gesetz des Glaubens gemeint ist, wird es zweckmäßig sein, zunächst  das Gesetz der Werke  in Betracht zu ziehen. Es ist kurz gesagt dasjenige Gesetz, welches völligen Gehorsam, ohne Abzug und Einschränkung fordert, sodaß kein Mensch ohne pünktliche Erfüllung jedes Tüttelchens gerecht oder gerechtfertigt werden kann. Ein solcher vollkommener Gehorsam wird im Neuen Testament  dikaiosyne  genannt, was wir mit Rechtschaffenheit des Staates, bzw. der Regierung übersetzen.

Dieses Gesetz besagt: Tue dies, so wirst Du leben; übertritt es, so wirst Du sterben. "Ihr sollt meine Satzungen halten und meine Rechte. Denn welcher Mensch dieselben tut, der wird dadurch leben" (Lev. 18,5). "Ich gab ihnen meine Gebote und lehrte sie meine Rechte, durch welche der Mensch lebt, der sie hält" (Ezech. 20,11). "Moses", sagt PAULUS, "schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt: welcher Mensch dies tut, der wird dadurch leben" (Röm. 10,5). "Das Gesetz ist nicht aus Glauben, sondern der Mensch, der es tut, wird dadurch leben" (Gal. 3,12). Und auf der anderen Seite: Übertritt, so wirst Du sterben. Dispens oder Sühne gibt es hierbei nicht. "Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in all dem, das geschrieben steht im Buch des Gesetzes, daß er es tue" (Gal. 3,10).

Wo dieses Gesetz der Werke zu finden ist, erfahren wir aus dem Neuen Testament: wir haben es im mosaischen Gesetz. "Das Gesetz ist durch MOSES gegeben, aber die Gnade und Wahrheit ist durch JESUS CHRISTUS worden" (Joh. 1,17). "Hat euch nicht MOSES das Gesetz gegeben?", sagt der Herr, "Und niemand unter euch tut das Gesetz" (Joh. 7,19). Dieses Gesetz meint er auch, als er den Schriftgelehrten fragt: "Wie steht im Gesetz geschrieben, wie liesest du?" (Luk. 10,26). "Tue das, so wirst du leben". Das ist es auch, was PAULUS so oft das Gesetz schlechthin nennt. "Nicht die das Gesetz hören, sind gerecht, sondern die das Gesetz tun, werden gerecht sein" (Röm. 2,13). Es erübrigt sich, noch weitere Stellen heranzuziehen; die Briefe des Apostels, besonders der an die Römer, weisen zahlreiche Belege auf.

Wenn aber das von MOSES gegebene Gesetz nicht allen Menschen gilt, inwiefern sind sie allzumal Sünder, da es ja doch ohne Gesetz keine Übertretung gibt? Hierauf erwidert der Apostel: "So die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur" - d. h. weil sie es vernünftig finden - "tun des Gesetzes Werk, so sind dieselbigen, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, daß des Gesetzes Werk ihnen ins Herz geschrieben ist, indem ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen" (Röm. 2,14f). Hieraus sowie aus anderen Stellen im folgenden Kapitel wird deutlich, daß das Gesetz der Werke nicht nur das Gesetz des MOSES, sondern auch das durch die Vernunft erkennbare Gesetz der Natur umfaßt. "Denn", sagt PAULUS, "wir haben bewiesen, daß beide, Juden und Griechen, alle unter der Sünde sind; sie sind allzumal Sünder und mangeln der Herrlichkeit Gottes" (Röm. 3, 9, 23), was ohne Gesetz nicht möglich gewesen wäre.

Ja, alles was Gott befiehlt, ohne dabei besonders an den Glauben zu denken, gehört zum Gesetz der Werke, z. B. das Verbot an ADAM, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nur ist hierbei zu berücksichtigen, daß gewissen ausdrücklichen Geboten Gottes, die bestimmten Zwecken dienen und auf besondere Zeiten, Orte und Personen zugeschnitten sind, kraft ausdrücklicher göttlicher Anordnung nur eine beschränkte Geltung zukommt. Dies war bei demjenigen Teil des mosaischen Gesetzes der Fall, durch das der Kultus und die bürgerliche Verfassung der Juden geregelt wurde, und das als Zeremonial- und richterliches Gesetz bezeichnet wird. Ihm steht der ethische Teil des Gesetzes gegenüber, dem ewige Geltung zukommt, da es der ewigen Rechtsnorm entspricht. Es bleibt deshalb auch unter dem Evangelium in Kraft und wird durch das Gesetz des Glaubens nicht aufgehoben, wie manche Gegner des PAULUS zu folgern bereit waren. "Wie? heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf" (Röm. 3,31).

Es ist einleuchtend, daß dem gar nicht anders sein kann. Denn gäbe es kein Gesetz der Werke, so könnte es auch kein  Gesetz des Glaubens  geben. Es hätte ja doch kein Bedürfnis nach einem den Menschen nach Gerechtigkeit anzurechnenden Glauben vorliegen können, hätte nicht als Norm und Maßstab der Rechtbeschaffenheit ein Gesetz bestanden, hinter dessen Forderungen die Menschen zurückblieben. Wo kein Gesetz ist, ist auch keine Sünde; alle sind, mit oder ohne Glauben, gleich recchtbeschaffen.

Die Rechtsnorm ist somit dieselbe, die sie immer war. Auch die Verpflichtung, sie zu beachten, bleibt die gleiche. Der einzige Unterschide zwischen dem Gesetz der Werke und dem des Glaubens besteht darin, daß das Gesetz der Werke unter keinen Umständen über einen einzelnen Verstoß hinwegsieht. Wer gehorcht ist rechtbeschaffen; war an irgendeinem Punkt das Gesetz übertritt, ist es nicht und darf nicht auf den Lohn der Rechtbeschaffenheit, das Leben, rechnen. Nach dem Gesetz des Glaubens dagegen darf der Glaube den unvollkommenen Gehorsam ersetzen, und so wird den Gläubigen Leben und Seligkeit zugesprochen, als wären sie rechtbeschaffen. Nur darf hierbei nicht übersehen werden, daß, wenn PAULUS sagt, das Evangelium richte das Gesetz auf, er den ethischen Teil des mosaischen Gesetzes im Auge hat. Daß er nicht an den kultischen oder bürgerlichen Teil desselben denkt, ergibt sich unzweideutig aus den oben angeführten Stellen, wo er sagt, daß die Heiden von Natur die Forderungen des Gesetzes erfüllen, wobei ihr Gewissen sein Zeugnis dazu gibt. Denn weder befolgten noch kannten sie überhaupt die kultischen und bürgerlichen Verordnungen MOSES'; nur die ethischen Forderungen kamen für ihr Gewissen in Betracht. Im übrigen erklärt PAULUS den Galatern, sie ständen nicht mehr unter dem Teil des Gesetzes, den er die "Elemente der Welt" und "schwache und dürftige Elemente" nennt (Gal. 4, 3, 9). Auch der Herr selbst sagt in der Bergpredigt zu seinen Hörern, was sie auch denken möchten, er sei jedenfalls nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es auszugestalten und zu verschärfen (Mt. 5,17). Daß dies die Bedeutung des  plerosai  [bestätigen, vervollständigen - wp] an der angeführten Stelle ist, geht aus dem folgenden Teil des Kapitels hervor, wo JESUS die Gesetzesvorschriften in strengerer Weise formuliert, als sie bisher verstanden worden waren. Es handelt sich dabei aber ausschließlich um Vorschriften ethischer Natur. Was aus dem Ritualgesetz werden sollte, sagt er der Samariterin in folgenden Worten: "Es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berg, noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeiten im Geist und in der Wahrheit; denn der Vater will haben, die ihn also anbeten" (Joh. 4,21,23).

Zusammenfassend können wir also sagen: der bürgerliche und kultische Teil des mosaischen Gesetzes hat für die Christen keinerlei Geltung, obwohl er für die Juden ein Bestandteil des Gesetzes der Werke war, insofern es eine der Forderungen des natürlichen Gesetzes ist, daß der Mensch jedem ausdrücklichen Gebot Gottes zu gehorchen hat, so oft es diesem gefällt, seinem natürlichen Gesetz eine derartige Ergänzung hinzuzufügen. Der ethische Teil des mosaischen Gesetzes dagegen, oder das ethische Gesetz schlechthin, das als ewige Norm des Rechts sich überall gleichbleibt, gilt den Christen und allen Menschen ohne Ausnahme; es ist also für alle das verbindliche Gesetz ihres Handelns. Der gläubige Christ aber hat das Vorrecht, zugleich unter dem Gesetz des Glaubens zu stehen, wonach Gott einen Menschen um seines Glaubens willen gerechtspricht, obwohl er nicht gerecht oder rechtbeschaffen ist, d. h. obwohl er einen vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz der Werke nicht zustande gebracht hat. Von Gott allein werden oder können diejenigen gerechtfertig oder gerecht gesprochen werden, die es ihren Werken nach nicht sind, ein Vorgang, der darin besteht, daß Gott ihnen den Glauben im Sinne der Rechtbeschaffenheit, d. h. einer vollkommenen Erfüllung der Gesetze, anrechnet. ABRAHAM hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Dem, der an den glaubt, der die Gottlosen gerecht macht, dem wir sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit. Wie dann auch DAVID den Mann selig preist, dem Gott Gerechtigkeit zurechnet ohne Zutun der Werke, d. h. ohne das volle Maß der Werke, das im vollkommenen Gehorsam besteht. "Selig sind die, denen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind, und denen ihre Sünden bedeckt sind; selig ist der Mensch, dem Gott die Sünde nicht zurechnet" (Röm. 4, 3, 5f).

Worin bestand nun der Glaube,  um dessentwillen Gott den ABRAHAM gerechtsprach? Darin, daß ABRAHAM Gott glaubte, als dieser bei der Bundesschließung seine Verheißung zum Unterpfand gab. Das wird ohne weiteres einleuchten, wenn man die folgenden Stellen miteinander vergleicht: "Er glaubte an den Herrn", oder "er glaubte dem Herrn" (Gen. 15,6). Daß nämlich der hebräische Terminus "glauben an" nicht mehr bedeutet als "jemandem glauben", geht aus der Zitierung dieser Stelle bei PAULUS hervor, der sie in folgender Fassung wiedergibt: "ABRAHAM hat Gott geglaubt" (Röm. 4,3). Dies erklärt der Apostel folgendermaßen: "Er hat auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war, geglaubt, daß er würde ein Vater vieler Völker, wie denn zu ihm gesagt ist: Also soll dein Same sein. Und er ward nicht schwach im Glauben,sah auch nicht an seinen eigenen Leib, welcher schon erstorben war, weil er fast hundertjährig war, auch nicht den erstorbenen Leib der SARA; er zweifelte nicht an der Verheißung Gottes durch Unglauben, sondern blieb stark im Glauben und gab Gott die Ehre und wußte aufs allergewisseste, was Gott verheißt, das kann er auch tun. Darum ist es ihm zur Gerechtigkeit gerechnet" (Röm. 4,18-22). Hieraus wird klar, daß der Glaube, den Gott dem ABRAHAM zur Gerechtigkeit anrechnete, nichts anderes war als ein festes Sichverlassen auf die Zusicherungen Gottes, ein unbedingtes Vertrauen auf ihn hinsichtlich der Erfüllung seiner Verheißungen.

"Das ist aber nicht geschrieben", sagt PAULUS, "allein um seinet (ABRAHAMs) willen, sondern auch um unsertwillen" (Röm. 4,23f). Er weist uns damit darauf hin, daß, wenn wir Gott so glauben, wie es ABRAHAM tat, dieser unser Glaube uns ebenso zur Gerechtigkeit gerechnet werden soll, wie es bei jenem der Fall war. Damit ist unverkennbar die Stetigkeit und Unerschütterlichkeit unseres Vertrauens gemeint, nicht aber, daß wir inhaltlich dasselbe zu glauben hätten, was ABRAHAM glaubte, daß er nämlich, obgleich er selbst und SARA zu alt waren, um noch auf Kinder hoffen zu dürfen, gleichwohl von ihr einen Sohn haben sollte, durch den er der Vater eines großen Volkes werden sollte, das das Land Kanaan einnehmen würde. Das war der Glaube ABRAHAMs, der ihm zur Gerechtigkeit gerechnet wurde; aber wohl niemand wird behaupten, daß ein Glaube desselben Inhalts für einen heutigen Menschen die gleiche Bedeutung erlangen könnte. Somit besagt das Gesetz des Glaubens in einem Wort, daß jeder gläubig hinnehmen soll, was Gott im einzelnen Fall als Bedingung eines zu schließenden Bundes von ihm fordert, ohne an der Erfüllung der göttlichen Verheißungen zu zweifeln. Darauf deutet der Apostel am Schluß dieser Ausführungen hin: "Auch um unsertwillen, denen es soll zugerechnet werden, wenn wir glauben an den, der unsern Herrn JESUM auferweckt hat von den Toten" (Röm. 4,24). Wir müssen deshalb genauer untersuchen, was Gott gegenwärtig von uns, die wir unter der Offenbarung des Evaneliums stehen, zu glauben fordert; denn der Glaube an den einen, unsichtbaren, ewigen, allmächtigen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde usw., war schon früher Forderung, wie er es noch jetzt ist.

Welcher Glaube von uns heute gefordert wird, damit wir das ewige Leben erlangen, wird im Evangelium deutlich ausgesprochen. JOHANNES sagt: "Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen" (3,36). Im folgenden Kapitel erfahren wir auch, was es mit diesem "an ihn glauben" auf sich hat: "Das Weib spricht zu ihm: Ich weiß, daß der Messias kommt; wenn derselbige kommt, wird er es uns allen verkündigen. JESUS spricht zu ihr: Ich bin es, der mit dir redet. Das Weib ging hin in die Stadt und spricht zu den Leuten: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. Es glaubten aber viel der Samariter um des Weibes Rede willen, das da zeugte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. Als nun die Samariter zu ihm kamen, glaubten noch viel mehr ums eines Wortes willen und sprachen zum Weibe: Wir glauben hinfort nicht um deiner Rede willen; wir haben selber gehört und erkannt, daß dieser ist wahrlich der Messias, der Welt Heiland" (Joh. 4,25f, 29, 39f).

Aus dieser Stelle wird klar, daß der Glaube an den Sohn identisch ist mit dem Glauben an die Messianität JESU aufgrund seiner Wunder und Selbstzeugnisse. Denn die, von denen es heißt, daß sie um der Rede des Weibes willen  an ihn glaubten,  sagen dem Weib später, daß sie nun nicht mehr um dieser Rede willen glauben, sondern, seit sie JESUS selbst gehört hätten, wüßten sie, d. h. sie  glaubten  in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise,  daß er der Messias ist. 

Das also war die große Streitfrage über JESUS von NAZARETH, die man damals erörterte: ob er der Messias sei oder nicht. Die Zustimmung hierzu war dasjenige, was Gläubige von Ungläubigen schied. Als viele seiner Jünger JESUS verließen, nachdem er sich als das vom Himmel herabgekommene Brot des Lebens bezeichnet hatte, fragte er die Zwölf: "Wollt ihr auch weggehen?" Hierauf erwidert PETRUS: "Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, daß du der Messias bist, der Sohn des lebendigen Gottes" (Joh. 6,69). Das war der Glaube, der sie von Abtrünnigen und Ungläubigen unterschied, und der genügte, sie in der Jüngerschaft zu erhalten. Und auf den gleichen Ausspruch, daß JESUS der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes, ist, den PETRUS getan hatte, erklärt der Herr seine Gemeinde aufbauen zu wollen (Mt. 16, 16-18).

Um davon die Menschen zu überzeugen, tat JESUS seine Wunder; ihre Anerkennung oder Ablehnung dieses einen Punktes entschied über ihre Zugehörigkeit zu seiner Gemeinde, machte sie zu Gläubigen oder Nichtgläubigen. "Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du unsere Seele in der Schwebe? Bist du der Messias, so sage es uns frei heraus. JESUS antwortet ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir. Aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht meine Schafe" (Joh. 10, 24-26). In Übereinstimmung damit sagt JOHANNES: "Viele Verführer sind in die Welt gekommen, die nicht bekennen, daß JESUS, der Messias, in das Fleisch gekommen ist. Das ist der Verführer und der Widerchrist. Wer nicht in der Lehre des Messias bleibt, der hat keinen Gott. Wer in der Lehre des Messias bleibt" (d. h. in der Lehre, daß JESUS der Messias ist), der hat beide, den Vater und den Sohn" (2. Joh. 7,9). Daß unsere Auffassung von dieser Stelle die richtige ist, geht aus dem hervor, was JOHANNES in seinem vorangehenden Brief schreibt: "Wer da glaubt, daß JESUS der Messias ist, der ist von Gott geboren" (1. Joh. 5,1). Deshalb sagt er auch, als sein Evanelium sich dem Ende nähert und er auf den Zweck hinweist, der ihn bei der Abfassung geleitet hat: "Auch viele andere Zeichen tat JESUS vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet, JESUS sei der Messias, der Sohn Gottes, und daß ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen" (Joh. 20, 30f). Hieraus wird deutlich: das Evangelium wurde geschrieben, um die Menschen zum Glauben an die These zu bringen, daß JESUS von NAZARETH der Messias war. Wenn sie ihr laubten, sollten sie das Leben haben.

Dementsprechend war auch die Hauptfrage bei den Juden die, ob er der Messias ist oder nicht. Und was das Evangeliums besonders betonte und feierlich verkündete, war die Tatsache,  daß  er es ist. Die erste Frohbotschaft, die von einem Engel den Hirten verkündet wurde, lautet: "Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist der Messias, der Herr" (Luk. 2,11). Als der Herr mit MARTHA über den Weg zur Erlangung ewigen Lebens spricht, sagt er: "Wer an mich glaubt, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?" Sie spricht: "Herr, ja; ich glaube daß du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist" (Joh. 11,27). Diese ihre Antwort lehrt, was es heißt, so an JESUM zu glauben, daß man das ewige Leben hat. Es heißt: glauben, daß er der Messias, der Sohn Gottes ist, dessen Kommen durch die Propheten vorherverkündigt war. ANDREAS und PHILIPPUS drücken dies folgendermaßen aus: "Wir haben den Messias gefunden, welches ist verdolmetscht: der Gesalbte" (Joh. 1,41). "PHILIPPUS spricht zu NATHANAEL: Wir haben den gefunden, vom dem MOSES im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, JESUM, JOSEPHs Sohn von Nazareth" (Joh. 1, 45) In Übereinstimmung mit dem, was der Evangelist an dieser Stelle sagt, haben wir zum Zweck besseren Verständnisses der Schriftaussagen überall für CHRISTUS eingesetzt:  Messias,  da ersteres nur die griechische Übersetzung des hebräischen Messias ist. Beides bedeutet: der Gesalbte.

Daß er der Messias ist, das war die große Wahrheit, von der JESUS seine Jünger und die Apostel zu überzeugen bemüht war, als er ihnen nach seiner Auferstehung erschien. Es ist dies aus LUKAS 24 zu entnehmen, einer Stelle, die wir in anderem Zusammenhang noch eingehender betrachten werden. Wir lesen da, welches Evangelium der Herr den Jüngern und den Aposteln verkündigte, und zwar, unmittelbar nachdem er von den Toten auferstanden war, zweimal noch am Tag der Auferweckung selbst.

Und wenn wir den Glauben, der von allen Völkern gefordert wurde, aus der Verkündigung erschließen dürfen, die an sie erging, so können wir beobachten, daß die Predigt der Jünger in der Apostelgeschichte durchweg auf jenes eine hinzielt, die Messianität JESU nachzuweisen. Und zwar wurde jetzt, nach seinem Tod,  auch der Glaube an seine Auferstehung  allgemein als notwendiges Stück gefordert, bisweilen sogar ausschließlich in den Vordergrund gerückt. Denn die Auferstehung war ein Kennzeichen und ein unzweifelhafter Beweis der Messianität und mußte von nun an notwendig von denen geglaubt werden, die JESUS als Messias anerkennen wollten. Da nämlich der Messias ein Heiland und König sein und denen, die ihn aufnahmen, das Leben und ein Reich vermitteln sollte, wie wir weiter unten sehen werden, so hätte es keinen Sinn gehabt, ihn für den Messias auszugeben und den Glauben an seine Messianität Leuten zuzumuten, nach deren Meinung er der Macht des Todes und der Verwesung des Grabes unterworfen war. Wer an JESU Messianität glaubte, mußte auch an seine Auferstehung von den Toten glauben, und umgekehrt konnte an seiner Messianität nicht zweifeln, wer an seine Auferstehung glaubte. Darüber an anderer Stelle mehr.

LITERATUR John Locke, Die Vernünftigkeit des biblischen Christentums, Gießen 1914
    Anmerkungen
    1) So die englische Bibel.