ra-2L. KühnO. KülpeJ. Cohnvon KernA. DöringSchiller    
 
FRIEDRICH SCHILLER
(1759-1805)
Das Naive

"Die Art des Wohlgefallens an der Natur ist kein ästhetisches, sondern ein moralisches; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Formen. Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemoster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen usw. für sich selbst etwas gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst."

"Das Gefühl, womit wir an der Natur hängen, ist dem Gefühl so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen. Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher ist es kein Wunder, wenn uns jeder Fußstapfen der uns auf unsere Kindheit zurückführt."

Es gibt Augenblicke in unserem Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften, sowie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unseren Sinnen wohltut, auch nicht weil sie unseren Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das gerade Gegenteil stattfinden) sondern bloß  weil sie Natur ist,  eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt dies, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Land lebt, oder bei Denkmälern der alten Zeiten verweilt, kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen mit dem Anblick der einfältigen Natur überrascht wird. Dieses, nicht selten zum Bedürfnis erhöhte Interesse ist es, was vielen unserer Liebhabereien für Blumen und Tiere, für einfache Gärten, für Spaziergänge, für das Land und seine Bewohner, für manche Produkte des fernen Altertums, und dgl. zugrunde liegt; vorausgesetzt, daß weder Affektationen, noch sonst ein zufälliges Interesse dabei im Spiel ist. Diese Art des Interesses an der Natur findet aber nur unter zwei Bedingungen statt. Fürs Erste ist es durchaus nötig, daß der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur ist oder doch von uns dafür gehalten wird; zweitens daß er (in weitester Bedeutung des Wortes)  naiv  ist, d. h. daß die Natur mit der Kunst im Kontrast steht und sie beschämt. Sobald das Letzte zum Ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.

Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts anderes, als das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eigenen unabänderlichen Gesetzen.

Diese Vorstellung ist schlechterdings nötig, wenn wir an dergleichen Erscheinungen Interesse nehmen sollen. Könnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur, mit der vollkommensten Täuschung geben, könnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur höchsten Jllusion treiben, so würde die Entdeckung daß es Nachahmung ist, das Gefühl, von dem die Rede ist, gänzlich vernichten (1). Daraus erhellt sich, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Formen. Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemoster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen usw. für sich selbst etwas gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte  Idee was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.

Sie  sind,  was wir  waren;  sie sind, was wir wieder  werden sollen.  Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Weg der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideal, daher versetzen sie uns in eine erhabene Rührung.

Aber ihre Vollkommenheit ist nicht ihr Verdienst, weil sie nicht das Werk ihrer Wahl ist. Sie gewähren uns also die ganz eigene Lust, daß sie, ohne uns zu beschämen, unsere Muster sind. Als eine beständige Göttererscheinung umgeben sie uns, aber mehr erquickend als blendend. Was ihren Charakter ausmacht, ist gerade das, was dem unsrigen zu seiner Vollendung mangelt; was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt. Wir sind frei und sie sind notwendig; wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich miteinander verbindet - wenn der Wille das Gesetz der Notwendigkeit frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Wir erblicken  in ihnen  also ewig das, was uns abgeht, aber wonach wir aufgefordert sind zu ringen, und dem wir uns, wenngleich wir es niemals erreichen, doch in einem unendlichen Fortschritt zu nähern hoffen dürfen. Wir erblicken  in uns  einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt niemals, wie das Vernunftlose, oder nicht anders als indem sie  unseren  Weg gehen, wie die Kindheit, teilhaftig werden können. Sie verschaffen uns dabei den süßesten Genuß unserer Menschheit als Idee, obgleich sie uns in Rücksicht auf jeden  bestimmten Zustand  unserer Menschheit notwendig demütigen müssen.

Da sich dieses Interesse für die Natur auf eine Idee gründet, so kann es sich nur in Gemütern zeigen, welche für Ideen empfänglich sind, d. h. in moralischen. Bei weitem die meisten Menschen affektieren es bloß, und die Allgemeinheit dieses sentimentalischen Geschmacks zu unseren Zeiten, welcher sich besonders seit der Erscheinung gewisser Schriften, in empfindsamen Reisen, dergleichen Gärten, Spaziergängen und anderen Liebhabereien dieser Art äußert, ist noch ganz und gar kein Beweis für die Allgemeinheit dieser Empfindungsweise. Doch wird die Natur auch auf den gefühllosesten immer etwas von dieser Wirkung äußern, weil schon die, allen Menschen gemeine,  Anlage  zum Sittlichen dazu ausreichend ist, und wir alle ohne Unterschied, bei noch so großer Entfernung unserer  Taten  von der Einfalt und Wahrheit der Natur,  in der Idee  dazu hingetrieben werden. Besonders stark und am allgemeinsten äußert sich diese Empfindsamkeit für die Natur bei der Veranlassung solcher Gegenstände, welche in einer engeren Verbindung mit uns stehen, und uns den Rückblick auf uns selbst und die  Unnatur  in uns näherlegen, wie z. B. bei Kindern. Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hilflosigkeit ist, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit soviel Rührung bei Kindern verweilen. Das mag bei denjenigen vielleicht der Fall sein, welche der Schwäche gegenüber nie etwas anderes als ihre eigene Überlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefühl, von dem ich rede, (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt, und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die fröhliche Tätigkeit der Kinder in uns erregt) ist eher demütigend als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn ja ein Vorzug dabei in Betrachtung kommt, so ist diese zumindest nicht auf unserer Seite. Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unseres Zustands, welche von der  Bestimmung,  die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit im Kind und zu seiner reinen Unschuld  hinaufsehen,  geraten wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewissen Wehmut gemischt, als daß sich diese Quelle desselben verkennen ließe. Im Kind ist die  Anlage  und  Bestimmung,  in uns ist die  Erfüllung  dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, zwar nicht des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deswegen ein  heiliger  Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größer einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet; und der, was er auch in der Beurteilung des Verstandes verlieren mag; in der Beurteilung der Vernunft wieder in reichem Maß gewinnt.

Eben aus diesem Widerspruch zwischen dem Urteil der Vernunft und des Verstandes geht die ganze eigene Erscheinung des gemischten Gefühls hervor, welches das  Naive  der Denkart in uns erregt. Es verbindet die  kindliche  Einfalt mit der  kindischen;  durch die letztere gibt es dem Verstand eine Blöße und bewirkt jenes Lächeln, wodurch wir unsere  (theoretische)  Überlegenheit zu erkennen geben. Sobald wir aber Ursache haben zu glauben, daß die kindische Einfalt zugleich eine kindliche ist, daß folglich nicht Unverstand, nicht theoretisches Unvermögen, sondern eine höhere  praktische  Stärke, ein Herz voll Unschuld und Wahrheit, die Quelle davon ist, welches die Hilfe der Kunst aus innerer Größe verschmähte, so ist jener Triumph des Verstandes vorbei, und der Spott über die Einfältigkeit geht in Bewunderung der hohen Einfachheit über. Wir fühlen uns genötigt, den Gegenstand zu achten, über den wir vorher  gelächelt  haben, und, indem wir zugleich einen Blick in uns selbst werfen, uns zu  beklagen,  daß wir demselben nicht ähnlich sind. So entsteht die ganz eigene Erscheinung eines Gefühls, in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Wehmut zusammenfließen (2). Zum Naiven wird erfordert, daß die Natur über die Kunst den Sieg davon trägt (3). Es geschehe dies nun gegen das Wissen und den Willen der Person, oder mit völligem Bewußtsein derselben. Im ersten Fall ist es das Naive der  Überraschung  und belustigt; im anderen ist es das Naive der  Gesinnung  und rührt.

Beim Naiven der Überraschung muß die Person  moralisch  fähig sein, die Natur zu verleugnen; bei Naiven der Gesinnung darf sie es nicht sein, doch dürfen wir sie uns nicht als  physisch  unfähig dazu denken, wenn es als naiv auf uns wirken soll. Die Handlungen und Reden der Kinder geben uns daher auch nur solange den reinen Eindruck des Naiven, als wir uns ihres Unvermögens zur Kunst nicht erinnern, und überhaupt nur auf den Kontrast ihrer Natürlichkeit mit der Künstlichkeit in uns Rücksicht nehmen. Das Naive ist eine  Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird,  und kann eben deswegen der wirklichen Kindheit in strengster Bedeutung nicht zugeschrieben werden.

In beiden Fällen aber, beim Naiven der Überraschung wie bei dem der Gesinnung muß die Natur Recht, die Kunst aber Unrecht haben.

Erst durch diese letztere Bestimmung wird der Begriff des Naiven vollendet. Der Affekt ist auch Natur und die Regel der Anständigkeit ist etwas Künstliches, dennoch ist der Sieg des Affekts über die Anständigkeit nichts weniger als naiv. Siegt hingegen derselbe Affekt über die Künsteley, über die falsche Anständigkeit, über die Verstellung, so tragen wir kein Bedenken, es naiv zu nennen (4). Es ist also erforderlich, daß die Natur nicht durch ihre blinde Gewalt als  dynamische,  sondern daß sie durch ihre Form als  moralische  Größe, kurz daß sie nicht als  Notdurft,  sondern als  innere Notwendigkeit  über die Kunst triumphiert. Nicht die Unzulänglichkeit, sondern die  Unstatthaftigkeit  der letzteren muß der ersteren den Sieg verschafft haben; denn jene ist Mangel, und nichts, was aus Mangel entspringt, kann Achtung erzeugen. Zwar ist es beim Naiven der Überraschung immer die Übermacht des Affekts und ein  Mangel  an Besinnung, was die Natur bekennen macht; aber dieser Mangel und jene Übermacht machen das Naive noch gar nicht aus, sondern geben bloß Gelegenheit, daß die Natur  ihrer moralischen Beschaffenheit,  d. h. dem Gesetz  der Übereinstimmung ungehindert folgt. 

Das Naive der Überraschung kann nur dem Menschen zwar dem Menschen nur, insofern er in diesem Augenblick nicht mehr reine und unschuldige Natur ist, zukommen. Es setzt einen Willen voraus, der mit dem was die Natur auf ihre eigene Hand tut, nicht übereinstimmt. Eine solche Peron wird, wenn man sie zur Besinnung bringt, über sich selbst erschrecken; die naiv  gesinnte  hingegen wird sich über die Menschen und über ihr Erstaunen verwundern. Da also hier nicht der persönliche und moralische Charakter, sondern bloß der, durch den Affekt freigelassene natürliche Charakter die Wahrheit bekennt, so machen wir dem Menschen aus dieser Aufrichtigkeit kein Verdienst und unser Lachen ist verdienter Spott, der durch keine persönliche Hochschätzung desselben zurückgehalten wird. Weil es aber doch auch hier die Aufrichtigkeit der Natur ist, die durch den Schleier der Falschheit hindurch bricht, so verbindet sich eine Zufriedenheit höherer Art, mit der Schadenfreude, einen Menschen ertappt zu haben; denn die Natur im Gegensatz zur Künstelei und die Wahrheit im Gegensatz zum Betrug muß jederzeit Achtung erregen. Wir empfinden also auch über das Naive der Überraschung ein wirklich moralisches Vergnügen, wenn auch nicht über einen moralischen Gegenstand. (5)

Beim Naiven der Überraschung achten wir zwar immer die  Natur,  weil wir die Wahrheit achten müssen; bei Naiven der Gesinnung achten wir hingegen die  Person und genießen also nicht bloß ein moralisches Vergnügen, sondern auch einen moralischen Gegenstand. Im einen wie im andern Fall hat die Natur  Recht,  daß sie die Wahrheit sagt; aber im letzteren Fall hat die Natur nicht bloß Recht, sondern die Person hat auch  Ehre Im ersten Fall gereicht die Aufrichtigkeit der Natur der Person immer zur Schande, weil sie unfreiwillig ist; im zweiten gereicht sie ihr immer zum Verdienst, gesetzt auch, daß dasjenige, was sie aussagt, ihr Schande brächte.

Wir schreiben einem Menschen eine naive Gesinnung zu, wenn er in seinen Urteilen von den Dingen ihre gekünstelten und gesuchten Verhältnisse übersieht und sich bloß an die einfache Natur hält. Alles was innerhalb der gesunden Natur davon geurteilt werden kann, fordern wir von ihm, und erlassen ihm schlechterdings nur das, was eine Entfernung von der Natur, ob im Denken oder im Empfinden, wenigstens eine Bekanntschaft derselben voraussetzt.

Wenn ein Vater seinem Kind erzählt, daß dieser oder jener Mann in Armut verschmachtet und das Kind hingeht und dem armen Mann seines Vaters Geldbörse zuträgt, so ist diese Handlung naiv; denn aus dem Kind handelt die gesunde Natur, und in einer Welt, wo die gesunde Natur herrscht, würde es vollkommen recht gehabt haben, so zu verfahren. Es sieht bloß auf das Bedürfnis, und auf das nächste Mittel es zu befriedigen; eine solche Ausdehnung des Eigentumsrechts, wobei ein Teil der Menschen zugrunde gehen kann, ist in der bloßen Natur nicht begründet. Die Handlung des Kindes ist also eine Beschämung der wirklichen Welt, und das gesteht auch unser Herz durch das Wohlgefallen, welches es über jene Handlung empfindet.

Wenn ein Mensch ohne Weltkenntnis, sonst aber von gutem Verstand, einem anderen, der ihn betrügt, sich aber geschickt zu verstellen weiß, seine Geheimnisse beichtet, und ihm durch seine Aufrichtigkeit selbst die Mittel leiht ihm zu schaden, so finden wir das naiv. Wir lachen ihn aus, aber können uns doch nicht erwehren, ihn deswegen hochzuschätzen. Denn sein Vertrauen auf den andern quillt aus der Redlichkeit seiner eigenen Gesinnungen; zumindest ist er nur insofern naiv, als das der Fall ist.

Das Naive der Denkart kann daher niemals eine Eigenschaft verdorbener Menschen sein, sondern nur Kindern und kindlich gesinnten Menschen zukommen. Diese letzteren handeln und denken oft mitten unter den gekünstelten Verhältnissen der großen Welt naiv; sie vergessen aus eigener schöner Menschlichkeit, daß sie es mit einer verderbten Welt zu tun haben, und betragen sich selbst an den Höfen der Könige mit einer Ingenuität [natürliche Offenheit - wp] und Unschuld, wie man sie nur in einer Schäferwelt findet.

Es ist übrigens gar nicht so leicht, die kindische Unschuld von der kindlichen richtig zu unterscheiden, indem es Handlungen gibt, welche auf der äußersten Grenze zwischen beiden schweben, und bei denen wir schlechterdings im Zweifel gelassen werden, ob wir die Einfältigkeit belachen oder die edle Einfalt hochschätzen sollen. Ein sehr merkwürdiges Beispiel dieser Art findet man in der Regierungsgeschichtes des Pabstes ADRIAN VI., die uns Herr SCHRÖCKH mit der ihm eigenen Gründlichkeit und pragmatischen Wahrheit beschrieben hat. Dieser Pabst, ein Niederländer von Geburt, verwaltete das Pontifikat in einem der kritischsten Augenblicke für die Hierarchie, wo eine erbitterte Partei die Blößen der römischen Kirche ohne alle Schonung aufdeckte, und die Gegenpartei im höchsten Grad interessiert war, sie zuzudecken. Was der wahrhaft naive Charakter, wenn sich überhaupt ein solcher auf den Stuhl des heiligen  Peters  verirrte, in diesem Fall zu tun hatte ist keine Frage; wohl aber wie weit eine solche Naivität der Gesinnung mit der Rolle des Pabstes verträglich sein möchte. Dies war es übrigens, was die Vorgänger und die Nachfolger ADRIANs in die geringste Verlegenheit setzte. Mit Gleichförmigkeit befolgten sie das einmal angenommene römische System, überall nichts einzuräumen. Aber ADRIAN hatte wirklich den geraden Charakter seiner Nation, und die Unschuld seines ehemaligen Standes. Aus der engen Sphäre des Gelehrten war er zu seinem erhabenen Posten emporgestiegen, und selbst auf der Höhe seiner neuen Würde jenem einfachen Charakter nicht untreu geworden. Die Mißbräuche in der Kirche rührten ihn, und er war viel zu redlich, öffentlich zu dissimulieren [verheimlichen - wp], was er sich im Stillen eingestand. Dieser Denkart gemäß ließ er sich in der  Instruktion,  die er seinem Legaten nach Deutschland mitgab, zu Geständnissen verleiten, die noch bei keinem Pabst erhört wurden, und den Grundsätzen dieses Hofes schnurgerade zuwiderliefen.
    "Wir wissen es wohl", hieß es unter anderem, "daß an diesem heiligen Stuhl schon seit mehreren Jahren viel Abscheuliches vorgegangen ist; kein Wunder, wenn sich der kranke Zustand vom Haupt auf die Glieder, vom Pabst auf die Prälaten fortgeerbt hat. Wir alle sind abgewichen, und schon seit langem ist keiner unter uns gewesen, der etwas Gutes getan hätte auch nicht Einer."
Wieder anderswo befiehlt er dem Legaten in  seinem  Rahmen zu erklären,
    "daß er,  Adrian,  wegen dessen, was vor ihm von den Päbsten geschehen ist, nicht getadelt werden darf, und daß dergleichen Ausschweifungen, auch da er noch in einem geringen Stand gelebt hatte, ihm immer mißfallen hätten" usw.
Man kann leicht denken, wie eine solche Naivität des Pabstes vom römischen Klerus mag aufgenommen worden sein; das wenigste, was man ihm Schuld gab war, daß er die Kirche an die Ketzer verraten hat. Dieser höchst unkluge Schritt des Pabstes würde jedoch unserer ganzen Achtung und Bewunderung wert sein, wenn wir uns nur überzeugen könnten, daß er wirklich naiv gewesen war, d. h. daß er ihm bloß durch die natürliche Wahrheit seines Charakters ohne alle Rücksicht auf die möglichen Folgen abgenötigt worden ist, und daß er ihn nicht weniger getan haben würde, wenn er die begangene Unschicklichkeit in ihrem ganzen Umfang eingesehen hätte. Aber wir haben vielmehr Ursache zu glauben, daß er diesen Schritt für gar nicht so unpolitisch hielt, und in seiner Unschuld so weit ging zu hoffen, durch seine Nachgiebigkeit gegen die Gegner etwas sehr Wichtiges für den Vorteil seiner Kirche gewonnen zu haben. Er bildete sich nicht bloß ein, diesen Schritt als redlicher Mann tun zu müssen, sondern ihn auch als Pabst verantworten zu können, und indem er vergaß, daß das künstlichste aller Gebäude schlechterdings nur durch eine fortgesetzte Verlängerung der Wahrheit erhalten werden kann, beging er den unverzeihlichen Fehler, Verhaltensregeln, die sich in natürlichen Verhältnissen bewährt haben mochten, in einer ganz entgegengesetzten Lage zu befolgen. Dies verändert allerdings unser Urteil sehr; und obgleich wir der Redlichkeit des Herzens, aus dem jene Handlung floß, unsere Achtung nicht versagen können, so wird diese Letztere nicht wenig durch die Betrachtung geschwächt, daß die Natur an der Kunst und das Herz am Kopf einen schwachen Gegner gehabt hat.

Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivheit allein macht es zum Genie, und was es im Intellektuellen und Ästhetischen ist, kann es im Moralischen nicht verleugnen. Unbekannt mit den Regeln, den Krücken der Schwachheit und den Zuchtmeistern der Verkehrtheit, bloß von der Natur oder dem Instinkt, seinem schützenden Engel, geleitet, geht es ruhig und sicher durch alle Schlingen des falschen Geschmacks, in welchen, wenn es nicht so klug ist, sie schon von weitem zu vermeiden, das Nichtgenie unausbleiblich verstrickt wird. Nur dem Genie ist es gegeben, außerhalb des Bekannten noch immer zu Hause zu sein, und die Natur zu  erweitern,  ohne über die  hinauszugehen.  Zwar begegnet Letzteres zuweilen auch den größten Genies, aber nur, weil auch diese ihre phantastischen Augenblicke haben, wo die schützende Natur sie verläßt, weil die Macht des Beispiels sie hinreißt, oder der verdorbene Geschmack ihrer Zeit sie verleitet.

Die verwickeltsten Aufgaben muß das Genie mit anspruchsloser Simplizität und Leichtigkeit lösen; das Ei des Kolumbus gilt von jeder genialen Entscheidung. Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, daß es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines Gottes (alles was die gesunde Natur tut ist göttlich) seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und für alle Geschlechter der Menschen.

Den kindlichen Charakter, den das Genie in seinen Werken ausdrückt, zeigt es auch in seinem Privatleben und in seinen Sitten. Es ist  schamhaft,  weil die Natur das auch ist; aber es ist nicht  dezent,  weil nur die Verdorbenheit dezent ist. Es ist  verständig,  denn die Natur kann nie das Gegenteil sein; aber es ist nicht  listig,  denn das kann nur die Kunst sein. Es ist seinem Charakter und seinen Neigungen  treu,  aber nicht sowohl weil es Grundsätze hat, sondern weil die Natur bei allem Schwanken immer wieder in die vorige Stelle rückt, immer das alte Bedürfnis zurückbringt. Es ist  bescheiden,  ja blöde, weil das Genie immer sich selbst Geheimnis bleibt, aber es ist nicht ängstlich, weil es die Gefahren des Weges nicht kennt, den es wandelt. Wir wissen wenig vom Privatleben der größten Genies, aber auch das wenige, was uns z. B. von SOPHOKLES, von ARCHIMEDES, von HIPPOKRATES, und aus neueren Zeiten von ARIOST, DANTE und TASSO, von RAPHAEL, von ALBRECHT, DÜRER, CERVANTES, SHAKESPEARE, von FIELDING, STERNE u. a. aufbewahrt worden ist, bestätigt diese Behauptung.

Ja, was noch weit mehr Schwierigkeit zu haben scheint, selbst der große Staatsmann und Feldherr, werden sobald sie durch ihr Genie groß sind, einen naiven Charakter zeigen. Ich will hier unter den Alten nur an EPAMINONDAS und JULIUS CÄSAR, unter den Neueren nur an HEINRICH IV. von Frankreich, GUSTAV ADOLF von Schweden und Zar PETER den Großen
erinnern, Der Herzog von MARLBOROUGH, TURENNE, VENDOME zeigen uns allen diesen Charakter. Dem anderen Geschlecht hat die Natur im naiven Charakter seine höchste Vollkommenheit angewiesen. Nach nichts ringt die weibliche Gefallsucht so sehr als nach dem Schein  des Naiven;  Beweis genug, wenn man auch sonst keinen hätte, daß die größte Macht des Geschlechts auf dieser Eigenschaft beruth. Weil aber die herrschenden Grundsätze bei der weiblichen Erziehung mit diesem Charakter in einem ewigen Streit liegen, so ist es dem Weib im moralischen ebenso schwer als dem Mann im intellektuellen mit den Vorteilen der guten Erziehung jenes herrliche Geschenk der Natur unverloren zu behalten; und die  Frau die mit einem geschickten Betragen für die große Welt diese Naivheit der Sitten verknüpft, ist ebenso hochachtungswürdig wie der Gelehrte, der mit der ganzen Strenge der Schule eine geniale Freiheit des Denkens verbindet.

Aus der naiven Denkart fließt notwendigerweise auch ein naiver Ausdruck sowohl in Worten wie auch in Bewegungen, und er ist das wichtigste Bestandsstück der Grazie. Mit dieser naiven Anmut drückt das Genie seine erhabensten und tiefsten Gedanken aus; es sind Göttersprüche aus dem Mund eines Kindes. Wenn der Schulverstand, immer vor Irrtum bange, seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt, hart und steif ist, um ja nicht unbestimmt zu sein, viele Worte macht, um ja nicht zu viel zu sagen, und dem Gedanken, damit er ja den Unvorsichtigen nicht schneidet, liebt die Kraft und die Schärfe nimmt, so gibt das Genie dem seinigen mit einem einzigen glücklichen Pinselstrich einen ewig bestimmten, festen und dennoch ganz freien Umriß. Wenn dort das Zeichen dem Bezeichneten ewig heterogen und fremd bleibt, so springt hier wie durch innere Notwendigkeit die Sprache aus dem Gedanken hervor, und ist so sehr eins mit demselben, daß selbst unter der körperlichen Hülle der Geist wie entblößt erscheint. Eine solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz im Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackt läßt, da ihn die andere nie darstellen kann, ohne ihn zugleich zu verhüllen, ist es, was man in der Schreibart vorzugsweise genial und geistreich nennt.

Frei und natürlich, wie das Genie in seinen Geisteswerken, drückt sich die Unschuld des Herzens im lebendigen Umgang aus. Bekanntlich ist man im gesellschaftlichen Leben von der Simplizität und strengen Wahrheit des Ausdrucks in demselben Verhältnis, wie von der Einfalt der Gesinnungen abgekommen, und die leicht zu verwundende Schuld sowie die leicht zu verführende Einbildungskraft haben einen ängstlichen Anstand notwendig gemacht. Ohne falsch zuz sein redet man öfters anders, als man denkt; man muß Umschweife machen, um Dinge zu sagen, die nur einer kranken Eigenliebe Schmerz bereiten, nur einer verdorbenen Phantasie Gefahr bringen können. Eine Unkunde dieser konventionellen Gesetze, verbunden mit natürlicher Aufrichtigkeit, welche jedes Krumme und jeden Schein von Falschheit verachtet, (nicht Roheit, welche sich darüber, weil sie ihr lästig sind, hinwegsetzt) erzeugen eine Naivheit des Ausdrucks im Umgang, welche darin besteht, Dinge, die man entweder gar nicht oder nur künstlich bezeichnen darf, mit ihrem rechten Rahmen und auf dem kürzesten Weg zu benennen. Von der Art sind die gewöhnlichen Ausdrücke der Kinder. Sie erregen Lachen durch ihren Kontrast mit den Sitten, doch wird man sich immer im Herzen gestehen, daß das Kind recht hat.

Das naive der Gesinnung kann zwar, eigentlich genommen, auch nur dem Menschen als einem der Natur nicht schlechterdings unterworfenen Wesen beigelegt werden, obgleich nur insofern als wirklich noch die reine Natur aus ihm handelt; aber durch einen Effekt der poetisierenden Einbildungskraft wird es öfters vom Vernünftigen auf das Vernunftlose übertragen. So legen wir öfters einem Tier, einer Landschaft, einem Gebäude, ja der Natur überhaupt, im Gegensatz gegen die Willkür und die phantastischen Begriffe des Menschen einen naiven Charakter bei. Dies erfordert aber immer, daß wir dem Willenlosen in unseren Gedanken einen Willen leihen, und auf die strenge Richtung desselben nach dem Gesetz der Notwendigkeit merken. Die Unzufriedenheit über unsere eigene schlecht gebrauchte moralische Freiheit und über die in unserem Handeln vermißte sittliche Harmonie führt leicht eine solche Stimmung herbei, in der wir das Vernunftlose wie eine Person anreden, und demselben, als wenn es wirklich mit einer Versuchung zum Gegenteil zu kämpfen gehabt hätte, seine ewige Gleichförmigkeit zum Verdienst machen, seine ruhige Haltung beneiden. Es steht uns in einem solchen Augenblick wohl an, daß wir das Prärogativ [Vorrecht - wp] unserer Vernunft für einen Fluch und für ein Übel halten, und über dem lebhaften Gefühl der Unvollkommenheit unseres wirklichen Leistens die Gerechtigkeit gegen unsere Anlage und Bestimmung aus den Augen verlieren.

Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die im mütterlichen Haus zurückblieb, aus welchem wir im Übermut unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen haben, die Drangsale der Kultur zu erfahren und hören im fernen Ausland der Kunst der Mutter rührende Stimme. Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden, und haben beides verloren. Daraus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur; eine Sehnsucht nach ihrer  Glückseligkeit,  eine Sehnsucht nach ihrer  Vollkommenheit.  Den Verlust der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern kann nur der moralische Mensch trauern.

Frage dich also wohl, empfindsamer Freund der Natur, ob deine Trägheit nach ihrer Ruhe, ob deine beleidigte Sittlichkeit nach ihrer Übereinstimmung schmachtet? Frage dich wohl, wenn die Kunst dich anekelt und die Mißbräuche in der Gesellschaft dich zur leblosen Natur in die Einsamkeit treiben, ob es ihre Beraubungen, ihre Lasten, ihre Mühseligkeiten, oder ob es ihre moralische Anarchie, ihre Willkür, ihre Unordnungen sind, die du an ihr verabscheust? In jene muß dein Mut sich mit Freuden stürzen und dein Ersatz muß die Freiheit selbst sein, aus der sie fließen. Wohl darfst du dir das ruhige Naturglück zum Ziel in der Ferne aufstecken, aber nur jenes, welches der Preis deiner Würdigkeit ist. Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Verhältnisse, über die Unsicherheit des Besitzes, über Undank, Unterdrückung, Verfolgung; allen  Übeln  der Kultur nußt du mit freier Resignation dich unterwerfen, mußt sie als die Naturbedingungen des  einzig  Guten respektieren; nur das  Böse  derselben muß du, aber nicht bloß mit schlaffen Tränen, beklagen. Sorge vielmehr dafür; daß du selbst unter jenen Befleckungen rein, unter jener Knechtschaft frei, unter jenem launischen Wechsel beständig, unter jener Anarchie gesetzmäßig handelst. Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außerhalb, aber vor der Verwirrung in dir; strebe nach  Einheit,  aber suche sie nicht in der Einförmigkeit; strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit. Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht wert. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freiem Bewußtsein und Willen das Gesetz zu ergreifen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen.

Aber wenn du über das verlorene  Glück  der Natur getröstet bis, so laß ihre  Vollkommenheit  deinem Herzen zum Muster dienen. Trittst du heraus zu ihr aus deinem künstlichen Kreis, steht sie vor dir in ihrer großen Ruhe, in ihrer naiven Schönheit, in ihrer kindlichen Unschuld und Einfalt; dann verweile bei diesem Bild, pflege dieses Gefühl, es ist deiner herrlichsten Menschheit würdig. Laß dir nicht mehr einfallen, mit ihr  tauschen  zu wollen, aber nimm sie in dich auf und strebe, ihren unendlichen Vorzug mit deinem eigenen unendlichen Prärogativ zu vermählen, und aus beidem das Göttliche zu erzeugen. Sie umgebe dich wie eine liebliche  Idylle,  in der du dich selbst immer wiederfindest, aus den Verirrungen der Kunst, bei der du Mut und neues Vertrauen sammelst zum Lauf und die Flamme des  Ideals,  die in den Stürmen des Lebens so leicht erlischt, in deinem Herzen von neuem entzündest.

Wenn man sich der schönen Natur erinnert, welche die alten  Griechen  umgab, wenn man nach denkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem glücklichen Himmel mit der freien Natur leben konnte, wie sehr viel näher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweise, seine Sitten der einfältigen Natur lagen, und welch ein treuer Abdruck derselben seine Dichterwerke sind, so muß die Bemerkung befremden, daß man so wenige Spuren von einem  sentimentalen  Interesse, mit welchem wir Neuere an Naturszenen und an Naturcharaktere hängen können, bei demselben antrifft. Der Grieche ist zwar im höchsten Grad genau, treu, umständlich in der Beschreibung derselben, aber doch gerade nicht mehr und mit keinem vorzüglicheren Herzensanteil, als er es auch in der Beschreibung eines Anzuges, eines Schildes, einer Rüstung, eines Hausgeräts oder irgendeines mechanischen Produktes ist. Er scheint, in seiner Liebe für das Objekt, keinen Unterschied zwischen demjenigen zu machen, was durch sich selbst und dem was durch die Kunst und durch den menschlichen Willen ist. Die Natur scheint mehr seinen Verstand und seine Wißbegierde, als sein moralisches Gefühl zu interessieren; er hängt nicht mit Innigkeit, mit Empfindsamkeit, mit süßer Wehmut an derselben, wie wir Neueren. Ja, indem er sie in ihren einzelnen Erscheinungen personifiziert und vergöttert, und ihre Wirkungen als Handlungen freier Wesen darstelle, hebt er die ruhige Notwendigkeit in ihr auf, durch welche sie für uns gerade so anziehend ist. Seine ungeduldige Phantasie führt ihn über sie hinweg zum Drama des menschlichen Lebens. Nur das Lebendige und Freie, nur Charaktere, Handlungen, Schicksale, und Sitten befriedigen ihn,
    "und wenn  wir  in gewissen moralischen Stimmungen des Gemüts wünschen können, den Vorzug unserer Willensfreiheit, der uns so vielem Streit mit uns selbst, so vielen Unruhen und Verirrungen aussetzt, gegen die wahllose aber ruhige Notwendigkeit des Vernunftlosen hinzugeben, so ist, gerade umgekehrt, die Phantasie des Griechen geschäftig, die menschliche Naturschon in der unbeseelten Welt anzufangen, und da, wo eine blinde Notwendigkeit herrscht, dem Willen Einfluß zu geben."
Woher wohl dieser verschiedene Geist? Wie kommt es, daß wir, die in allem was Natur ist, von den Alten so unendlich weit übertroffen werden, gerade hier der Natur in einem höheren Grad huldigen, mit Innigkeit an ihr hängen, und selbst die leblose Welt mit der wärmsten Empfindung umfassen können?  Daher  kommt es, weil die Natur bei uns aus der Menschheit verschwunden ist, und wir sie nur außerhalb dieser, in der unbeseelten Welt, in ihrer Wahrheit wieder antreffen. Nicht unsere größere  Naturmäßigkeit,  ganz im Gegenteil die  Naturwidrigkeit  unserer Verhältnisse, Zustände und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Trieb nach Wahrheit und Simplizität, der, wie die moralische Anlage, aus welcher er fließt, unbestechlich und unaustilgbar in allen menschlichen Herzen liegt, in der physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die in der moralischen nicht zu erhoffen ist. Deswegen ist das Gefühl, womit wir an der Natur hängen, dem Gefühl so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindischen Unschuld beklagen. Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen, daher ist es kein Wunder, wenn uns jeder Fußstapfen der Natur uns auf unsere Kindheit zurückführt.

Sehr viel anders war es mit den alten Griechen. (6) Bei diesen artete die Kultur nicht so weit aus, daß die Natur darüber verlassen wurde. Der ganze Bau ihres gesellschaftlichen Lebens war auf Empfindungen, nicht auf einem Machwerk der Kunst errichtet; ihre Götterlehre selbst war die Eingebung eines naiven Gefühls, die Geburt einer fröhlichen Einbildungskraft, nicht der grübelnden Vernunft, wie der Kirchenglaube der neueren Nationen; da also der Grieche die Natur in der Menschheit nicht verloren hatte, so konnte er, außerhalb derselben, auch nicht von ihr überrascht werden, und kein so dringendes Bedürfnis nach Gegenständen haben, in denen er sie wiederfand. Einig mit sich selbs, und glücklich im Gefühl seiner Menschheit mußte er bei dieser als seinem Maximum still stehen, und alles andere derselben zu nähern bemüht sein; wenn  wir,  uneinig mit uns selbst, und unglücklich in unseren Erfahrungen von Menschheit, kein dringenderes Interesse haben, als aus derselben herauszufliehen, und eine so mißlungene Form aus unseren Augen zu rücken.

Das Gefühl, von dem hier die Rede ist, ist also nicht das, was die Alten hatten; es ist vielmehr einerlei mit demjenigen, welches wir  für die Alten haben.  Sie empfanden natürlich; wir empfinden das Natürliche. Es war ohne Zweifel ein ganz anderes Gefühl, was HOMERs Seele füllte, als er seinen göttlichen Sauhirten den  Ulysses  bewirten ließ, als was die Seele des jungen  Werthers  bewegte, da er nach einer lästigen Gesellschaft diesen Gesang las. Unser Gefühl für Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.

So wie nach und nach die Natur anfing, aus dem menschlichen Leben als  Erfahrung  und als das (handelnde und empfindende)  Subjekt  zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als  Idee  und als  Gegenstand  aufgehen. Diejenige Nation, welche es zugleich in der Unnatur und in der Reflexion darüber am weitesten gebracht hatte, mußte zuerst vom Phänomen des  Naiven  am stärksten gerührt werden, und demselben einen Namen geben. Diese Nation waren, soviel ich weiß, die  Franzosen.  Aber die Empfindung des Naiven und das Interesse an demselben ist natürlicherweise viel älter, und datiert sich schon vom Anfang der moralischen und ästhetischen Verderbnis an. Diese Veränderung in der Empfindungsweise ist zum Beispiel schon äußerst auffallend im EURIPIDES, wenn man diesen mit seinen Vorgängern besonders dem AESCHYLUS vergleicht, und doch war jener Dichter der Günstling seiner Zeit. Die selbe Revolution läßt sich auch unter den alten  Historikern  nachweisen. HORAZ, der Dichter eines kultivierten und verdorbenen Weltalters preist die ruhige Glückseligkeit in seinem  Tibur,  und ihn könnte man als den wahren Stifter dieser sentimentalen Dichtungsart nennen, so wie er auch in derselben ein noch nicht übertroffenes Muster ist. Auch im PROPERZ, VIRGIL u. a. findet man Spuren dieser Empfindungsweise, weniger bei OVID, dem es dazu an der Fülle des Herzens fehlte, und der in seinem Exil in Tomi die Glückseligkeit schmerzlich vermißt, die HORAZ in seinem  Tibur  so gern entbehrte.

Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriff nach, die  Bewahrer  der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren oder doch mit denselben zu kämpfen gehabt haben, da werden sie als die  Zeugen  und als die  Rächer  der Natur auftreten. Sie werden also entweder Natur  sein,  oder sie werden die verlorene  suchen.  Daraus entspringen zwei ganz verschiedene Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird. Alle Dichter, die es wirklich sind, werden, je nahdem die Zeit beschaffen ist, in der sie blühen, oder zufällige Umstände auf ihre allgemeine Bildung und auf ihre vorübergehende Gemütsstimmung Einfluß haben, entweder zu den  naiven  oder zu den  sentimentalen  gehören.

Der Dichter einer naiven und geistreichen Jugendwelt, so wie derjenige, der in den Zeitaltern künstlicher Kultur ihm am nächsten kommt, ist kalt, gleichgültig, verschlossen, ohne alle Vertraulichkeit. Streng und spröde, wie die jungfräuliche  Diana  in ihren Wäldern, entflieht er dem Herzen, das ihn sucht, dem Verlangen, das ihn umfassen will. Nichts erwidert er, nichts kann ihn schmelzen, oder den strengen Gürtel seiner Nüchternheit lösen. Die trockene Wahrheit, womit er den Gegenstand behandelt, erscheint nicht selten als Unempfindlichkeit. Das Objekt besitzt ihn gänzlich, sein Herz liegt nicht wie ein schlechtes Metall gleich unter der Oberfläche, sondern will wie das Gold in der Tiefe gesucht sein. Wie die Gottheit hinter dem Weltgebäude, so steht er hinter seinem Werk; Er ist das Werk und das Werk ist Er; man muß des ersteren schon nicht wert oder nicht mächtig oder schon satt sein, um nach Ihm nur zu fragen.

So zeigt sich z. B. HOMER unter den Alten und SHAKESPEARE unter den Neueren; zwei höchst verschiedene, durch den unermeßlichen Abstand der Zeitalter getrennte Naturen, aber gerade in diesem Charakterzug völlig eins. Als ich in einem sehr frühen Alter den letzteren Dichter zuerst kennenlernte, empörte mich seine Kälte, seine Unempfindlichkeit, die ihm erlaubte, im höchsten Pathos zu scherzen, die herzzerschneidenden Auftritt im  Hamlet,  im  King Lear,  in  Macbeth  usw. durch einen Narren zu stören, die ihn bald da festhielt, wo meine Empfindung forteilte, bald da kaltherzig fortriß, wo das Herz so gern still gestanden wäre. Durch die Bekanntnischaft mit neueren Poeten verleitet, im Werk den Dichter zuerst aufzusuchen,  seinem  Herzen zu begegnen,  mit ihm  gemeinschaftlich über seinen Gegenstand zu reflektieren; kurz das Objekt im Subjekt anzuschauen, war es mir unerträglich, daß der Poet sich hier gar nirgends fassen ließ und mir nirgends Rede stehen wollte. Mehrere Jahre hatte er schon meine ganze Verehrung und war mein Studium, ehe ich sein Individuum lieb gewinnen lernte. Ich war noch nicht fähig, die Natur aus der ersten Hand zu verstehen. Nur ihr durch den Verstand reflektiertes und durch die Regel zurecht gelegtes Bild konnte ich ertragen, und dazu waren die sentimentalen Dichter der Franzosen und auch der Deutschen, von den Jahren 1750 bis etwa um 1780, gerade die rechten Subjekte. Übrigens schäme ich mich dieses Kinderurteils nicht, da die bejahrte Kritik ein ähnliches fällte, und naiv genug war, es in die Welt hineinzuschreiben.

Dasselbe ist mir auch mit HOMER begegnet, den ich in einer noch späteren Periode kennenlernte. Ich erinnere mich jetzt der merkwürdigen Stelle im VI. Buch der  Jlias,  wo  Glaukus  und  Diomed  im Gefecht aufeinanderstoßen, und nachdem sie sich als Gastfreunde erkannten, einander Geschenke geben. Diesem rührenden Gemälde der Pietät, mit der die Gesetze des  Gastrechts  selbst im Krieg beobachtet wurden, kann eine Schilderung des  ritterlichen Edelmuts  im ARIOST an die Seite gestellt werden, wo zwei Ritter und Nebenbuhle,  Ferrau  und  Rinald,  dieser ein Christ, jener ein Sarazene, nach einem heftigen Kampf und mit Wunden bedeckt, Friede machen, und um die flüchtige  Angelika  einzuholen, dasselbe Pferd besteigen. Beide Beispiele, so verschieden sie übrigens sein mögen, kommen einander in der Wirkung auf unser Herz beinahe gleich, weil beide den schönen Sieg der Sitten über die Leidenschaft malen, und uns durch eine Naivität der Gesinnungen rühren. Aber wie ganz verschieden nehmen sich die Dichter bei der Beschreibung dieser ähnlichen Handlung aus. ARIOST, der Bürger einer späteren und von der Einfalt der Sitten abgekommenen Welt kann bei der Erzählung dieses Vorfalls, seine eigene Verwunderung, seine Rührung nicht verbergen. Das Gefühl des Abstandes jener Sitten von denjenigen, die  sein  Zeitalter charakterisieren, überwältigt ihn. Er verläßt auf einmal das Gemälde des Gegenstandes und erscheint in eigener Person: Man kennt die schöne Stanze [Gedichtform aus acht elfsilbigen Verszeilen - wp] und hat sie immer vorzüglich bewundert:
    O Edelmut der alten Rittersitten!
    Die Nebenbuhler waren, die entzweit
    Im Glauben waren, bittern Schmerz noch litten
    Am ganzen Leib von feindlich wildem Streit,
    Frei von Verdacht und in Gemeinschaft ritten
    Sie durch des krummen Pfades Dunkelheit.
    Das Roß, getrieben von vier Sporen, eilte
    Bis wo der Weg sich in zwei Straßen teilte. (7)
Und nun der alte HOMER! Kaum erfährt  Diomed  aus  Glaukus  seines Gegners Erzählung, daß dieser von Vaterzeiten her ein Gastfreund seines Geschlechts ist, so steckt er die Lanze in die Erde, redet freundlich mit ihm, und macht mit ihm aus, daß sie einander im Gefecht künftig ausweichen wollen. Doch man höre den HOMER selbst:
    "Also bin ich nunmehr dein Gastfreund mitten in Argos,
    Du in Lykia mir, wenn jenes Land ich besuche.
    Drum mit unseren Lanzen vermeiden wir uns im Getümmel.
    Viel ja sind der Trojer mir selbst und der rühmlichen Helfer,
    Daß ich töte, wen Gott mir gewährt, und die Schenkel erreichen;
    Viel auch dir der Achaier, daß, welchen du kannst, du erlegest.
    Aber die Rüstungen beide vertauschen wir, daß auch die andern
    Schaun, wie wir Gäste zu sein aus Väterzeiten uns rühmen.
    Also redeten jene, herab von den Wagen sich schwingend
    Faßten sie beide einander die Hände und gelobten sich Freundschaft."
Schwerlich dürfte ein  moderner  Dichter (zumindest schwerlich einer, der es in der moralischen Bedeutung dieses Wortes ist) auch nur bis hierher gewartet haben um seine Freude an dieser Handlung zu bezeugen. Wir würden es ihm umso leicht verzeihen, da auch unser Herz beim Lesen einen Stillstand macht, und sich vom Objekt gern entfernt, um in sich selbst zu schauen. Aber von all dem keine Spur im HOMER; als ob er etwas alltägliches berichtet hätte, ja als ob er selbst kein Herz im Busen trägt, fährt er in seiner trockenen Wahrhaftigkeit fort:
    "Doch den  Glaukus  erregte  Zeus,  daß er ohne Besinnung
    Gegen den Helden  Diomedes  die Rüstungen, goldene mit ehernen
    Wechselte, hundert Farren wert, neun Farren die andern." (8)
Dichter von dieser naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben kaum mehr möglich, zumindest auf keine andere Weise möglich als daß sie in ihrem Zeitalter  wild laufen,  und durch ein günstiges Geschick vor dem verstümmelnden Einfluß desselben geborgen werden. Aus der Sozietät selbst können sie nie und nimmer hervorgehen; aber außerhalb derselben erscheinen sie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge die man anstaunt, und als ungezogene Söhne der Natur, an denen man sich ärgert. So wohltätige Erscheinungen sie für den Künstler sind, der sie studiert, und für den echten Kenner, der sie zu würdigen versteht, so wenig Glück machen sie im Ganzen und bei ihrem Jahrhundert. Das Siegel des Herrschers ruht auf ihrer Stirn; wir hingegen wollen von den Musen gewiegt und getragen werden. Von den Kritikern, den eigentlichen Zaunhütern des Geschmacks, werden sie als  Grenzstörer  gehaßt, die man lieber unterdrücken möchte; denn selbst HOMER dürfte es bloß der Kraft eines mehr aus tausendjährigen Zeugnisses zu verdanken haben, daß ihn diese Geschmacksrichter gelten lassen; auch wird es ihnen sauer genug, ihre Regeln gegen sein Beispiel, und sein Ansehen gegen ihre Regeln zu behaupten.

Im nächsten Stück einige Worte über die sentimentalen Dichter.
LITERATUR Friedrich Schiller, Das Naive, Die Horen, 1795, Bd. IV
    Anmerkungen
    1) Kant, meines Wissens der erste, der über dieses Phänomen eigens zu reflektieren angefangen hat, erinnert, daß wenn wir von einem Menschen den Schlag der Nachtigall bis zur höchsten Täuschung nachgeahmt fänden, und uns dem Eindruck desselben mit ganzer Rührung überließen, mit der Zerstörung dieser Jllusion alle unsere Lust verschwinden würde. Man sehe das Kapitel  vom intellektuellen Interesse am Schönen  in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Wer den Verfasser nur als einen großen Denker bewundern gelernt hat, wird sich freuen, hier auf eine Spur seines Herzens zu treffen, und sich durch diese Entdeckung vom hohen philosophischen Beruf dieses Mannes (welcher schlechterdings beide Eigenschaften verbunden fordert) zu überzeugen.
    2) KANT in einer Anmerkung zur  Analytik des Erhabenen  (Kritik der ästhetischen Urteilskraft, Seite 225 der ersten Auflage) unterscheidet gleichfalls diese dreierlei Ingredenzien im Gefühl des Naiven, aber er gibt davon eine andere Erklärung. "Etwas aus beidem (dem animalischen Gefühl des Vergnügens und dem geistigen Gefühl der Achtung) Zusammengesetztes findet sich in der Naivität, die der Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur anderen Natur gewordene Verstellungskunst ist. Man lächt über die Einfalt, die es noch nicht versteht sich zu verstellen und erfreut sich doch auch über die Einfalt der Natur, die jener Kunst hier einen Querstrich spielt. Man erwartete die alltägliche Sitte der gekünstelten und den schönen Schein der vorsichtig angelegten Äußerung und siehe es ist die unverdorbene schuldlose Natur, die man anzutreffen gar nicht gewärtig und der, so sie blicken ließ, zu entblößen auch nicht gemeint war. Daß der schöne, aber falsche Schein, der gewöhnlich in unserem Urteil sehr viel bedeutet, hier plötzlich in Nichts verwandelt, daß gleichsam der Schalk in uns selbst bloß gestellt wird, bringt die Bewegung des Gemüts nach zwei entgegengesetzten Richtungen nacheinander hervor, die zugleich den Körper heilsam schüttelt. Daß aber etwas, was unendlich besser als alle angenommene Sitte ist, die Lauterkeit der Denkungsart, (zumindest die Anlage dazu) doch nicht ganz in der menschlichen Natur erloschen ist, mischt Ernst und Hochschätzung in dieses Spiel der Urteilskraft. Weil es aber nur eine kurze Zeit Erscheinung ist und die Decke der Verstellungskunst bald wieder vorgezogen wird, so mengt sich zugleich ein Bedauern darunter, welches eine Rührung der Zärtlichkeit ist, die sich als Spiel mit einem solchen gutherzigen Lachen sehr wohl verbinden läßt, und auch wirklich damit gewöhnlich verbindet, zugleich auch die Verlegenheit dessen, der den Stoff dazu hergibt, darüber daß er noch nicht nach Menschenweise gewitzt ist, zu vergüten pflegt.-" Ich gestehe, daß diese Erklärungsart mich nicht ganz befriedigt, und zwar vorzüglich deswegen nicht, weil sie vom Naiven überhaupt etwas behauptet, was höchstens von einer Spezies desselben, dem Naiven der Überraschung, von welchem ich nachher reden werde, wahr ist. Allerdings erregt es  Lachen,  wenn sich jemand durch Naivität bloß gibt und in manchen Fällen mag dieses Lachen aus einer vorhergegangenen Erwartung, die in Nichts aufgelöst wird, fließen. Aber auch die Naivheit der edelsten Art, das Naive der Gesinnung erregt immer ein  Lächeln,  welches doch schwerlich eine in Nichts aufgelöste Erwartung zum Grund hat, sondern überhaupt nur aus dem Kontrast eines gewissen Betragens mit den einmal angenommenen und erwarteten Formen zu erklären ist. Auch zweifle ich, ob die Bedauernis, welche sich beim Naiven der letzteren Art in unsere Empfindung mischt, der naiven Person und nicht vielmehr uns selbst oder vielmehr der Menschheit überhaupt gilt, an deren Verfall wir bei einem solchen Anlaß erinnert werden. Es ist zu offenbar eine moralische Trauer, die einen edleren Gegenstand haben muß, als die physischen Übel, von denen die Aufrichtigkeit im gewöhnlichen Weltlauf bedroht wird, und dieser Gegenstand kann nicht wohl ein anderer sein, als der Verlust der Wahrheit und Simplizität der Menschheit.
    3) Ich sollte vielleicht ganz kurz sagen:  die Wahrheit über die Verstellung,  aber der Begriff des Naiven scheint mir noch etwas mehr einzuschließen, indem die Einfachheit überhaupt, welche über die Künsteley, und die natürliche Freiheit, welche über Steifheit und Zwang siegt, ein ähnliches Gefühl in uns erregen.
    4) Ein Kind ist ungezogen, wenn es aus Begierde, Leichtsinn, Ungestüm den Vorschriften einer guten Erziehung entgegenhandelt, aber es ist naiv, wenn es sich vom Manierierten einer unvernünftigen Erziehung, von den steifen Stellungen des Tanzmeisters und dgl. aus freier und gesunder Natur dispensiert [der Verpflichtung entzieht - wp]. Dasselbe findet auch beim Naiven in ganz uneigentlicher Bedeutung statt, welches durch Übertragung vom Menschen auf das Vernunftlose entsteht. Niemand wird den Anblick naiv finden, wenn in einem Garten, der schlecht gewartet wird, das Unkraut überhand nimmt, aber es hat allerdings etwas naives, wenn der freie Wuchs hervorstrebener Äste das mühselige Werk der Schere in einem französischen Garten vernichtet. So ist es ganz und gar nicht naiv, wenn ein geschultes Pferd aus natürlicher Plumpheit seine Lektion schlecht gelernt hat, aber es hat etwas vom Naiven, wenn es dieselbe aus natürlicher Freiheit vergißt.
    5) Da das Naive bloß auf der Form beruth, wie etwas getan oder gesagt wird, so verschwindet uns diese Eigenschaft aus den Augen, sobald die Sache selbst entweder durch ihre Ursachen oder durch ihre Folgen einen überwiegenden oder gar widersprechenden Eindruck macht. Durch eine Naivheit dieser Art kann auch ein Verbrechen entdeckt werden, aber dann haben wir weder die Ruhe noch die Zeit, unsere Aufmerksamkeit auf die Form der Entdeckung zu richten, und der Abscheu über den persönlichen Charakter verschlingt das Wohlgefallen am natürlichen. So wie uns das empörte Gefühl die moralische Freude an der Aufrichtigkeit der Natur raubt, sobald wir durch eine Naivheit ein Verbrechen erfahren; ebenso erstickt das erregte Mitleiden unsere Schadenfreude sobald wir jemand durch seine Naivheit in Gefahr gesetzt sehen.
    6) Aber auch nur bei den Griechen; denn es gehörte gerade eine solche rege Bewegung und eine solche reiche Fülle des menschlichen Lebens dazu, als den Griechen umgab, um Leben auch in das Leblose zu legen, und das Bild der Menschheit mit diesem Eifer zu verfolgen.  Ossians  Menschenwelt z. B. war dürftig und einförmig; das Leblose um ihn herum hingegen war groß, kolossal, mächtig, drang sich also auf, und behauptete selbst über den Menschen seine Rechte. In den Gesängen des dieses Dichters tritt daher die leblose Natur (im Gegensatz zum Menschen) noch weit mehr, als Gegenstand der Empfindung hervor. Indessen klagt auch schon  Ossian  über einen Verfall der Menschheit, und so klein aucb bei seinem Volk der Kreis der Kultur und ihrer Verderbnisse war, so war die Erfahrung davon doch gerade lebhaft und eindringlich genug, um den gefühlvollen moralischen Sänger zum Leblosen zurückzuscheuchen, und über seine Gesänge jenen elegischen Ton auszugießen, der sie für uns so rührend und anziehend macht.
    7) ARIOST, Orlando furioso [Der rasende Roland], Erster Gesang, Stanze 32
    8) HOMER, Jlias, Voßische Übersetzung, Bd. 1, Seite 153.