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FRIEDRICH ANCILLON
Über das Verhältnis des Idealen
und der Wirklichkeit


"Wer hat nicht gewisse Momente von Begeisterung und Erhebung gefühlt? wer hat nicht betrauert, daß sie so schnell verflogen sind? wer hätte nicht gewünscht, ihnen Dauer und Beharrlichkeit zu verleihen, als Zeitpunkte der Erschöpfung und Gleichgültigkeit ihnen folgten? Ja, die Momente selbst, wo die Seele sich von allem materiellen und eigennützigen Interesse entfremdend, über sich selbst erhaben scheint, sind nie so rein von allen heterogenen Eindrücken, so vollkomen, so herrlich, wie sie nach unserem eigenen Urteil sein könnten und sollten."

"Bestünde die Wirklichkeit ohne alle Berührung mit dem Ideal, so würden die Menschen immer dasselbe auf dieselbe Art tun, und sich in einem engen, einförmigen, stets wiederkehrenden Kreis bewegen; nichts würde besser werden, und eben dadurch würde allmählich alles schlechter ausfallen; nichts würde vervollkommnet, weil der Maßstab und der Trieb zur Vervollkommnung fehlen würde. Der Gedanke würde nie die Tat überflügeln, der Begriff sich nie über das Geschehene erheben; die Phantasie, zum Schweigen gebracht, würde erlahmen; das Gemüt, von der Phantasie weder genährt noch bereichert, würde vertrocknen oder versteinern; der ganze Mensch in einer armseligen Genügsamkeit, in einer stumpfen Gleichgültigkeit untergehen."


Von dem Augenblick an, wo die innere Welt im Menschen, zu seinem Bewußtsein gelangt, sich der äußeren Welt entgegenstellte, hat sich in der Geschichte der Menschheit der Streit über die Natur und die Vorzüge des Idealen und des Wirklichen ergeben. Wie es immer im Streit zu gehen pflegt, hat man dem einen oder dem andern zuviel vergeben, bald diesen bald jenen ausschließlich gepriesen und mit den grellsten und glänzendsten Farben ausgemalt. Übertreibung hat Übertreibung erzeugt, und so hat man öfters die Wahrheit verfehlt. Die hohen, geistigen, großartigen Naturen haben sich der idealen Welt angenommen, zumal wenn sie, von den Umständen begünstigt, sich dem Schaffen und Treiben der wirklichen Welt haben entziehen können. Die tätigen, rüstigen, zur täglichen produktiven Arbeit gezwungenen, oder zum sinnlichen Leben geneigten Menschen haben nur die wirkliche Welt gekannt, geschätzt und gepriesen. Beide Teile haben die Natur und die Bestimmung des Menschen verkannt. Es muß bei gründlicher Erörterung der Begriffe einen höheren Standpunkt geben, wo die beiden entgegengesetzten Ansichten näher aneinander treten und sich ausgleichen lassen. So wie die Theorie und die Praxis, je vollkommener sie sind, umso mehr in enge Berührung treten und am Ende sich wechselseitig durchdringen müssen, so müssen auch das Ideale und das Wirkliche in Einklang und Harmonie gebracht werden können.

Das Wirkliche ist das, was die Wesen in einem jeden gegebenen Augenblick sind, und wie sie bei allem Wechsel auf der Oberfläche uns beharrlich erscheinen.

Das Ideale ist die Vorstellung von dem, was ein jedes Wesen, die Produkte der Natur oder Kunst, sein  können  oder werden  sollen

Die Ideale erster Art, von dem was die Wesen sein können, werden mit Recht die Ideale der Natur genannt. Die Ideale von dem was die Wesen werden sollen, sind die Ideale der Kunst, wenn man das Wort in seiner weitesten und umfassendsten Bedeutung nimmt. Jene entstehen aus der Vergleichung und der Abstraktion; diese, die eigentlich wahren Ideale, gehen aus unserem Innern hervor, und erheben sich öfters in unserem Gemüt, ohne ein vorhergehendes Nachdenken, in ihrer ganzen Schönheit und Vollendung.

Die Wesen organischer Art, welche die Natur unmittelbar hervorbringt, obgleich einander ähnlich, inwiefern sie zu derselben Gattung gehören und einen unveränderlichen Typus reproduzieren, unterscheiden sich doch immer, durch mehr oder minder auffallende Verschiedenheiten. Sie zeigen nicht alle, im gleichen Grad mit derselben Vollendung ausgeprägt, die charakteristischen Zeichen ihrer Gattung. Ein jedes von ihnen ist und wird zwar immer alles was es sein kann, vermöge der Bedingungen und der Umstände, unter welchen es sich gebildet und entfaltet hat; allein es gibt mehr oder minder günstige Bedingungen und Umstände. Die Vollkommenheit des Individuums hängt von der Natur derselben ab. Einige entsprechen besser als andere dem reinen Begriff ihrer Gattung, sind ihrem Zweck angemessener, und scheinen ihre Bestimmung mehr zu erfüllen. Es gibt solche Musterexemplare der Wesen in einer jeden Gattung. Es gestalten sich Tiere, Pflanzen, Blumen, Bäume, die über alle anderen Wesen derselben Art hervorragen; ja die Kristalle selbst, sind nicht alle gleich ausgewachsen und haben nicht all eine vollkommene Regelmäßigkeit. Die Natur in ihrer großen Werkstatt scheint öfters zu arbeiten wie ein Künstler, dem alle seine Werke nicht gleich gut gelingen. Die Blumen sind nicht immer mit derselben fleißigen und geschickten Hand ausgemalt; alle Eichen sind nicht mit derselben üppigen Fülle, mit derselben dauerhaften Kraft ausgestattet, und die tierischen Schöpfungen konstrastieren noch weit mehr unter sich, im Hinblick auf Größe, Stärke, der Verhältnisse ihrer Formen und des sie beseelenden Feuers des Lebens. Wenn wir nun diese Verschiedenheit bemerken, diese Kontraste auffassen, die Vorzüge gewisser Individuen vor allen anderen derselben Gattung wahrnehmen und festhalten; wenn wir von allen, dem Schein nach mißglückten Versuchen abstrahieren, und nur das Vollkommenste jeder Gattung als Maßstab derselben gelten lassen, so bilden wir Ideale der Natur, die uns bei der Beurteilung ihrer Werke vorleuchten. Sie sind nur durch einen Vergleich des Gleichartigen entstanden, und haben also immer nur einen relativen Wert und eine komparative Vollendeung. Dergleichen Ideale, die eigentlich von der Wirklichkeit selbst genommen sind, üben auf die Wirklichkeit einen nicht zu verkennenden und heilsamen Einfluß aus. Sie sind aus dem Leben gegriffen, und greifen auch wieder in das Leben ein. Da der Mensch auf die Natur einwirkt, sie anbaut, bearbeitet, veredelt, durch Kunst und Fleiß sie seinen Zwecken und seinen Ideen dienstbar macht, so trachtet er, die Produkte, die er ihr abgewinnt, ihren eigenen Idealen gemäß zu gestalten und in der größtmöglichen Vollendung aufgehen zu lassen.

Auch in den schönsten Künsten schweben solche Ideale der schöpferischen Phantasie des Malers und Dichters vor. Sie treten als wesentliche Bestandteile in seine Gemälde und in seine Dichtungen ein. Er zeichnet sie nicht nach der Natur, aber die Natur hat ihm doch den Stoff zu denselben geliefert; sie hat ihm öfters Modell gesessen, oder er hat sie öfters angeschaut und beobachtet. Hätte er in einem Land gelebt, wo die Natur, weit entfernt in ihrer ganzen Pracht zu erscheinen und sich selbst zu übertreffen, in der Mehrheit ihrer Werke nur mittelmäßige oder gar verkrüppelte Gestalten hervorbringt, so hätte er sich schwerlich zu der an ihm bewunderten Höhe erhoben. Seiner Phantasie hätte es an Elementen und an Stoff gefehlt, weil er von der ihn umgebenden Wirklichkeit nichts hätte zu neuen Zusammensetzungen entlehnen können. Aber so, in der Mitte einer üppigen Natur, mit einer üppigen Phantasie geboren, hat ihm weder Materie, noch die Form gemangelt, und vieles was wir bei ihm als Idee bewundern, war vielleicht nur eine glückliche Wahl und eine treue Abbildung eines wirklichen Gegenstandes, welchen ihm der Zufall zuführte. So kann man heutzutage noch in Griechenland und auf einigen der Inseln, welche dasselbe wie eine Sternenkrone umgeben, in den Gesichtszügen und in der Gestalt der Bewohner dieses gepriesenen Landes, die Elemente der Schöpfungen eines PHIDIAS; eines PRAXITELES und eines SCOPAS finden. So fallen dem Wanderer der in den Gegenden von Albano, Marion und Grottaferrata verweilt, die regelmäßigen, edlen, schönen, ausdrucksvollen Gestalten auf, die RAPHAEL vorschwebten, als er seine himmlischen Madonnen und seine göttlichen Kinder aus dem Nichts zur Unsterblichkeit hervorrief; so dachte DANTE an BEATRICE, PETRARCA an LAURA, BOCCACIO an FIAMETTA, als sie der geistigen Schönheit sinnliche Formen verliehen.

Allein diese Tatsachen müssen uns nicht im Hinblick auf die Natur des Ideals irre führen. Dies alles dient dem Ideal, ist aber noch nicht das Ideal selbst. Das Ideal geht unstreitig in allen Künsten aus dem Geist des genialen Künstlers hervor; es hat einen übersinnlichen Ursprung. Die sinnlichen Eindrücke, die der Mensch empfängt, veranlassen die Erscheinung des Ideals, aber nicht sein Dasein. Verborgen in den Tiefen des Gemüts liegt sein fruchtbarer Keim, dem, ihn in sich tragenden selbst unbewußt. Dort schlummern all die edlen, reinen, menschlichen Gefühle, die durch die sinnlichen Eindrücke aus ihrem Schlaf erwacht, von der Phantasie geschwängert und entwickelt, bis zur höchsten Potenz gesteigert werden können.

Diese Gefühle, wenn sie einmal geweckt und in das Bewußtsein getreten sind, werden vom genialen Künstler aufgefaßt, gepflegt, geläutert, von allem fremdartigen Stoff befreit, und bilden in ihm eine Welt der Ideale, unter welchen er mit Begeisterung wandelt. Auf diese Art entstehen Ideale aller Gefühle, aller Verhältnisse, aller Handlungen, aller geistigen Zustände, die das Leben des Menschen ausmachen, erfüllen, verherrlichen oder verfinstern, bestürmen und verderben. Mit einer jeden dieser geistigen Erscheinungen, ist in der Phantasie des Künstlers ein Ideal der ihnen am besten entsprechenden Erscheinung in der sinnlichen Welt verbunden; ein jedes dieser Gefühle offenbart sich dem besonnenen und nachdenkenden Künstler unter besonderen Gestalten und Formen, deren Vollkommenheit in der Verbindung der Schönheit und des Ausdrucks besteht. Nun erst treten vor den Künstler, in ihrer Lebendigkeit und Individualität, alle die Bilder hin, die ihm der Umgang mit den Menschen und mit der Natur zugeführt hat. Durch die Macht der Wahlverwandtschaften gesellen sie sich, wie von selbst, zu den ihnen entgegen kommenden Idealen. Öfters wählt der Künstler auch mit nüchterner Ruhe, unter denen ihm zu Gebote stehenden Formen, die ihm in der Gegenwart aufstoßen, oder die er aus dem Schatz seiner Erinnerungen hervorzieht. So entstehen, durch die magische Gewalt des Pinsels oder des Meißels hervorgezaubert, die herrlichen Schöpfungen in welchen das Ideal und die Wirklickeit sich wechselseitig durchdringen. Das Gemüt und die Phantasie des Künstlers gaben das Ideal; die Natur reichte den Stoff und die Elemente der Form.

Also findet in der Kunst, sie es daß sie das Schöne oder das Erhabene durch Versinnlichung in der sichtbaren Welt aufstelle, ein inniges Band zwischen dem Idealen und dem Wirklichen statt. Das Ideal entlehnt von der Wirklichkeit die bestimmten Formen unter welchen es hervortritt; die Wirklichkeit, indem das Ideale in sie eindringt, erscheint bedeutungsvoller und verklärt. So entstehen die Bedingungen der Kunstwerke, die Verhältnisse der Teile zum Ganzen, das Ebenmaß der einzelnen Glieder, die Mannigfaltigkeit die sich in die Einheit verliert, die Einheit die sich in die Mannigfaltigkeit verzweigt und entfaltet; mit einem Wort, das Schöne; oder es gestaltet sich die sinnliche Kraft, die ohne Anstrengung zu verraten, die höchste geistige Kraft ausdrückt und immer etwas Unendliches andeutet; - das Erhabene.

Außer diesen Idealen, die, da sie in die sinnliche Welt übergehen und dann von den Sinnen wahrgenommen werden, öfters nur die gesteigerte Wirklichkeit zu sein scheinen, gibt es im innersten Wesen der Seele reine, unbedingte, in sich vollendete Ideen der Wahrheit, der Seligkeit, der Freiheit, und der mit ihr unzertrennlich verbundenen Gerechtigkeit, Ideen die sich dem Menschen, wenn er zu einer gewissen Entwicklung und Reife gediehen ist, in einer himmlischen Reinheit, mit einer unwiderstehlichen Gewalt offenbaren und sich ihm gewissermaßen aufdrängen.

In der äußeren, wirklichen Welt finden wir weder ihre Quelle noch ihr Urbild, denn in der Wirklichkeit entspricht ihnen nichts Gleichlautendes oder Ähnliches, und was sie in dieser Hinsicht darbietet, ist höchstens ein schwacher Widerschein des inneren Lichts. Es hängt nicht von uns ab, diese Idee in unserem Gemüt hervorzubringen noch zu vertilgen; sie erscheinen nicht in allen Momenten allen Menschen, auch nicht den Edleren mit derselben Klarheit und Lebendigkeit, aber sie erscheinen allen und drängen sich ihnen oft mit einer Art von Notwendigkeit auf. Daß die Wahrheit in der harmonischen Übereinstimmung der Begriffe und dem Wesen, in der Identität des Seins und des Denkens besteht; daß es Rechte gibt, die wir nicht erschaffen, Pflichten welche die Menschen uns nicht auferlegt haben; daß das Gute nur in der Heilighaltung beider zu suchen und zu finden ist; daß die Freiheit und das sie bindende ewige Gesetz, das Höchste im Menschen ist; daß eine ungetrübte, reine, vollendete und dauerhafte Glückseligkeit irgendwo ihren Sitz haben muß; diese Überzeugungen sind tief eingewurzelt in der menschlichen Natur; sie waren zu allen Zeiten die charakteristischen, wesentlichen Zeichen der Menschheit. Diese ursprünglichen Ideen schweben uns immer vor wie ewige Sterne in der Finsternis des Lebens; manchmal verdunkelt, öfters unbeachtet, leuchten sie uns doch immer wieder. Die Besseren machen sie zum Ziel ihres Strebens, zum Hauptzweck ihres Daseins; sie trachten stets, ihre Grundsätze, ihre Gefühle, ihre Handlungen, ja die äußere Welt diesen Ideen gemäß zu gestalten. Es gelingt ihnen nie ganz, und nur auf eine sehr unvollkommene Weise; in wenigen glänzenden Momenten schlagen ihre Versuche nicht fehl. Aber sie lassen in ihren Anstrengungen nicht nach, und fangen immer wieder das göttliche Werk von vorne an. Wenn sie sich auch des Erfolgs nur selten erfreuen, so freuen sie sich doch ihres edlen Wollens und ihres schönen Eifers. Die ungebildeten, sinnlichen, gemeinen Menschen sind zwar dieser großartigen Tendenz mehr oder weniger fremd, und versuchen es nicht einmal, diesen ewigen Ideen nachzuleben, aber sie können sie sich doch nicht der Überzeugung erwehren, daß sie es sollten; es ist ihnen nicht gegeben, diese Überzeugung ganz abzustreifen, das heilige Feuer in ihrem Busen ganz auszulöschen; es steht ihnen nicht frei, die Realität dieser Ideale zu verleugnen, und wenn sie es versuchen, so bezichtigt sie eine innere Stimme der Lüge.

Was man die Ideale der Natur nennt, sind nur, wie wir es gesehen haben, die vollkommensten Exemplare einer jeden Art von organischen Wesen. Dergleichen Ideale sind etwas Gegebenes, und also streng Bestimmtes, Abgeschlossenes, Endliches. Alle anderen Ideale, die unsere eigene Phantasie erschafft, die aus der Tiefe des Gemüts hervorgehen, oder in unserem inneren Wesen, von einer höheren Hand niedergelegt sind, tragen ansich als charakteristisches, von ihnen unzertrennliches Kennzeichen, etwas Unendliches. Es sei, weil sei, aus dem unendlichen Wesen entsprossen, das Gepräge ihres göttlichen Ursprungs behalten haben und wir selbst ein Reflex des Unendlichen sind; es sei, daß sie von der unendlichen Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Natur zeugen, dem Verstand fremd, der Vernunft angeboren; es sei endlich, weil wir erkennen, daß alles, was sich uns in der sinnlichen Welt und im menschlichen Leben darbietet, ja nicht allein die äußeren Gegenstände, sondern auch die innere Welt, auch unsere Vorstellungen, unsere Gefühle, unsere Handlungen, was wir empfangen und was wir bewirken, nie diesen Idealen vollständig entspricht, sich nur in einer unendlichen allmählichen Progression den unbedingten, ewigen Ideen des Schönen, des Wahren, des Guten nähern. Der Mensch, bei aller Kraft und Größe, die er manchmal offenbart, verhält sich zu diesen Ideen, wie die Linien, die man Asymptoten nennt, die nebeneinander laufen, stets weniger voneinander entfernt, ohne je zusammenzufallen, und sich in eine Einheit zu verschmelzen.

Diese merkwürdige Erscheinung der menschlichen Natur scheint ihr inneres Wesen auszumachen und erklärt den herrlichen Ausspruch des heiligen AUGUSTINUS: "Außer dem Wesen, welches das Sein selbst ist, und seine Wurzel in sich hat, gibt es nichts Schönes, als das was nicht ist."

Dieser erhabene Gedanke kann im ersten Augenblick mehr glänzend als wahr erscheinen, aber je mehr man ihn ergründet, je mehr findet man, daß er das wahre Verhältnis des Idealen zum Wirklichen ausspricht, daß er das Geheimnis unserer rätselhaften Natur auf eine glückliche und lebendige Art ausdrückt, seine Bestätigung in unserem Tun und Treiben, in unserem sinnlichen Genüssen, so wie in den höheren geistigen Entzückungen bewährt, und durch alle Momente unseres Dasein, wie ein Nebelstern uns begleitet.

In der tat, alles was der Mensch begehrt, wünscht, hofft, zu erhalten trachtet, erzielt, im Großen wie im Kleinen, trägt auf der einen Seite das Unvollkommene, Ungenügende, Beschränkte, und verkündet auf der anderen ein Wesen, welches von einer immer wiederkehrenden Sehnsucht nach etwas Vollkommenem, Vollständigen, Befriedigenden getrieben wird; ein Wesen, welches in der ihn umgebenden Wirklichkeit die reine Schönheit sucht oder sich zu schaffen anstrengt, weil es ein unendliches Ideal in sich trägt; ein Wesen das die Wirklichkeit immer anklagt, verwirft und öfters verachtet, weil sie mit diesem Ideal nie in Einklang gebracht werden kann. Was existiert unter lebendigen, reellen Formen in der äußereno der in der inneren Welt, ist nie ganz schöne; was nicht ins Dasein gerufen wird, was sich nur in der unsichtbaren, verklärten Idee offenbart, schwebt uns allein in seiner ungetrübten Schönheit vor.

Alle unsere Handlungen sind Versuche, beides, das Ideale und die Wirklichkeit, in Harmonie zu bringen; aber die Versuche mißglücken immer, und der Widerspruch den wir heben wollten, tritt immer wieder unter grellen Farben hervor.

In Hinsicht aller Gegenstände, die den Menschen ansprechen, anziehen, seine Begierden und seine Wünsche erregen, glaubt er, daß sie ihn befriedigen werden, fängt damit an zu wähnen, daß sie in der Tat schön sind, und daß ihr Besitz ihm das Vollkommene, nach welchem er beständig strebt, gewähren werden. Allein die Erfahrung belehrt ihn bald eines anderen. Die Gegenstände seiner Wünsche und seiner Liebe entlehnen nur ihren magischen Reiz von seiner Unbekanntschaft mit denselben, von ihrer Entfernung, von den Hindernissen die sie umgeben, und besonders von den Nebenvorstellungen, die er unwillkürlich mit ihnen verbindet, die ihnen öfters fremdartig von der Phantasie hinzugedichtet werden. Diese Nebenvorstellungen gehen aus dem Menschen selbst hervor; er wirft sie auf die Gegenstände wie glänzende Farben und ein bezauberndes Licht; sie dienen der Wirklichkeit zu einer blendenden Einfassung, bereichern sie mit einer verschwenderischen Pracht, und verbergen dem Auge ihre engen Schranken und ihre traurige Dürftigkeit. Allein die Täuschung verschwindet bald. Man kommt leicht von seinem Träumen zurück. Die nähere Bekanntschaft mit dem Gegenstand, der Besitz, der Genuß desselben entrücken seine erborgte Schönheit dem nüchternen Auge. Ein jeder neue Gegenstand, der unsere Sinne, unseren Geist, unser Gemüt in Bewegung setzt, wirkt auf uns wie eine unbekannte Größe. Unsere Unwissenheit verbirgt uns eine längere oder kürzere Zeit seine Schranken, und aus dieser Unwissenheit geht öfters ein phantastisches aber begeisterndes Bild hervor. Die Endlichkeit der wirklichen Welt scheint sich in eine wahre Unendlichkeit zu verwandeln. Aber je näher wir der ersteren treten, je vertrauter wir mit ihr werden, desto mehr verfliegt dieser künstliche Dunst; die Wirklichkeit zeigt sich entblößt von dem ihr geliehenen Gewand in ihrer engen Beschränktheit, in ihrer winzigen Gestalt. Der Mensch erscheint groß auch in seiner unbefriedigten Sehnsucht, allein die vor ihm liegende Welt scheint seinen Kräften so wie seinen Wünschen ganz unangemessen, und der ihm innewohnenden Würde unwürdig.

Hätte der Mensch nur solche Begierden, welchen die Bedürfnisse vorangehen, oder die aus den Bedürfnissen entspringen, so würde er nur beschränkte und endliche Bedürfnisse kennen; er würde wie die Tiere unruhig sein, solange sein Begehren nicht befriedigt sein würde. Allein die Ruhe würde mit dieser Befreidigung eintreten, und wir würden über diesen Kreis hinaus nichts ahnen, wünschen und hoffen. Aber es leben stets in uns Begierden, die den Bedürfnissen voraneilen, oder vielmehr dieselben erzeugen; ein Sehnen, ein Streben die, auf etwas Unendliches gerichtet, in der Endlichkeit nie befriedigt werden können. Die Gegenstände die dem ersten Anblick nach, dieser Sehnsucht entsprechen, erscheinen uns bald als leere Täuschungen, die einen Anstrich von Realität haben, den optischen Betrügen ähnlich, die im Mittelmeerraum öfters in der Luft liegen, dem Auge Gebilde von Landschaften vorspiegeln, kolorierte Wolken, die den Seefahrenden am Saum des Horizonts das lang ersehnte feste Land vorzaubern. - Begierden, welche unbekannte Größen von der Art wie wir sie bezeichnet haben, hervorbringen.

In einem arabischen Märchen wird erzählt, daß im Morgenland ein mächtiger Monarch eine Frau besaß, die alle Reize und alle liebenswürdigen Eigenschaften vereinigte, welche, in der Entfernung gesehen, in einer beinahe überirdischen Schönheit glänzte. Allein durch eine feindselige Zauberei geschah es, daß, sobald er sich ihr näherte, sie verblaßte, und je näher er trat, verschwanden in ihr alle Farben des Lebens; ihre Formen erstarrten und die Auflösung des Todes schien auf ihren Zügen zu ruhen. Je mehr er sich wieder von ihr entfernte, umso vollkommener und schneller blühte sie wieder auf; das Leben und die Schönheit fanden sich in ihrer ganzen Fülle wieder ein. Man wende dieses Märchen auf alle Gegenstände an, und man wird ein treffliches Bild von dem haben, was dem Menschen bei seinem Begehren, seinem Sehnen und Streben widerfährt. So geht es mit allen unseren Schöpfungen, mit unseren Anstrengungen, mit unseren Gefühlen, wären sie auch rein, unschuldig, erhaben. In der Idee scheinen sie unbedingt schön, gut, beseligend, in der Wirklichkeit bleiben sie weit von der Idee entfernt; sie werden vom Unendlichen in uns leicht überflügelt, unsere unbefriedigte Sehnsucht erhebt sich immer über alle Schranken, und in unserem Tun und Treiben scheint immer, daß wir, wie IXION in dem berühmten Mythus, statt der Königin des Himmels eine Wolke umfaßt und umarmt haben, und wir werden von der Wahrheit des Ausspruchs durchdrungen, daß außer dem Wesen, welches die Quelle allen Seins ist, nichts schön erscheint als das was noch nicht ins Dasein übergegangen.

Daß dieser Ausspruch alle die Gegenstände trifft, die in engen Grenzen eingeschlossen, nur einen zweifelhaften, oder sehr bedingten Wert haben, alle die Leidenschaften niederschlägt, die nur kleine, winzige, schwache Seelen für den Augenblick berauschen können, die Sinnlichkeit, die Eitelkeit, die Geld- oder Ehrsucht, haben die Edleren von jeher gefühlt und ihnen den Stab gebrochen. Ungenügend, unsicher, momentan, sind sie alle nur elende Surrogate der großartigen Begierden und der unermeßlichen Sehnsucht, welche reinere, höhere Naturen beseelen, und die zwar immer unbefriedigt, doch nicht ansich als Irrtümer oder Täuschungen gebrandmarkt werden können, die öfters das Gepräge ihres göttlichen Ursprungs an der Stirn tragen und in verwandten Seelen immer Sympathie erwecken. Wir sprechen hier von der Liebe zum Ruhm, und von der eigentlichen moralischen Liebe, welche die Menschen mit den Menschen so innig verknüpft.

Die Liebe zum Ruhm, der Wunsch, vermöge genialer Werke oder großer Handlungen zu demselben zu gelangen, ist gewiß eine der edelsten Leidenschaften die das menschliche Gemüt beseelen können. Der Jüngling, der zum Dichter oder zum Künstler geboren ist, der eine reichhaltige Ader des Talents in sich fühlt und vom Feuer einer schöpferischen Phantasie begeistert wird, träumt einen unsterblichen Ruhm, wähnt schon, daß er einst von den mächtigen Flügeln desselben über alle Zeitgenossen emporgehoben und zur entferntesten Zeit getragen werden könnte. In der Bewunderung die er zu erregen hofft, sieht er die Wirkung und das Zeichen seiner hohen Verdienste, und in der Begeisterung der Mit- und Nachwelt erhält er das überschwängliche Bewußtsein seiner eigenen Kraft. Diese Liebe zum Ruhm erwcht nicht in gewöhnlichen, gemeinen Gemütern. Der Ruhm bezieht sich so wenig auf die Bedürfnisse des tierischen Lebens; er hat etwas so Unkörperliches, so Unsichtbares, so Übersinnliches; er erhält einen solchen Zauber von allen Nebenvorstellungen die sich mit ihm verschwistern; er ist dermaßen mit dem Zauber einer unbestimmten, unbekannten, entfernten Zukunft umgeben, daß er mit dem Unendlichen mehr Verwandtschaft zu haben scheint als alle anderen Leidenschaften. Eben weil er von einer unbestimmten und unbestimmbaren Natur ist; weil er in einer stets zunehmenden Ausdehnung und Progression besteht; weil man ihn in seiner Vollständigkeit nie besitzt, sondern immer trachtet, ihn zu besitzen, sollte er immer gleich schön und begehrenswert bis ans Ende des Lebens erscheinen; und doch ist dies keineswegs der Fall. Gerade die Ungewißheit des Besitzes dieses vermeintlichen hohen Gutes benimmt ihm früher oder später seinen blendenden Reiz. Man hat keinen sicheren Maßstab, um einigermaßen zu bestimmen, wie weit sich der Ruhm erstreckt, noch wie lange er dauern wird: und dehnte er sich auch im Raum und in der zeit, so weit wie man es zu gedenken vermag, so bleibt dieser Preis doch immer sehr beschränkt, die Zahl derjenigen die von einem großen Mann der Vorzeit etwas vernehmen, oder zu welchen die Werke des Genies gelangen, ist immer gering und klein. Am Ende scheint es immer, daß man mit dem Triumphwagen der zur Unsterblichkeit führen sollte, nur ein wenig Staub und ein kurzes Gerassel erzeugt hat. So viel Rumwürdiges ist ungerechterweise untergegangen, und eben so ungerechterweise hat manches die Zeit überlebt, daß diese einache Betrachtung hinreicht, um die Liebe zum Ruhm abzukühlen und ihn uns in seiner Blöße und in seiner Nichtigkeit zu zeigen. Also ist der Ruhm nur schön in der ersten Periode des Lebens, in der Entfernung, wenn man nach ihm strebt und trachtet, und er hat immer etwas Unbefriedigendes, manmag ihn nun verfehlen oder erzielen.

Von allen Gefühlen, die sich leicht in eine unschuldige oder sogar edle Leidenschaft verwandeln können, ist unstreitig die Liebe, im eigentlichen Sinn des Wortes genommen, das lebendigste, das zarteste, dasjenige was am allgemeinsten das Gemüt ergreift und bewegt. Die erste Liebe, die sich in einer jugendlichen, frischen, sich eben entfaltenden Seele entzündet; in einem Alter, wo man weder sich selbst noch die Anderen kennt; wo die Welt sich in einem blendenden und täuschenden Glanz zeigt und man sich allen möglichen Täuschungen hingibt, versetzt die Seele in einen Zustand, der keinem anderen gleicht. Die zauberische Gewalt eines neuen, bis dahin unbekannten Lebens, scheint dem Menschen eine reine, vollkommene, unerschöpfliche, unendliche Glückseligkeit zu versprechen. Der Gegenstand einer solchen Liebe ist in unseren Augen nicht allein ein angenehmer, interessanter, schöner, entzückender Gegenstand, sondern wir wähnen in ihm das Ideal der Vollkommenheit zu sehen und zu finden. Die Person, die wir lieben, zeigt sich uns in einer Art von Zwielicht und von Helldunkel, die aus ihrer Entfernung, aus unserer Unbekanntschaft mit ihr, und den Schwierigkeiten selbst, ihr näher zu treten, entstehen, und die sich über ihre Handlungen, ihre Reden, ihre Gebärden, ihre Züge, ihr ganzes Wesen verbreiten. Es ist zumal im Beginn der Leidenschaft, daß dieser unaussprechliche Zauber seine ganze Gewalt über uns ausübt. Es ist, als stünden wir auf dem Rand eines unermeßlichen Meeres von Hoffnungen, von Wünschen, von Freuden, die sich einander an himmlischem Reiz überbieten. Welchen blendenden Lichtkreis von Erinnerungen der Vergangenheit und von Vorgefühlen der Zukunft bilden wir nicht um das Haupt des geliebten Gegenstandes! Wir verbinden alles was es in der Welt Schönes, Großes, Liebliches gibt, mit seinem Bild: er wird der Mittelpunkt, um welchen sich das Ganze unserer Handlungen und Gedanken bewegt; wir verleihen ihm Eigenschaften und Tugenden aller Art. In ihm spiegelt sich und malt sich, sozusagen, alles was uns in der Natur erregt und ergreift. Wie glücklich würde das Leben dahinfließen, wenn die Wirklichkeit dem Ideal, dem sie auf eine kurze Zeit so viel verdankt, entsprechen könnte, oder wenn das Ideal seinen magischen Duft um die Wirklichkeit gleichmäßig verbreiten könnte. Allein nur wenige Wesen, durch eine reichhaltige, allmähliche Entfaltung ihrer Kräfte, treten einem solchen Ideal näher, und auch diese verraten immer bei einer innigeren Bekanntschaft ihre Mängel, und auch bei einer steten Vervollkommnung bleiben sie immer sehr unvollkommen. Die Wirklichkeit zerstäubt das Werk der Idealität und zerbricht das wundervolle Prisma, das uns eine so herrliche Strahlenbrechung und so mannigfaltige Farben darbot. Da wo sich in der Entfernung eine Unendlichkeit unseren getäuschten Augen und unserem begeisterten Gemüt öffnete, fühlen wir uns immer mehr mit Schranken umgeben und beengt. Auf den Trümmern des feenartigen Gebäudes, in welchem wir heimisch zu werden hofften, ist nur  das  wahrhaft schön, was kein Dasein weder im Raum noch in der Zeit hat.

Allein die Liebe für das Wahre, das Schöne, das Gute, diese übersinnlichen Triebe unseres besseren Ichs, so rein auch ihre Quellen, so erhaben ihr Gegenstand, so unbegrenzt ihre Entwicklung, so unendlich ihre Folgen und Wirkungen, werden auch in der jetzigen Ordnung der Dinge von demselben schlagenden Urteil getroffen, und gelangen nie zu ihrem Ziel. Auch sie können nie im Leben das der menschlichen Natur innewohnende Bedürfnis von etwas Vollständigem, Vollkommenen, Unbedingten befriedigen; auch im Hinblick darauf kann man sagen, daß die Wirklichkeit weit hinter dem Ideal zurückbleibt.

Gibt es viele Menschen, in welchen sich die Liebe zum Wahren in ihrer ganzen Reinheit vorfindet? Die besseren, edelsten sind in dieser Hinsicht ebensowenig mit sich selbst als mit Anderen zufrieden. Wer liebt die Wahrheit ohne alle Beziehung auf sein Interesse, auf seine Wünsche, auf das was er hofft, fürchtet, zu erreichen und zu vermeiden trachtet? Wer liebt die Wahrheit, abgesehen von ihren Resultaten, ihren Folgen, ihren wohltätigen Wirkungen? Wer liebt die Wahrheit im hohen Alter, am Ende des Lebens, wie in der ersten Jugend? wer setzt in allen Momenten des Daseins ihren Besitz über jeden anderen? wer zieht den Genuß den sie gibt, allen anderen Genüssen vor, und ist immer bereit, ihr ein jedes Opfer zu bringen? Auch in den erkorenen Seelen erreicht nie die Liebe zum Wahren in ihren eigenen Augen die Lebendigkeit, die Dauer, die Stärke, die sie ihr wünschen. Dieser edle Trieb läßt auch nach mit der Zeit wie alle anderen Triebe; öfters verfliegt er, so gern man ihn auch auf derselben Höhe festhalten möchte. Die Wirklichkeit, auch in dieser Hinsicht, ist nie so schön als das was wir von ihr denken oder träumen.

Die Wahrheit selbst, zu der wir gelangen können oder die wir besitzen, liegt weit entfernt von der reinen, gewissen, lichthellen, vollständigen, ewigen Wahrheit, die alles in sich schließt, alles umfaßt, der Gottheit innewohnt, von welcher das ganze Weltall nur die Entfaltung und Entwicklung ist, und deren Begriff wir in uns tragen, ohne ihn verwirklichen zu können. Die Wahrheit, die wir besitzen, ist nur ein Abglanz der Realität. Was wir Wahrheit nennen, oder vielmehr die Wahrheit, die zu erreichen uns gegeben ist, bezieht sich einerseits auf anscheinende und relative Existenzen, die wir beobachten, auffassen, näher bringen, miteinander vergleichen, beurteilen, und zu einem Ganzen zu verbinden suchen; andererseits auf ein wirkliches Sein, auf reelle Existenzen, die wir mit unwiderstehlicher Gewißheit wahrnehmen, die sich uns gewissermaßen aufdrängen, die uns ein innerer Sinn offenbart, allein die wir nicht begreifen und deren Natur-Wesenheit und unzählbare Verzweigungen wir, trotz unserer Anstrengungen, nie ergründen werden. Von diesen Realitäten, die uns unmittelbar ergreifen, und die wir öfters für Erscheinungen halten, und von den Erscheinungen, die wir öfters für Realitäten ansehen, gibt es keine, die uns in jeder Hinsicht befriedigte, die unseren unersättlichen Wünschen entspräche. In der ersten Jugend, wo man das Maß der Geisteskräfte des Menschen noch nicht kennt, weil man sich noch nicht mit der Natur der Dinge gemessen hat, wähnt man leicht, die reine Wahrheit zu besitzen, oder zu deren Besitz zu gelangen. Aber dieser Wahn verfliegt sehr bald; je mehr wir uns in die Tiefe versenken oder in die Höhe streben, je mehr scheinen sie uns unerreichbar und sich von uns zu entfernen. Die Wahrheit, die unseren Augen auf Erden verborgen bleibt, als die einzige, die sich eines ewigen Glanzes und eines unbefleckten Lichts erfreut; sie allein bleibt unverrückt das letzte Ziel unseres Strebens, und erregt eine unversiegende Sehnsucht.

Man kann dasselbe vom Schönen sagen. Bald ist das Gemüt nicht tief und umfassend genug, oder der Geist zu schwach, um das Schöne, wie die Natur und die Kunst es uns darbieten, in seiner Reinheit und Lebendigkeit aufzufassen, oder die Begeisterung, die es einzuflößen verdient, zu empfinden, und es wie ein heiliges Feuer zu nähren und zu unterhalten; bald erscheint das Schöne in der Natur und zumal in der Kunst, der Tätigkeit, der Energie, den Forderungen unseres Inneren nicht angemessen. Wir träumen etwas Vollendeteres, und es schwebt uns dunkel ein Ideal vor, welches die Wirklichkeit weit überflügelt. Wer hat nicht gewisse Momente von Begeisterung und Erhebung gefühlt? wer hat nicht betrauert, daß sie so schnell verflogen sind? wer hätte nicht gewünscht, ihnen Dauer und Beharrlichkeit zu verleihen, als Zeitpunkte der Erschöpfung und Gleichgültigkeit ihnen folgten? Ja, die Momente selbst, wo die Seele sich von allem materiellen und eigennützigen Interesse entfremdend, über sich selbst erhaben scheint, sind nie so rein von allen heterogenen Eindrücken, so vollkomen, so herrlich, wie sie nach unserem eigenen Urteil sein könnten und sollten. Die Empfindungen, die das Schöne in uns erregt, befriedigen uns nie: es scheint uns immer, daß, um die menschliche Natur zur größtmöglichen Höhe zu bringen, dieselben zarter, lebendiger, tiefer sein müßten. Und wäre auch die für das Schöne empfängliche Subjektivität vollkommen, so würde doch die Objektivität des vorhandenen Schönen, unserem Ideal nie ganz entsprechen. Wie oft haben wir von einem Erzeugnis der Kunst, welches als Meisterstück galt, einen alles übertreffenden Genuß gehofft und von ihm erwartet? durch Raum und Zeit getrennt, wie innig haben wir uns nach ihm gesehnt? Sein Anblick wird uns endlich gewährt: wir schauen es an, wir hören, lesen es mit hoher Wonne, aber es versetzt uns nicht in den Zustand der Bewunderung, in die stille Begeisterung, in die göttliche Erhebung, auf die wir gerechnet hatten. Wir finden in demselben nicht den geistigen Lebensstrom, das genialische Gepräge, die Harmonie der Verhältnisse, die wir von ihm erwarteten. Die Fehler, die wir in ihm wahrnehmen, verdunkeln und schwächen den Glanz seiner Vorzüge. Entweder ist die Regelmäßigkeit des Ganzen nur auf Kosten der Kraft, der Fülle, der Hoheit der einzelnen Züge erzielt, und es erhält nur von uns einen kalten Beifall; der Verstand findete daran nichts auszusetzen, aber es ergreift nicht unser Gemüt und entzieht uns nicht der uns umgebenden täglichen Welt; - oder, so sehr wir auch von der Kühnheit der Idee, der Kraft der Darstellung, der Originalität eines Meisterwerks der Kunst hingerissen werden, so werden wir doch oft von einem wilden, ungeregelten, abenteuerlichen Charakter der einzelnen Teile desselben zurückgestoßen, oder wenigstens in unserem Genuß gestört. Bald zeigen die Schöpfungen der Kunst mehr Genialität als Geschmack, bald mehr Geschmack als Genialität; immer kehren wir unbefriedigt zurück. Unser Ideal steht höher als die Wirklichkeit; wir sehen oder wir ahnen noch etwas jenseits des uns vorliegenden Werks, und kommen wieder auf den Ausspruch zurück, daß das, was nicht existiert, schöner ist als das Daseiende.

Kein genialischer Dichter, kein großer Künstler, kein hervorragendes Talent irgendeiner Art, welche nicht denselben Ausruf über ihre eigenen Werke getan hätten, und mit tiefer Wehmut, mit innigem Schmerz in den Schranken ihres eigenen Geistes die der menschlichen Natur wahrgenommen hätten. In den Stunden der Begeisterung und der Eingebung, wo man den Plan eines schöpferischen Werks entwirft; wo die schaffende Idee aus den Tiefen des Gemüts hervorgeht, organisch in die Wirklichkeit eintritt, sich vor uns unter sinnlichen Formen gestaltet; wo der Künstler und seine Arbeit, sich wechselseitig durchdringend, eine wahre Einheit bilden, kann man sich leicht über sich selbst und über den inneren Wert seiner Werke täuschen. Ja man  muß  es sogar, um sich über eine flache und blaße Mittelmäßigkeit zu erheben. Allein diese Täuschung dauert nicht lange; dieser schöne Wahn verfliegt und verschwindet bald. Wie hoch auch die Stelle, die ein Kunstwerk einnimmt, sein mag, von dem Augenblick, wo es vollendet ist, wo es nicht mehr allein im Künstler lebt und sich mit seinem eigenen Wesen verschmolzen hat; wo es, von ihm getrennt, in der sinnlichen Welt erscheint, und der Künstler es wie einen jeden anderen Gegenstand beurteilt, zerstiebt in seinen eigenen Augen der magische Hauch, der es umgab; die Glorie von Vollkommenheit, die es umstrahlte, geht unter; der Künstler, sei es auch RAPHAEL, oder vielmehr weil es RAPHAEL ist, findet, daß seine Arbeit bei weitem nicht das Ideal erreicht, das in sein Innerstes eingegraben, ihm immer vorschwebt. Mit sich selbst unzufrieden, während die Mitwelt ihm huldigt, ihn mit Lob überschüttet, ist der Künstler oder der geniale Autor in seinen eigenen Augen, von der Höhe, die er erreichen wollte, und die er einen Moment erreicht zu haben glaubte, gesunken und herabgestürzt, und indem er das, was er geleistet hat, mit dem was er hat leisten wollen, vergleicht, sagt er in seinem verwundeten Herzen: "Nur das ist wahrhaft schön, was noch nicht ins Dasein getreten ist."

Dieser Ausspruch findet seine Anwendung auf die sittliche Schönheit noch weit mehr als auf das sinnlich Schöne. Die Demut, welche das Christentum so eindringlich empfiehlt, und die uns sogar als eine heilige Pflicht auferlegt wird, was ist sie anderes als das innige Gefühl unserer Schwäche, oder wenigstens das Bewußtsein der unendlichen Entfernung, die unsere Handlungen, unsere Empfindungen, unsere Gedanken, unsere ganze moralische Person von der Vollkommenheit trennt? Je tiefer der Mensch in seinen Busen greift, und über die Schwachheiten seiner Natur nachdenkt, umso mehr fragt er sich: "Gibt es eine einzige menschliche Handlung, die ganz rein ist von aller Mischung des Fremdartigen, des Unechten, des Verderblichen? Gibt es einen Willen, der nie abweicht von der gesetzmäßigen Bahn, und mit einer sich immer gleichen Kraft dem hohen Ziel der Menschheit beharrlich entgegenstrebt? Gibt es einen einzigen Charakter, der, trotz seines angeborenen oder erworbenen Adels, mit Widersprüchen und Inkonsequenzen behaftet, nie in das Kleinliche, Niedrige verfiele?" Die schwachen Seiten eines sonst hervorragenden Menschen bleiben öfters den Zuschauern und Mitgenossen seines Lebens unbekannt, wären diese auch mit einem scharfen Beobachtungsauge begabt. Ja, sie entgehen sogar Denjenigen, denen diese Mängel anhängen, oder offenbaren sich ihnen nur von Zeit zu Zeit. Die Tugenden der Menschen erscheinen nur rein, groß, erhaben in der Ferne, und halten selten Stand geen eine nahe, strenge, anhaltende Prüfung. In der ersten Jugend, wo das Ideal der sittlichen Vollkommenheit das Gemüt ergreift, bewegt, erfüllt, und zur höchsten Begeisterung erhebt; wo man sich selbst und die wirkliche Welt wenig beobachtet; nimmt man leicht alles für bares, echtes Gold an, gibt sich unbefangen harmlosen und gutmütigen Träumen hin, glaubt alles, bewundert alles, und hofft das Höchste von den Anderen und von seinem eigenen Herzen. Später verschwindet dieses beseligende Gefühl: man macht herbe Erfahrungen an sich selbst und am Leben, man beurteilt den Menschen mit bitterer Strenge. Nachdem das Alter uns billiger und milder gemacht hat, kehrt das Wohlwollen wieder heim in unser Herz, man trifft das wahre Maß der moralischen Beurteilung und begnügt sich, mit inniger Überzeugung in den Ausspruch des heiligen AUGUSTINUS einzustimmen.

Das Höchste im menschlichen Gemüt, die Krone aller Gefühle, die Liebe zu einem unendlichen Wesen, so wie sie sich in den edelsten Menschen offenbart, trägt auch dasselbe Gepräge, und läßt uns ebenso unbefriedigt, wie alle anderen Versuche, die wir machen, um die Idee und die Wirklichkeit unter sich auszusöhnen. Einmal können wir das unendliche Wesen nie fassen, noch zu fassen hoffen: denn zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen liegt immer die Unendlichkeit. Obgleich die Schranken unseres Wesens beweglich sind, und immer weiter vorgerückt werden können, so bleiben wir doch immer in engen Schranken eingeschlossen. Die Idee des unendlichen Wesens liegt deswegen nicht minder in uns, und die Überzeugung seines Seins läßt sich nicht ableugnen. Auch finden wir, daß das unendliche Wesen einer unendlichen Liebe würdig ist, aber zur Unmöglichkeit, das Unendliche in sich aufzunehmen, zu fassen und zu begreifen, gesellt sich noch die Unmöglichkeit, ein Gefühl in uns aufgehen zu lassen und zu bewahren, welches diesem unendlichen Wesen angemessen wäre. Die Schwäche des Gemüts gesellt sich die Schwäche der Vernunft. Auch die erkorenen Seelen, die von der heiligen LIebe durchdrungen und durchglüht waren, haben tief empfunden, daß sie in dieser Hinsicht sogar von den Forderungen, die sie an sich selbst machten, weit entfernt blieben. Auch die heilige THERESE, auch FENELON sogar in den Augenblicken, wo sie, über die sinnliche Welt erhaben, sich in der Anschauung der Gottheit verloren, und auf den Flügeln der reinsten Liebe zum Thron des Ewigen sich emporschwangen, haben die schweren lähmenden Fesseln der menschlichen Natur gefühlt, und bald von ihrer Anstrengung ermüdet, sind sie unwillkürlich zur Erde zurückgesenkt, und haben das allgemeine Los aller unserer Bestrebungen, den himmelweiten Unterschied von dem was da ist, und dem, was unserem Ideal gemäß sein könnte oder sollte, betrauert.

Doch muß bemerkt werden, daß der Abstand der Wirklichkeit vom Idealen einen ganz anderen Charakter annimmt, wenn er sich bei unseren sinnlichen Trieben, bei den gewöhnlichen gemeinen Neigungen offenbart, als wenn es um die geistige Schönheit, die ewige Wahrheit, das moralisch Gute und das Unendliche geht. Im ersten Fall liegt die Ursache des Abstandes und die drückende Wahrnehmung desselben, in den Gegenständen. Sie sind an und in sich höchst beschränkt, unvollkommen, ungenügend; man kann sie erreichen und besitzen, allein ihr Besitz beglückt und befriedigt nicht. Wir stehen höher, wir sind größer als sie; sie sind zu unvermögend, um unserem Vermögen angemessen sein zu können. Wir achten uns selbst zu sehr, um sie nicht selbst früher oder später zu verachten. Wir finden uns zwar gedemütigt, ihnen nachgejagt zu haben, allein indem wir unsere Verrechnung und unseren Irrtum anerkennen, können wir doch Trost und Ersatz in dieser Anerkennung finden. Im zweiten Fall, wenn wir uns in der Sphäre der Ideen der Schönheit, der Wahrheit, der Sittlichkeit, des göttlichen Seins von ihnen unendlich entfernt fühlen, so liegt die Ursache des Abstandes in uns selbst, in unserem beschränkten Wesen, im Unvermögen unserer Kräfte. Die Gegenstände sind hier vollkommen, ewig, unendlich, wir können sie aber nicht umfassen, besitzen, durchdringen; wir sind groß und reichlich genug begabt, um diese Ideen in uns zu tragen, wir sind aber zu klein, um sie zu erzielen. Unsere Zwecke sind tadelfrei, rein, erhaben, aber unsere Mittel zu denselben sind unzulänglich. Das Gefühl dieses nicht zu beseitigenden Abstandes ist zwar auch demütigend, allein es liegt etwas Herzerhebendes in diesem Gefühl selbst, und wenn die Unendlichkeit den Menschen niederbeugt, so kann er doch stolz sein, derselben allein zu unterliegen.

Also treten das Ideal und die Wirklichkeit in allen Elementen des menschlichen Lebens einander entgegen. Bald ist diese Entgegensetzung schroffer und auffallender, bald milder, sanfter, versöhnender; aber nie verschwindet sie ganz, nie entspricht die Wirklichkeit den Forderungen des Ideals, und ebensowenig läßt das Ideal von seinen Forderungen nach, und findet sich mit der Wirklichkeit ab, oder verschmilzt mit derselben. Diese immer wiederkehrende Antinomie in der geheimnisvollen Natur des Menschen begründet, macht eigentlich dessen Wesen aus; denn sie besteht in der stets wiederkehrenden und unauslöschlichen Entgegensetzung der immer mit frischer Lebendigkeit und einer ewigen Jugend im Herzen der Menschen aufgehenden unendlichen Ideal, und der blassen, mangelhaften Wirklichkeit mit ihrem schwachen, langsamen, schweren Gang. Auch kann noch soll diese Antinomie nie aufgehoben werden und sich in eine wahre Harmonie, oder in die Einheit verlieren. Einzelne Menschen erheben sich zwar, wie Palmen in der Wüste, über das gemeine Leben; es gibt Heroen in jedem Fach des menschlichen Schaffens und Wissens; aber sie erscheinen immer nur als solche, in Beziehung auf alle niedrigen Potenzen, und in ihrem eigenen Wesen tritt immer scharf und grell diese Urantinomie auf. Die Menschheit steht freilich immer höher, als alle einzelnen Menschen in einer jeden Periode; die Menschheit schreitet vorwärts, wir sehen ihre Morgenröte: wer wird ihren Kulminationspunkt bestimmen wollen? Das letzte Geschlecht erbt vom vorhergehenden, und wuchert mit dieser Erbschaft, aber ein jedes kommende Geschlecht, so große seine Entdeckung im Reich der Wahrheit, seine Schöpfungen auf dem Gebiet der Natur und der Kunst sein mögen, wird immer die Urantinomie auftreten sehen, und sie gleich uns wahrnehmen und empfinden.

So stehen wir zwischen zwei Welten, auf die unsere Doppelnatur sich gleichzeitig bezieht; beide können gegründete und immer wiederkehrende Ansprüche auf uns machen. Wir stehen und bringen unser Leben zu zwischen Satz und Gegensatz, ohne daß wir vermögend wären, den einen oder den anderen zu verwischen, oder sie beide in einen vollkommenen Einklang zu bringen.

Nach allen mißratenen und unnützen Versuchen, das Ideal und die Wirklichkeit in diesen vollkommenen Einklang zu bringen, wäre es noch viel gewagter und unnützer, das eine oder das andere zu verkennen, zu verleugnen, zu bekämpfen, um uns womöglich ihm ganz zu entziehen.

Ein solcher verzweifelter Vorsatz würde nicht allein unnütz sein und zu nichts führen, weil wir die ursprüngliche und wesentliche Natur des Menschen nicht durch einen Akt der Willkür abändern können; auch wenn er gelingen und zur Ausführung kommen könnte, würde er höchst verderblich ausfallen, und statt den Menschen zu veredeln, und ihn seiner Bestimmung näher zu bringen, denselben verstümmeln, indem er das geistige oder tätige Element unseres Daseins vernichten würde.

Man frage sich ernsthaft, was wäre das Ideal ohne die Wirklichkeit, oder die Wirklichkeit ohne das Ideal, und es wird sogleich einem jeden Unbefangenen einleuchten, daß alle Fächer der produktiven Tätigkeit, alle Zweige des menschlichen Wissens, alle Verhältnisse der Gesellschaft durch diese Trennung verlieren, und in ein unfruchtbares und zweckloses Treiben, oder in eine flache, stereotype Mittelmäßigkeit verfallen würden. Trachtete nicht immer der Mensch, beide Extreme, welche eine solche Trennung notwendig herbeiführen würde, zu vermitteln und immer näher zu bringen, so würde das Leben ohne Wirksamkeit sein, oder die Wirklichkeit das innere, höhere Prinzip des Lebens entbehren.

Bestünde die Wirklichkeit ohne alle Berührung mit dem Ideal, so würden die Menschen immer dasselbe auf dieselbe Art tun, und sich in einem engen, einförmigen, stets wiederkehrenden Kreis bewegen; nichts würde besser werden, und eben dadurch würde allmählich alles schlechter ausfallen; nichts würde vervollkommnet, weil der Maßstab und der Trieb zur Vervollkommnung fehlen würde. Der Gedanke würde nie die Tat überflügeln, der Begriff sich nie über das Geschehene erheben; die Phantasie, zum Schweigen gebracht, würde erlahmen; das Gemüt, von der Phantasie weder genährt noch bereichert, würde vertrocknen oder versteinern; der ganze Mensch in einer armseligen Genügsamkeit, in einer stumpfen Gleichgültigkeit untergehen. Hätte er nicht die Idee der reinen Wahrheit, so würde er nie aus dem Irrtum und der Unwissenheit heraustreten; hätte er nicht die Idee des höchsten Gutes, so würde er sich mit jeder Schlechtigkeit abfinen; hätte er nicht die Idee der ewigen Rechtlichkeit, würde er die Gesetze und die Einrichtung der Gesellschaft, wie er sie vorfindet, mit sich unverändert fortschleppen; hätte er die Idee der höchsten Zweckmäßigkeit, die Gewerbe, welche die materiellen Bedingungen des Lebens abgeben, in ihrer Kindheit gelassen, hätte er nicht die Idee des Schönen, so würde er die Kunst nie erfunden haben. Nur vermöge dieser Ideen strebt der Mensch immer höher, und nur indem er, mit dem errungenen immer unzufrieden, nach einem größeren Besitz strebt, gelingt es ihm, etwas zu erreichen und zu besitzen. Wenn sein Begehren nicht unbeschränkt wäre, so würde er auch nicht einmal die Mittel erschaffen können, welche auch beschränkte Wünsche erfordern; wenn er nicht in jeder Art dem größten Luxus nachjagte, so würde er nicht einmal das Notdürftige erzielen.

Wollte man hingegen dem Ideal allein fröhnen, es allein gelten lassen, für daselbe und in demselben leben, es von allem Verkehr mit der Wirklichkeit abschneiden und mit der letzteren brechen, so würden aus diesem extremen Gesichtspunkt, und aus dieser ausschließlichen Vorliebe, ebensogroße Nachteile wie aus dem entgegengesetzten Entschluß hervorgehen. Die Wirklichkeit verkennen, herabsetzen; von einer vermeintlichen Höhe auf sie mit einer stolzen Verachtung heruntersehen, wäre ein grobes Versehen gegen die Natur des Menschen, gegen seine Bestimmung und die Entwicklung seiner tätigen Kräfte. Die Wirklichkeit würde zwar immer ihre Rechte behaupten, und durch ihre Gewlt immer wiederkehrender Bedürfnisse und die Macht der nicht zu erstickenden sinnlichen Triebe uns immer wieder zu sich herüberziehen und unseren lächerlichen Vorsatz zerstäuben. Eine reine und totale Absonderung von der Wirklichkeit ist also weder möglich noch denkbar; aber auch in dem Grad, wo sie möglich ist, wäre sie, wenn sie stattfinden sollte, ein arger Mißgriff und ein verderblicher Irrtum. Wir würden nicht mehr nur allein in die reelle Welt eingreifen, um sie zu veredeln und zu verbessern, oder es nur mit schlaffer und ungeschickter Hand tun; nicht allein den schönen Genuß, der mit dem eigenen Schaffen verbunden ist, entbehren; nicht allein würde die Wirklichkeit durch einen solchen Wahn ihre fortschreitende Bewegung einbüßen, sondern die Ideale selbst würden sich allmählich erblassen und verschwinden, in eine Leerheit ausarten, und zuletzt in eine unfruchtbare Schwärmerei, in einen phantastischen Dunst auflösen. Wenn die Wirklichkeit dem Ideal viel zu verdanken hat, und von ihm einen großen Teil ihrer Reize erhält, so erborgt auch das Ideal von der Wirklichkeit allein eine vollendete Bestimmtheit, individuelle Gestaltung, sinnliche Formen und lebendiges Dasein. Ohne Berührung, ja ohne eine innige Verbrüderung mit derselben würde am Ende das Ideal zur splitternackten Abstraktion werden, und sich unwiderruflich in einen schwankenden Begriff, den wir nicht festhalten könnten, verlieren.

Aus all dem erhellt sich, daß eine totale Trennung des Idealen und der Wirklichkeit, für beide, wenn sie denkbar wäre, gleich lähmend und vernichtend ausfallen würde. Beide, in der menschlichen Natur gegründet, sollen nicht allein nebeneinander bestehen, sondern sich miteinander ausbilden, sich allmählich immer mehr durchdringen und einen innigen, unverbrüchlichen Bund stiften. In ihrem wechselseitigen Einfluß besteht die Vermittlung ihrer wechselseitigen Vorteile und Nachteile und der entgegengesetzten Charaktere, die sie in ihren Extremen darbieten. Eine vollkommene Durchdringung und Verschmelzung beider in allen Zweigen des menschlichen Tuns und Treibens ist unmöglich, und wird nie stattfinden. Die Approximation beider in einer ununterbrochenen Progression soll das höchste Ziel der Menschheit sein. Trotzdem wird die Wirklichkeit in ihrer spröden Individualität immer etwas darbieten, was dem Ideal widerspricht und dasselbe der Luftigkeit, sowie der ungerechten Anmaßung und der unbilligen Forderungen anklagt, so wie das Ideal, nie in den sinnlichen Formen der Wirklichkeit ganz ausgesprochen und ausgeprägt, immer gegen dieselbe auftreten wird. Die Erkorenen, die sich zur Höhe der reinen Ideale emporgeschwungen haben, werden mit der Wirklichkeit in keinem Moment des Daseins vollkommen zufrieden sein. Aber diese Unzufriedenheit, in gehörigen Schranken gehalten, ist weder ein Unglück noch eine Schande für die Menschheit. Diese Unzufriedenheit nimmt einen göttlichen Charakter an, weil sie die Würde des Menschen, seine himmlische Bestimmung, seinen göttlichen Ursprung verrät und verkündet. Ein jeder Mensch, wenn er zu einer gewissen Höhe der Bildung gekommen ist, soll seiner Doppelnatur getreu, beide Welten abwechselnd bewohnen. Wir sind gemacht, um in der Wirklichkeit zu atmen, zu handeln, zu schaffen, den Ideen gemäß, die uns immer vorleuchten sollen; aber wir können und müssen aus dieser irdischen Atmosphäre treten, um in höheren Regionen auf dem sonnigen Gipfel der Ideen eine reinere Luft einzusaugen, das Gemüt aufzufrischen, die Phantasie zu beflügeln, und uns in der Wirklichkeit mit verdoppelter Kraft den ewigen Urbildern nachzubilden.

Diese Betrachtungen gab mir wie von selbst die heutige Feier ein; das Bild des verklärten Genius von Preussen schwebte mir bei dieser Arbeit vor, und wenn diese verehrte Versammlung mich mit einiger Nachsicht angehört hat, so war ich es gewiß dieser großen Erinnerung schuldig. Er selbst, der Gefeierte, und sein ganzes Schaffen, geben ein erhabenes Beispiel der heilsamen Wechselwirkung, welche das Ideal und die Wirklichkeit aufeinander ausüben. Er selbst war ein Ideal dieses schönen Bundes. So wie sich in seiner Person Geist und Form harmonisch gestalteten, so wie in ihm das Ebenmaß der Züge, die Klarheit und das Feuer des Auges den unsichtbaren hohen Gast verkündeten, so drückte er auch sein Gepräge dem lebendigen Organismus des Staates auf, und goß in dessen Adern die belebendenn ewigen Ideen, die ihn selbst beseelten. Ein Künstler-König, wie es keinen vor ihm gab, versinnlichte diese Ideen, die er von Jugend auf in seinem Busen trug, in alle seine Schöpfungen, wo wie in alle seine Taten. Während sechsundvierzig Jahren, arbeitete er unabläßig, mit unversiegbarer Kraft und mit einer beharrlichen, wahren, künstlerischen Liebe an seinem großen Werk; was vielleicht noch bewundernswürdig ist, weil seltener, wußte er das Ideal, welches seine Intelligenz ihm vorhielt, und welches sein Gemüt erfüllt, dem sich darbietenden unvollkommenen Stoff, der etwas spröden Materie, welche die Umstände ihm zuführten, die Werkzeuge, welche seiner Meisterhand zu Gebote standen, anzupassen. Auf diese Art, wenn er auch nicht das Höchste erreichte, begründete er das Hohe. Der Zeit nicht vorgreifend, nicht von ihr fordernd, was sie damals noch nicht zu leisten vermochte, rechnete er mit Sicherheit auf die kommenden Geschlechter seines erlauchten Hauses und seines Volkes, um das Begonnene zu vollenden. Seine hochherzigen Enkel, so wie sein Volk, haben sich der großen Erbschaft würdig gezeigt, indem sie seinen Ideen gemäß und in seinem Geist handelten, kämpften, siegten für Unabhängigkeit und Ehre, und auf dem nicht allein behaupteten, sondern vergrößerten heiligen Boden des Vaterlandes reiche Ernten aller Art haben aufgehen lassen. Die leitenden Ideen FRIEDRICHs haben sich seit ihm verklärt; die Wirklichkeit, besser vorbereitet, hat sie williger und leichter empfangen und wiedergegeben. Allein  Er  hat den fruchtbaren Keim in die Nation niedergesenkt; von  Ihm  kommt das Lebensprinzip welches noch immer die Organe des Staates belebend durchströmt. Wenn heute alle Zweige der materiellen und geistigen Kultur bei uns mit gleicher Sorgfalt gepflegt werden, wenn die Entwicklung der National-Intelligenz als der Stützpunkt des großen Hebels der Macht, des Reichtums, der Sicherheit und der Freiheit, vom Thron bis zur Hütte angesehen und betrachtet wird, wenn eine progressive Bewegung aller Kräfte, langsam, ruhi, aber ununterbrochen und zweckmäßig, wie der ewige Gang der Natur, unser glückliches Vaterland in den Augen von ganz Europa verherrlicht, so müssen wir Ehre geben, wem Ehre gebührt, und die Segnungen der Gegenwart müssen uns nicht verhindern, die Wohltaten der Vergangenheit dankend anzuerkennen.
LITERATUR - Friedrich Ancillon, Über das Verhältnis des Idealen und der Wirklichkeit [Vorgelesen am 24. Januar in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtsfeier König Friedrich II.], Berlin 1830