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Sprachkenntnis
FRIEDRICH GOTTFRIED KLOPSTOCK

Bei der eigentlichen und vorzüglichsten Sprachkenntnis kommt es darauf, daß man die Bedeutungen der Wörter in ihrem ganzen Umfange wisse. Dieser begreift unter andern den Sinn in sich, den ein Wort, in der oder jener Verbindung der Gedanken, auch haben kann. Umfang setzt Grenzen. Du mußt also auch wissen, was ein Wort nicht bedeuten könne. Manche Wörter wimmeln (ich rede besonders von unsrer Sprache) von vielfachen Bestimmungen der Hauptbedeutung oder Hauptbedeutungen; manche haben überdies eine gewisse Biegsamkeit, noch neue Bestimmungen anzunehmen, vorausgesetzt, daß die Stelle, wo sie stehen, es erfordre, oder wenigstens zulasse. Diese neuen Bestimmungen sind oft nur kleine, sanfte Schattierungen; aber so klein sie sind, so gehören sie doch mit zur Darstellung. Ohne sie mangelt ihr etwas; sie ist noch nicht ganz vollendet. Wie wenig versteht also der von der Sprache, und was kann er darstellen, der nicht einmal die Hauptbedeutungen der Wörter recht kennt. Ein Maler, der blau und rot nicht voneinander unterscheiden könnte, läßt sich zwar nicht denken, und doch gleicht ihm derjenige Dichter, dem es an jener Kenntnis fehlt. Zu den vielfachen Bestimmungen der Hauptbedeutungen gehört auch sanfter und starker Klang, langsame und schnelle Bewegung der Wörter, ja sogar die verschiedene Stellung dieser Bewegungen. Wie soll ihm aber ein Mann tun, dessen Sprache ihm zu solchen Bemerkungen wenigen oder keinen Anlaß gibt, und die nicht einmal Wörter genug hat, geschweige denn viele von starker, reicher und vielseitiger Bedeutung? Allein was geht uns denn dieser Mann an? Meinent- und deinenthalben mag er so viel er nur immer will und kann in Prosa schreiben; und es so oft und lange, als es ihm gefällig ist, Poesie nennen. Doch wenn solcher Mann nun endlich zu der Einsicht kommt, wie es in Beziehung auf die Poesie, mit seiner Sprache eigentlich beschaffen ist, was soll er dann anfangen?

LITERATUR, Friedrich Gottfried Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik, Herrsching 1962