ra-2L. KühnO. KülpeJ. Cohnvon KernA. DöringSchiller    
 
FRIEDRICH SCHILLER
(1759-1805)
Über Anmut und Würde

"Wo Anmut stattfindet, da ist die Seele das bewegende Prinzip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich dann jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: Anmut ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern vom Subjekt selbst hervorgebracht wird."

"Mittelbar ist die Schönheit des Menschen im Begriff seiner Menschheit gegründet, weil seine ganze sinnliche Natur in diesem Begriff gegründet ist, aber der Sinn, weiß man, hält sich nur an das Unmittelbare, und für ihn ist es also gerade soviel, als wenn sie ein ganz unabhängiger Natureffekt wäre."

Die griechische Fabel legt der Göttin der Schönheit einen Gürtel bei, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt,  Anmut  zu verleihen, und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den  Grazien  begleitet.

Die Griechen  unterschieden  also die Anmut und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttin zu trennen waren. Alle Anmut ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein  Eigentum  der Göttin von  Gnidus  [Tempel der Venus - wp]; aber nicht alles Schöne ist Anmut, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt  Venus  was sie ist.

Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttin  allein,  die den Gürtel des Reizes trägt und verleiht.  Juno,  die herrliche Königin des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der  Venus  entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida [Berg - wp] bezaubern will. Hoheit ist also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt, (den man der Gattin  Jupiters  keineswegs abspricht) ist ohne Anmut nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eigenen Reizen, sondern vom Gürtel der  Venus  erwartet die hohe Götterkönigin den Sieg über Jupiters Herz.

Die Schönheitskönigin kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das weniger Schöne  übertragen.  Anmut ist also kein  ausschließendes Prärogativ  [Vorrecht - wp] des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das weniger Schöne, ja selbst auf das Nichtschöne, übergehen.

Die selben Griechen empfahlen demjenigen, dem bei allen übrigen Geistesvorzügen die Anmut, das Gefällige, fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können, und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmut, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend, verbindet? wenn sie zwar vom Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch am Nichtschönen offenbart? wenn die Schönheit zwar  ohne sie  bestehen, aber  durch sie  allein ein Objekt der  Neigung  werden kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied schon früh, was die Vernunft noch nicht zu  verdeutlichen  fähig war, und, nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen wert, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit anderen Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern, als den folgenden Sinn einzuschließen.

Anmut ist eine  bewegliche  Schönheit, eine Schönheit nämlich, die an ihrem Subjekt zufällig entstehen und ebenso aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der  fixen  Schönheit, die mit dem Subjekt selbst notwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann  Venus  abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen; ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende  Venus,  ohne Schönheit ist sie nicht mehr  Venus. 

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz besondere, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmut verleiht; und unterscheidet sich dadurch von jedem anderen Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythos, daß sich die Anmut in eine Eigenschaft der Person verwandelt, und daß die Trägerin des Gürtels wirklich liebenswürdig  ist,  nicht bloß so  scheint. 

Ein Gürtel, der nicht  mehr  ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein ganz passendes Bild zu sein, die  persönliche  Eigenschaft der Anmut zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar vom Subjekt gedacht wird, konnte wohl nicht anders, als durch seine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht  natürlich,  weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt  magisch das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freilich nicht  mehr  ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reich der Freiheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft ausdrückt, die sich von ihrem Subjekt absondern läßt, ohne deswegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nicht anders als eine Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beiden Forderungen Genüge leistet, die im angeführten Mythos enthalten sind. Sie ist  erstens  objektiv und kommt dem Gegenstand selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist  zweitens  etwas zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch beim weniger Schönen, und selbst beim Nichtschönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das weniger Schöne, auch das Nichtschöne kann sich  schön bewegen. 

Die Anmut, sagt der Mythos, ist etwas  zufälliges  an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit  müssen  alle  notwendigen  Bewegungen schön sein, weil sie, als notwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit  dieser  Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der  Venus gegeben,  die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine  Erweiterung  dieses Begriffs. Es gibt eine Anmut der Stimme, aber keine Anmut des Atemholens.

Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegung Anmut?

Daß der griechische Mythos Anmut und Grazien nur auf die Menschheit einschränkt, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter, und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmut nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupt sich mit Anmut bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Äste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfeldes, die Gliedmaßen der Tiere, sich mit Anmut bewegen sollten. Aber die Göttin von Gnidus repräsentiert repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkürlichen Bewegungen allein kann also Anmut zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck  moralischer  Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bei aller Willkürlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmut erhebt. Könnte sich die Begierde mit Anmut, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmut und Grazie nicht mehr fähig und würdig sein, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die  Menschheit  allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem  humanen  Gefühl ist es gleich unmöglich, die rohe Tierheit und die Intelligenz zu  vereinzeln.  Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fordert er von jeder Handlung des Instinkts am Menschen zugleich einen Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie  bloß  Natur, darum darf er auch nicht erröten, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals  bloß  Vernunft, darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freiheit, die nur im Olymp zuhause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen lassen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkürlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehört, ohne zugleich ein Ausdruck des moralisch empfindenden Geistes zu sein. Daher ist ihm auch die Anmut nichts anderes als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen. Wo also Anmut stattfindet, da ist die Seele das bewegende Prinzip, und in  ihr  ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich dann jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: Anmut ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern vom Subjekt selbst hervorgebracht wird.

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmut aus der griechischen Fabel exegetisch herauszuziehen, und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzutun. Jetzt sei mir erlaubt zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und ob es auch hier, wie in sovielen anderen Fällen wahr ist, daß sich die philosophierende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel  geahndet,  und die Poesie nicht  geoffenbart  hätte.

Venus,  ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen  der bloßen Natur  kommen kann, und  ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes,  durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönhet eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sei mir erlaubt diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Notwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freiheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues  (architektonische Schönheit)  zu benennen. Mit diesem Namen will ich also denjenigen Teil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte  ausgeführt  worden (was von jeder Erscheinung gilt) sondern der auch  nur allein durch Naturkräfte bestimmt  ist.

Ein glückliches Verhältnis der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme usw. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der  Natur  welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem  Glück - welches das Bildungsgeschäft der Natur von jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese  Venus  steigt schon  ganz vollendet  aus dem Schaum des Meeres empor: vollendet, denn sie ist ein beschlossenes, streng abgewogenes Werk der Notwendigkeit, und als solches, keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nämlich nichts anderes ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtigt, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grund liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie - der Anlage nach - als ganz gegeben beurteilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit derselben wohl unterschieden werden. Unter der letzteren hat man das  System der Zwecke selbst  zu verstehen, so wie sie sich untereinander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter ersteren hingegen bloß  eine Eigenschaft der Darstellung  dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Wert dieser Zwecke noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabei in Betracht gezogen. Das anschauenden Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objekts die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues durch den Begriff der demselben zum Grund liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtigt, so  isoliert  doch das ästhetische Urteil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts als was der Erscheinung unmittelbar und eigentümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues  erhöht.  In unserem Urteil über die letztere kann die Vorstellung der ersteren zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein reinästhetisches Urteil zu sein. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem  Sinn  sondern dem  Verstand  vorgestellt; sie kann nur  gedacht werden,  nicht  erscheinen.  Die architektonische Schönheit hingegen kann wie ein Ausdruck seiner Bestimmung sein, da sie sich an ein ganz anderes Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beigelegt wird, so ist dies nur insofern wahr, als er schon in der  bloßen Erscheinung  diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabei seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses letzte nicht anders als mittels eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter sein, was einen Widerspruch einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preis der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raum, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur  dem,  was in ihm  Natur ist,  zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es dann mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also von allen Sinnenwesen um ihn her durch eine höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höheren Bestimmung ist, denn wäre das so, so würde diese Bildung aufhören schön zu sein, sobald sie eine niedrige Bestimmung ausdrückt, so würde auch das Gegenteil dieser Bildung schön sein, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückt. Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt, man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urteil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur insofern einen Anteil, als ihre Darstellung, d. h. ihr Ausdruck in der Erscheinung zugleich mit den Bedingungen  zusammentrifft,  unter welche das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nämlich muß jederzeit ein freier Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit  erteilen,  sondern bloß  gestatten. 

Man könnte mir zwar einwenden, daß überhaupt alles was sich in der Erscheinung darstellt, durch Naturkräfte ausgeführt wird, und daß dies also kein ausschließliches Merkmal des Schönen sein kann. Es ist wahr, alle technischen Bildungen sind hervorgebracht durch Natur, aber durch Natur sind sie nicht technisch; wenigstens werden sie nicht so beurteilt. Technisch sind sie nur durch den Verstand, und ihre technische Vollkommenheit hat also schon Existenz im Verstand, ehe sie in die Sinnenwelt hinübertritt, und zur Erscheinung wird. Schönheit hingegen hat das ganz eigentümliche, daß sie in der Sinnenwelt nicht bloß dargestellt wird, sondern auch in derselben zuerst entspringt; daß die Natur sie nicht bloß ausdrückt, sondern auch erschafft. Sie ist durchaus nur eine Eigenschaft des Sinnlichen, und auch der Künstler, der sie beabsichtigt, kann sie nur insoweit erreichen, als er den Schein unterhält, daß die Natur gebildet habe.

Die Technik des menschlichen Baues zu beurteilen, muß man die Vorstellung der Zwecke, denen sie gemäß ist, zu Hilfe nehmen; dies hat man gar nicht nötig, um die Schönheit dieses Baues zu beurteilen. Der Sinn allein ist hier ein völlig kompetenter Richter, und dies könnte er nicht sein, wenn nicht die Sinnenwelt (die sein einziges Objekt ist) alle Bedingungen der Schönheit enthielte, und so zur Erzeugung derselben vollkommen ausreichend wäre.  Mittelbar  freilich ist die Schönheit des Menschen im Begriff seiner Menschheit gegründet, weil seine ganze sinnliche Natur in diesem Begriff gegründet ist, aber der Sinn, weiß man, hält sich nur an das  Unmittelbare,  und für ihn ist es also gerade soviel, als wenn sie ein ganz unabhängiger Natureffekt wäre.

Nach dem Bisherigen sollte es nun scheinen, als wenn die Schönheit für die Vernunft durchaus kein Interesse haben könnte, da sie bloß in der Sinnenwelt entspringt, und sich auch nur an das sinnliche Erkenntnisvermögen wendet. Denn nachdem wir vom Begriff derselben, als fremdartig, abgesondert haben, was die  Vorstellung der Vollkommenheit  in unser Urteil über die Schönheit zu mischen kaum unterlassen kann, so scheint dieser nichts mehr übrig zu bleiben, wodurch sie der Gegenstand eines vernünftigen Wohlgefallens sein könnte. Nichtsdestoweniger ist es ebenso ausgemacht, daß das Schöne  der Vernunft gefällt,  als es entschieden ist, daß es auf keiner solchen Eigenschaft des Objekts beruth, die nur durch Vernunft zu entdecken wäre.

Um diesen anscheinenden Widerspruch aufzulösen, muß man sich erinnern, daß es zweierlei Arten gibt, wodurch Erscheinungen Objekte der Vernunft werden, und Ideen ausdrücken können. Es ist nicht immer nötig, daß die Vernunft diese Ideen aus den Erscheinungen  herauszieht,  sie kann sie auch in dieselben  hineinlegen.  In beiden Fällen wird die Erscheinung einem Vernunftbegriff adäquat sein, nur mit dem Unterschied: daß im ersten Fall die Vernunft ihn schon objektiv darin findet, und ihn gleichsam vom Gegenstand nur empfängt, weil der Begriff gesetzt werden muß, um die Beschaffenheit und oft selbst um die Möglichkeit des Objekts zu erklären; daß sie hingegen im zweiten Fall das, was unabhängig von ihrem Begriff in der Erscheinung gegeben ist, selbsttätig zu einem Ausdruck desselben  macht,  und so etwas bloß Sinnliches übersinnlich behandelt. Dort ist also die Idee mit dem Gegenstand objektiv notwendig, hier hingegen höchstens subjektiv notwendig verknüpft. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich jenes von der Vollkommenheit, dieses von der Schönheit verstehe.

Da es also im zweiten Fall, in Anbetracht des sinnlichen Objekts ganz und gar zufällig ist, ob es eine Vernunft gibt, die mit der Vorstellung desselben eine ihrer Ideen verbindet, folglich die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes von dieser Idee als völlig unabhängig muß betrachtet werden, so tut man ganz Recht, das Schöne,  objektiv,  auf lauter Naturbedingungen einzuschränken, und es für einen bloßen Effekt der Sinnenwelt zu erklären. Weil aber doch - auf der anderen Seite - die Vernunft von diesem Effekt der bloßen Sinnenwelt einen transzendenten Gebrauch macht, und ihm dadurch, daß sie ihm eine höhere Bedeutung leiht, gleichsam ihren Stempel aufdrückt, so hat man ebenfalls Recht, das Schöne  subjektiv  in die intelligible Welt zu versetzen. Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zweier Welten anzusehen, deren einer sie durch  Geburt,  der andern durch  Adoption  angehöhrt; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur, und  erlangt  in der Vernunftwelt das Bürgerrecht. Hieraus erklärt sich auch, wie es zugeht, daß der Geschmack, als ein Beurteilungsvermögen des Schönen, zwischen Geist und Sinnlichkeit in die Mitte tritt, und diese beiden, einander verschmähende Naturen, zu einer glücklichen Eintracht verbindet - wie er dem  Materiellen  die Achtung der Vernunft, wie er dem  Rationalen  die Zuneigung der Sinne erwirbt - wie er Anschauungen zu Ideen adelt, und selbst die Sinnenwelt gewissermaßen in ein Reich der Freiheit verwandelt.

Wie wohl es aber - in Anbetracht des Gegenstandes selbst - zufällig ist, ob die Vernunft mit der Vorstellung desselben eine ihrer Ideen verbindet, so ist es doch - für das vorstellende Subjekt - notwendig, mit einer solchen Vorstellung eine solche Idee zu verknüpfen. Diese Idee und das ihr korrespondierende sinnliche Merkmal am Objekt müssen miteinander in einem solchen Verhältnis stehen, daß die Vernunft durch ihre eigenen unveränderlichen Gesetze zu dieser Handlung genötigt wird. In der Vernunft selbst muß also der Grund liegen, warum sie ausschließlich nur mit einer  gewissen  Erscheinungsart der Dinge eine bestimmte Idee verknüpft, und im Objekt muß wieder der Grund liegen, warum es ausschließlich nur  diese  Idee und keine andere hervorruft. Was für eine Idee das nun ist, die die Vernunft in das Schöne hineinträgt, und durch welche objektive Eigenschaft der schöne Gegenstand fähig ist, dieser Idee zum Symbol zu dienen - das ist eine viel zu wichtige Frage, um hier bloß im Vorübergehen beantwortet zu werden, und deren Erörterung ich also auf eine Analytik des Schönen aufspare.

Die architektonische Schönheit des Menschen ist also, auf die Art, wie ich eben erwähnte,  der sinnliche Ausdruck eines Vernunftbegriffs;  aber sie ist es in keinem anderen Sinn und mit keinem größeren Recht, als überhaupt jede schöne Bildung der Natur.  Dem Grad nach  übertrifft sie zwar alle anderen Schönheiten, aber  der Art nach  steht sie in derselben Reihe mit denselben, da auch  sie  von ihrem Subjekt nichts, als was sinnlich ist, offenbart, und erst in der Vorstellung eine übersinnliche Bedeutung empfängt. (1) Daß die Darstellung der Zwecke am Menschen schöner ausgefallen ist, als bei anderen organischen Bildungen, ist als eine  Gunst  anzusehen, welche die Vernunft, als Gesetzgeberin des menschlichen Baues, der Natur als Ausrichterin ihrer Gesetze zeigte. Die Vernunft verfolgt zwar bei der Technik des Menschen ihre Zwecke mit strenger Notwendigkeit, aber glücklicherweise treffen ihre Forderungen mit der Notwendigkeit der Natur  zusammen,  so daß die letztere den Auftrag der ersteren vollzieht, indem sie bloß nach ihrer eigenen Meinung handelt.

Dies kann aber nur von der  architektonischen  Schönheit des Menschen gelten, wo die Naturnotwendigkeit durch die Notwendigkeit des sie bestimmenden teleologischen Grundes unterstützt wird. Hier allein konnte die Schönheit gegen die Technik des Baues  berechnet  werden, welches aber nicht mehr stattfindet, sobald die Notewwendigkeit nur einseitig ist und die übersinnliche Ursache, welche die Erscheinung bestimmt, sich zufällig verändert. Für die architektonische Schönheit des Menschen sorgt also die Natur  allein,  weil ihr hier, gleich in der ersten Anlage, die Vollziehung all dessen, was der Mensch zur Erfüllung seiner Zwecke  bedarf,  einmal für immer vom schaffenden Verstand  übergeben  wurde, und sie also in diesem ihrem  organischen  Geschäft keine Neuerung zu befürchten hat.

Der Mensch aber ist zugleich eine  Person,  ein Wesen also, welches  selbst  Ursache, und zwar absolut letzte Ursache seiner Zustände sein, welches sich nach Gründen, die es aus sich selbst nimmt, verändern kann. Die Art seines Erscheinens ist abhängig von der Art seines Empfindens und Wollens, also von Zuständen, die er selbst in seiner Freiheit, und nicht die Natur nach ihrer Notwendigkeit bestimmt.

Wäre der Mensch bloß ein Sinnenwesen, so würde die Natur zugleich die  Gesetze  geben und die  Fälle  der Anwendung bestimmen; jetzt teilt sie das Regiment mit der Freiheit, und obgleich ihre Gesetze Bestand haben, so ist es nunmehr doch der Geist, der über die Fälle entscheidet.

Das Gebiet des Geistes erstreckt sich  so weit, wie die Natur technisch  ist, und endet nicht eher, als wo das organische Leben sich in die formlose Masse verliert, und die animalischen Kräfte aufhören. Es ist bekannt, daß alle bewegenden Kräfte im Menschen untereinander zusammenhängen, und so läßt sich einsehen, wie der Geist - auch nur als Prinzip der willkürlichen Bewegung betrachtet - seine Wirkungen durch das ganze System derselben fortpflanzen kann. Nicht bloß die Werkzeuge des Willens, auch diejenigen, über welche der Wille nicht unmittelbar zu gebieten hat, erfahren zumindest mittelbar seinen Einfluß. Der Geist bestimmt sie nicht bloß absichtlich, wenn er handelt, sondern auch unabsichtlich, wenn er empfindet.

Die Natur für sich allein kann, wie aus dem obigen klar ist, nur für die Schönheit derjenigen Erscheinungen sorgen, die sie selbst, uneingeschränkt, nach dem Gesetz der Notwendigkeit zu bestimmen hat. Aber mit der  Willkür  tritt der  Zufall  in ihre Schöpfung ein, und obgleich die Veränderungen, welche sie unter dem Regiment der Freiheit erleidet,  nach  keinen anderen als ihren eigenen Gesetzen erfolgen, so erfolgen sie doch nicht mehr  aus  diesen Gesetzen. Da es jetzt auf den Geist ankommt, welchen Gebrauch er von einen Werkzeugen machen will, so kann die Natur über denjenigen Teil der Schönheit, welcher von diesem Gebrauch abhängt, nichts mehr zu gebieten, und also auch nichts mehr zu verantworten haben.

Und so würde dann der Mensch in Gefahr schweben, gerade da, wo er sich durch den Gebrauch seiner Freiheit zu den reinen Intelligenzen erhebt, als Erscheinung zu  sinken,  und in einem Urteil des Geschmacks zu verlieren, was er vor dem Richterstuhl der Vernunft gewinnt. Die durch sein Handeln  erfüllte  Bestimmung würde ihm einen Vorzug kosten, den die in seinem Bau bloß  angekündigte  Bestimmung begünstigt; und wenngleich dieser Vorzug nur sinnlich ist, so haben wir doch gefunden, daß ihm die Vernunft eine höhere Bedeutung erteilt. Eines so groben Widerspruchs macht sich die Übereinstimung liebende Natur nicht schuldig, und was im Reich der Vernunft harmonisch ist, wird sich durch keinen Mißklang in der Sinnenwelt offenbaren.

Indem also die Person oder das freie Prinzip im Menschen es auf sich nimmt, das Spiel der Erscheinungen zu bestimmen, und durch seine Dazwischenkunft der Natur die Macht entzieht, die Schönheit ihres Werkes zu beschützen, so tritt es selbst an die Stelle der Natur, und übernimmt, (wenn mit dieser Ausdruck erlaubt ist) mit den Rechten derselben einen Teil ihrer Verpflichtungen. Indem der Geist die ihm untergeordnete Sinnlichkeit in sein Schicksal verwickelt, und von seinen Zuständen abhängen läßt, macht er sich gewissermaßen selbst zur Erscheinung, und bekennt sich zu einem Untertan des Gesetzes, welches an alle Erscheinungen ergeht. Um seiner selbst willen macht er sich verbindlich, die von ihm abhängende Natur auch noch in  seinem  Dienst Natur bleiben zu lassen, und sie ihrer früheren Pflicht nie  entgegen  zu behandeln. Ich nenne die Schönheit eine  Pflicht  der Erscheinungen, weil das ihr entsprechende Bedürfnis im Subjekt in der Vernunft selbst gegründet und daher allgemein und notwendig ist. Ich nenne sie eine  frühere  Pflicht, weil der Sinn schon geurteilt hat, ehe der Verstand sein Geschäft beginnt.

Die Freiheit regiert also jetzt die Schönheit. Die Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele gibt die Schönheit des Spiels. Und nun wissen wir auch, was wir unter Anmut und Grazie zu verstehen haben. Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit; die Schönheit derjenigen Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmut und Granzie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein  Talent,  diese ein  persönliches Verdienst. 

Anmut kann nur der  Bewegung  zukommen, denn eine Veränderung im Gemüt kann sich nur als Bewegung in der Sinnenwelt offenbaren. Dies hindert aber nicht, daß nicht auf feste und ruhende Züge Anmut zeigen könnten. Diese festen Züge waren ursprünglich nichts als Bewegungen, die endlich bei oftmaliger Erneuerung habituell wurden und bleibende Spuren eindrückten (2).

Aber nicht alle Bewegungen am Menschen sind der Grazie fähig. Grazie ist immer nur die Schönheit der  durch  Freiheit bewegten Gestalt, und Bewegungen,  die bloß der Natur angehören,  können nie diesen Namen verdienen. Es ist zwar an dem, daß ein lebhafter Geist sich zuletzt beinahe aller Bewegungen seines Körpers bemächtigt, aber wenn die Kette sehr lang wird, wodurch sich ein schöner Zug an moralische Empfindungen anschließt, so wird er eine Eigenschaft des Baues, und läßt sich kaum mehr zur Grazie zählen. Schließlich  bildet  sich der Geist sogar seinen Körper, und der  Bau  selbst muß dem  Spiel  folgen, so daß sich die Anmut zuletzt nicht selten in eine architektonische Schönheit verwandelt.

So, wie ein feindseliger, mit sich uneiniger Geist selbst die erhabenste Schönheit des Baues zugrunde richtet, daß man unter den unwürdigen Händen der Freiheit das herrliche Meisterstück der Natur zuletzt nicht mehr erkennen kann, so sieht man auch zuweilen das heitere und in sich harmonische Gemüt der durch Hindernisse gefesselten Technik zu Hilfe kommen, die Natur in Freiheit setzen, und die noch eingewickelte, gedrückte Gestalt mit göttlicher Glorie  auseinander breiten.  Die plastische Natur des Menschen hat unendlich viele Hilfsmittel in sich selbst, ihr Versäumnis hereinzubringen, und ihre Fehler zu verbessern, so bald nur der sittliche Geist sie in ihrem Bildungswerk unterstützen, oder auch manchmal nur nicht beunruhigen will.

Da auch die  verfestigten Bewegungen  (in Züge übergegangene Gebärden) von der Anmut nicht ausgeschlossen sind, so könnte es das Ansehen haben, als ob überhaupt auch die Schönheit der  anscheinenden  oder  nachgeahmten Bewegungen  (die flammigen oder geschlängelten Linien) gleichfalls mit dazu gerechnet werden müßte, wie MENDELSSOHN auch wirklich behauptet (3). Aber dadurch würde der Begriff der Anmut zum Begriff der Schönheit überhaupt erweitert; denn  alle  Schönheit ist zuletzt bloß eine Eigenschaft der wahren oder anscheinenden (objektiven oder subjektiven) Bewegung, wie ich in einer Zergliederung des Schönen zu beweisen hoffe. Anmut aber können nur solche Bewegungen zeigen, die zugleich einer Empfindung entsprechen.

Die Person - man weiß, was ich damit andeuten will - schreibt dem Körper die Bewegungen entweder durch ihren Willen vor, wenn sie eine vorgestellte Wirkung in der Sinnenwelt realisieren will, und in diesem Fall heißen die Bewegungen  willkürlich  oder abgezweckt; oder solche erfolgen, ohne den Willen der Person, nach einem Gesetz der Notwendigkeit - aber auf Veranlassung einer Empfindung; diese nenne ich  sympathetische  Bewegungen. Ob die letzteren gleich unwillkürlich und in einer Empfindung gegründet sind, so darf man sie doch mit denjenigen nicht verwechseln, welche das sinnliche Gefühlvermögen, und der Naturtrieb, bestimmt; denn der Naturtrieb ist kein freies Prinzip, und was  er  verrichtet, das ist keine Handlung der Person. Unter den sympathetischen Bewegungen, von denen hier die Rede ist, will ich also nur diejenigen verstanden haben, welche der moralischen Empfindung, oder der moralischen Gesinnung zur Begleitung dienen.

Die Frage entsteht nun, welche von diesen beiden Arten der in der Person gegründeten Bewegungen ist der Anmut fähig?

Was man beim Philosophieren notwendig voneinander trennen muß, ist darum nicht immer auch in der Wirklichkeit getrennt. So findet man abgezweckte Bewegungen selten ohne sympathetische, weil der Wille als die Ursache von  jenen  sich nach moralischen Empfindungen bestimmt, aus welchen  diese  entspringen. Indem eine Person spricht, sehen wir zugleich ihre Blicke, ihre Gesichtszüge, ihre Hände, ja oft den ganzen Körper  mitsprechen,  und der  mimische  Teil der Unterhaltung wird nicht selten für den beredtsten geachtet. Aber auch selbst eine abgezweckte Bewegung kann zugleich als eine sympathetische anzusehen sein, und dies geschieht alsdann, wenn sich etwas unwillkürliches in das willkürliche derselben mit einmischt.

Die Art und Weise nämlich, wie eine willkürliche Bewegung vollzogen wird, ist durch ihren Zweck nicht so genau bestimmt, daß es nicht mehrere Arten geben sollte, nach denen sie verrichtet werden kann. Dasjenige nun, was durch den Willen oder den Zweck dabei unbestimmt gelassen ist, kann durch den Empfindungszustand der Person, sympathetisch bestimmt werden, und so zu einem Ausdruck desselben dienen. Indem ich meinen Arm ausstrecke, um einen Gegenstand in Empfang zu nehmen, so führe ich einen Zweck aus, und die Bewegung, die ich mache, wird durch die Absicht, die ich damit erreichen will, vorgeschrieben. Aber welchen Weg ich meinen Arm zu dem Gegenstand nehmen und wie weit ich meinen übrigen Körper nachfolgen lassen will - wie geschwind oder langsam; und mit wieviel Kraftaufwand ich die Bewegung verrichten will, in diese genaue Berechnung lasse ich mich in  dem  Augenblick nicht ein, und der Natur in mir wird also hier etwas anheim gestellt. Auf irgendeine Art und Weise muß aber doch dieses durch den bloßen Zweck nicht bestimmte, entschieden werden, und hier also kann meine Art zu empfinden den Ausschlag geben, und durch den  Ton,  den sie angibt, die Art und Weise der Bewegung bestimmen. Der Anteil nun, den der Empfindungszustand der Person an einer willkürlichen Bewegung hat, ist das Unwillkürliche an derselben, und er ist auch das, worin man die Grazie zu suchen hat.

Eine  willkürliche  Bewegung, wenn sie sich nicht zugleich mit einer sympathetischen verbindet, oder was ebensoviel besagt, nicht mit etwas  unwillkürlichem,  das im moralischen Empfindungszustand der Person seinen Grund hat, vermischt, kann  niemals  Grazie zeigen, wozu immer ein Zustand im Gemüt, als Ursache erforderlich ist. Die willkürliche Bewegung  erfolgt  auf eine Handlung des Gemüts, welche also vergangen ist, wenn die Bewegung geschieht.

Die sympathetische Bewegung hingegen  begleitet  die Handlung des Gemüts, und den Empfindungszustand desselben, durch den es zu dieser Handlung vermocht wird, und muß daher mit beiden als  gleichlaufend  betrachtet werden.

Es erhellt sich schon daraus, daß die erste, die nicht von der Gesinnung der Person unmittelbar ausfließt, auch keine Darstellung derselben sein kann. Denn zwischen die Gesinnung und die Bewegung selbst tritt der  Entschluß,  der für sich betrachtet etwas ganz Gleichgültiges ist; die Bewegung ist eine Wirkung des  Entschlusses  und des Zwecks, nicht aber der Person und der Gesinnung.

Die willkürliche Bewegung ist mit der ihr vorangehenden Gesinnung zufällig, die begleitende hingegen notwendig damit verbunden. Jene verhält sich zum Gemüt wie das konventionelle Sprachzeichen zum Gedanken, den es ausdrückt; die sympathetische oder begleitende hingegen wieder der leidenschaftliche Laut zur Leidenschaft. Jene ist daher nicht ihrer  Natur,  sondern bloß ihrem  Gebrauch  nach eine Darstellung des Geistes. Also kann man auch nicht wohl sagen, daß sich der  Geist  in einer willkürlichen Bewegung offenbart, da sie nur die  Materie des Willens  (den Zweck) nicht aber die  Form des Willens  (die Gesinnung) ausdrückt. Von der Letzteren kann uns nur die begleitende Bewegung belehren. (4)

Daher wird man aus den Reden eines Menschen zwar entnehmen können, für  was er will gehalten sein,  aber das,  was er wirklich ist,  muß man aus dem mimischen Vortrag seine Worte und aus seinen Gebärden, also aus Bewegungen,  die er nicht will,  zu erraten suchen. Erfährt man aber, daß ein Mensch auch seine Gesichtszüge  wollen  kann, so traut man seinem Gesicht, vom Augenblick dieser Entdeckung an, nicht mehr, und läßt jene auch nicht mehr für einen Ausdruck seiner Gesinnungen gelten.v Nun mag zwar ein Mensch durch Kunst und Studium es zuletzt wirklich dahin bringen, daß er auch die begleitenden Bewegungen seinem Willen unterwirft, und gleich einem geschickten Taschenspieler, welche Gestalt er will, auf den mimischen Spiegel seiner Seele fallen lassen kann. Aber an einem solchen Menschen ist dann auch alles Lüge, und alle Natur wird von der Kunst verschlungen. Grazie hingegen muß jederzeit Natur, d. h. unwillkürlich sein (zumindest so scheinen) und das Subjekt selbst darf nie so aussehen, als wenn es  um seine Anmut wüßte. 

Daraus ersieht man auch beiläufig, was man von der  nachgeahmten  oder  gelernten  Anmut (die ich die theatralische und die Tanzmeistergrazie nennen möchte) zu halten hat. Sie ist ein würdiges Gegenstück zu derjenigen  Schönheit,  die am Putztisch aus Karmin und Bleiweiß, falschen Locken,  Fausses Gorges  und Walfischrippen hervorgeht und sich ungefähr so zur wahren Anmut verhält, wie die  Toiletten-Schönheit  sich zur  architektonischen  verhält (5). Auf einen ungeübten Sinn können beide völlig denselben Effekt haben, wie das Original, das sie nachahmen, und ist die Kunst groß, so kann sie auch zuweilen den Kenner betrügen. Aber aus irgendeinem Zug blickt schließlich doch der Zwang und die Absicht hervor, und dann ist Gleichgültigkeit, wo nicht gar Verachtung und Ekel, die unvermeidliche Folge. Sobald wir merken, daß die architektonische Schönheit  gemacht  ist, so sehen wir gerade so viel von der Menschheit (als Erscheinung) verschwunden, wie aus einem fremden Naturgebiet zu derselben geschlagen worden ist - und wie sollten wir, die wir nicht einmal das Wegwerfen eines zufälligen Vorzugs verzeihen, mit Vergnügen, ja auch nur mit Gleichgültigkeit einen Tausch betrachten, wobei ein Teil der Menschheit für die gemeine Natur hingegeben worden ist? Wie sollten wir, wenn wir auch die Wirkung verzeihen könnten, den Betrug nicht verachten? - Sobald wir merken, daß die  Anmut  erkünstelt ist, so schließt sich plötzlich unser Herz, und zurück flieht die ihr entgegenwallende Seele. Aus Geist sehen wir plötzlich Materie geworden, und ein Wolkenbild aus einer himmlischen  Juno. 

Obgleich aber die Anmut etwas unwillkürliches sein oder scheinen muß, so suchen wir sie doch nur bei Bewegungen, die, mehr oder weniger, vom Willen abhängen. Man legt zwar auch einer gewissen Gebärdensprache Grazie bei, und spricht von einem anmutigen Lächeln und einem reizenden Erröten, welches doch beides sympathetische Bewegungen sind, worüber nicht der Wille, sondern die Empfindung entscheidet. Allein nicht zu rechnen, daß jenes doch in unserer Gewalt ist, und daß noch gezweifelt werden kann, ob dieses auch eigentlich zur Anmut gehört, so sind doch bei weitem die mehreren Fälle, in welchen sich die Grazie offenbart, aus dem Gebiet der willkürlichen Bewegungen. Man fordert Anmut von der Rede und vom Gesang, vom willkürlichen Spiel der Augen und des Mundes, von den Bewegungen der Hände und der Arme bei jedem freien Gebrauch derselben, vom Gang, von der Haltung des Körpers und der Stellung, vom ganzen Bezeugen eines Menschen, insofern es in seiner Gewalt ist. Von denjenigen Bewegungen am Menschen, die der Naturtrieb oder ein herrgewordener Affekt  auf seine eigene Hand  ausführt, und die also auch ihrem Ursprung nach sinnlich sind, verlangen wir etwas ganz anderes als Anmut, wie sich nachher herausstellen wird. Dergleichen Bewegungen gehören der  Natur  und nicht der  Person  an, aus der doch allein alle Grazie quellen muß.

Wenn also die Anmut eine Eigenschaft ist. die wir von willkürlichen Bewegungen fordern, und wenn auf der anderen Seite von der Anmut selbst doch alles willkürliche verbannt sein muß, so werden wir sie in demjenigen, was bei absichtlichen Bewegungen unabsichtlich, zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüt entsprechend ist, aufzusuchen haben.

Dadurch wird übrigens bloß die Gattung von Bewegungen bezeichnet, unter welcher man die Grazie zu suchen hat; aber eine Bewegung kann alle diese Eigenschaften haben, ohne deswegen anmutig zu sein. Sei ist dadurch bloß  sprechend  (mimisch).

Sprechend (im weitesten Sinne) nenne ich jede Erscheinung am Körper, die einen Gemütszustand begleitet und ausdrückt. In dieser Bedeutung sind also alle sympathetischen Bewegungen sprechend, selbst diejenigen, welche bloßen Affektionen der Sinnlichkeit zur Begleitung dienen.

Auch tierische Bildungen sprechen, indem ihr Äußeres das Innere offenbart. Hier aber spricht bloß die  Natur,  nie die  Freiheit.  In der permanenten Gestalt, und in den festen architektonischen Zügen des Tieres kündigt die Natur ihren  Zweck,  in den mimischen Zügen das erwachte oder gestillte  Bedürfnis  an. Der Ring der Notwendigkeit geht durch das Tier wie durch die Pflanze, ohne durch eine  Person  unterbrochen zu werden. Die Individualität seines Daseins ist nur die besondere Vorstellung eines allgemeinen Naturbegriffs; die Eigentümlichkeit seines gegenwärtigen Zustandes bloß das Beispiel einer Ausführung des Naturzwecks unter bestimmten Naturbedingungen.

Sprechend im  engeren  Sinne ist nur die menschliche Bildung und diese auch nur in denjenigen ihrer Erscheinungen, die seinen moralischen Empfindungszustand begleiten, und demselben zum Ausdruck dienen.

Nur in  diesen  Erscheinungen: denn in allen anderen steht der Mensch in gleicher Reihe mit den übrigen Sinnenwesen. In seiner permanenten Gestalt und in seinen architektonischen Zügen legt bloß die  Natur,  wie beim Tier und allen organischen Wesen, ihre Absicht vor. Diese Absicht der Natur mit ihm kann zwar viel weiter gehen als bei diesen, und die Verbindung der Mittel zur Erreichung derselben kunstreicher und verwickelter sein; dies alles kommt bloß auf Rechnung der  Natur,  und kann ihm selbst zu keinem Vorzug gereichen.

Beim Tier und der Pflanze gibt die Natur nicht bloß die Bestimmung an, sondern  führt sie auch allein aus.  Dem Menschen aber gibt sie bloß die Bestimmung, und überläßt  ihm  selbst die Erfüllung derselben. Dies allein macht ihn zum Menschen.

Der Mensch allein hat als Person unter allen bekannten Wesen das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit, der für bloße Naturwesen unzerreißbar ist, durch seinen Willen zu greifen, und eine ganz frische Reihe von Erscheinngen in sich selbst anzufangen. Der Akt, durch den er dies wirkt, heißt vorzugsweise eine  Handlung und diejenigen seiner Verrichtungen, die aus einer solchen Handlung herfließen, ausschließlich, seine  Taten.  Er kann also, daß er eine Person ist, bloß durch seine Taten beweisen.

Die Bildung des Tiers drückt nicht nur den Begriff seiner Bestimmung, sondern auch das Verhältnis seines gegenwärtigen Zustandes zu dieser Bestimmung aus. Dan nun beim Tier die Natur die Bestimmung zugleich gibt und erfüllt, so kann die Bildung des Tiers nie etwas anderes als das Werk der Natur ausdrücken.

Da die Natur dem Menschen zwar die Bestimmung  gibt,  aber die Erfüllung derselben  in seinen Willen stellt,  so kann das gegenwärtige Verhältnis seines Zustandes zu seiner Bestimmung nicht Werk der Natur, sondern muß sein eigenes Werk sein. Der Ausdruck dieses Verhältnisses in seiner Bildung gehört also nicht der Natur, sondern ihm selbst an, das ist, es ist ein persönlicher Ausdruck. Wenn wir also aus dem architektonischen Teil seiner Bildung erfahren, was die  Natur  mit ihm beabsichtigt hat, so erfahren wir aus dem mimischen Teil derselben, was  er selbst  zur Erfüllung dieser Absicht  getan hat. 

Bei der Gestalt des Menschen begnügen wir uns also nicht damit, daß sie uns bloß den allgemeinen Begriff der Menschheit, oder was etwa die  Natur  zur Erfüllung desselben an diesem Individuum wirkt, vor Augen stellt, denn das würde er mit jeder technischen Bildung gemein haben. Wir erwarten noch von seiner Gestalt, daß sie uns zugleich offenbart, inwieweit er in seiner Freiheit dem Naturzweck entgegen kam, d. h. daß sie Charakter zeigt. Im ersteren Fall sieht man wohl, daß die Natur es mit ihm auf einen Menschen  anlegte,  aber nur aus dem zweiten ergibt sich, ob er es  wirklich  geworden ist.

Die Bildung eines Menschen ist also nur insofern  seine  Bildung, als sie mimisch ist; aber auch  soweit sie mimisch  ist, ist sie sein. Denn, auch wenn der größerer Teil dieser mimischen Züge, ja auch wenn alle bloßer Ausdruck der Sinnlichkeit wären, und ihm also schon als bloßem Tier zukommen könnten, so war er bestimmt und fähig, die Sinnlichkeit durch seine Freiheit einzuschränken. Die Gegenwart solcher Züge beweist also den Nichtgebrauch jener Fähigkeit, und die Nichterfüllung jener Bestimmung; ist also ebenso gewiß moralisch sprechend, wie die Unterlassung einer Handlung, welche die Pflicht gebietet eine Handlung ist.

Von den sprechenden Zügen, die immer ein Ausdruck der Seele sind, muß man die stummen Züge unterscheiden, die bloß die plastische Natur, insofern sie von jedem Einfluß der Seele unabhängig wirkt, in die menschliche Bildung zeichnet. Ich nenne diese Züge  stumm,  weil sie als unverständliche Ziffern der Natur vom Charakter schweigen. Sie zeigen bloß die Eigentümlichkeit der Natur im Vortrag der Gattung, und reichen oft für sich allein schon aus, das  Individuum  zu unterscheiden, aber von der  Person  können sie nie etwas offenbaren. Für den Physiognomen sind diese stummen Züge keineswegs bedeutungsleer, weil der Physiognom nicht bloß wissen will, was der Mensch selbst aus sich gemacht, sondern auch, was die Natur für und gegen ihn getan hat.

Es ist nicht so leicht, die Grenzen anzugeben, wo die stummen Züge aufhören und die sprechenden beginnen.
LITERATUR Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, Neue Thalia, Bd. 3, Leipzig 1793
    Anmerkungen
    1) Denn - um es noch einmal zu wiederholen - in der  bloßen Anschauung  wird alles, was an der Schönheit  objektiv  ist, gegeben. Da aber das, was dem Menschen den Vorzug vor allen übrigen Sinnenwesen gibt, in der bloßen Anschauung  nicht  vorkommt, so kann eine Eigenschaft, die sich schon in der bloßen Anschauung offenbart, diesen Vorzug nicht sichtbar machen. Seine höhere Bestimmung, die allein diesen Vorzug begründet, wird also durch seine Schönheit nicht ausgedrückt, und die Vorstellung von jener kann daher nie ein Ingredienz von dieser abgeben, nie in das ästhetische Urteil mit aufgenommen werden. Nicht der Gedanke selbst, dessen Ausdruck die menschliche Bildung ist, sondern bloß die Wirkungen desselben in der Erscheinung offenbaren sich dem Sinn. Zu einem übersinnlichen Grun dieser Wirkungen erhebt sich der  bloße Sinn  ebensowenig, wie (wenn man mit dieses Beispiel gestatten will) wie der bloß sinnliche Mensch zur Idee der obersten Weltursache hinaufsteigt, wenn er seine Triebe befriedigt.
    2) Daher nimmt HOME den Begriff der Anmut viel zu  eng  an, wenn er (Grundsätze der Kritik, Bd. II, Seite 39) sagt: "daß, wenn die anmutigste Person in  Ruhe  ist, und sich weder bewegt noch spricht, wir die Eigenschaft der Anmu, wie die Farbe im Finstern, aus den Augen verlieren. Nein, wir verlieren sie nicht aus den Augen, solange wir an der schlafenden Person Züge wahrnehmen, die ein wohlwollender sanfter Geist gebildet hat; und gerade der schätzbarste Teil der Grazie bleibt übrig, derjenige nämlich, der sich aus  Gebärden  zu  Zügen  verfestigte, und also die  Fertigkeit  des Gemüts in schönen Empfindungen an den Tag legt." Wenn aber der Herr  Berichtiger  des HOMEschen Werks seinem Autor durch die Bemerkung zurecht zu weisen glaubte, "daß sich die Anmut nicht bloß auf willkürliche Bewegungen einschränkt, daß eine schlafende Person nicht aufhört reizend zu sein" - und warum? "weil während dieses Zustands die unwillkürlichen, sanften und eben deswegen desto anmutigeren Bewegungen erst recht sichtbar werden, so hebt er den Begriff der Grazie ganz auf, den HOME bloß zu sehr einschränkte. Unwillkürliche Bewegungen im Schlaf, wenn es nicht mechanische Wiederholungen von willkürlichen sind, können nie anmutig sein, weit entfernt daß sie es vorzugsweise sein könnten, und wenn eine schlafende Person reizend ist, so ist sie es keineswegs durch die Bewegungen die sie macht, sondern durch ihre Züge, die von vorhergegangenen Bewegungen zeugen.
    3) MOSES MENDELSSOHN, Philosophische Schriften I, Seite 90.
    4) Wenn sich eine Begebenheit vor einer zahlreichen Gesellschaft ereignet, so kann es sich treffen, daß jeder Anwesende von der Gesinnung der Handelnden Personen seine eigene Meinung hat; so zufällig sind willkürliche Bewegungen mit ihrer moralischen Ursache verbunden. Wenn hingegen einem aus dieser Gesellschaft ein sehr geliebter Freund oder ein sehr verhaßter Feind unerwartet in die Augen fällt, so würde der unzweideutige Ausdruck seines Gesichts die Empfindungen seines Herzens schnell und bestimmt an den Tag legen, und das Urteil der ganzen Gesellschaft über den gegenwärtigen Empfindungszustand dieses Menschen würde wahrscheinlich völlig einstimmig sein: denn der Ausdruck ist hier mit seiner Ursache im Gemüt durch eine Naturnotwendigkeit verbunden.
    5) Ich bin ebenso weit entfernt, bei dieser Zusammenstellung dem Tanzmeister sein Verdienst um die wahre Grazie, wie auch dem Schauspieler seinen Anspruch darauf abzustreiten. Der Tanzmeister kommt der wahren Anmut unstreitig zu Hilfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschafft, und die Hindernisse hinwegräumt, welche die  Masse  und  Schwerkraft  dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen. Er kann dies nicht anders als nach  Regeln  verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten, und, solange die Trägheit widerstrebt,  steif, d. h. zwingend  sein und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bei diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu  begleiten braucht:  kurz das Werk der Regel muß in Natur übergehen. - - - Die Geringschätzung mit der ich von der theatralischen Grazie rede, gilt nur der  nachgeahmten,  und diese, nehme ich keinen Anstand, auf der Schaubühne wie im Leben zu verwerfen. Ich bekenne, daß mir der Schauspieler nicht gefällt, der seine  Grazie,  gesetzt, daß ihm die Nachahmung auch noch so sehr gelungen ist, an der Toilette studiert hat. Die Forderungen, die wir an den Schauspieler machen, sind:  1) Wahrheit  der Darstellung und  2) Schönheit  der Darstellung. Nun behaupte ich, daß der Schauspieler,  was die Wahrheit der Darstellung betrifft,  alles durch Kunst und nichts durch Natur hervorbringen muß, weil er sonst gar kein Künstler ist; und ich werde ihn bewundern, wenn ich höre oder sehe, daß er, der einen wütenden  Guelfo  meisterhaft spielte, ein Mensch von sanftem Charakter ist; auf der anderen Seite hingegen behaupte ich, daß er,  was die Schönheit der Darstellung betrifft  der Kunst gar nichts zu danken haben darf, und daß hier alles an ihm freiwilliges Werk der Natur sein muß. Wenn es bei mir der Wahrheit seines Spiels beifällt, daß ihm dieser Charakter nicht natürlich ist, so werde ich ihn nur umso höher schätzen; wenn es mir bei der Schönheit seines Spiels beifällt, daß ihm diese anmutigen Bewegungen nicht natürlich sind, so werde ich mich nicht enthalten können, über den  Menschen  zu zürnen, der hier den  Künstler  zuhilfe nehmen mußte. Die Ursache ist, weil das Wesen der Grazie mit ihrer Naturlichkeit verschwindet, und weil die Grazie doch eine Forderung ist, die wir uns an den bloßen Menschen zu machen berechtigt glauben. Was werde ich aber nun dem mimischen Künstler anworten, der gern wissen möchte, wie er, da er sie nicht  erlernen  darf, zu einer Grazie kommen soll? Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung kommt, und dann soll er hingehen und (wenn es sonst sein Beruf ist) sie auf der Schaubühne repräsentieren.