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EMIL LUCKA
Das Erkenntnisproblem
und Machs "Analyse der Empfindungen"

"Das Originellste, was die auf reichem wissenschaftlichen Stoff basierende zusammenfassende Darstellung hervorgebracht hat, dürften die Systeme des Psychologen Richard Avenarius und des Physikers Ernst Mach sein, die in allen wichtigen Punkten übereinstimmen. Die Tendenz dieser beiden Männer geht dahin, alles nicht rein phänomenale auszuschalten, und anstelle der großen und umfassenden  Gedanken  früherer Jahrhunderte eine möglichst biologische, nur die Oberfläche betrachtende  Methode  zu setzen, die alle  Probleme  für nichtig erklären möchte. Diese Philosophie, die über eine Sammlung naturwissenschaftlicher mehr oder weniger fest fundierter Ergebnisse nicht merklich hinausgegangen ist, und tiefere Reflexionen vermeidet, muß als Extrakt der vergangenen materialistischen Epoche betrachtet werden, und weist als solcher große Erfolge auf. Sie hat nicht mehr den Mut zu werten, sondern nur das Bestreben zu registrieren und zu sichten - die Weltanschauung einer alexandrinischen Dekadenz-Periode."

"Es kann nichts in der Erfahrung vorkommen, was sich nicht im Zusammenhang der Elemente darstellen ließe. Das Individuum ist eine Fiktion. Die Elemente sind in verschiedenen Punkten, den Ichpunkten, enger verknüpft; die Existenz eines Selbstbewußtseins wird abgelehnt. Aufgabe der Physik und der physiologischen Psychologie, der einzig möglichen Wissenschaften, ist die Erforschung dieses Zusammenhangs die Analyse der Empfindungen, und das Ideal der Wissenschaft (Philosophie gibt es nicht) wäre erreicht, wenn alle Elementar-Verbindungen in vollständig an die Wirklichkeit angepaßten, möglichst knapp formulierten Differential-Gleichungen abgebildet sind."

"Die Probleme werden entweder gelöst, oder als nichtig erkannt.  Diese Behauptung hat vor allem den großen Vorteil der Bequemlichkeit für sich. Es ist sehr radikal, allen Fragen, zu deren Lösung man nicht die Kraft hat, oder deren Lösung man überhaupt für unmöglich hält, einfach die Existenzberechtigung abzusprechen. So kommt man leicht zu einer widerspruchslosen Aufhellung aller Probleme: Man verbietet sie."

1. Das System Machs
und sein logischer Grundfehler

Der große Fortschritt, den viele Zweige der anorganischen und organischen Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben, läßt es begreiflich erscheinen, daß sich in den Köpfen mancher Naturforscher, die gerne die Grenzen ihres Gebietes mit den Grenzem der Menschheit verwechseln, der Glaube festsetzte, daß die Philosophie, die sich durch einige zu kühne Konstruktionen kompromittiert hatte, verschieden sei, und daß die vereinigten physikalischen Disziplinen ihre Erbschaft endgültig angetreten hätten. Anstelle der scharfsinnigen und teilweise tiefgehenden Untersuchungen, denen allen das Streben zugrunde lag, über die letzten Zusammenhänge des Seins mit dem Denken Klarheit zu suchen, wurden die letzten Probleme meist umgangen, und wo der Naturforscher überhaupt das Bedürfnis fühlte, sich über allgemeine Fragen zu orientieren, waren es Probleme, die vor der schärferen Analyse des Erkenntnistheoretikers in die zweite Linie rücken oder gar verschwinden müssen. Anstelle des empirielosen Denkens HEGELs und der Hegelianer war gedankenlose Empirie getreten; haltlose Angaben über das Funktionieren des Gehirns und dessen Zusammenhang mit den psychischen Erscheinungen wurden von vielen, sonst streng wissenschaftlichen Detailforschern als Ersatz der Erkenntnistheorie akzeptiert. Hatte man früher das Denken als den einzigen Quell aller Erkenntnis angesehen, so war es jetzt größtenteils in Acht getan, und endlose Experimente ohne Sinn und Ziel trugen wohl viel Material für den Philosophen der Zukunft zusammen, wußten sich aber selbst ihre Bedeutung nicht zu künden. Die Erkenntnis, daß alle Versuche und Beobachtungen auf die Dauer die  systematische  Betrachtung der Dinge und das Nachdenken über die Welt nicht ersetzen können, hat sich auch in den letzten zwei Jahrzehnten wieder Bahn gebrochen. Das Originellste, was die auf reichem wissenschaftlichen Stoff basierende zusammenfassende Darstellung hervorgebracht hat, dürften die Systeme des Psychologen RICHARD AVENARIUS und des Physikers ERNST MACH sein, die in allen wichtigen Punkten übereinstimmen. Die Tendenz dieser beiden Männer geht dahin, alles nicht rein phänomenale auszuschalten, und anstelle der großen und umfassenden  Gedanken  früherer Jahrhunderte eine möglichst biologische, nur die Oberfläche betrachtende  Methode  zu setzen, die alle  Probleme  für nichtig erklären möchte. Diese Philosophie, die über eine Sammlung naturwissenschaftlicher mehr oder weniger fest fundierter Ergebnisse nicht merklich hinausgegangen ist, und tiefere Reflexionen vermeidet, muß als Extrakt der vergangenen materialistischen Epoche betrachtet werden, und weist als solcher große Erfolge auf. Sie hat nicht mehr den Mut zu werten, sondern nur das Bestreben zu registrieren und zu sichten - die Weltanschauung einer alexandrinischen Dekadenz-Periode.

Die nachfolgende Untersuchung setzt es sich zur Aufgabe, die philosophischen und speziell die  erkenntnistheoretischen  Anschauungen, wie sie MACH verficht und hauptsächlich in seiner "Analyse der Empfindungen" (3. Auflage 1902), aber auch in seinen anderen Werken "Populär-wissenschaftliche Vorlesungen", "Die Mechanik in ihrer Entwicklung", "Die Prinzipien der Wärmelehre" und mehreren verstreuten Aufsätzen niedergelegt hat, zu besprechen, und in ihren Grundlagen zu kritisieren. Ausdrücklich sei bemerkt, daß von den wertvollen naturwissenschaftlichen Forschungen MACHs, besonders auf dem Gebiet der Geschichte der Physik, und der Sinnesphysiologie, die ihren Autro zu einem mit Recht berühmten Gelehrten gemacht haben, abgesehen wird, und daß ausschließlich seine philosophischen und psychologischen Ansichten zur Diskussion kommen. Sie sind es auch, denen MACH seine Berühmtheit über Fachkreise hinaus verdankt, und schon hat sich eine ganze Schule um ihn gesammelt. An mehreren Stellen soll auch auf die Lehren von AVENARIUS hingewiesen werden ("Kritik der reinen Erfahrung" und "Der menschliche Weltbegriff").

MACH, der den Titel eines Philosophen nicht ohne leisen Spott zurückweist und sich ausdrücklich als Physiker bezeichnet, stellt in Abrede, ein System zu haben und erklärt speziell, weder Idealist, noch BERKELEYaner, noch Materialist zu sein. Unter einem System (es muß gerade kein philosophisches sein) versteht man eine an einem leitenden Prinzip orientierte Summe von in sich logisch zusammenhängenden Gedanken, die untereinander keinen Widerspruch aufweisen und ein Gebiet von Phänomenen (Objekten oder wiederum Gedanken oder beides zusammen) möglichst richtig und klar abzubilden suchen. Man kann nun erstens durch Variation des leitenden Prinzips dieselben Phänomene verschiedenartig anordnen. So gab es z. B. früher mehrere Systeme der Zoologie, deren Stoff selbstredend immer der gleiche blieb, aber von verschiedenen Standpunkten aus eingeteilt wurde, während man jetzt das natürliche System auf der Basis der Deszendenz-Theorie [Abstammungslehre - wp] angenommen hat. Zweitens kann das Gebiet variiert werden, das von den Gedanken abgebildet werden soll. So hat man Systeme der Künste oder Ästhetik, des menschlichen Handelns oder der Ethik; wenn die ganze Welt Gegenstand des Systems wird, so entsteht Philosophie. Jeder geistig entwickelte Mensch strebt bewußt oder unbewußt danach, in sein Denken über irgendein Gebiet, und wäre es auch noch so klein und gleichgültig, z. B. in die Beherrschung eines Kartenspieles, einen logischen Zusammenhang, ein System, zu bringen. Je ausgebreiteter der Gesichtskreis und die intellektuellen Interessen eines Individuums sind, desto mehr fühlt es das Bedürfnis, seine Gedanken von Widersprüchen zu befreien und in einen möglichst festgefügten Zusammenhang zu bringen. Ganz ohne systematisches Denken möchten nicht viele Menschen sein.

Vom Naturforscher, der auf diesen Namen mit Recht Anspruch erheben will, darf jedenfalls gefordert werden, daß er sein Gebiet vollständig durchgearbeitet und von einem leitenden Gesichtspunkt aus geordnet hat. Je zwingender sein regulatives Prinzip und je durchsichtiger und "ökonomischer" (MACH) der Zusammenhang seines Lehrgebäudes ist, desto mehr wird seine Leistung als wissenschaftlich anerkannt werden, er mag nun viele oder wenige neue selbständige Entdeckungen oder Experimente gemacht haben. Dem systematischen Forscher steht der mehr instinktive gegenüber, der bei scheinbar geringerer Festigkeit und mangelnder Tektonik seines Gedankenbaues mit genialem Blick neue Zusammenhänge erschaut und originelle Gesichtspunkte aufzeigt. Seine Systematik ist aber nur scheinbar schwächer. Er bringt sich den Leitfaden seines Forschens weniger zu Bewußtsein, geht aber meist mit großer Instinktsicherheit auf den Zielpunkt seines Strebens los. Es ist nicht ganz häufig, daß ein Forscher so viel Denkenergie besitzt, um außer seinem Gebiet auch noch benachbarte Wissenszweige, wenn auch nur in großen Umrissen, seinem Gedankengefüge einzuordnen, und zu einer geschlossenen Weltanschauung kommt der Naturforscher, und der Gelehrte überhaupt, selten. Gestalten wie PASTEUR und FARADAY, die in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zum Materialismus neigen, und daneben wirklich religiös, ja sogar orthodox sind, die also den letzten Widerspruch aufzulösen nicht imstande waren, sind selten und entbehren nicht einer gewissen Tragik. Daß der primitive Materialist, der sagt, Gedanken seien Ausscheidungen des Gehirns, eine einheitlich durchdachte Weltanschauung habe, wird man selbstverständlich nicht glauben, denn erstes Erfordernis jeden Systems ist innere Widerspruchslosigkeit. Während sich die Systematik des Naturforschers auf ein beschränktes Gebiet menschlicher Erkenntnis erstreckt, hat es stets als die auszeichnende Größe des Philosophen gegolten, alle Dinge, die in der Welt vorkommen (und beim höchsten Standpunkt auch alle, deren Vorkommen überhaupt nur möglich ist, bzw. überhaupt nur gedacht werden kann), von einem Prinzip aus zu sehen, und jedes Geschehen logisch ungezwungen und sinnvoll einzuordnen. Dieser höchste Standpunkt der durchaus einheitlichen Auffassung aller Dinge, aller Gedanken und aller Menschen ist nur von den allerwenigsten der großen Philosophen erreicht worden. Meist wird ein Teil aller Erscheinungen und Vorkommnisse mit einer eisernen Klammer in das System eingezwängt, und oft ist auch diese gewaltsame Einreihung nur eine scheinbare, während andere Komplexe gar keinen Platz finden. Weil der gewöhnliche Sprachgebrauch unter "System" schlechtweg ein System der Philosophie versteht, und mancher guten Grund hat, der unerbittlichen Konsequenz einheitlichen Denkens auszuweichen, es vielmehr vorzieht, seine Anschauungen nach Gelegenheit und Bequemlichkeit zu modifizieren, sehen es einige Denker (z. B. NIETZSCHE, TAINE) als besonders großartig an, kein System zu haben, und rühmen sich dessen, ohne aber zu bedenken, daß sie damit eigentlich nur in anderen Worten sagen, ihre Gedanken hätten keinen logischen Halt.

Obwohl MACH es nicht wahrhaben will, hat er zweifellos doch ein "System". Von seinem "Standpunkt" und von seiner "Auffassung" spricht er öfters. Seine Art, die einzelnen Gedanken aneinanderzureihen, kann allerdings nicht systematisch genannt werden. Es ist ein Aggregat von Einzelheiten und kein gegliederter Organismus. Wenn man aber die Gedanken dem Sinn nach zusammenstellt, so ergibt sich ein ziemlich klares System der  Phänomenologie  mit einer Beimischung von  Willensmetaphysik.  (1) "Die biologische Aufgabe der Wissenschaft ist, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientierung zu bieten." (Analyse, Seite 29) Es wird keine  Erklärung  der Dinge gesucht, sondern "alles was wir zu wissen wünschen können, wird durch die Lösung einer Aufgabe von mathematischer Form geboten durch die Ermittlung der funktionalen Abhängigkeit der sinnlichen Elemente voneinander. Mit dieser Kenntnis ist die Kenntnis der Wirklichkeit erschöpft." (Seite 279) Für MACH gibt es nur völlig gleichwertige "Elemente", die durchweg in einem funktionalem Zusammenhang untereinander stehen. Es läßt sich kein Grund angeben, warum mehr als eine Art von Elementen anzunehmen wäre; zwischen physischen und psychischen Elementen (die als solche "Empfindungen" heißen), ist kein Unterschied zu machen. Auf den immanenten Widerspruch, der in dieser Annahme enthalten ist, komme ich später zurück (Nummer 6). Um die vollständige Gleichwertigkeit der Elemente recht deutlich zum Ausdruck zu bringen, werden sie einfach mit Buchstaben, und nicht mit Namen (etwa "Gegenstände", "Farben", "Vorstellungen", "Gefühle" usw.) bezeichnet. Es kann nichts in der Erfahrung vorkommen, was sich nicht im Zusammenhang der Elemente darstellen ließe. Das Individuum ist eine Fiktion. Die Elemente sind in verschiedenen Punkten, den Ichpunkten, enger verknüpft; die Existenz eines Selbstbewußtseins wird abgelehnt. Aufgabe der Physik und der physiologischen Psychologie, der einzig möglichen Wissenschaften, ist die Erforschung dieses Zusammenhangs die Analyse der Empfindungen, und das Ideal der Wissenschaft (Philosophie gibt es nicht) wäre erreicht, wenn alle Elementar-Verbindungen in vollständig an die Wirklichkeit angepaßten, möglichst knapp formulierten Differential-Gleichungen abgebildet sind. (Vgl. die Vorträge: "Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung" und "Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken" sowie auch AVENARIUS: "Das Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes", 1876) Letzterer unter dem Namen "Ökonomie-Prinzip" bekannter Grundsatz ist als solcher nicht neu. So sagt KANT (Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, Einleitung II, C): "Aber ein solcher Grundsatz (nämlich "Mannigfaltigkeit der Regeln" und "Einheit der Prinzipien") ... ist ein bloß subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrat unseres Verstandes durch Vergleichung seiner Begriffe, den allgemeinen Gebrauch derselben auf die kleinstmögliche Zahl derselben zu bringen, ohne daß man deswegen von den Gegenständen selbst eine solche Einhelligkeit, die der Gemächlichkeit und Ausbreitung unseres Verstandes Vorschub tut, zu fordern und jener Maxime zugleich objektive Gültigkeit zu geben berechtigt wäre." Wie man sieht warnt KANT vor der Überschätzung dieses Grundsatzes, die bei MACH auch wirklich eingetreten ist. Alle Hypothesen, aus entwicklungstheoretischen Gebiet von SPENCER und DARWIN bis WEISMANN und HERING werden von MACH akzeptiert und stellenweise als zweifellos wahr hingestellt. Die Methode der Forschung ist das von KIRCHHOFF aufgestellte Prinzip der "vollständigen einfachen Beschreibung" der Phänomene, das mit der Ausschaltung des Kausalitätsgesetzes auf allen Gebieten durchgeführt werden soll. Anstelle der Erkenntnistheorie tritt die Analyse der Empfindungen als Quelle der Erfahrung; andere Gesichtspunkte als biologische sind unzulässig.

Wenn diese Auffassungsweise, die sich mit dem "Empiriokritizismus" von AVENARIUS in allen prinzipiellen Punkten deckt, nur mit dem Anspruch auftritt, eine  Beschreibung der Erfahrung  zu sein, so läßt sich dagegen, wenn man einen Moment von den vielen nicht haltbaren Evolutions- und psychophysischen Hypothesen absieht, nichts einwenden. Es werden einfach alle Dinge, Gedanken, Gefühle etc. so gut es gehen will, richtig beschrieben, klassifiziert und registriert und als quasi religiöses Dogma gilt: "Die Probleme werden entweder gelöst, oder als nichtig erkannt." (Seite 78) Diese letztere Behauptung hat vor allem den großen Vorteil der Bequemlichkeit für sich. Es ist sehr radikal, allen Fragen, zu deren Lösung man nicht die Kraft hat, oder deren Lösung man überhaupt für unmöglich hält, einfach die Existenzberechtigung abzusprechen. So kommt man leicht zu einer widerspruchslosen Aufhellung aller Probleme: Man verbietet sie.

Es ist also anzunehmen, daß das Prinzip der reinen Beschreibung für alle Einzelwissenschaften  ausreicht,  was hier dem Vorhaben entsprechend nicht weiter diskutiert werden soll. Ganz klar muß es aber sein, daß derjenige, für den die Summe aller vorgefundenen Erfahrungen der Standpunkt ist, den er einnimmt, und dessen Umfang und Tragfähigkeit überhaupt nicht weiter untersucht wird, mit anderen Worten, daß ein Forscher, der sich die  Erfahrung selbst nie zum Problem gemacht hat,  auch nichts über Fragen aussagen kann, die sich durch Beobachtung  aus der Erfahrung  nicht abstrahieren lassen. Insbesondere wird er nie zu einer Entscheidung darüber kommen können, ob es vielleicht in der Erfahrung selbst Elemente gibt, die anderen Elementen gegenüber eine Ausnahmestellung einnehmen, er darf sich sogar nicht einmal eine solche Frage stellen. Es fehlt ihm jeder Maßstab für die Wertung der einzelnen Elemente der Erfahrung, für ihn ist alles gleich wirklich, nichts notwendig, und das Problem der größeren oder geringeren Denknotwendigkeit kann sich ihm nicht darbieten. Gibt er aber über diese Dinge, die er nicht in Frage gestellt und nicht analysiert hat, dennoch ein Urteil ab, so hat er seinen Kompetenzkreis überschritten und gegen die  Logik seiner Voraussetzungen  gefehlt. Durch den etwaigen Nachweis, daß solche Untersuchungen über ihre Sphäre hinaus etwas behaupten, ist natürlich für oder gegen die meritorische [verdienstvolle - wp] Richtigkeit umfassenderer Aussagen nichts bewiesen. Wer eine Naturgeschichte der Wirbeltiere schreibt, hat nicht das Recht, über das ganze Gebiet der Biologie Urteile abzugeben, die er nicht weiter begründet. Wer eine Analyse der Empfindungen unternimmt, hat nicht die Befugnis, Urteile, welche sich nicht mehr auf die  Wirklichkeit der Erfahrung,  sondern auf die  Möglichkeit der Erfahrung  beziehen, zu fällen. Man wende nicht voreilig ein: Es gibt keine mögliche Erfahrung, es gibt nur eine wirkliche Erfahrung.  Wie Erfahrung zustande kommt,  hat KANT gezeigt. Ist jemand nicht der Ansicht, daß der Beweis gelungen sei, so bleibt es ihm unverwehrt, KANT zu widerlegen. Wenn er aber die Probleme KANTs links liegen läßt, so muß ihm natürlich jedes Mittel fehlen, die Fragen zu entscheiden, die KANT beschäftigen, und er kann kein Urteil fällen; wer  a priori  annimmt "Alles was es gibt, ist durch und durch Erfahrung und Elemente, die im Erfahrungskomplex vorkommen, aber doch nicht aus der Erfahrung stammen, sind undenkbar," und Fragestellungen, wie etwa die rationalistische (im philosophischen Sinn des Wortes) nicht zuläßt, der hat von vornherein seinen Standpunkt einseitig gewählt und sich jede Möglichkeit genommen, einen anderen, nämlich den, "daß in der Erfahrung Elemente zu finden sind, die vor der Erfahrung da sein müssen" zu widerlegen. Aussprüche über solche nicht untersuchte Themen wird man daher als bedeutungslos ansehen müssen, denn jeder Denker kann mit Berechtigung nur das für gültig oder nicht gültig erklären, was er durch die ihm zu Gebote stehenden Mittel der Induktion und Deduktion nachzuweisen unternommen hat. Es wird sich nun zeigen, daß MACH diesem  Fehler gegen die formale Logik nämlich der Verwechslung seines engeren Gebietes mit dem weiteren, dem die Erfahrung als solche zum Problem wird, sehr oft verfallen ist, und daß der große Beifall, den seine Schriften sowie die von AVENARIUS gefunden haben, zum großen Teil diesen Aussagen über nicht analysierte Gegenstände zuzuschreiben ist. Das berechtigte Ansehen, das MACH als Anreger neuer Methoden der organischen und anorganischen Physik, sowie als Kritiker der physikalischen Begriffe genießt, wird hierdurch nicht im geringsten angetastet. Nur seine Ausfälle auf erkenntnistheoretisches und psychologisches Gebiet sollen hier kritisiert und seine Thesen womöglich widerlegt werden. MACH hat, wie schon bemerkt, mit großer Bescheidenheit den Titel eines Philosophen abgelehnt, aber nichtsdestoweniger philosophische (erkenntniskritische) Fragen behandelt; es muß daher gestattet sein, philosophische Kritik an ihm zu üben.

Es scheint heute manchem Philosophen selbstverständlich, daß man derartige Fragen (über das Zustandekommen der Erfahrung) gar nicht stellt. In der Philosophie ist aber nichts selbstverständlich. Wer sich einer Untersuchung enthoben glaubt, begeht eine Petitio principii [Unbewiesenes dient als Beweisgrund - wp]. Besonders krass tritt dieser Fehler bei AVENARIUS zutage. Dieser scharfsinnige Psychologe geht in der "Kritik der reinen Erfahrung" davon aus, daß die Erfahrung ein gegebener Begriff sei, dessen Provenienz nicht weiter diskutiert werden muß und maßt sich später kühn an, alle die Dinge, die er gar nicht besprochen hat, von oben herab abzutun. Ähnlich aber weniger systematisch verfährt MACH, was im zweiten, dritten und vierten Abschnitt gezeigt werden soll. Es handelt sich bei ihm hauptsächlich um die Fragen: Substanzialität, Kausalität, Raum, Zeit, geometrische Axiome.

Es ist das prinzipiell Neue bei MACH und AVENARIUS, daß sie durch diese Petitio in die Lage gesetzt sind, alle Fragen, die ihnen nicht passen, "auszuschalten", indem sie dieselben "metaphysisch" nennen, und die Probleme nicht etwa für "unlösbare", wie die positivistische Schule, sondern sogar für "unlogisch" erklären. Auf den ersten Anblick hat diese Methode viel bestechendes, besonders, da sie sehr geeignet ist, der Bequemlichkeit im Denken Vorschub zu leisten. Aber die Ökonomie des Denkens darf nicht zu weit getrieben werden, und KANT ist noch heute lesenswert. In den "Prolegomena" § 17 sagt er z. B.: "Ich denke, man werde mich verstehen: Daß ich hier nicht die Regeln der Beobachtung einer Natur, die schon gegeben ist, verstehe, die setzen schon Erfahrung voraus, also nicht, wie wir (durch Erfahrung) der Natur die Gesetze ablernen können, denn diese wären alsdann nicht Gesetze a priori, und gäben keine reine Naturwissenschaft, sondern wie die Bedingungen a priori von der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Quellen sind, aus denen alle allgemeinen Naturgesetze hergeleitet werden müssen." Die Annahme KANTs, man werde ihn verstehen, ist nicht in Erfüllung gegangen, denn sonst könnten ja Physiker, deren Geschäft es ist, "die Regeln der Beobachtung einer Natur, die schon gegeben ist" zu erforschen, nichts über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Transzendental-Philosophie und der Kategorien-Tafel aussagen. Die Logik nennt einen solchen Fehler:  metabasis eis allo genos  [unzulässiger Sprung in ein artfremdes Gebiet - wp].


2. Die Kausalität

Die Fragen, die in der philosophischen Diskussion seit HUME und KANT vielleicht den breitesten Raum eingenommen haben, sind die der Kausalität und der Substanz. Sie sollen in diesem und im nächsten Abschnitt besprochen werden. Es finden sich in unserem Vorstellungsleben zwei Arten von Elementen vor: Solche, die weggedacht und solche, die nicht weggedacht werden können. Das gibt auch MACH zu. "In manchen Fällen denken wir kaum an die Möglichkeit einer Verknüpfung (zweier Tatsachen), während wir in anderen Fällen geradezu unter einem psychischen Zwang stehen, und uns diese Verknüpfung als eine notwendige erscheint." (Wärmelehre, Seite 432) Welche Schlüsse kann man aus dieser Tatsache von zweierlei Evidenz ziehen? MACH dürfte geneigt sein zu antworten: gar keine, oder allenfalls die, daß manche Elemente inniger, manche weniger innig zusammenhängen. In grundlegenden Fragen kann man aber eine Meinung nicht anders stützen, als durch Beweise. Beweise für die Unmöglichkeit, Schlüsse aus der genannten Prämisse zu ziehen, werden nicht vorgebracht, können auch nicht vorgebracht werden, da die Frage nicht behandelt wird; somit ist nicht abzusehen, warum man es unterlassen sollte, die Tatsache zu untersuchen. Wir gehen also hier über die Beschreibung der Elemente und ihres Zusammenhangs hinaus und konstatieren die Unfähigkeit einer nur beschreibenden Erkenntnistheorie, uns zu folgen, wenn wir den Begriff der  Denknotwendigkeit  oder des logischen Zwangs behandeln. Da die reine Beschreibung nur Funktional-Zusammenhänge kennen darf, existiert der Begriff der Notwendigkeit für sie nicht.

Er ist aber grundlegend auf folgenden drei Gebieten:
    1) In der Geometrie.
    2) In der formalen Logik.
    3) In der reinen Naturwissenschaft.
Punkt 1) soll später gesondert behandelt werden.

ad 2): In der formalen Logik haben wir Sätze vor uns, welche die Prozesse unseres Denkens mit absoluter Sicherheit beherrschen. Der Satz der Identität, des Widerspruchs und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sind für das Denken so wahr, daß ihr Gegenteil nicht gedacht werden kann, sind also für uns allezeit der höchste Grad der Evidenz. Hierüber sind sich wohl alle Logiker einig. MACH behandelt die Logik überhaupt nicht, scheint aber anzunehmen, daß ihre Schlüsse einen Charakter von Wahrheit an sich haben, der den aus der Erfahrung zu ziehenden übersteigt; er spricht gelegentlich von einem "Erkenntnisgrund, aus dem sich die Folge mit logischer Notwendigkeit ergibt." Was logische Notwendigkeit sei, wird nicht erörtert, doch beweist der Ausdruck hinreichend, daß diese Erkenntnis nicht aus der Erfahrung stammt, die doch die einzige Quelle jeder Erkenntnis sein soll; hierin liegt ein unauflöslicher Widerspruch. Es sei konstatiert, daß MACH doch eine Notwendigkeit zugibt, die von mehr als komparativer Allgemeinheit ist, und hiermit also sein Gebiet überschreitet, aber diesmal von einem richtigen Denkinstinkt geführt.

Es ist übrigens vollkommen klar, daß MACH den  logischen Wert,  d. h. die Kategorie der  Wahrheit  stillschweigend zugrunde legt, obzwar er ein anderes als das vorgefundene und beschreibbare Wirkliche nicht kennen will. Denn täte er das nicht, so könnte er nie eine bestimmte Auffassung der Welt anstelle von anderen setzen wollen, es fehlte ihm jede Möglichkeit, eine Darstellung zu kritisieren oder zu diskutieren, wenn nicht die stillschweigende Voraussetzung,  die sich gar nicht von selbst versteht,  gemacht würde, daß es schließlich eine Instanz gibt, der sich jeder vernünftige und klar denkende Mensch fügen  muß.  Diese Instanz kann nun keine andere sein, als der Begriff der der logischen Wahrheit. MACH muß also wie jeder Denker die höchste Norm der Logik anerkennen, und hat so über sich einen dem Relativismus entzogenen Wert gesetzt, ohne desse Akkreditive [Kreditzusage - wp] zu untersuchen, ja wie es scheint, nur zu kennen.

ad 3): Die  Substanzialität,  die Gruppierung der Vorstellungselemente zu Dingen, wird in Nr. 3 besprochen. Hier soll die Verknüpfung der einzelnen Erscheinungen untereinander erwogen werden. Bei der Analyse der Empfindungen stößt man auf Verbindungen der Elemente, die häufiger, und auf solche, die weniger häufig auftreten; auf eine in der Verbindung liegende Notwendigkeit kann man begreiflicherweise nie stoßen, weil keine konkrete Zusammenhangs-Notwendigkeit darin liegt. Bekanntlich ist dies das Problem HUMEs, den man in Parallele mit BERKELEY, dem Philosophen der Substanz, den Philosophen der Kausalität nennen könnte; da HUME sowie BERKELEY im Psychologismus befangen ist, wußte er keinen Ausweg aus dem Labyrinth. Das eigentliche Wesen der Kausalität ist nicht vom psychologischen, sondern nur vom logisch-transzendentalen Standpunkt zu erfassen. Es besteht in der Tatsache der allgemeinen lückenlosen Zusammenhängigkeit und gesetzlichen Verknüpftheit aller Erfahrung. Da wir nicht einzelne, abrupt auftauchende Vorstellungen haben, die wie Sternschnuppen sichtbar werden und wieder ins Nichts untertauchen, sondern eine ununterbrochene festgeschlossene Kette von Phänomenen, die in die Form der eindeutigen Zeitreihe gegossen kontinuierlich dahinströmen, gründet sich die Kausalität allen Geschehens auf objektive Data und muß vom Subjekt gesondert erfaßt werden können. Da sich MACH jedoch durchaus auf psychologischem Gebiet hält, wollen wir das transzendentale Wesen der kausalen Gesetzlichkeit beiseite lassen. F. J. SCHMIDT, JOHANNES VOLKELT, WILHELM SCHUPPE und andere haben diese Materie ausführlich behandelt. Letzterer sagt beispielsweise vollkommen einleuchtend: "Weil Bewußtsein überhaupt und diese Welt der Dinge als sein Inhalt ohne diese Verknüpfungen oder Einheiten, welche in der Notwendigkeit des Zugleich- oder Nacheinander-Auftretens bestehen, nicht denkbar wäre, hat dieses Prinzip objektive Geltung." ("Grundriß der Erkenntnistheorie und Logik", 1894, Seite 58) (2)

Um nicht zu weit abzuschweifen, sei hier nur die psychologische Bedeutung der Kausalität gegenüber MACH besprochen. Das erkennende Subjekt faßt alle Gegenstände, die ihm jemals vorkommen, kausal auf, es bezieht eine jede Erscheinung auf eine andere, frühere, als ihre Ursache. Es tut dies nicht, von dieser oder jener Erkenntnistheorie beeinflußt, es kann nicht anders, auch wenn es sich dagegen sträubt. Diese Tatsache des Zwangs ist wichtig. Sie kann nich dadurch abgeschwächt werden, daß man etwa nur von einer Denknotwendigkeit spricht, der eine Naturnotwendigkeit nicht konform sein müßte. Beide sind der Ausdruck der Gesetzlichkeit allen Geschehens.

Um die Unentrinnbarkeit des Kausalitätszwangs durch ein  psychologisches  Beispiel (ein erkenntnistheoretisches steht z. B. bei KANT Prolegomena § 20 Anm. zu illustrieren, nehme man an, ich finde in meinem Zimmer einen Stein, der gestern nicht dort lag. Ich muß nun denken (falls ich überhaupt frage): "Wodurch ist dieser Stein hierhergekommen? Entweder hat ihn jemand hergebracht, oder ist er durch das Fenster hereingeworfen worden etc."  Welches  die Ursache des Hierseins des Steins ist, kann ich natürlich nicht wissen. Letztere Unsicherheit ist der wichtigste Grund, daß sich so viele (von HUME bis MACH) am Kausalitätsbegriff stoßen. Sie unterscheiden nämlich nicht das  formale  Prinzip der Kausalität, d. h. die Notwendigkeit, jeden Vorgang durch das Band der Kausalität, das erst den Zusammenhang der Erfahrung bildet, mit anderen Vorgängen verknüpft zu denken, von der  material  erfüllten Kausalität, von der Angabe nämlich, welcher spezielle Grund diese spezielle Wirkung hervorgebracht hat. Aus dem formalen Kausalitätsprinzip kann ich nicht wissen, wie der Stein hergekommen ist, dazu gehört Empirie. Aber daß er durch irgend eine Ursache herkam, weiß ich bestimmt. Und um die Frage auch nach der anderen Richtung hin abzugrenzen: Wollte jemand sagen, vielleicht kam der Stein durch ein Wunder an diese Stelle, so antworte ich: dann ist also das betreffende Wunder (ein Engel oder ein Bewohner der vierten Dimension oder sonst ein supranaturalistisches Ding) die Ursache davon, daß der Stein hier ist. Und wäre der Stein etwa gar durch seinen freien Willen hergekommen, so kann ich nicht umhin, seinen freien Willen als Ursache anzusprechen. Nebenbei bemerkt, erklärt SCHOPENHAUER aus diesem Grund die Willensfreiheit des sittlichen Menschen für das Wunder  kat exochen  [ansich - wp], weil in ihr eben das Evidenteste, das Prinzip der Kausalität, aufgehoben ist. (3)

Die Empiristen untersuchen die beiden Erscheinungen, die sich als Ursache und Wirkung darstellen, und können natürlich nichts in der einen finden, was imstande wäre, die andere zu kausieren. Sie sehen nur ein Nacheinander und keine "substanzielle Kausalität" (WUNDT). Wenn nun MACH den Begriff der Kausalität für "fetischistisch" erklärt und eliminiert, so hat er ihn nicht im richtigen (formalen) Sinn verstanden, bzw. hat über eine Sache geurteilt, die nicht aus den Empfindungen zu analysieren ist, macht sich also der gerügten Metabasis schuldig. Da er transzendentale Fragen nicht kennt (man verwechsle nur nicht transzendental mit transzendent), muß er an ihnen scheitern. Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß die Naturwissenschaft mit dem Funktionalbegriff auskommen kann, und vielleicht besser auskommt, als mit dem Kausalbegriff, hinter dem erkenntnistheoretisch weniger Geschulte eine geheimnisvolle Macht (Gravitation etc.) wittern mögen. Eine andere Frage ist es allerdings, ob der Physiker, dem man fortwährend auseinandersetzt, daß nichts dahinter stecke, daß die ganze Naturwissenschaft nur ein großer Registratur-Apparat und der Physiker selbst ein Buchhalter sei, nicht an Idealismus und Erkenntnisdurst einbüßen wird, ob die "reine Beschreibung" also in MACHs eigenem Sinn "ökonomisch" genannt werden kann. Doch geht uns das hier nichts an.

Da also in der Erfahrung Elemente (und zwar hier speziell das formal-leere der Kausalität, und wie wir später zeigen wollen, auch das der Substanzialität) vorkommen, die nicht  aus  der Erfahrung abgeleitet, daraus analyisiert werden können, muß man aus dieser Beantwortung der anfangs aufgestellten Frage mit logischer Konsequenz den Schluß ziehen, daß eine Empfindungsanalyse zur Theorie der Erfahrung nicht ausreicht.

Es waren noch die Versuche zu besprechen, die auf HUME zurückgehen, Kausalität durch Gewohnheit zu erklären. HUME nimmt bekanntlich an, daß Kausalität nichts sei, als die durch häufige Assoziation derselben Erscheinungen entstandene Gewohnheit, ein mehr oder weniger sicher fundierter Glaube an die regelmäßige Folge. Er scheidet hier offenbar nicht das formale Prinzip der Kausalität vom materialen, was auch aus seinen Beispielen deutlich hervorgeht. MACH schließt sich ganz an HUME an. Man übersieht bei der empirischen Auffassung der Kausalität, daß auch die sichersten Erfahrungen nur Wahrscheinlichkeitswert haben und nie Denknotwendigkeit mit sich führen. Wir können uns nämlich ganz leicht vorstellen, daß der losgelassene Stein hinauf, anstatt hinunter falle, und haben doch Millionen Male das letztere gesehen. Wenn der Stein einmal aufwärts fiele, würden wir uns eben nach einer zureichenden "Ursache" für diese Anomalie umsehen; daß sie aber eine Ursache habe, werden wir nicht bezweifeln. Die ganze Verfehltheit dieser Tendenz, die Notwendigkeit irgendeines Satzes oder eines Zusammenhangs aus der Erfahrung abzuleiten, welche Möglichkeit besonders von MILL verfochten wird, zeigt z. B. HÖFLER ("Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik", Leipzig 1900, Seite 55) an den Regeln über Primzahlen, die bis 150 000 geprüft und bestätigt gefunden wurden, und an deren mathematische Richtigkeit doch niemand glaubt, bis das Gesetz deduziert sein wird. HÖFLER zitiert dort auch das Wort des großen Empiristen BACO von der  inductio res puerilis  [kindische Beweisführung - wp]. Einen sehr überzeugenden indirekten psychologischen Beweis dafür, daß Kausalität nicht dasselbe ist, wie häufige Sukzuession, gibt SCHOPENHAUER. Die regelmäßige Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, argumentiert er, ist zweifellos derjenige Zusammenhang in der Natur, der von den Menschen zu allererst und ununterbrochen wahrgenommen worden ist, und er hat sich nie geändert. Nach Lehre HUMEs müßten also diese beiden Phänomene in einem kausalen Zusammenhang stehen, und doch sagt niemand, das Ende des Tages sei die "Ursache" des Anfangs der Nacht, oder umgekehrt; man hielte diese Ansicht im Gegenteil für widersinnig. Die häufigste Aufeinanderfolge führt nicht das mit sich, was wir eben Kausalität nennen, sondern beides sind verschiedene Dinge, das eine empirischer, das andere transzendentaler Natur. -


3. Der Substanzbegriff

Eine kurze Formulierung des Substanzproblems in seinen verschiedenen Stadien ist zur klaren Darstellung des MACHschen Standpunktes erforderlich. Der Mensch findet in seiner Umgebung Objekte vor, er sieht und tastet Gegenstände. Der natürliche Standpunkt des naiven Menschen ist bekanntlich der, die Gegenstände als in der Welt unabhängig von sich selbst draußen stehend genau so anzunehmen, wie er sie wahrnimmt; er zerbricht sich nicht weiter den Kopf darüber. Dieser Standpunkt ist der des  naiven Realismus  (ad 1). Auf einer späteren Stufe der Erkenntnis wird die Beobachtung gemacht, daß es an den Dingen einige Eigenschaften gebe, die nicht an ihnen selbst haften, sondern die mit dem Subjekt des Beschauers irgendwie in Zusammenhang stehen müssen. So unterscheidet LOCKE die primären Qualitäten, die den Gegenständen selbst inhärieren, von den sekundären, die durch den Wahrnehmungsaspekt entstehen. Man kann diesen Standpunkt den des  korrigierten Realismus  (ad 2) nennen. Die dritte Ansicht, die folgerichtig eintreten muß, ist schon eine idealistische. Sie kann es sich nicht erklären, wieso die Dinge im Raum eigentlich in unseren Intellekt hineinkommen, und schließt, daß wir überhaupt nicht wissen können, wie die "Dinge ansich" sind, sondern daß wir nur wissen, wie sie "für uns" sind. Es kommt so ein ganz irriger Begriff vom "Ding ansich" oder gar den "Dingen ansich" zustande, der große Verwirrung gestiftet hat und noch jetzt viel diskutiert wird, während die beiden ersten Auffassungen heute nur mehr historisches Interesse in Anspruch nehmen können, und unter philosophisch naiven Leuten aus der DARWINschen Schule Anhänger und Verteidiger finden. (Siehe z. B. ADICKES' "Kant kontra Haeckel".) Diese dritte Theorie des  inkonsequenten Idealismus  findet allerdings bei KANT eine Stütze. In der "Kritik der reinen Vernunft" lassen sich zahlreiche Stellen aufweisen, die von den "Dingen ansich", vom "Noumenon", dem "transzendentalen Gegenstand X" handeln. Die Grade der Existenz, die diesem Ding zugesprochen werden, sinken von positiven Angaben über seine Wirksamkeit (sogar als "Grund der Erscheinungen") zu einem mehr oder minder problematischem Vorhandensein bis zu vollständigen Negation dieses Gegenstandes, womit der vierte Standpunkt des  reinen Idealismus  erreicht ist, der später besprochen werden soll. Diese Zweideutigkeit, die sich durch die ganze "Kritik" hindurchzieht, hat vielleicht in erster Linie zu der berühmten Unklarheit des Buches beigetragen und Anlaß gegeben, daß die Neukantianer bei den Fehden, die sie gegeneinander ausfehchten, sich alle mit einem Anschein von Berechtigung auf die "Kritik" berufen können. Ihre vollständigste Ausbildung fand die dritte Ansicht des inkonesquenten Idealismus in der sinnesphysiologischen Schule des 19. Jahrhunderts. Vor allem hat SCHOPENHAUER in seiner impetuosen [ungestümen - wp] Größe und bewundernswerten Einseitigkeit die ganze Kategorientafel zugunsten seiner Erkenntnistheorie beschnitten und schließlich noch die Kategorie der Kausalität für gerade gut befunden, die Anschauung der Außenwelt zuwege zu bringen. Dem Voranschreiten JOHANNES MÜLLERs folgend hat schließlich HELMHOLTZ den vollständig sinnesphysiologisch modifizierten Idealismus zu einer äußerst komplizierten, besonders optisch ausgebauten Lokalzeichentheorie umgebildet, die stark durch LOTZE beeinflußt ist und die Raumanschauung hervorhebt. Den transzendentalen Gedanken dürfte schon SCHOPENHAUER nicht mehr verstanden haben. Da diese Ansichten für die neukantischen typisch sind und von MACH, wie es scheint, für die KANTs gehalten werden, sei das Fehlerhafte jedes sinnesphysiologisch fundierten Idealismus kurz skizziert. Man nimmt an, daß irgendetwas uns Unbekanntes in der Außenwelt auf unsere Sinnesorgane, z. B. die Netzhaut, einwirke. Der Eindruck wird vom Sinnesorgan mit (SCHOPENHAUER) oder ohne (HELMHOLTZ) Beilhilfe des Verstandes wahrgenommen. SCHOPENHAUER läßt die Kausalität, die Funktion des Intellekts, das auf die Retina von außen her (von wo her, wird nicht gesagt) projizierte Bild noch einmal zurückprojizieren, und so kommt die "Welt als Vorstellung" zustande. Bei HELMHOLTZ deuten unbewußte Schlüsse die von außen im optischen Apparat gewirkten Lokalzeichen auf mannigfache Weise. Es liegt auf der Hand, daß beide Ansichten, die sich nur durch etwas mehr oder weniger Metaphysik unterscheiden, falsch und unkantisch sind.  Falsch  sind sie deshalb, weil dasjenige, was von außen her auf die Netzhaut, also auch ein Objekt der Körperwelt, ein Bild wirft, doch immer schon vorhanden sein muß, um ein Bild werfen zu können, und nicht erst durch Retroprojektion erzeugt werden kann. Außerdem ist es ganz unklar, was dieses seinen Schatten werfende Ding sein mag. Ist es das "Ding ansich", das man doch als Kantianer niemals zu Hilfeleistungen heranzihen soll, dann hat es weder das Vermögen, "einzuwirken" (Kausalität) noch sich auf einer materiellen Netzhaut abzubilden, denn das kann nur wieder ein materielles Ding; ist es aber nicht das "Ding ansich", was ist es denn sonst? Die betreffende Vorstellung entsteht doch erst durch das Zurückwerfen der empfangenen Bildelemente. Die Hypothese ist aber auch durch und durch  unkantisch,  was besonders bei SCHOPENHAUER tadelnswert scheint, da er sich für den Nachfolger KANTs ausgibt. Denn unser Körper ist ebensogut ein Objekt im Raum, ein Stück "Vorstellung" wie alles andere, und die Netzhaut nimmt keine Ausnahmestellung ein, die sie etwa gar befähigte, die Welt der Erscheinungen (also auch sich selbst samt Kopf, Gehirn etc.) hervorzubringen; ferner sitzt die Kategorie der Kausalität (die anderen elf hat SCHOPENHAUER bekanntlich verabschiedet) nicht im Gehirn, sonder ist übersubjektiv und macht erst (im Verein mit den anderen) das Gehirn möglich. KANT hat zwar zu diesen Irrtümern scheinbar Anlaß gegeben, da er öfters davon spricht, daß wir "affiziert werden", und "nicht wissen, wie Dinge sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen", und dgl.; aber mit völlig klaren Worten ist an mehreren Stellen diese Zweideutigkeit abgewiesen, und der konsequente Idealismus muß als der eigentliche Standpunkt KANTs proklamiert werden (4). So z. B. ("Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe etc. 1. Auflage, Seite 165): "Dagegen sind die inneren Bestimmungen einer  substantia phaenomenon  im Raum nichts als Verhältnisse, und sie selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen. Die Substanz im Raum kennen wir nur durch Kräfte, die in demselben wirksam sind, entweder andere dahin zu treiben (Anziehung), oder vom Eindringen in ihn abzuhalten (Zurückstoßung und Undurchdringlichkeit); andere Eigenschaften kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Raum erscheint, und die wir Materie nennen, ausmachen." (5)

Diese vollkommenste Fassung des Dingbegriffs hat beim großen BERKELEY schon vor KANT einen ganz reinen Ausdruck gefunden. In den "Principles of human knowledge", 1710, sagt er z. B.: "Hieraus ist offenbar, daß eben der Begriff von dem, was materielle oder körperliche Substanz genannt wird, einen Widerspruch in sich schließt." BERKELEY vertritt am konsequentesten von allen die scheinbar so paradoxe Ansicht, daß alle Gegenstände der Außenwelt nichts seien, als durch und durch Vorstellung, daß kein substanzieller Kern in ihnen existiere, daß die Objekte gar keinen anderen Sinn haben, als für das Subjekt:  esse est percipi  [Sein ist wahrnehmen. - wp]. Dieser Standpunkt ist der einzig haltbare und auch der des richtig verstandenen KANT. Denn nur er führt nicht zu Widersprüchen. (Vgl. zum Beispiel auf Kr. d. r. V., Seite 285: "Was wir auch nur an der Materie kennen, sind lauter Verhältnisse" - vollständige Übereinstimmung mit BERKELEY, a. a. O.) Allerdings darf es nicht übersehen werden, daß BERKELEY psychologistisch unter "Subjekt" stets das menschliche erkennende Individuum versteht, während KANT das überindividuelle Subjekt des Erkennens, das Korrelat der Objektwelt, den Verknüpfungspunkt des abstrakt-begrifflichen Bewußtseins, im Auge hat.

Diese etwas langwierige Auseinandersetzung war notwendig, um zu zeigen, daß der "Ding ansich"-Begriff und der Substanzbegriff bei KANT einen ganz verschiedenen Sinn haben, was von SCHOPENHAUER übersehen wurde. Das  "Ding ansich"  ist bei KANT (wir sprechen jetzt nur von den konsequenten Stellen) nicht dasjenige, was an den Dingen im Raum übrig bleibt, wenn alles weggedacht wird, was dem erkennenden Subjekt Objekt ist oder werden kann, denn dann bleibt  gar nichts  übrig (esse est percipi); sondern es ist "die Vorstellung eines Dings, von dem wir weder sagen können, daß es möglich, noch daß es unmöglich sei" (Seite 286). Das "Ding ansich" ist also, um den Kantischen Gedanken (vielleicht über KANT hinaus) konsequent zuende zu denken, gar  kein erkenntnistheoretisches Problem  (sondern ein ethisches). Die  Substanz  dagegen ist eine Kategorie, d. h. eine Funktion zur Entstehung der Erfahrung. (6)

Das ist eben das prinzipiell Neue bei KANT, was ihn über den konsequenten BERKELEY hinausführt: Für BERKELEY ist der Idealismus eine gegebene Tatsache, die nicht untersucht wird und hierin deckt er sich vollständig mit MACH; für KANT ist der Idealismus eine Tatsache, die ihm aber neuerlich zum Problem wird, und deren Existenz er durch die Transzendental-Philosophie zu erklären unternimmt. KANT findet im Komplex der Erfahrung bestimmte Elemente vor, die eine höhere, sogar eine absolute Konstanz aufweisen allen anderen wechselnden Bestandteilen gegenüber. Es sind die logischen Funktionen, durch deren Vereinigung in einer Synthese aus dem zusammenhangslosen und ungegliederten Chaos der Wahrnehmungen sich eine geregelte Erfahrung bildet. KANT stellt die Frage: Welche Schlüsse dürfen aus der Tatsache gezogen werden, daß unserem Erkenntnisvermögen Elemente inhärieren, die als seine eigenen Existenzbedingungen angesehen werden müssen, derart, daß sie schlechterdings nicht weggedacht werden können, und beantwortet sie bekanntlich dahin, daß diese Elemente, die er als die Verstandeskategorien und die Zeitanschauung erkennt, dasjenige sind, was die objektive Erfahrung der Welt ermöglicht.

Der Analyse der Empfindungen ergibt sich ein Zugleichsein und Aufeinanderfolgen von Eindrücken, von Elementen, die in keiner Verknüpfung untereinander stehen. Es hat sich gezeigt, daß hinter den Elementen nichts Substanzartiges zu finden ist, und daß wir keinen anderen als einen mehr oder weniger zufälligen Funktionalzusammenhang aufdecken können. Und trotzdem gibt es für uns kein anderes Erkennen als nur von "Gegenständen" oder "Dingen", an welchen verschiedene Eigenschaften ("Akzidenzien") haften. Wie erklärt sich diese Antinomie? Die Elemente scheinen "in mehr beständiger Weise an feste Kerne geknüpft" zu sein, sagt MACH, und hat doch gezeigt, daß solche Kerne (Substanzen) nicht vorhanden sind. Diese Antinomie kann durch eine Analyse der Empfindungen nicht aufgelöst werden, weil der Zwiespalt tiefer liegt, und nur die Frage nach dem objektiven Zustandekommen der Erfahrung wirkt aufklärend. Die am Anfang gerügte Metabasis erzeugt hier Widerspruche, da der Substanzbegriff für nichtig erklärt wird, ohne daß seine Provenienz erkannt werden konnte. Dadurch, daß die kategoriale Funktion der Substanz die Einzelwahrnehmungen zusammenfaßt und zu einem Gegenstand vereinigt, entsteht dieser Gegenstand auch wirklich. Es liegt gar keine Täuschung in der Substanzialisierung. Der hartnäckigste Empirist bringt es nicht zustande, das  Substanzielle  aus seiner Auffassung der Außenwelt auszuschalten. Durch die Kategorie der  Kausalität  muß er mit Notwendigkeit die eine Erscheinung auf die andere zurückführen, und nach Ursache und Wirkung fragen, auch wenn er nicht daran glauben will. Er muß ebenso die Einzelerscheinungen miteinander in einer durchgängigen Beziehung, in einer  Wechselwirkung  stehend, denken, es liegt nicht in seiner freien Wahl, ein einzelnes Phänomen, aus dem Zusammenhang gerissen, vorzustellen. Durch diese Handlungen des Apperzeptionszentrums wird erst an der "Rhapsodie der Wahrnehmungen" Erfahrung, d. h. objektive Wirklichkeit für alle.

Es ist gar nicht empirisch, immer nur von einem Vorüberfließen der Vorstellungen zu sprechen, die nicht durch ein gemeinsames Band zusammengehalten werden. Auf diese Weise käme höchstens ein sinnloses Spiel von Eindrücken, die sich nicht einmal zu Bildern ordnen können, zustande. Hier ist die Psychologie zu Ende; die logische Funktion kann nicht umgangen werden. Wenn die Elemente nicht zu Gegenständen durch die Kategorie zu vereinigen sind, so komme ich nie zum Erkennen von Gestalten und Dingen. Ein einziges Bewußtsein muß die Elemente vereinigen, muß fähig sein, sie homogen aufzufassen, "denn sonst würde ich ein so vielfarbig verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin" (KANT). Es ist hier nicht der Ort, das Entstehen der Erfahrung durch die Synthesis der transzendentalen Apperzeption ausführlich auseinanderzusetzen, doch soll noch als Beispiel dafür, daß der Vorstellungsablauf nicht identisch ist mit einem kaleidoskopartigen Bilderfluß, die physiologische Analogie angeführt werden, daß sich bei der sogenannten "Seelenblindheit" die durch die unverletzten optischen Organe entstandenen Farbenflecke nicht zu einem Bild verbinden können, weil das Sehzentrum im Gehirn vernichtet ist. Diese Analogie veranschaulicht ziemlich deutlich die Unmöglichkeit, ohne Annahme eines apperzipierenden Zentrums das Zustandekommen einer geregelten Erfahrung zu postulieren. Doch darf natürlich die physiologische Sphäre mit der transzendentalen nicht verwechselt werden.

MACH mißversteht, wie es scheint, das Substanzproblem vollständig, oder besser gesagt, er kämpft gegen Windmühlen. Er setzt (Analyse der Empfindungen, Seite 5) auseinander, daß man von einem Gegenstand alle seine Bestandteile wegdenken könne, und nun irrtümlich leicht glaubt, es bleibe noch etwas, gewissermaßen dahinter, zurück. Selbstverständlich ist dies nicht der Fall, wie jeder weiß, der sich ein wenig in der Philosophie umgesehen hat. KANT hat, wie früher erwähnt, diese Ansicht (die oben mit 2 und 3 bezeichnet wurde) ausführlich im Abschnitt "Von der Amphibolie etc." zurückgewiesen. Der Irrtum MACHs liegt nun darin, daß er mit diesem Schlag das "Ding ansich" (anstatt den ontologischen Substanzbegriff) getötet zu haben glaubt. Das "Ding ansich" wohnt aber ganz wo anders und hat auch mit "dem Tastbaren, welches als Träger der daran gebundenen flüchtigeren Eigenschaften erscheint", nicht mehr zu tun, als mit dem Hörbaren oder Riechbaren. Wenn die hierher gehörigen Ausführungen MACHs eine Widerlegung des Idealismus sein sollen - und das ist beabsichtigt -, so haben sie ihr Ziel vollständig verfehlt.

Abgesehen von diesem prinzipiellen Mißverständnis steht MACH auf dem Boden des reinen Idealismus, und es muß ihm als Verdienst angerechnet werden, daß er gegen die Pseudokantianer polemisiert. AVENARIUS hat die Sache in seiner "Kritik der Introjektion" mehr systematisch behandelt, kommt aber schließlich zu Unklarheiten. Es ist unverständlich, daß MACH sich dagegen verwahr, Berkeleyaner zu sein, was ihm doch nur zur Ehre gereichen könnte. Man kann genau abgrenzen, wie weit beide zusammengehen. Bis Sektion XXV der Principles analyisiert BERKELEY die Vorstellungen und kommt zu der bekannten Begründung des konsequenten psychologischen Idealismus. Dann aber besinnt er sich darauf, daß alle die Vorstellungen nicht sein können ohne etwas, das vorstellt, und postuliert nun einen Verstand, "der ideas (Vorstellungen) percipiert". Diesen Schritt, der den großen und besonnenen Philosophen zeigt, haben MACH und AVENARIUS nicht mit ihm gemacht. Allerdings folgen sie ihm auch nicht auf seinem Übergang vom immanenten auf metaphysisches Gebiet, da er es für notwendig hält, "als Ursache der Ideen eine unkörperliche tätige Substanz oder einen Geist" anzunehmen, welche Lehre ihn dann bekanntlich auf Gott als den Urheber der Vorstellungen führt.
LITERATUR - Emil Lucka, Das Erkenntnisproblem und Machs "Analyse der Empfindungen" - eine kritische Studie, Kant-Studien, Bd. 8, Berlin 1903
    Anmerkungen
    1) Da ich auf den letzteren Punkt nicht zurückkomme, sei er gleich dargestellt. "Mechanik", Seite 436, 2. Auflage (auf derselben Seite, wo er gegen die "mechanische Mythologie" der Enzyklopädisten spricht) heißt es: "Wir werden erkennen, daß unser Hunger nicht so wesentlich verschieden ist vom Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden vom Druck des Steins auf die Unterlage, als es gegenwärtig den Anschein hat."
    2) vgl. hierzu meine Aufsätze "Erkenntnistheorie, Logik und Psychologie" und "Konstitutive Erfahrungsphilosophie" in der "Gnosis" vom 25. 3., 10. 6. und 26. 6. 1903
    3) Wir könnten ein  Wunder,  d. h. das freie Anfangen einer Kausalkette im festgefügten Zusammenhang aller Erfahrungen überhaupt  nicht wahrnehmen denn eine Lücke in der Kausalkette wäre gleichbedeutend mit dem Aufhören des Erfahrungs-Kontinuums an einer Stelle. Über diesen leeren Punkt in der Kausalkette käme die Erfahrung niemals hinaus, d. h. sie wäre vernichtet.
    4) Wenn die Projektionstheorien auch erkenntnistheoretisch unhaltbar sind, können sie doch auf andere Gebiete übertragen, z. B. in der Theorie der Kunst, zu höherer Bedeutung gelangen. Daß übrigens eine falsche Auffassung zu schönen Resultaten führen kann, beweist SCHOPENHAUERs Farbenlehre, die heute so schnöde behandelt, bzw. nicht beachtet wird.
    5) Es ist interessant, zu sehen, daß KANT hier die Materie als Wirksamkeit durch und durch ansieht, welche Lehre unter dem Namen "Energetik" gern als eine neue Entdeckung in Anspruch genommen wird. Dieses Auffassungsweise ist im nachgelassenen Werk von KANT "Vom Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik", das ALBRECHT KRAUSE 1888 herausgegeben hat, und das wenig bekannt ist, teilweise durchgeführt. FERDINAND JAKOB SCHMIDT (Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie", Berlin 1901, Seite 162) formuliert kurz und treffend: "In Wahrheit ist also die Substanz lediglich ein Verknüpfungsgesetz".
    6) Nebenbei bemerkt, ist hier die Quelle jeder Naturphilosophie zu suchen. In der Identifizierung der "Dinge ansich" mit den "Substanzen" nehmen die Naturphilosophen (auch wenn sie Kantianer sein wollen, wie SCHOPENHAUER)  unabhängig  vom Subjekt Dinge an, über deren Verhalten sie Aussagen machen, während der konsequente Idealist nur Vorstellungen kennt. Daß die Dinge, die wir  wissenschaftlich  nur als Erscheinungen ansprechen dürfen, vielleicht auch ein eigenes Leben in uns unbekannterweise "ansich" führen mögen, kann natürlich nicht widerlegt werden, aber da es auch nie zu beweisen ist, sollte man derartige Spekulationen nicht zu wissenschaftlichen, sondern allenfalls zu künstlerischen Zwecken zulassen, und meist liegen auch den naturphilosophischen Systemen ästhetische Triebfedern zugrund (FECHNER). - - - KANT sagt hierüber in dem nachgelassenen Manuskript (Altpreussische Monatsschrift 1882, Seite 85): "Wenn es auch keinen direkten Beweis von der Wesenlosigkeit der Gegenstände der Sinne als Dinge an sich selbst gibt, so kann die Mathematik es durch die Formen ihrer Anschauungen a priori apagogisch [negativer Beweis aus der Falschheit des Gegensatzes - wp] mit Evidenz dartun." Er spricht sich hier also gegen die Naturphilosophie aus.