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RICHARD AVENARIUS
Über das Verhältnis der
Psychologie zur Philosophie


"Unser aller früheste Weltanschauung ist das, was man in der Wissenschaft als  naiven Realismus  bezeichnet. Hier unterscheiden wir noch nicht zwischen dem, was die Welt ist, und dem, als was sie erscheint. Also: hier meinen wir, das Gras sei wirklich grün, der Schnee wirklich weiß, die Sonne sei wirklich feuerleuchtend - gleichgültig, ob unser Auge das Grün oder das Weiß oder das Sonnenfeuer sähe oder nicht; hier meinen wir, das laute Getöse des Wasserfalls tobe fort, auch wenn niemand es höre und der Donner rolle, auch wenn keines Sterblichen Ohr sein Rollen vernähme. - Jetzt aber kommt der Psychologe und sagt: Du irrst; dieses dein Weltbild ist falsch. Ohne dein hörenes Ohr schweigt der Wasserfall, mag sein Wasser noch so gewaltig herabstürzen; es schweigt auch der Donner, mag das Gewitter noch so heftig sein - das Gewitter, in welchem ohne dein sehendes Auge doch nur farblose Blitze zucken, ebenso farblos wie der geringste Halm, der ohne dein sehendes Auge nicht grün, so farblos wie das kleinste Schneesternchen, das ohne dein sehendes Auge nicht weiß sein würde. Du also, das wahrnehmende Subjekt, blickst in die Welt hinaus all die Farbenpracht, hörst in die Welt hinein all den Zauber der Musik, den Reichtum der Töne. Willst du die Welt erfassen, wie sie ansich ist: so denke sie farblos, tonlos - denke sie ohne alle die Eigenschaften, von denen du glaubtest, daß deine Sinne sie wahrnähmen."

Ein Philosoph, der die Ehre hat, sich einen neuen Wirkungskreis vorzustellen, muß doch wohl vor allem auf die Frage gefaßt sein:  Was ist denn eigentlich Philosophie?  Es ist nicht zu leugnen, die Frage liegt nahe genug - zu nahe, um nicht getan zu werden; es sei denn, daß eine wohlwollende Rücksichtnahme die Stellung dieser scheinbar so harmlosen, in Wirklichkeit so delikaten Frage unterdrückt. Denn es ist leider ebenso wenig zu leugnen, daß die Philosophie noch heute nicht dahin gelangt ist, auf jene naheliegende, erste, wichtige Frage eine endgültige, allgemein anerkannte Antwort zu erteilen. Sonst zwar - Antworten genug! So viel Antworten als Systeme - und an denen ist bekanntlich kein Mangel. Also Antworten übergenug; aber keine allgemein anerkannte, keine endgültige!

Fürchten Sie nun nicht, daß ich jetzt vor  Ihnen  den Versuch wagen wollte, eine entscheidende Antwort ausfindig zu machen auf die Frage: Was ist Philosophie? Lassen Sie uns, für unseren augenblicklichen Zweck, eine Antwort genügen, welche - in einer neuen Frage besteht! Freilich, die Behandlung dieser neuen Frage tritt in allen philosophischen Systemen auf - skeptisch, kritisch, dogmatisch; sie ist unter mannigfachen Umschreibungen und Umhüllungen doch allen  wesentlich  und enthält das  wissenschaftliche  Hauptinteresse der Philosophie - das "wissenschaftliche Hauptinteresse der Philosophie - das "wissenschaftliche" sage ich, im Gegensatz zu den  Glaubens interessen, welche meist einen, wenn auch verborgenen,  praktischen  Hintergrund haben.

Diese zweite Frage nun, welche wir hier die Stelle einer Antwort vertreten lassen, lautet: Was ist in Wahrheit das, was wir sehen und fühlen? Was ist die wahre Qualität all dessen, was wir als das Wirkliche außer uns und in uns erfahren? Woraus besteht in letzter Instanz das gesamte Sein? Kurz:  Wie ist die Welt beschaffen? Was ist die Welt? 

Sie sehen: diese Frage gibt uns an, was die Philosophie der Aufgabe, dem  idealen Postulat  nach ist.

Allein diese Frage bietet uns noch mehr. Sie deutet uns die Stellung an, welche die Philosophie zu den Spezialwissenschaften einnimmt. Indem nämlich die Philosophie - wenn ich kurz so sagen darf - das  Weltproblem  behandelt, während die Spezialwissenschaften nur einzelne Zweige und Seiten dessen bearbeiten, was sich in reicher Mannigfaltigkeit in physischen und geistigen Welt enthalten und gegeben findet, so ist sie, die Philosophie genötigt, auf die Ergebnisse womöglich aller Spezialwissenschaften - seien diese nun Geistes- oder Naturwissenschaften - Rücksicht zu nehmen. Sind es doch die Spezial- oder Einzelwissenschaften, welche in der allgemeinen wissenschaftlichen Arbeitsteilung zunächst berufen erscheinen müssen, die einzelnen Erkenntnisstücke herbeizuschaffen, welche dann die Philosophie zu einem Weltbild zusammenzufügen hätte. Diese Aufnahme und Zusammenfügung der einzelnen Erkenntnisstücke seitens der Philosophie kann aber nur eine organische oder genauer: eine begriffliche sein: d. h. der Prozeß kann nur in der Art vor sich gehen, daß die Philosophie die von den Einzelwissenschaften isoliert gewonnenen allgemeinen Begriffe in Ausgleich und Einklang brächte, um sie in einen allgemeinsten Begriff zu vereinen, sie zu einer höchsten begrifflichen Einheit zu verschmelzen. Durch diese sich der Philosophie mit innerer Notwendigkeit entwickelnde Aufgabe tritt oder steht sie dann inmitten der Einzelwissenschaften, nimmt sie zu diesen eine  zentrale  Stellung ein; während demgemäß die Spezialwissenschaften sich um dieses ihr ideales Zentrum  peripherisch  anordnen.

Wenn wir nun, wie es am zweckmäßigsten geschieht, als Maßstab für die Größe der  Entfernung,  in welcher eine - kurz ausgedrückt - peripherische Wissenschaft zum Zentrum der Philosophie steht, die Größe der  Intensität  nehmen, mit welcher die betreffende Einzelwissenschaft die Philosophie beeinflußt hat; und wenn wir dann einen solchen idealen Wissenschaftskreis gemäß dem Tatbestand der modernen Wissenschaft entworfen und darin jeder Einzelwissenschaft ihren Platz - also näher und ferner dem Zentrum der Philosophie je nach der Intensität der Beeinflussung - angewiesen haben: würden wir nun annehmen dürfen, daß die heute verzeichnete Stellung einer bestimmten Wissenschaft immer dieselbe sei?

Die Geschichte der Wissenschaften zeigt uns, daß das nicht der Fall ist; d. h. daß im Allgemeinen die Einzelwissenschaften in ihrer Bedeutung für die Philosophie abnehmen und zunehmen, somit - nach unserem Bild - sich zu Zeiten vom Zentrum der Philosophie entfernt, zu anderen Zeiten sich ihm angenähert haben. -

Einen der reinsten Fälle dieser Bewegung innerhalb unseres idealen Wissenschaftskreises bietet nun die  Psychologie  dar und eine Betrachtung dieser Bewegung, wofür ich nunmehr Ihre Aufmerksamkeit erbitte, dürfte in mehrfacher Hinsicht nicht ohne Nutzen sein.

Das Erst aber, woran wir uns jetzt erinnern müssen, um diese Bewegung zu verstehen, ist die Beschaffenheit jenes Zentrums selbst. Wir haben dieselbe in Form einer Frage angedeutet - als die Frage: Was ist die Welt? oder: Wie ist die Welt beschaffen? Nun haben wir schon gesehen, daß die Antwort nur in einem höchsten Begriff enthalten sein kann, welcher die allgemeinen Begriffe aller Einzelwissenschaften unter sich befaßt und somit einen  Inhalt  darstellt, welcher sich in den Objekten aller Einzelwissenschaften, d. h. in allen Einzeldingen wiederfindet. Der gesuchte Begriff muß den  Inhalt  der Gesamtheit des Seienden, d. h. also der Welt angeben. Die Frage der Philosophie, unserer Zentralwissenschaft: Wie ist die Welt beschaffen? bedeutet also:  Wie wird die Welt inhaltlich bestimmt? 

Sie sehen mithin: je nach dem Steigen oder Sinken der Intensität, mit welcher sich die Psychologie an der  begrifflichen Bestimmung des Weltinhaltes  beteiligt (und zwar mehr oder minder bewußt beteiligt), ist die Bewegung der Psychologie in unserem idealen Wissenschaftskreis eine zentripetale und zentrifugale. Prüfen wir nun, welcher Art diese Bewegung in der Hauptsache ist, indem wir zugleich den Grund dieser Bewegung aufzudecken suchen. -

Als primären Zustand finden wir, daß die psychologische Einzelforschung nichts oder so gut wie nichts dazu beiträgt, den Inhalt der Welt zu bestimmen. Statt daß psychologische Untersuchungen irgendwie gebieterisch in die Gestaltung der Weltauffassung eingriffen, schreiben hier im Gegenteil spekulative Deduktionen die Auffassung der "Seele", bzw. des Seelenlebens vor. In der Tat steht zuerst die Psychologie völlig unter dem erdrückenden Einfluß der Philosophie, die bald als Naturphilosophie, bald als Metaphysik auftritt; die Psychologie ist noch meist nicht mehr als ein Material unter anderem, welches vom  philosophischen System  und natürlich nach dessen Bedürfnissen arbeitet und bereitet, beherrscht und bestimmt wird. Hier steht also das gewöhnlich schon fertige  System  im Mittelpunkt der Betrachtung - und drückt der Psychologie den entsprechenden Charakter auf. Diese aber ist so gut wie einflußlos gegenüber der Gestaltung der gesamten Weltauffassung. Mithin hat innerhalb des primären Zustandes des Psychologie ihre Stelle in dem von uns entworfenen idealen Wissenschaftskreis  an der Peripherie. 

In einem höheren Stadium der wissenschaftlichen Entwicklung ändert sich diese entschiedene Abhängigkeit der Psychologie von spekulativen Deduktionen und damit denn auch die ungünstige Stellung der Psychologie zum Zentrum der Philosophie. Die Systeme haben allerdings von sich aus der Psychologie das Objekt bestimmt, indem sie ja den Inhalt allen Seins bestimmt - nur sind die Bestimmungen überall anders ausgefallen: die Systeme widersprechen sich untereinander, und, was noch schlimmer ist, sie widersprechen sich auch in sich selbst, in den eigenen Lösungen ihrer naturphilosophischen und metaphysischen Probleme, an welchen sie sich in naivem Vertrauen auf deren Lösbarkeit versucht und abgemüht haben. Angesichts dieser Widersprüche verdichten sich endlich die vereinzelten psychologischen Zweifel, welche hinsichtlich der  wissenschaftlich  befriedigenden Lösung der Frage nach dem Seinsinhalt fast zu allen Zeiten sporadisch aufgetreten sind, sie verdichten sich zu einer systematisch psychologischen Nachfrage nach der Lösbarkeit jener alten philosophischen Lieblingsprobleme - und diese Nachfrage konzentriert sich alsbald um eine Untersuchung der  menschlichen Erkenntnis  überhaupt. Das Problem ist nicht mehr in erster Linie: wie ist die Welt zu bestimmen? sondern:  Wie wird die Welt erkannt?  Die Frage nach dem Ursprung, nach der Gewißheit und dem Umfang der menschlichen Erkenntnis ist aufgeworfen - und damit die Frage nach der Bestimmung des Weltinhaltes abhängig gemacht worden von der Frage nach der möglichen Erkenntnis dessen, was als seiend gilt.

Zwei Momente erscheinen mir für diese zweite Entwicklungsphyse charakteristisch. Zunächst, daß zu dem, was als seiend gilt oder doch als seiend zu gelten habe, noch diejenigen Objekte des menschlichen Denkens eingerechnet werden, welche jenseits aller Erfahrung liegen, welche transzendent sind. Und sodann: die Hervorhebung des  subjektiven Anteils  im Akt der Perzeption, die Betonung der Zutat, welche das Erkenntnisobjekt vom erkennenden Subjekt im Prozeß der Auffassung erfährt. Man findet, daß nicht einmal die Wahrnehmung, die doch als das sicherste Erkenntnismittel fungiere, das Objekt so gäbe, wie es ansich genommen sei; daß weder alles, was das Objekt enthalte, durch die Wahrnehmung überliefert werde, noch auch, daß alles, was die Wahrnehmung scheinbar überliefere, im Objekt selbst wirklich enthalten sei. Auf der einen Seite also ein Minus, auf der andern ein Plus!

Es liegt nun auf der Hand, daß namentlich der letztere Gedanke für die Stellung der Psychologie zur Philosophie im höchsten Maß bedeutungsvoll werden mußte. Denn wenn eben die Hauptfrage der Philosophie war, den Inhalt der Welt als dem Inbegriff aller Erkenntnisobjekte, zu bestimmen - und wenn die Psychologie nachwies, daß das erkennende Subjekt von sich aus einen wichtigen Teil des Wahrnehmungsinhaltes dem Objekt erst hinzufüge: so war die Philosophie unumgänglich darauf angewiesen, sich mit der Psychologie ins Einvernehmen zu setzen, um jenen subjektiven Faktor, jenes psychologische Moment in den Objekten kennen zu lernen. Dadurch geriet nun die Philosophie ihrerseits in ein beträchtliches Abhängigkeitsverhältnis von der Psychologie - diese aber beteiligte sich durch den wichtigen Beitrag, den das Subjekt als solches zur Konstitution des Objekts lieferte, maßgebend an der Bestimmung des Inhalts der Objekte und mithin der Welt: und damit hat sie denn einen ersten großen Einfluß auf die Gestaltung des Weltbildes gewonnen. Wir aber werden demgemäß nicht umhin können, die Psychologie jetzt in unserem Wissenschaftskreis nicht mehr an die Peripherie zu verweisen, sondern ihr ungefähr in der Mitte zwischen Peripherie und Zentrum einen bedeutungsvollen Platz zuzugestehen.

Wie groß die Bedeutung in der Tat sei, dies uns zu veranschaulichen, genügt ein nur kurzer Blick auf den Gang der eingetretenen Entwicklung. Sie wissen, unser aller früheste Weltanschauung ist das, was man in der Wissenschaft als "naiven Realismus" bezeichnet. Hier unterscheiden wir noch nicht zwischen dem, was die Welt ist, und dem, als was sie erscheint. Also: hier meinen wir, das Gras sei wirklich grün, der Schnee wirklich weiß, die Sonne sei wirklich feuerleuchtend - gleichgültig, ob unser Auge das Grün oder das Weiß oder das Sonnenfeuer sähe oder nicht; hier meinen wir, das laute Getöse des Wasserfalls tobe fort, auch wenn niemand es höre und der Donner rolle, auch wenn keines Sterblichen Ohr sein Rollen vernähme. - Jetzt aber kommt der Psychologe und sagt: Du irrst; dieses dein Weltbild ist falsch. Ohne dein hörenes Ohr schweigt der Wasserfall, mag sein Wasser noch so gewaltig herabstürzen; es schweigt auch der Donner, mag das Gewitter noch so heftig sein - das Gewitter, in welchem ohne dein sehendes Auge doch nur farblose Blitze zucken, ebenso farblos wie der geringste Halm, der ohne dein sehendes Auge nicht grün, so farblos wie das kleinste Schneesternchen, das ohne dein sehendes Auge nicht weiß sein würde. Du also, das wahrnehmende Subjekt, blickst in die Welt hinaus all die Farbenpracht, hörst in die Welt hinein all den Zauber der Musik, den Reichtum der Töne. Willst du die Welt erfassen, wie sie ansich ist: so denke sie farblos, tonlos - denke sie ohne alle die Eigenschaften, von denen du glaubtest, daß deine Sinne sie wahrnähmen.

Sie sehen, das ist ein gänzlich verändertes Bild gegenüber demjenigen, das uns der naive Realismus von der Welt gemalt hat. Aber in diesem Weltbild, so groß auch der subjektive Anteil ist, den unsere Objektserfassung bedingt, kommen dem Objekt doch noch Figur, Ausdehnung, Wirksamkeit, Substanzialität selbst zu. Allein - nachdem einmal die Richtung des Subjektivismus eingeschlagen ist, schreitet die Bewegung zunächst noch im Sinne dieser Richtung weiter. Es wird die Kausalität zu einer Funktion des  Subjekts  - zu einer Denkform - ein Schicksal, dem auch die Substanzialität anheimfällt; Raum und Zeit aber werden zu Formen der Anschauung, der  >Sinnlichkeit. Was findet sich jetzt noch von einem wahrhaft objektiven, durch das Subjekt nicht beeinflußten realen Weltinhalt, welcher ist und bleibt, auch wenn kein Bewußtsein von ihm erregt wird, kein Subjekt ihn anschaut oder denkt? Die  >Dinge ansich, ist die Antwort, die wir  nicht  kennen, "wie sie ansich beschaffen sind", sondern nur ihre "Art, unsere Sinne zu affizieren" - die Dinge ansich, von denen wir "ganz und gar nichts Bestimmtes wissen, noch wissen können".

So scheint denn aller realer Weltinhalt verloren - er scheint es umso mehr, als nicht einmal das Ding ansich, sei es in einer psychologischen Analyse seiner Abstammung, bzw. Verwandtschaft, sei es auch nur im historischen System seines Hauptbegründers selbst von unzweifelhafter Existenzberechtigung sich zu erweisen vermag.

Da nun alles "Erkennen" schließlich ein  psychologischer  Akt ist, so ist es in der Form der Erkenntnisuntersuchung im Grund die  Psychologie  gewesen, welche dieses neue und zwar negative Ergebnis der Weltauffassung herbeigeführt hat.

Wie nun aber die Psychologie diesen negativen Charakter der Erfassung des Weltinhaltes in wesentlicher (obwohl nicht immer ausdrücklicher) Betätigung mit herbeigeführt hat, so ist es wieder die psychologische Beobachtung, welche herangezogen wird, eben das Negative jener Welterfassung zu mildern, bzw. in Positives zu verwandeln; sodaß der psychologische Einfluß auf die Gestaltung der Philosophie selbst nicht geringer, nur anders gerichtet wird.

Man erkennt an, daß der Weltinhalt zum größten Teil nur in  subjektiven Vorstellungen  gegeben sei - allein man entnimmt aus der Beobachtung seiner selbst, also aus einem psychologischen Verfahren, den ermutigenden Hinweis, daß - da das Subjekt, bzw. das Subjektive doch auch selbst mit zu den Weltobjekten - selbst mit zum Weltinhalt gehört - daß also, wenn sonst sich nichts über den objektiven Tatbestand der Welt aussagen lasse, mindesten im Subjekt selbst einen Quell zu finden sei, aus dem sich eine Erkenntnis von wirklichem Weltinhalt schöpfen lasse. Von hier aus entspringen dann jene gewaltigen idealistischen System, welche das Ich oder eine bestimmte bald mehr psychologisch, bald mehr logisch charakterisierte Aussage des Bewußtseins zur Basis machen, und welche das philosophische Denken in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts so mächtig beherrscht haben. - Aber der Ursprung, der in einer Betrachtung des Subjekts und des Subjektiven beruth, liegt damit - mag man sich nun dessen bewußt sein oder nicht - im  Psychologischen. 

Auch jene Systeme, jene großartigen Gedankenbauten sind zusammengebrochen; sie sind zusammengestürzt unter dem Gewicht der erstarkenden Naturwissenschaften, welche die Erfahrung wieder in ihre legitimen Rechte einsetzen. Vor den Trümmern der gestürzten idealistischen Systeme stehen die Sieger und lächeln über etwaige Epigonen, welche aus jenen Trümmern neue Bauten errichten wollen - in die Luft, wie die Gegner höhnen. Jetzt freilich scheint jeder Schritt, den die aufblühende Naturwissenschaft vorwärts tut, indem er, wie sie behauptet, Objektives in immer größerem Umfang und immer erstaunlicherer Feinheit ermittelt, den Einfluß des subjektiven Elements in der Weltauffassung zu beschränken - und somit die Psychologie, die in der zuletzt angedeuteten Bewegung bis nahe an das Zentrum unseres idealen Kreises vorgedrungen war, jetzt von diesem Zentrum zurückzuscheuchen. In der Tat! man dachte nicht mehr daran, wenn man an die Bestimmung der Weltobjekte ging, den Psychologen, der sich doch mit dem Wesen aller Erkenntnisbestimmung beschäftigte, um Auskunft oder nur um - Warnung zu bitten; und wenn man der Naturwissenschaft die Frage der zweiten Phase unserer hier geschilderten Entwicklung vorlegte, nämlich die Frage: Wie wird die Welt erkannt? - so wiesen die Erfahrungswissenschaften mit stillem Triumphbewußtsein einfach auf ihre bewunderungswürdigen Instrumente und Experimente; das hieß also: durch diese erkennt man die Welt.

Diese Antwort erscheint auf den ersten Blick wohl unwidersprechlich; und doch ist noch eine Einsprache nicht allein zulässig, sondern unabwendbar - und wieder ist es eine psychologische Erwägung, die den Einspruch erhebt. Die Begriffe, welche die Naturwissenschaft aus ihren Beobachtungen gewinnt, sollen uns einen Inhalt darbieten, welcher den Objekten selbst zukommt - Bürgschaft hierfür sei die Kontrolle, welche durch die stetige  Erfahrung  ausgeübt wird. Aber wie? Gibt die Erfahrung vom Objekt mehr als Wahrnehmungen? Wohl kaum! Dann aber: wenn zugleich "Erkennen" soviel ist als Erzeugung eines Denkens, welches mit dem Gedachten übereinstimmt, wie willst du, so fragen wir die Naturwissenschaft oder ihren Vertreter, wie willst du behaupten, du  erkenntest  mit deinen Beobachtungs-, d. h. Wahrnehmungsmethoden, so fein und sinnrei sie sonst sein mögen, das Objektive? Denn wenn du den Inhalt deiner empirischen Begriffe auch mit dem Inhalt der Wahrnehmungen, in denen du deine Objekte gegeben hast, vergleichst, so vergleichst du doch - ein Gedanke, der sich übrigens schon bei MICHEL de MONTAIGNE vorgebildet findet - so vergleichst du doch deine Vorstellungen nur mit anderen Vorstellungen; denn auch die Wahrnehmungen sind ja nur Vorstellungen des denkenden Subjekts, Akte des Bewußtseins, Erscheinungen innerhalb der subjektiven Sphäre - wenn man auch zugibt, daß sie von außen erregt sind. Du wirst darum mit all deinen Wahrnehmungen so wenig die Welt  erkennen,  als du in deinem Denken anderes als deine eigenen Vorstellungen erfassen kannst und du kannst so wenig aus der Sphäre der Subjektivität heraustreten, als du über deinen eigenen Schatten zu springen vermagst.

Und wirklich! so lange wir zum Welt erkennen  in der Tat nichts vermögen, als unsere Vorstellungen mit Wahrnehmungen von Objekten, d. h. aber wieder mit Vorstellungen zu vergleichen, solange haben wir auf die Frage: Wie wird die Welt erkannt? in dem Sinne wenigstens, wie sie bis jetzt gestellt ist, keine befriedigende Antwort zu erwarten; oder vielmehr, wenn es mit zum Kriterium eines richtig gestellten Problems gehört, daß es wenigsten seinem Begriff nach überhaupt lösbar ist, so wäre diese Frage in diesem Sinne ein falsch gestelltes Problem: wonach sie freilich erst recht aufzugeben sein würde. Und da nun wohl zugestanden werden muß, daß auch die aus Wahrnehmungen kombinierte  Erfahrung  zunächst nur ein inneres Sein ist, welches das äußere Sein nicht selbst enthält, so ist weiter anzuerkennen, daß sie nicht eine Art darstellt, wie die Außenwelt oder überhaupt das Seiende  ist,  sondern nur eine Art, wie es  gedacht  wird. Unsere zuletzt behandelte Frage: Wie wird die Welt erkannt? wandelt sich nunmehr in die Frage:  Wie wird die Welt gedacht?  - und wir treten mit dieser Wandlung in eine neue und, einstweilen wenigstens, letzte Phase der Entwicklung ein.

Wenn jetzt die empirische Wissenschaft ihre  spezialistische  Betrachtungsweise aufgäbe und alle ihre relativ allgemeinsten Begriffe miteinander in Harmonie und gegenseitige Durchdringung setzte, um einen absolut höchsten Begriff zu gewinnen, der dann den empirischen Inhalt der  gesamten  Weltobjekte enthielte, so würde sie zwar damit zu einer  Philosophie  (welche ja die Aufgabe hat, die Gesamtheit des Seienden inhaltlich und begrifflich zu bestimmen) - ich sage, es würde damit die empirische Wissenschaft zwar zu einer  Philosophie  geworden sein: aber was sie mit aller observierenden und begrifflichen Arbeit geleistet und errungen hätte, das wäre doch nur eine gewisse Art, die Welt zu denken, ein bestimmtes  Denken der Welt. 

Jede naturwissenschaftliche, noch so empirische Weltauffassung träte damit unter einen Begriff, unter welchem auch die speziell so genannten  philosophischen Systeme  stehen. Diese alle, indem sie die Welt in allgemein-begriffliche Vorstellungen fassen - möge deren Ursprung nun auf bescheidenen Wahrnehmungen oder stolzen Hypostasen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], in nüchterner Beobachtung oder kühner Phantasie beruhen - alle philosophischen System drücken in diesen ihren allgemein-begrifflichen Vorstellungen eine bestimmte Art aus, wie die Welt gedacht wird - ein Denken der Welt.

Den volleren Sinn dieser neuen Wendung uns zu vergegenwärtigen, muß uns wieder eine Erwägung aus dem Gebiet der  Psychologie  behilflich sein - der Psychologie, aber freilich in einer Verbindung, in welcher sie schon im zweiten Teil der hier gegebenen Entwicklung stillschweigend fungierte, als sie, die Psychologie, uns auf den subjektiven Faktor in der Wahrnehmung hinwies. Dies konnte sie nur in der notwendigen Verbindung mit einer anderen Forschung tun, welche die Beziehungen des Organismus zur Außenwelt behandelt - nämlich der Physiologie. Und wenn ich fortan von der Psychologie spreche, so meine ich sie in ihrer Verbindung mit der Physiologie, einer Verbindung, die ja eben so natürlich ist und innig zu sein berufen erscheint, als die Verbindung von Geistigem und Leiblichem innig und natürlich ist. -

Was hatte doch den Erkenntnisgehalt der Wahrnehmung verdächtigt? Das war die Einsicht gewesen, die man in die Wahrnehmung als  Akt  getan. Hier hatte man gefunden, daß es Schwingungen -  Bewegungen  in der Außenwelt sind, welche unsere peripherischen Sinnesorgane treffen, auf den Sinnesnerven sich nach dem Gehirn fortpflanzen und hier eine  Empfindung  hervorrufen, "auslösen", wie wir heute zu sagen pflegen. Welche Gleichheit oder Ähnlichkeit oder Übereinstimmung, so fragte man sich, konnte nun bestehen zwischen den Empfindungen in unserem Bewußtsein und den Bewegungen in der Außenwelt? zwischen dem physischen Agens draußen in der Welt und der psychischen Reaktion unseres Bewußtseins?

An diese physiologisch-psychologische Anschauung knüpfen nun auch wir an, indem wir sagen: Wir lassen die Frage nach der Ähnlichkeit, Gleichheit, Übereinstimmung ganz fallen, weil sie im gebräuchlichen Sinn unbeantwortbar, wenn nicht falsch gestellt ist; warum, haben wir ja gesehen. Wir konstatieren aber: daß also unser Organismus auf einen Bewegungsreiz mit einer Empfindung reagiert; wir konstatieren ferner: daß unter dem anhaltenden Druck der Bewegungsreize sich die einzelnen Empfindungsreaktionen zu Vorstellungen komplizieren, mit denen dann der psychophysische Organismus auf die objektiven Bewegungen reagiert; d. h. dann, daß der Organismus seine Objekte in Form und Inhalt der Vorstellung denkt; wir konstatieren weiter: daß sich der Organismus der unbegrenzten Vielheit der sinnlichen Eindrücke dadurch erwehrt, daß er das Gemeinschaftliche in allgemeine Begriffe vereinigt, d. h. dann, daß er seine Objekte in allgemeinen Begriffen denkt; wir konstatieren hierzu noch: daß der Organismus in seiner fortschreitenden Entwicklung auch die noch immer bestehende Vielheit der allgemeinen Begriffe zu reduzieren sucht, indem er noch höhere Begriffseinheiten bildet und so seine Reaktionen auf die Vielheit der Eindrücke  einfacher  und  einheitlicher  gestaltet; und wir konstatieren endlich: daß dieses Bestreben nach Einheit und Einfachheit der psychischen Reaktion in der Tendenz gipfelt, der Gesamtheit der Eindrücke mit einem allgemeinsten Begriff, einer einfachsten Reaktion, mit völliger Einheitlichkeit zu begegnen - und  das  heißt dann, daß der Organismus die Tendenz entwickelt, die Gesamtheit aller Objekte, d. h. die Welt, in einer möglichst einheitlichen, einfachen, einzigen Vorstellung zu denken. Und so schließen wir diese Konstatierung ab mit einem Hinweis, dessen es wohl kaum mehr bedarf: die geschichtlichen Manifestationen dieser Tendenz, ein möglichst einfaches und einheitliches Weltdenken zu erzeugen, sind - freilich unter allerhand Verkleidungen und Verstümmelungen - die philosophischen Systeme, ist die Philosophie.

Und da haben wir plötzlich eine neue Antwort auf die alte Frage: Was ist Philosophie? Wir erkennen jetzt, daß das Wesen aller Philosophie in einer bestimmten Reaktionsweise des psychophysischen Organismus auf die Gesamtheit der Eindrücke beruth. Das also wäre das Resultat unserer letzten Erörterung - diese selbst gehörte der  Psychologie  an und so ist es denn wieder die Psychologie, welche schließlich das Wesen der Philosophie bestimmt hat. Ich denke, wir dürfen daher jetzt zugestehen, daß sich mit dieser Leistung die Psychologie in der Stellung behauptet hat, nach welcher hin wir sie gegen Ende der zweiten Phase unserer Entwicklung in energische Bewegung begriffen sahen: dicht am Zentrum unseres idealen Wissenschaftskreises.

Allein - verhehlen wir es uns nicht! - mit unserer letztgewonnenen Einsicht ist die Philosophie doch erst nur  formal  erfaßt; wir haben sie vielleicht nach ihrer psychologischen und historischen Seite als Inbegriff der Systeme bestimmt; aber war das denn das eigentliche Resultat, dem wir zustreben wollten? War unsere Frage nicht vielmehr: Was leistet die Psychologie, um die Philosophie - nicht als historischen Inbegriff der Systeme - sondern als Verwirklichung des idealen Postulate zu bestimmen? Wollten wir nicht die Stellung der Psychologie eben an ihrem Beitrag ermessen, den sie zur Bestimmung des Weltinhaltes liefert? - Das war allerdings, was wir wollten. Und demnach müssen wir die Frage so gestellt bleibenlassen: Wenn sich in der dritten Entwicklungsphase die Philosophie als ein Denken der Welt erweist, nun wohl: was gewährt die Psychologie  material  für dieses Weltdenken?

So scheint es, wir hätten uns soeben von unserer eigentlichen Aufgabe entfernt gehabt; aber es scheint nur so, in Wahrheit haben wir uns ihrer Lösung genähert. Indem nämlich die Psychologie das formale Wesen der Philosophie feststellte, gab sie zugleich die Richtung an, in welcher sich die Philosophie  material,  also als  inhaltliche  Weltbestimmung entwickelt. Und darum sind wir auch zuletzt berechtigt gewesen, trotzdem der Einfluß der Psychologie zunächst nur formal war, diese doch dicht an das philosophische Zentrum zu stellen.

Vergessen wir nur nicht, daß das, was wir hier "formal" genannt haben, ein  aktives Streben  ist - ein aktives Streben nach Einfachheit und Einheitlichkeit unserer Reaktion auf die Gesamtheit der Eindrücke. Dieses Streben muß nun notwendig den Vorstellungsinhalt, mit welchem die Gesamtheit des Seienden gedacht wird, nach verschiedenen Richtungen beeinflussen. Die nächstzubeachtende Richtung dieser Beeinflussung äußert sich als Tendenz auf das Widerspruchslose: der Inhalt, mit dem das Seiende gedacht wird, ist bestrebt, von Widersprüchen mit sich selbst und mit unleugbaren Erfahrungen sich zu reinigen; denn jeder Widerspruch in der Weltanschauung widerspricht auch dem Bedürfnis einer einheitlichen und einfachen Reaktion. - Die zweite wichtige Richtung der Betätigung jener Beeinflussung im Inhalt der Weltauffassungen ist die Tendenz auf Vermeidung alles Überflüssigen, ist namentlich auch die Tendenz auf Verminderung, bzw. völlige Eliminierung aller Werte, welche sich als rein subjektive Entwicklungsprodukte erweisen; denn alle Zutaten, mit welchen das Subjekt ohne Notwendigkeit den Inhalt der Welt in seinen Vorstellungen vermehrt, vermindert andererseits oder erschwert auch unnötigerweise die Einfachheit und unter Umständen zugleich die Einheitlichkeit des Weltdenkens. Diese Tendenz, über die Welt nicht mehr auszusagen, als sie selbst aussagt, drückt sich nun auch positiv aus als Tendenz, den Inhalt unserer Vorstellungen, in oder mit denen wir die Welt denken, ausschließlich auf die durch die Objekte selbst indizierten, d. h. auf die Erfahrungsmomente zu beschränken. - Die dritte hier zu erwähnende Richtung endlich drückt sich in der Tendenz aus, das, was als seiend noch behandelt wird, auf einen möglichst einfachen Begriff und Ausdruck zu bringen.

Doch noch auf eine andersartige Äußerung des Strebens unseres psychophysischen Organismus nach möglichst einheitlicher und einfacher Reaktion muß ich Sie aufmerksam machen. Es ist die die Neigung des Organismus, gewohnheitsmäßig zu reagieren, bzw. Gewohnheitsreaktionen auszubilden. Solche Gewohnheitsreaktionen haben das Eigentümliche, daß sie, zwar nicht immer für sich genommen, aber doch für das reagierende Individuum die  einfachsten  sind, indem sie zugleich in ihrer  gleichmäßigen Wiederholung  eine bestimmte  Einheitlichkeit  der individuellen Reaktion darstellen. Verallgemeinert man diese Erscheinung, so bedeutet sie eine Tendenz nach  Konstanz  unserer Reaktionsweise, welche Tendenz also aus dem Streben nach deren Einfachheit und Einheitlichkeit hervorgeht. Dieses Streben nach Konstanz äußert sich nun im Inhalt der Weltauffassungen als eine Tendenz auf das Konstante, d. h. auf das  "Ewige und Wesenhafte",  was in allem Wandel sich erhält, sich in allem Wechsel gleichbleibt.

Allein dieses Streben nach Konstanz hat noch eine andere ernste Bedeutung für den Inhalt des Weltdenkens; nicht allein, daß der Inhalt das Konstante oder doch das als konstant Erscheinende aufsucht und aufnimmt, sondern auch, daß jeder bestimmte Inhalt, jede individuelle Weltauffassung das Bestreben zeigt, nun auch selbst im persönlichen sowohl als im allgemeinen menschlichen Weltdenken konstant zu sein, bzw. es zu werden. Daher die mühsamen Fundamentierungen, die nach Gewißheit, Sicherheit, "Notwendigkeit" ringen - daher auch die oft leidenschaftlichen Verteidigungen der Systeme im Kampf umd das Bewußtsein der Mitwelt.

Es liegt nun aber auf der Hand, daß in der Konkurrenz der Weltauffassungen nur diejenigen Aussicht auf dauernde Selbsterhaltung haben können, welche den angedeuteten Anforderungen der einfachen und einheitlichen Reaktion entsprechen - die Chance, im Bewußtsein des höher entwickelten Denkens wirklich konstant zu werden, wird also bei den Systemen in dem Maße steigen, als diese eine Reaktion darstellen, welche den erwähnten Anforderungen des psychophysischen Organismus genügend angepaßt ist. Es wird demgemäß eine Weltauffassung vermutlich umso weniger Chancen auf Selbsterhaltung oder Konstanz ihres Inhaltes im Bewußtsein der Zeiten haben, je weniger sie angepaßt ist, d. h. je mehr sie noch Widersprüche, Hypostasen und Anthropomorphismen, pluralistische Bestimmungen enthält. Sie wird dagegen umso mehr Chancen haben, als sie widerspruchslos, rein empirisch, monistisch ist - ein System, welches diese Bedingungen völlig erfüllte, wäre dann auch völlig angepaßt. - Daß solch ein System heute noch nicht besteht, liegt teils in der Allmählichkeit aller Entwicklung; zum großen Teil aber auch darin, daß die Weltauffassungen nicht nur den theoretischen Anforderungen, sondern meist auch, wie bereits angedeutet, durch  praktischen  Bedürfnissen sich anzupassen haben, welche dann oft mit den  rein theoretischen  Erfordernissen in einem schwer hemmenden Widerstreit stehen.

Indem uns so eine psychologische Betrachtung wohl das heut zu vermutende Endziel der Entwicklung des Weltdenkens gezeigt hat, hat sie uns nun zugleich unsere eigentliche Frage beantwortet - unsere Frage: Welchen Beitrag leistet die Psychologie für den Inhalt unseres Weltdenkens? Freilich kann - nach unserer letzten Erwägung - der Sinn dieser Frage nicht mehr gerichtet sein auf einen beliebeigen subjektiven Beitrag aus der Sphäre der Hypostasen und Anthropomorphismen, sondern nur auf einen solchen Inhalt, welcher die angedeuteten Chancen hat, den Kampf um das Bewußtsein des fortschreitenden Weltdenkens siegreich zu bestehen. Wirklich weist nun die  Psychologie  einen solchen Inhalt auf, der, wie es den Anschein hat, auch den rigoroseren Bedingungen der Systemanpassung genügt und der daher die Hoffnung zu erwecken vermag, er sei berechtigt, die Philosophie - und zwar nun in der Bedeutung des idealen Postulates - maßgebend zu bestimmen.

Erwarten Sie nun nicht, daß ich Ihnen mit der Angabe dieses Inhalts etwas Neues mitteile; wir selbst - hier und heute - haben sogar schon diesen Inhalt zusammen entwickelt. Das taten wir, als wir uns von der Psychologie auf den Tatbestand hinweisen ließen, daß unser Organismus auf  Bewegungen  mit  Empfindungen  reagiere.  Bewegung  und  Empfindung  sind demnach die bedeutungsvollen Bestimmungen, welche die psychologische Betrachtung darbietet zur Angabe des realen Weltinhaltes - in der Auffassung der ersten Fragestellung, als Erkenntnisstücke - im Sinne der zweiten, als Vorstellungen, mit denen die Welt gedacht wird - im Sinne der dritten und letzten Fragestellung. - Aufgabe der  philosophischen Arbeit  wird es nun sein, das Verhältnis dieser beiden Bestimmungen zueinander und zum Begriff des Seienden überhaupt zu ermitteln: das, was  unsere  Aufgabe an diesem Ort war, sei nunmehr mit der Bemerkung abgeschlossen, daß hiermit, indem die Psychologie die beiden, zunächst einzigen rein empirischen Bestimmungen für das inhaltliche Denken der Welt liefert, daß, sage ich, hiermit die Psychologie den letzten Schritt getan und ihre Stellung innerhalb unseres idealen Wissenschaftskreises in dessen  Zentrum  selbst errungen hat.

Wenn also die Psychologie im Beginn der Entwicklung an der Peripherie stand und das fertige philosophische System im Zentrum, so stehen am Ende dieser Entwicklung die historischen Systeme - als empirische Objekte der Psychologie selbst - an der Peripherie; während die Stellung der Psychologie, nach einer langen, aber meist zentripetalen Bewegung, eine  zentrale  ist - entsprechend dem Umstand, daß für das menschliche Denken eben der denkende und beobachtende Mensch es ist, welcher im Mittelpunkt seiner Beobachtungen steht und damit - für sich - auch im  Zentrum der Welt! 
LITERATUR: Richard Avenarius, Über das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie, [Eine Antrittsvorlesung] Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1877