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ERICH ADICKES
Liebmann als Erkenntnistheoretiker
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"Trotz schärfster Polemik gegen Kants Ding-ansich (bekanntlich ein hölzernes Eisen, ein existenzunfähiges asylum ignorantiae, dem alle unverdaulichen Probleme der Metaphysik in den Rachen geschoben werden) ist Liebmann der Überzeugung, daß die Wirklichkeit mehr ist als eine bloße Vorstellung, daß eine absolut-reale, jenseits der subjektiven Bewußtseins- und Erkenntnisgrenzen gelegene Welt dem empirischen Weltphänomen zugrunde liegt, und daß das wahrnehmende Subjekt zur Entwicklung seiner sinnlichen Anschauungen durch den realen Einfluß der absolut-realen Welt auf das subjektive Vorstellungsvermögen genötigt wird".

I.

Als LIEBMANN 1865 die Parole: "Es muß auf KANT zurückgegangen werden" ausgab, da trat er als Erkenntnistheoretiker dem metaphysischen Dogmatismus entgegen. Und vorwiegend  Erkenntnistheoretiker,  seinen Neigungen nach wie in der Richtung seines Forschens, ist er auch weiterhin gebliben, seine ganze wissenschaftliche Laufbahn hindurch.

Er selbst will sich jene Parole garnicht als persönliches Verdienst angerechnet wissen : er habe mit ihr nur "einem Gedanken präzisen Ausdruck verliehen, welcher damals sozusagen in der Luft schwebte" (A. 231) (1)

Gewiss! wäre letzteres nicht der Fall gewesen, so hätte der Gedanke nicht derart wirken können, wie er es tat. Aber daß gerade LIEBMANN jene Parole ausgab, und zwar in so scharfer, energischer Form: das war doch kein Zufall, es war in seinem ganzen Geisteshabitus begründet. Kritik geübt war an den dogmatischen Systemen auch schon vor ihm genug und übergenug. Scharfsinnig hatte der eine des anderen Schwäche erspäht, nur die eigenen sah keiner. Jeder glaubte seine Vorgänger bündig widerlegen zu können und war trotzdem überzeugt, seinerseits ein Gebäude errichtet zu haben, das dem Sturm der Jahrtausende werde widerstehen können. Und das, obwohl er doch auf derselben Grundlage gebaut und dieselben Materialien benutzt hatte wie die vor ihm. Aber so redet oder denkt eben der echte Metaphysiker: bis auf  ihn  nur eine Kette von Irrtümern,  er  aber bildet den Wendepunkt der Zeiten als Inkarnation der ewigen Wahrheit. Und daß andere ähnlich vermessen reden, stört ihn so wenig wie den Offenbarungsgläubigen die Tatsache, daß auch andere Religionen beanspruchen, Offenbarungen des lebendigen Gottes zu sein.

Und in die Mitte dieser metaphysischen Architekten tritt nun LIEBMANN als echter Erkenntnistheoretiker und zeigt ihnen, daß der Grund, auf dem sie bauen, überhaupt nicht fähig ist, Paläste der Wissenschaft zu tragen, daß ihre Materialien gar nicht aus wirklichen Quadern und Balken und Säulen bestehen, sondern nur aus - Karten, und daß deshalb ihre sämtlichen Bauwerke nichts sind als Kartenhäuser, die schon das leiseste Lüftchen erkenntnistheoretischer Kritik umbläst. Das eigentliche Thema der kritischen Philosophie sieht er in der "Durchführung der Regel, daß die menschliche Spekulation, bevor sie an großartige, weitschauende Gedankenkonstruktionen geht, sich erst darüber Rechenschaft geben muß, wie weit ihre Kräfte reichen", in der "Beantwortung der Frage: was kann ich überhaupt erkennen?" (K 10-11). In konsequenter Entwicklung, ihren Prinzipien getreu, könnte die kritische Philosophie niemals transzendent werden (K 207). Denn transzendent ist "ein Problem, das die menschliche Fassungskraft übersteigt", oder das, "wovon wir nichts wissen und nichts begreifen können" (O 129-130). Er fragt: "Wozu sollen wir in einem  unmöglichen  Gebiet Probleme suchen, da uns auf dem  wirklichen  zahllose fesseln?  Immanente  Probleme finden sich überall und vermehren sich fortwährend, mit jedem Schritt, den die Forschung der Erkenntnis gewinnt. Je größer der Inhalt, desto weiter die Grenze. Und das gilt nicht etwa bloß für die Empirie; nein, für die  Spekulation,  die  Philosophie.  Wozu wollen wir also weiter schweifen, da das Gute so nahe liegt?" (K 208).

Dieses "Gute" ist vor allem die Erkenntnistheorie:  ihr  blieb er treu bis auf den heutigen Tag. Für  sie  war er prädestiniert, insofern er all die Eigenschaften, die den Erkenntnistheoretiker, gleichsam als Typ betrachtet, charakterisieren, in reichem Maß in sich vereinigt.

LIEBMANN ist einer der großen Frager, einer von denen, die an der Aufstellung der Probleme nicht geringe - fast hätte ich gesagt: noch größere - Freude haben, als an ihrer Lösung. Häufig stellt er die Prämissen zu einem transzendenten Schluß unmittelbar nebeneinander, ohne die Konklusion zu ziehen; manches höchst wichtige Problem sucht er nur als Problem scharf und treffend zu formulieren, läßt es dann aber ungelöst stehen, obwohl eine  konjekturale  [mutmaßliche - wp] Lösung ganz nahe liegen würde: das letzte Wort schwebt ihm zwar auf den Lippen, aber er spricht es nicht aus. Es hindert ihn daran, wie er selbst sagt, "eine gewisse Reserve, ja eine heilige Scheu. Denn der Philosoph, wenn er kein Wahrsager ist, so sei er doch ein Wahrheitssager; und dazu gehört, daß er nichts als gewiß behaupte, was er nicht gewiß weiß" (A 12)

Ich wüßte keinen unter den modernen Philosophen, der es LIEBMANN im scharfen Erfassen und klaren Herausarbeiten des springenden Punktes zuvor täte. Und dabei die große pädagogische Kunst in der Art, wie er den Leser vom Bekannten, Alltäglichen aus in die Tiefe führt, wie er ihn im Selbstverständlichen die verborgenen Schwierigkeiten finden läßt. Es geht eine suggestive Kraft von seinen Erörterungen gerade der fundamentalen erkenntnistheoretischen Probleme aus. Er zwingt, mitzuarbeiten, mitzubohren. Weshalb seine Schriften auch gerade zur  Einführung  in die Philosophie so sehr geeignet sind! Bei manchem naiven Realisten dürften die scharfen Pfeile seines Zweifels schon das dreifache Erz des Dogmatismus durchbohrt haben.

Viel Fragen macht vorsichtig und kritisch, noch mehr aber hat es Vorsicht und Kritik zur Voraussetzung. Beide Eigenschaften sind bei LIEBMANN in hervorragendem Maße ausgebildet. Mit ihnen verbindet sich das Bedürfnis nach Selbstbesinnung, nach völliger Klarheit über Art und Tragweite der getanen oder zu tuenden Schritte. Daher überall sein energisches Drängen auf strenge Scheidung zwischen Gegebenem und Hinzugedachtem, zwischen Tatsachen und Deutungen, sein großes Interesse an methodologischen Erwägungen und vor allem am Grundproblem: der Frage nach den Grenzen, dem Wahrheitswert und Gewißheitsgrad menschlichen Erkennens.

Hier ist er unerbittlich: jeden Versuch einer wissenschaftlichen Metaphysik des Transzendenten schneidet er radikal ab, Wissen gibt es nur von der Erfahrungswelt und ihren Bedingungen, das Reich des  ontos on  [das seiende Sein - wp] bleibt dem subjektiven Glauben und Wähnen des Einzelnen überlassen. Die Philosophie ist ihm wie KANT die Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft (A 6). Die Hoffnung auf Erreichbarkeit einer endgültigen philosophischen Weltdeduktion hält er für vergeblich (A 11). Immer wieder weist er auf das nachdrücklichste auf die vielen, für immer unübersteigbaren "immanenten Schranken der menschlichen Intelligenz" hin, "von welchen der gedankenlose gewöhnliche Menschenverstand und das kurzsichtige Selbstverstrauen des dogmatischen Metaphysikers nichts weiß oder wissen will" (A 62; ferner 99, 112, 113, 160, 166, 194, G II 35, 50, 89, 105-106 und sonst oft). Demütig und bescheiden zieht er "um der reinen Wahrheit willen resignierenden Zweifel der ausschweifenden Behauptung vor" (A 113). Der echte Metaphysiker dagegen "muß kategorisch sprechen, weil er die endgültige Lösung des Welträtsels geben will; er kann nicht anders. Er darf keinen Widerspruch, keinen Zweifel, kein Bedenken gelten lassen; denn die vermeintliche Absolutheit seines Standpunktes verbieten das". In Wirklichkeit freilich handelt es sich in der dogmatischen Metaphysik gar nicht um "ein objektiv begründbares  Wissen,  sondern um einen  Glauben,  eine zwar sehr feste, aber doch lediglich subjektive Überzeugung, genauso wie in der Religion; um ein Credo, das sich der wissenschaftlichen Kritik ohne weiteres entzieht, dessen Wahrheit nur nachempfunden, nachgefühlt, aber, ebenso wie die Schönheit eines Kunstwerks, nie streng bewiesen werden kann" (Kl 61, 62, vgl. A 251). Die Entscheidungsgründe sind auf diesem Gebiet subjektiver Art: "wo unsere strenge Einsicht ein Ende hat, da pflegen ästhetische Neigungen und zum Teil moralische Überzeugungen das letzte Gewicht in die Waagschale zu werfen" (A 154). Ähnlich G II 229 - 230 mit Bezug auf den Gegensatz zwischen Theismus, Pantheismus und Atheismus: wie man sich "den Hervorgang des Vielen aus dem Einen" denkt, "das ist und bleibt sozusagen Sache des ästhetischen Geschmacks und wird vielmehr durch Neigungen, Abneigungen, durch Phantasie- und Gemütsbedürfnisse, als durch zwingende Vernunftgründe bestimmt".

Dogmatische Metaphysik gibt LIEBMANN also völlig preis. Dagegen hält er fest an der Möglichkeit einer  kritischen  Metaphysik im Sinne einer strengen Erörterung menschlicher Ansichten, menschlicher Hypothesen über Wesen, Grund und Zusammenhang der Dinge (Kl 112, G II 113).


II.

Fern von allem Dogmatismus ist LIEBMANN auch in seinem  Verhältnis  zu KANT. Auf dessen orthodoxe Schüler nach Art der KIESEWETTER, KRUG, JÄSCHE blickt er mit einer gewissen Verachtung herab, nicht ohne Grund. Von der Sucht mancher Moderner, á tout prix [um jeden Preis - wp] Anschluß bei KANT zu finden, ist er frei. Er mißbraucht auch nicht, was heutzutage keine Seltenheit ist, die von jenem geschaffenen Begriff und Lehren, sie umprägend und mit neuem Inhalt füllend, nur um sich auf sie berufen und unter des Meisters Flagge segeln zu können. KANT ist ihm eine historische Größe: sein System erforschen und selbständig philosophieren sind für ihn zwei verschiedene Dinge. Das geschichtliche Verständnis KANTs leidet nicht unter dem Bedürfnis nach aktueller Verwertung. Einen wesentlichen Bestandteil Kantischen Denkens, die Lehre vom Ding ansich, hat er sogar wiederholt auf das schärfste angegriffen, viel schärfer, als sachlich und historisch berechtigt ist. Von seiner Analysis der Wirklichkeit sagt er (A 232): Dieses Werk nimmt "nicht innerhalb, sondern außerhalb der Kantischen Autoritätssphäre seine Stellung. Aufgrund eigener Untersuchungen trifft es in manchen Punkten mit KANT zusammen, in manchen mit PLATON, mit ARISTOTELES oder SPINOZA oder LOCKE, in anderen mit Niemand; und nirgendwo, meines Wissens, gibt es sich irgendwelcher ungeprüften Autorität dogmatisch gefangen". So redet echte Philosophie, der es um die Sache, nicht um Dogmen oder Namen zu tun ist!

KANTs Idee einer Transzendentalphilosophie rechnet LIEBMANN zu den Ideen, "von denen ein vorher unbekannt gewesener, höherer Standpunkt enthüllt und für immer festgestellt wird", "die, wenn einmal ihre Konzeption gelungen ist, im Strom der Geschichte ruhig feststehen, während Geschlecht auf Geschlecht an ihnen vorüberzieht"; solche "bahnbrechende und unvergängliche Konzeptionen" sind zwar "der Ergänzung, Berichtigung und Umbildung fähig; sie können von der Grundlage aus in verändertem Stil neu aufgebaut werden; aber ihr wesentlicher Kerngedanken bleibt bestehen" (G II 1 - 2). In allen Einzelheiten und Spezialdoktrinen ist die Kritik der reinen Vernunft dem Schicksal der Veraltung ausgesetzt, nicht so als Ganzes, als Verkündigung eines völlig neuen, vorher niemals dagewesenen und nie zu überwindenden Denkstandpunktes. "Ob wirklich zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ein absoluter Unterschied besteht; ob die transzendentale Hauptfrage "wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" wirklich die ihr zugemutete Tragkraft und Tragweite besitzt; ob  Raum und Zeit  in der Tat ursprüngliche, reine Anschauungsformen sind, und ob aus ihrer Apriorität in Wahrheit ihre transzendentale Idealität folgt; ob irgendwelche und welche von den zwölf Kategorien wirklich Kategorien, d. h. unableitbare und notwendige Grundbegriffe der menschlichen Intelligenz sind; das bleibt disputabel. Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ... kann in vieler Hinsicht lebhaften Zweifel erregen." Die Anwendung des Kategorienschemas auf jedes beliebige Thema der Philosophie "ist als eine persönliche Pedanterie und doktrinäre Schwäche des großen Denkers längst anerkannt". In den Analogien der Erfahrung hat KANT "nicht, wie er meint, die Vorbedingungen der  Erfahrung,  sondern höchstens die der Erfahrungs wissenschaft  aufgedeckt". Seine "von vornherein aufgestellte Behauptung, daß die Tatsachen der Wahrnehmung  nur Erscheinungen  seien, ist ein unbewiesenes Dogma". Ebenso gibt LIEBMANN den Grundgedanken der Dialektik und die Ableitung der Ideen aus den Schlußformen preis. Aber der ganze Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes ist nach ihm unveraltet und unsterblich. Und dieses "Neue, Bahnbrechende, Epochemachende" besteht darin, daß KANT "nicht etwa von der Seele ausgeht, oder vom Gehirn, oder von der tabula rasa, oder von einer LEIBNIZschen Monade, sondern vom Bewußtsein, welches das Ursprüngliche, die Urtatsache  kat exochen  [schlechthin, ansich - wp] ist; daß er nicht nach der intellektuellen Entwicklungsgeschichte des Einzelmenschen oder auch der Menschheit forscht, sondern nach den allgemeinen, typischen Vorbedingungen der Welterkenntnis überhaupt", nach dem, "was aller Wissenschaft überhaupt und ihrem Objekt ewig zugrunde liegt" (G II 2 - 8).

KANTs "Forschen nach  den Erkenntnissen a priori  war nichts anderes als ein Suchen nach den höchsten Gesetzen des erkennenden Bewußtseins". Ob "diejenigen Intellektualgesetze, auf die er kommt, die höchsten und letzten oder sekundäre, weiter ableitbare sind, ja ob sie überhaupt das echte Apriori darstellen, ... dies mag disputabel bleiben. Soviel steht jedoch fest, jene höchsten Intellektualgesetze, - welche es auch sind, - werden auf jeden Fall ebenso sehr für den Erkenntnisakt des Subjekts, als für das erkennbare Objekt, d. h. für die empirisch-phänomenale Welt, schlechthin maßgebend sein müssen": in dieser Lehre findet LIEBMANN den tiefsten Wahrheitsgehalt der Vernunftkritik (A 237 u. 238). Und von dieser Auffassung aus schreibt er seinen "Geist der Transzendentalphilosophie" (G II 1 - 90). Sie ist identisch mit Erkenntniskritik und hat Bedingungen, Grundgesetze, Tragweite und Grenzen unseres Erkennens zu bestimen (A 13, G II 5).

Die Grenzen sind eng, wie wir oben sahen: unser Wissen ist für immer in den Kreis der Erfahrung gebannt. Und diese zeigt uns nicht das wahrhaft Seiende, sondern nur Erscheinungen. Die ganze Wirklichkeit ist bloß innerhalb unseres Bewußtseins gegeben, als Vorstellungsinhalt oder Vorstellung: wir können die Welt nur so erkennen, wie unser Erkenntnisvermögen seiner Natur und Organisation gemäß sie uns zeigen muß. Das sind Wahrheiten, die LIEBMANN unter die Gemeinplätze der Philosophie glaubt rechnen zu dürfen (A 36). Trotzdem hält er es - mit Recht - nincht für überflüssig, alle Mittel anzuwenden, um seinen Lesern die Wahrheit dieser Gemeinplätze aufzu zwingen. 

Er geht in seinem Idealismus nicht soweit wie BERKELEYs Immaterialismus, der das, was dem Cartesianer eine absolut reale körperliche Substanz außerhalb des wahrnehmenden Subjekts war, zu einer bloßen Akzidenz [Nebensächlichkeit / Zufälligkeit - wp] der geistigen Substanz herabdrückte, dessen  esse  [Sein - wp] ganz und gar in seinem  percipi  [Wahrnehmung - wp] aufgehe. BERKELEY glaubte zwar dieses sein Dogma strikt beweisen zu können. LIEBMANN hält es mit Recht nur für eine zwar höchst seltsame, aber doch immerhin mögliche metaphysische Hypothese, für einen Glaubenssatz,  einen  denkbaren Fall neben anderen, und mit nicht weniger Recht weist er auf die wunderliche Inkonsequenz des so scharfsinnigen und doch auch wieder so dogmatischen Bischofs hin, der keine Schwierigkeit darin findet, bei anderen Geistern und bei Gott ohne weiteres ein über ihr Percipi hinausgehendes Eigenes Esse anzunehmen (A 19f).

Gegen die Trugschlüsse des subjektiven Idealismus und der Immanenzphilosophie macht er geltend, daß sie schlechterdings nicht imstande sind zu beweisen, daß es keine vom vorstellenden Subjekt unabhängige Existenz  gibt,  sondern nur, daß das Subjekt sie nicht direkt auffassen, sie nicht anders als durch das intellektuelle Medium seiner subjektiven Gedanken imaginieren, fingieren, denken, erkennen, vielleicht auch nicht erkennen kann ... Gerade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt aus der Sphäre seines subjektiven Vorstellens hinauskann; gerade deshalb, weil es nie und nimmermehr mit einem Überspringen des eigenen Bewußtseins, unter Emanzipation von selber, dasjenige zu erfassen und zu konstatieren imstande ist, was jenseits und außerhalb seiner Subjektivität existieren oder nicht existieren mag; gerade deshalb ist es ungereimt,  behaupten  zu wollen, daß das vorgestellte Objekt außerhalb der subjektiven Vorstellung  nicht  da sei" (A 28).

Trotz schärfster Polemik gegen KANTs Ding-ansich (bekanntlich ein hölzernes Eisen, ein existenzunfähiges asylum ignorantiae [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp], dem alle unverdaulichen Probleme der Metaphysik in den Rachen geschoben werden" A 21) ist Liebmann der Überzeugung, "daß die Wirklichkeit mehr ist als eine bloße Vorstellung, daß eine absolut-reale, jenseits der subjektiven Bewußtseins- und Erkenntnisgrenzen gelegene Welt (mundus intelligibilis) dem empirischen Weltphänomen (mundus sensibilis) zugrunde liegt, und daß das wahrnehmende Subjekt zur Entwicklung seiner sinnlichen Anschauungen durch den realen Einfluß der absolut-realen Welt auf das subjektive Vorstellungsvermögen genötigt wird". (A 196, 197, vgl. A 38, 53, 68, Obj 129f)

An diese absolut-reale Welt können wir aber mit unserem Erkennen nie heran. Das letztere ist samt allen seinen Objekten ganz und gar von der Natur und Organisation des erkennenden Subjekts abhängig, und darum gilt es vor allem - was ja auch für KANT die Hauptfrage war -, die Gesetze aufzufinden, denen gemäß das erkennende Subjekt verfährt, die Formen des Erkennens, die es mit Notwendigkeit aus sich hervorbringt. Dabei wird der Begriff des Apriori von grundlegender Bedeutung (vgl. besonders den Aufsatz über "die Metamorphosen des Apriori" A 208 - 128). Zugleich ergibt sich die Notwendigkeit, den Psychologismus zu bekämpfen, was in sehr scharfsinniger, erfolgreicher Weise geschieht. In dieser Frage stehe ich ganz auf LIEBMANNs Seite, und in der Lehre vom Wesen und von der Bedeutung des Apriori kann ich wenigstens eine gute Strecke mit ihm gemeinsam gehen. Wohltuend ist auch hier, daß er, im Gegensatz zu so manchem Neukantianer, nicht die eigenen Ansichten KANT unterschiebt, sondern seine Abweichungen von ihm rückhaltlos zugiebt, sicher im letzten Ziel der Untersuchung und im eigentlichen punctum saliens [springender Punkt - wp] doch mit ihm übereinzustimmen.


III.

 A priori  ist nach LIEBMANN "nichts anderes, als das für uns und für jede uns homogene Intelligenz streng Allgemeine und Notwendige, das Nichtanderszudenkende, das, wovon unser Geist und sein Erkennen schlechthin geleitet und gelenkt wird (wie die Materie und ihre Bewegungen vom Gravitationsgesetz), welches, über dem empirischen Subjekt und seinem empirischen Objekt gleich erhaben und für beide gleich maßgebend, alle Erfahrung und ihren Gegenstand durchaus beherrscht" (A 98). In teleologischer Gedankenwendung: als unumgängliche, unentbehrliche Mittel zum Zweck der Welterkenntnis müssen dem erfahrungbedingenden Bewußtsein gewisse Attribute oder Funktionen zukommen,  sie  nennt man apriorisch (G II 36).

Indem die Transzendentalphilosophie dieselben festzustellen sucht, darf sie nun aber nicht, wie die vorkantische Lehre von den angeborenen Ideen, vom Begriff einer übersinnlichen Seelensubstanz oder sonst einer metaphysischen oder auch psychologischen Konzeption ausgehen, sondern allein vom Bewußtsein als dem schlechthin Ursprünglichen, der Urtatsache  kat exochen.  Denn in  ihm  ist für uns alle Wirklichkeit ein für allemal beschlossen, von  ihm  und seinen Formen und Normen ist sowohl unser geistiges Leben als die Wissenschaft von demselben: die Psychologie, sowohl das körperliche Sein und Geschehen als die Naturwissenschaft, sowie nicht minder die Metaphysik abhängig. "Unsere" Welt ist die Bewußtseinswelt: wie sie nur "im Rahmen des Bewußtseins" werden konnte, so wird sie "von den immanenten Intellektualformen dieses Bewußtseins schlechterdings beherrscht, gestaltet, reguliert, wie die Bilder im Kaleidoskop von der Konstruktion dieses Instruments und den darin herrschenden Gesetzen der spiegelnden Reflexion." Auch der Begriff der "Seele", ob sie nun angeblich ein spirituelles oder materielles Ding ist, ob "Individualsubstanz oder Modus der all-einen Weltsubstanz", ob "von Natur tabula rasa oder von Gottes Gnaden Ideenmagazin", ist doch zunächst nichts als "ein (gleichviel ob legitimes oder illegitimes) Gedankenprodukt des erkennenden Bewußtseins, innerhalb dessen der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, von räumlichem Universum und psychischer Persönlichkeit, von materieller und geistiger Substanz sich vor uns auftut und nun einmal da ist, ohne daß wir wissen und ahnen können, ob er jenseits jenes Bewußtseins auch noch Bestand hat oder vielleicht jegliche Bedeutung verliert." Und das Epochemachende an KANTs Kritizismus soll vor allem darin liegen, daß er als erster die Unmöglichkeit erkannte, irgendeinen solchen erst im Bewußtsein gewordenen Seelenbegriff der Lehre von den Formen und Gesetzen dieses Bewußtseins zugrunde zu legen. Dadurch "gewinnt das Apriori eine völlig neue Bedeutung, eine kosmische, ja metakosmische; es hört gänzlich auf, sekundäres Anhängsel und Korrollarium [Zugabe - wp] einer spiritualistischen oder monadologischen Metaphysik zu sein; es wird zur Basis, zur Grundlage und Grundvoraussetzung der Welt;  derjenigen  Welt nämlich, die ich mit Augen sehe, mit Ohren höre, mit Händen greife, sowie  derjenigen,  die ich mit dogmatisch denkendem, über Leib und Seele, Materie und Geist spekulierendem Verstand mir in den Traumäther des Übersinnlichen hineinkonstruiere" (A 222 - 224, G II 2 - 4, 35 - 36).

Doch verkennt LIEBMANN durchaus nicht, daß das Apriori neben der metakosmischen Bedeutung auch bei KANT noch eine psychologische hat, sofern "innerhalb der empirischen Welt der intellektuelle Prozeß im Kopf der Einzelperson" den Gesetzen des erkennenden Bewußtseins gemäß verläuft, und daß "in dieser individuell-psychologischen Hinsicht" die Erkenntnisse a priori auch bei KANT noch ebenso wie bei LEIBNIZ als  connaissances virtuelles  [wirkendes Wissen - wp] und  idées innées  [angeborene Ideen - wp] bezeichnet werden können (A 241). Und auch im eigenen Namen gibt LIEBMANN zu, daß, sobald man den Versuch macht, "die Urtatsache des Bewußtseins unter einen logisch-metaphysischen Begriff zu subsumieren", "es nicht wohl anders denkbar ist, denn als Funktion eines fungierenden,  in specie  [im speziellen - wp] vorstellenden und erkennenden Subjekts, welches letztere jedoch an und für sich, d. h. losgelöst und abgesehen von seiner Funktion, sich unserer Erkenntnis und Selbsterkenntnis ein für alle Mal entzieht" (A 251).

Die Transzendentalphilosophie hat demgemäß drei verschiedene Ichs zu unterscheiden: das metaphysische, individuelle und transzendentale. "Das  metaphysische Substrat  des Selbstbewußtseins bleibt uns verborgen und ist das ewig erstrebte, niemals erfaßte Objekt dogmatischer Spekulation. Das  individuelle Ich  oder das einheitliche Subjekt des Bewußtseins unserer eigenen Existenz, welches die ebenbürtige Realität sehr vieler ähnlicher Subjekte neben sich anerkennt, bildet die verschwiegene Voraussetzung und das niegelöste Endproblem der beobachtenden und analysierenden Psychologie. Das  transzendentale Ich  oder das typische Bewußtseinssubjekt der menschlichen Gattungsintelligenz ist die Grundbedingung der ganzen empirischen Welt" (G II 50 - 51).

Dazu möchte ich bemerken, daß bei KANT das metaphysische und das transzendentale Ich oft zusammenfallen, so wenig gewisse erkenntnistheoretische Prämissen es zulassen. Aber einerseits wird das über dem ersteren lagernde Dunkel auf praktischem Gebiet etwas erhellt, andererseits hat KANT seine ganz bestimmten Privatansichten über das Ich ansich, die sich auch da zudrängen, wo sie der Strenge des Systems nach ausgeschlossen sein sollten. Beides bewirkt, daß das metaphysische Ich häufig auch dem Erkenntnistheoretiker KANT aus einem  X  zu einer relativ bekannten Größe wird und dann mit dem transzendentalen Ich verschmilzt.

Der Begriff "typisches Bewußtseinssubjekt der menschlichen Gattungsintelligenz" zwingt mich zu verweilen: er hält eine Anzahl schwerer Probleme in sich verborgen und scheint mir ein Stück Metaphysik inmitten der Transzendentalphilosophie zu sein.

Man könnte sich versucht fühlen, ihn dahin zu interpretieren, das transzendentale Ich sei etwas Typisches, insofern bei jedem Menschen dieselben Formen und Normen des erkennenden Bewußtseins wiederkehren, weshalb man letzteres als menschliche Gattungsintelligenz bezeichnen könne; so rede A 232 davon, die Kritik der reinen Vernunft habe "gleichsam den Gattungstypus der menschlichen Intelligenz herauspräparieren" wollen.

Aber die Seiten G II 36 - 37, 48 - 50 zwingen doch wohl zu einer anderen Deutung. Denn nach ihnen sind "die Attribute und Funktionen des erfahrungbedingenden Ich nicht Seelenkräfte oder Seelenvermögen des individuellen Menschen, sondern etwas, woran der individuelle Mensch beim Welterkennen partizipiert oder wovon er beim Welterkennen beherrscht wird, wie der Verstand beim richtigen Denken von den ewigen Gesetzen der Logik. Dieses transzendentale Subjekt ist jedenfalls auch eine Vorbedingung für das empirische Dasein der Vielheit von Geistern, mit denen das menschliche Individuum im geistigen Wechselverkehr steht, und an deren Realität zu zweifeln, eine Ungereimtheit sein würde": LIEBMANN scheint also ein überindividuelles transzendentales Ich, eine wirkliche Bewußtseinseinheit der menschlichen Gattungsintelligenz, zu der die einzelnen Geister im Verhältnis der Unterordnung oder der Teilnahme stehen, anzunehmen, meinem individuellen Fühlen und Wollen ebensogut wie alle anderen von mir als real anerkannten Geister,  Bewußtseinsinhalt;  und zwar Bewußtseinsinhalt eben jenes erfahrungbedingenden, zeitvorstellenden, mit sich identisch bleibenden, transzendentalen Subjekts, ohne welches wir alle samt der ganzen uns bekannten Welt in der finsteren Nacht des absolut Unerkennbaren verschwinden würden." LIEBMANN selbst erläutert jenes Partizipieren mit PLATONs Lehre, nach der das sinnliche Einzelding an der Gattungsidee teilnimmt ( methechei  [teilhaben - wp]). Nahe liegt auch ein Vergleich mit dem Verhältnis des individuellen Bewußtseins zum abstrakten Ich oder Bewußtsein überhaupt bei SCHUPPE, sowie mit den Stufenreihen über- und untergeordneter Bewußtseinseinheiten bei FECHNER.

Die Annahme einer solchen überindividuellen transzendentalen Bewußtseinseinheit scheint freilich anderen Äußerungen zu widersprechen, in denen LIEBMANNs transzendentales Ich entschieden ein individuelles ist. Das gilt z. B. von der Stelle A 251, 252, aus der oben ein Satz zitiert wurde. Besonders aber ist seine Lehre von der Willensfreiheit nur vom letztgenannten Standpunkt aus verständlich. In jedem einzelnen zurechnungsfähigen Menschen ist nach ihm ein unausrottbares Freiheitsbewußtsein vorhanden, ein Bewußtsein des Auchanderskönnens; Subjekt dieses Bewußtseins aber ist das transzendentale "im Wechsel der Seelenzustände beharrende, seine Identität mit sich erkennende Ich" (G II 88, vgl. 32). Mit einem überindividuellen Ich wäre hier nichts zu machen. Denn der  einzelne  Mensch ist es, der sich frei fühlt; darum muß auch das Subjekt dieses Freiheitsbewußtseins ein  individuelles  sein, nicht aber eine Gattungsintelligenz als Bewußtseinssubjekt gedacht, an der  alle  Menschen gleichmäßig partizipieren.

Aber die Sprache der Seiten G II 36 - 37, 48 - 50 ist doch zu deutlich: sie reden entschieden von einem überindividuellen transzendentalen Ich. Mit ihm zieht freilich, wie schon gesagt, die Metaphysik mit fliegenden Fahnen in die Erkenntnistheorie ein. Denn ein transzendentales Ich oder Bewußtseinssubjekt als beharrlich mit sich selbst identisch bleibende Bewußtseinseinheit, in dem "ich selbst als geistiges Individuum" mit meinem ganzen psychischen Erleben und ebenso "alle anderen von mir als real anerkannten Geister" als Bewußtseinsinhalte gegeben sind, ist weder Erfahrungstatsache noch unentbehrliche erfahrungbedingende Voraussetzung noch eine notwendige Hypothese, um Erfahrungstatsachen begreiflich zu machen, sondern nichts als eine metaphysische Annahme, nicht besser und nicht schlechter als SCHUPPEs Bewußtseins überhaupt oder FECHNERs Gestirnseelen oder SPINOZAs Allsubstanz, deren Modi die Einzelbewußtseins sind. Es mag so etwas vorhanden sein, gewiß! Aber die Transzendentalphilosophie weiß auf jeden Fall nichts davon. Und in der Erfahrung gegeben ist mir stets nur mein eigenes individuelles Bewußtsein.

Insofern ist der theoretische Solipsismus der unvermeidliche erkenntnistheoretische Ausgangspunkt. Beziehe ich gewisse meiner Bewußtseinszustände auf fremde Bewußtseine und betrachte jene als Wiederholungen von Zuständen dieser, so werden dadurch doch die fremden Bewußtseins nie und nimmer  mein  Bewußtseinsinhalt; ich nehme dann nur an, daß gewissen meiner Bewußtseinserscheinungen etwas jenseits meiner Bewußtseinswelt und unabhängig von ihr entspricht, und zwar in Form eines Bewußtseins. Soweit Erfahrungstatsachen und deren Interpolation durch Anerkennung der extramentalen Existenz anderer Geister in Betracht kommen, kennen wir nur die  eine  Möglichkeit, von fremden Bewußtseinsinhalten dadurch Kunde zu bekommen, daß wir sie in uns wiedererzeugen, sie abbilden. Was uns in der Körperwelt zu einer solchen Abbildung veranlaßt, sind Bewegungen, wie vor allem Minenspiel, Luft- und Ätherschwingungen, an die unsere assoziativen Interpolationen, Deutungen, Analogieschlüsse sich knüpfen. Wie weit unsere Abbilder den von uns angenommenen oder erschlossenen oder postulierten Originalen entsprechen, bleibt immer zweifelhaft. Ganz ausgeschlossen aber ist es, daß die  fremden  Bewußtseins samt ihren Inhalt jemals als ansich seiende in  mein  Bewußtsein hinüberspazierten und in ihm enthalten wären als  meine  Bewußtseinsinhalte; das wäre eine  contradictio in adjecto  [Widerspruch in sich - wp]: absolut real und doch zugleich, als  mein  Bewußtseinszustand, phänomenal. Möglich, daß mein Abbild dem absolut Realen genau entspricht, aber dann nur als Abbild, ohne daß aus ihm durch diese Genauigkeit der Korrespondenz das absolut Reale selbst würde.

Das Verhältnis des empirischen Bewußtseins zum Bewußtsein überhaupt bei SCHUPPE, das der niederen zu den höheren Bewußtseinseinheiten bei FECHNER hat also Voraussetzungen, wie die beschränkte menschliche Erfahrungswelt sie nicht bietet: die Art des Bewußt-Werdens und Bewußt-Seins muß eine ganz andere sein, die Schranken, mit denen  uns  unser Bewußtsein nach allen Seiten hin abschließt, müssen dort teilweise fallen. Ganz dasselbe gilt aber, wie mir scheint, auch für LIEBMANNs transzendentales Ich, das mein Ich und das der andern von mir als real erkannten Geister als Bewußtseinsinhalte in sich umfassen soll. Auch dieser Begriff ist durchaus transzendent: um ihn zu konzipieren zu können, muß man sich Verhältnisse erdenken, nicht nur andersartig, als die Erfahrung sie zeigt, sondern zum Teil sogar entgegengesetzter Art.

Mit vollem Recht bezeichnet LIEBMANN das Bewußtsein als das Ursprüngliche, als die Urtatsache  kat exochen  (A 222, G II 3). Nun wissen wir aber unmittelbar nur von  einem  Bewußtsein, vom unsrigen, also einem individuellen. Die Grundnormen und Formen und Funktionen dieses unseres individuellen Bewußtseins gilt es also aufzusuchen, die unabhängig sind von jedem speziellen Inhalt, ihn vielmehr ihrerseits bedingen und also die Voraussetzungen unserer ganzen empirischen Welt, unseres ganzen geistigen Lebens sowie auch der Psychologie als der Wissenschaft von den Erscheinungen und der Entwicklung des letzteren darstellen. Sie sind das Apriori und können nicht auf dem Weg psychologischer Entwicklung und Analogie gewonnen werden, weil die Psychologie als Erfahrungswissenschaft nur mit einzelnen geistigen Akten und Zuständen, als dem allein unmittelbar Gegebenen, zu tun hat. die aber alle jenes Apriori schon voraussetzen und durch dasselbe bestimmt werden. Erkenntnistheorie ist nur möglich in der Form von Rückschlüssen aus der Erfahrung als Tatsache und Wirkung auf ihre Ursachen und Bedingungen. Nun kennt aber jeder nur  eine  Erfahrung: seine eigene; nur von  ihr  kann er also ausgehen, nur von  ihr  aus ihre Bedingungen, das Apriori, erschließen. Zu diesen Bedingungen gehört, wie LIEBMANN mit Recht behauptet, auch die beharrliche Identität des transzendentalen Bewußtseinssubjektes, das, was KANT als das "stehende und bleibende Ich der transzendentalen Apperzeption" bezeichnet (G II 28f). Auch dieses letztere muß daher ein individuelles sein, denn es bildet die Grundvoraussetzung meiner individuellen Erfahrung, und diese Grundvoraussetzung besteht ja in nichts anderem als darin, daß eben  mein  erfahrungsbedingendes Ich - von  anderen  derartigen Ichs weiß ich zunächst nichts! - von beharrlicher Identität ist.

Um nun aber in meiner Bewußtseins-(Erfahrungs)welt Sinn finden zu können, sehe ich mich gezwungen, andere Geister außer mir anzunehmen, fremde Bewußtseine, jenseits des meinen, unabhängig von ihm, jedes ebenso wie ich Subjekt einer Bewußtseins-(Erfahrungs)welt, jedes daher auch mit Grundnormen, Formen und Funktionen ausgestattet, die den meinigen ganz entsprechen. Wie sie mir als Phänomene erscheinen, indem ich die Inhalte ihres Bewußtseins in dem meinen weiterbilde, so ich ihnen.

Dadurch gewinnt nun das Apriori eine neue, höhere Bedeutung: vom individuellen Niveau erhebt es sich auf das metakosmische (welchen Ausdruck LIEBMANNs ich auch von meinem Standpunkt aus gern akzeptiere), es wird zur Bedingung der empirischen Welt, des Kosmos, für jedes dem meinigen ähnliche, speziell also für jedes menschliche Bewußtsein. Das Apriori in diesem Sinn ist die Grundlage aller für die Menschheit jemals erreichbaren Wahrheit, zugleich aber auch die Ursache, weshalb sie stets nur eine relative sein kann, es ist die Grundlage der Wissenschaft, und zugleich die Ursache, weshalb sie für immer in feste, unüberschreitbare Grenzen eingeschlossen ist: es kann und muß dies alles sein, weil es im Verhältnis zur menschlichen Gesamterfahrung das Erfahrungbedingende ist und also gleichsam die Organisation der menschlichen Gattungsintelligenz zum Ausdruck bringt. Letzteres aber nicht in  der  Bedeutung, als ob diese Gattungsintelligenz irgendeine Art des Seins außer oder über den einzelnen Menschen hätte. Zur Erklärung des Tatbestandes genügt ihre gleichmäßige Wiederkehr in allen Individuen.

Daß man aber überhaupt andere Menschen, fremde Bewußtseine außer sich annimmt: das setzt - nach dem Vorhergehenden kann darüber kein Zweifel sein - eine Überschreitung der Grenzen unserer Bewußtseinswelt, einen Sprung in das dunkle Gebiet des Absolut-Realen voraus. LIEBMANN meint zwar vom erkennenden Bewußtsein, jener Urtatsache  kat exochen:  innerhalb seiner entstehe allererst "für das Subjekt eine empirische Körperwelt, ein räumlicher Makrokosmos mit individuellen Geistern darin" (A 222 - 223). Daß aber von einem transzendentalen Ich, das als Bewußtseinseinheit sich und andere Geister als Bewußtseinsinhalte in sich enthielte, die Erfahrung nichts weiß, daß in ihr auch nichts zu jener Annahme als zu einer unentbehrlichen Interpolation hindrängt oder gar zwingt, suchte ich auf den letzten Seiten nachzuweisen.

Auch von einer "reziproken [wechselseitigen - wp] Kausalität", von einer "realen Wechselwirkung zwischen den in der Zeit koexistierenden Individuen", wie LIEBMANN sie G II 50 für die Bewußtseinswelt seines transzendentalen Ich fordert, weiß die unmittelbare, reine Erfahrung nichts zu melden. Nicht etwa deshalb, weil sie stets nur ein post hoc [nacheinander - wp] , nie ein propter hoc [deswegen - wp] zeigt, oder weil das Gesetz der Kausalität, wie LIEBMANN selbst meint, bloß eine Interpolationsmaxime der Erfahrungswissenschaft ist. Beides kommt hier nicht in Betracht, wohl aber die Tatsache, daß eine solche Wechselwirkung zwischen geistigen Individuen ohne eine entsprechende Wechselwirkung auch zwischen Körpern nicht stattfinden kann und daß doch andererseits ein wirklicher Einfluß irgendeines der mich umgebenden Körper auf mich ganz ausgeschlossen ist. Denn ihre empirische Realität in allen Ehren, sie sind doch sämtlich nichts als Phänomene in meinem empirischen Bewußtsein, nichts als Empfindungskomplexe, Farbenflecke etc., von meinem "empirischen Ich" in bestimmten zeitlichen Akten an gewissen Raumstellen objektiviert (oder wie man den Vorgang bezeichnen will). Zieht man alle sekundären Qualitäten von ihnen ab, so bleibt überhaupt nichts übrig. Jede Veränderung in ihnen, jede Bewegung ist eine  Wirkung,  nicht aber eine  Ursache  meines veränderten Bewußtseinszustandes, der eine andersartige Objektivierung meiner Empfindungen nach sich zog. Auch die menschlichen Körper, die meine Erfahrungswelt mir zeigt, sind meine, d. h. meines "empirishen Ichs" Geschöpfe, denn im Lauf meines geistigen Lebens entstehen Empfindungen in mir, die dann, als Farben an bestimmten Orten geschaut oder als Tastempfindungen gefühlt,  das  ausmachen, was mir die sinnliche Erfahrung, unmittelbar und ohne intellektuale Zutaten, von den Menschen zu erkennen gibt. Und das sollte nun auf mich einwirken? in meinen Bewußtseinslauf eingreifen können? dieser Komplex meiner eigenen hinausgeschauten und hinausgetasteten Empfindungen? Nein! Was auf mich einwirkt, muß etwas ganz anderes sein! Nicht jene sekundären Empfindungsqualitäten. Was aber?

Die Antwort auf diese Frage wird ganz verschieden lauten, je nachdem ob man transzendentaler Idealist oder Realist, bzw. wie weit man das eine oder das andere ist. Ich für meine Person betrachte den EUKLIDischen Raum wie die Bewegung in ihm als etwas auch dem  ontos on  Zukommendes und denke oder träume mir das Absolut-Reale in der Form von psycho-physischen Kraftzentren. Von diesem Standpunkt aus kann ich hoffen, daß mein Bewußtseinsraum den Raum des ansich Seienden adäquat rekonstruiert und daß an derselben Stelle (a), wo ich im ersteren einen Menschen in der Gestalt von Farben- und Tastempfindungen sehe und fühle, im erschlossenen (hinzugedachten) transzendenten Raum sich eine Ansammlung von Kraftzentren befindet, von denen die Bewegungen ausgehen, die der naturwissenschaftliche Realismus als die objektive Grundlage der subjektiven Sinnesempfindungen betrachtet, - Bewegungen, die an derselben Stelle (b), wo in meinem Bewußtseinsraum mein Körper (auch wieder ein bloßer Empfindungskomplex) ist, im transzenenten Raum auf eine diesem Körper entsprechende Masse von Kraftzentren stoßen und in ihr gewisse Veränderungen auslösen, die als Empfindungen zum Bewußtsein kommen und in den phänomenalen Raum gerade an die Stelle  a  hinausgesehen und -getastet werden. Was hier also auf mich einwirkt, ist das  ontos on:  die räumlichen Kraftzentren, und als Reaktion auf diese Einwirkungen entstehen in mir die Empfindungen, die alsbald im Raum zu Gegenständen objektiviert werden, die aber, als meine Geschöpfe, nun nicht etwa wieder auf mich zurückwirken können.

Daß diese Ansicht möglich ist, dürfte eben so sicher sein, wie daß sie keine Wissenschaft, sondern Metaphysik und darum Glaubenssache ist.

Wer sich dagegen zur transzendentalen Idealität von Raum und Zeit bekennt, wie LIEBMANN es in seinem Herzen entschieden tut, so vorsichtig auch manche seiner Wendungen lauten, für den ist die Antwort auf die obige Frage bedeutend schwieriger. Das Absolut-Rede kann als unmittelbare Ursache der Einwirkung nicht in Frage kommen, da es sich weder im Raum noch in der Zeit befindet. Da muß man dann, um den naturwissenschaftlichen Realismus als untergeordnetes Moment in seine Auffassungsweise aufnehmen zu können, zu komplizierteren Theorien greifen, sei es, daß man sich, wie KANT an manchen Stellen, besonders in seinem letzten unvollendeten, von R. REICKE herausgegebenen Manuskript vom "Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik", zu der Lehre von der doppelten Affektion des erkennenden Subjekts (durch die Dinge ansich und durch Erscheinungen) bekennt, sei es, daß man aus KANTs "Bewußtsein überhaupt" ein Allgemeinbewußtsein von realer Existenz macht, sei es, daß man mit LIEBMANN das transzendentale Ich als ein übergeordnetes Bewußtsein betrachtet, das die Einzel-Iche samt der Körperwelt als seine Inhalte umfaßt, oder wie sonst die Wege beschaffen sein mögen, auf denen man den von allen Seiten drohenden Schwierigkeiten zu entgehen sucht. Alle diese Theorien haben für meine Auffassung etwas sehr Gekünsteltes und scheinen mir ernsten Einwänden ausgesetzt zu sein, und das eben ist es vor allen Dingen, was mich mit Bezug auf Raum und Zeit dem "transzendentalen Realismus" in die Arme treibt.

Von der metaphysischen Stellungnahme, von der Ansicht über das Absolut-Reale und seine Verhältnisse (Realität oder Idealität von Raum und Zeit) hängt also die Art ab, wie man den Begriff des transzendentalen Ich bestimmt, ob man letzteres vom metaphysischen Substrat des Selbstbewußtseins und vom individuellen Ich streng absondert wie LIEBMANN, oder ob man in ihm die Grundzüge der Intellektualorganisation des Einzelgeistes sieht, dessen metaphysisches An-sich der Wissenschaft für immer unerreichbar bleibt und der, auf Einwirkung des Absolut-Realen hin, aufgrund jener Intellektualorganisation, die er mit jedem seinesgleichen teilt,  das  Bewußtseinsleben und  die  Bewußtseinswelt hervorbringt, die seine geistige und körperliche Wirklichkeit ausmachen.

Diesen Nachweis hier zu liefern, schien mir im Interesse der Transzendentalphilosophie selbst zu liegen, die ja vor allen Dingen zwischen Tatsache und Deutung, Wissenschaft und Metaphysik scharf zu scheiden berufen ist und, wo sie den zweiten Gliedern der Gegensätze Zutritt zu verstatten gezwungen ist, dies wenigstens nur mit dem vollen Bewußtsein der Tragweite des Schrittes tun sollte.
LITERATUR - Erich Adickes, Liebmann als Erkenntnistheoretiker, Kant-Studien, Bd. 15, Berlin 1910
    Anmerkungen
    1) Ich zitiere "Zur Analysis der Wirklichkeit", 3. Auflage als "A"; "Gedanken und Tatsachen Bd. I und II als "G I", "G II", "Kant und die Epigonen" als "K", "Über den objektiven Anblick" als "Obj", "Die Klimax der Theorien" als "Kl".