ra-3P. SzendeW. StarkO. CaspariM. SchelerH.-J. Lieber    
 
WILHELM JERUSALEM
Soziologie des Erkennens

"Dadurch, daß gleiche oder doch ähnliche Dinge mit demselben Namen bezeichnet werden, erhält das Gemeinsame dieser Dinge gleichsam einen Körper und einen Kristallisationspunkt. Es wird dadurch möglich, die Erfahrungen, die man an den Dingen macht, im Wort ökonomisch aufzuspeichern und zur Verwertung bereit zu halten. Der so entstandene Wortbegriff ist ein ökonomisch Allgemeines, das wiederum einen sehr bedeutsamen sozialen Faktor enthält. Alle Sprachgenossen verstehen das Wort und gebrauchen es in ähnlicher Weise. Die im Wortbegriff verdichteten Erfahrungen sind als eine Gemeingut der Sprachgenossen und jeder Einzelne hat Anteil daran."

"Zur wirksamen Macht kann die Wahrheit nur dadurch werden, daß sie von der Gesamtheit anerkannt und in die Tat umgesetzt wird. Auch objektive Wahrheiten müssen zu sozialen Verdichtungen werden, wenn sie Festigkeit und Wirksamkeit erhalten sollen."

"Daß der Mensch als Herdentier begann und sich erst nach und nach zur Persönlichkeit entwickelte, ist eins der sichersten und zugleich eins der wichtigsten Ergebnisse der Soziologie."

Gegenstand der Soziologie ist die zur Einheit verbundene Menschengruppe. Jede solche Gruppe ist mehr und ist etwas anderes als die Summe der Einzelwesen, aus denen sie besteht. Es ist da immer eine überpersönliche Art von Gemeinschaft, und zwar immer eine Gemeinschaft des Zieles und des Strebens. Als sprachliche und historische Gemeinschaft tritt sie uns in der Nation, im Volk entgegen, als Rechtsgemeinschaft im Staat, als Interessengemeinschaft in den Zünften, Innungen und Vereinen, als Glaubens- und Gesinnungsgemeinschaft in der religiösen Gemeinde und schließlich als ideale Kulturgemeinschaft im Begriff der  Menschheit.  Die Gruppe hat auf jedes ihrer Mitglieder einen starken Einfluß. Sie gibt ihm Impulse und schafft oder beseitigt Hemmungen. Das Werden und das Sein, das Fühlen und das Handeln des Einzelnen wird von der Gruppe beeinflußt. Jede Gruppe ist dabei immer Schöpferin und Gestalterin. WUNDTs großer Gedanke von der schöpferischen Synthese in der geistigen Entwicklung tritt uns in jeder sozialen Gruppe leibhaft und greifbar vor Augen. Durch die Gemeinschaft der Individuen entsteht etwas Neues, Überpersönliches, das dem Einzelnen sich gegenüberstellt und das doch wieder durch die Arbeit der Individuen vermehrt und modifiziert wird. Der Soziologie fällt nun die schwere, aber auch dankbare Aufgabe zu, die Einflüsse von Gesellschaft und Individuum auf den verschiedenen Gebieten zu untersuchen. Mit dieser Arbeit wollen wir uns auch heute beschäftigen. Ich habe ein Gebiet gewählt, auf dem das soziologische Moment bisher noch wenig beachtet wurde: die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis. Ich will versuchen, zu zeigen, daß im Erkennen der soziale und der individuelle Faktor stets zusammenwirken und daß die Gestaltung wie die Geltung der menschlichen Erkenntnis erst dann richtig begriffen und gewürdigt werden kann, wenn man sie im Licht der sozialen Entwicklung, insbesondere der sozialen Differenzierung betrachtet. Die vollständigen Ergebnisse meiner Untersuchungen hoffe ich in nicht allzu ferner Zeit in einem Buch bekannt zu machen. Hier sollen nur die Richtungslinien gezogen und die wichtigsten Punkte kurz bezeichnet werden. Die Behauptung, daß in der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis der soziale Faktor Bedeutung hat, ist zunächst eine banale Selbstverständlichkeit. Wir alle wisen, daß wir sprachliche Mitteilungen von unseren Mitmenschen erhalten und dadurch Allerlei erfahren. Daß in der wissenschaftlichen Forschung eine Gemeinschaft der Arbeit besteht, die in den letzten Jahren immer großartiger organisiert wird, daß kein Forscher die früher erreichten Resultate entbehren kann: das Alles braucht ja nicht erst gesagt zu werden. Doch darf man auch nicht vergessen, daß der einzelne Forscher, der etwas Neues gefunden zu haben glaubt, ganz durchdrungen davon ist, daß diese Entdeckung seine ureigenste Tat ist, daß er sie nur sich und sonst keinem zu verdanken hat. Die Zeit, in der er sie gemacht hat, war die, wo er, von der Welt abgesondert, sich am Tiefsten in sein eigenen Sinnen versenkt hatte. Seinem eigenen Scharfsinn, seinem angestrengten Fleiß, seiner Kombinationsgabe, seinem Tiefblick ist diese Bereicherung der Wissenschaft zu verdanken. Er wird deshalb den größten Wert darauf legen, daß die Entdeckung als seine Tat betrachtet und anerkannt wird. Von einem sozialen Faktor, der dabei mitgewirkt haben soll, wird er nichts wissen wollen. Die unzergliederte Erfahrung lehrt uns also, daß der soziale Faktor in der Erkenntnis zwar als unleugbar betrachtet und dennoch entschieden geleugnet wird. Daraus folgt aber nur, daß die Soziologie, wie jede andere Wissenschaft, bei der unzergliederten Erfahrung des  common sense  nicht stehen bleiben darf. Wir müssen tiefer graben und dürfen namentlich nicht den Höhepunkt der Erkenntnis, den Wissenschaftsbetrieb, zum Ausgangspunkt wählen. Wir müssen in die Kinderstube hinab und in die Urzeiten der Menschheit hinaufsteigen, wir müssen zu den Quellen und zu den Triebfedern des Erkennens vorzudringen suchen, um da festzuhalten, was die Gesamtheit und was der Einzelne leistet. Vielleicht zeigen sich da neue Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Erkenntnis und der Entfaltung des Lebens.

Das Seelenleben des Urmenschen ist für uns niemals vollständig zu rekonstruieren. Die Analogie mit dem Kind gibt da wohl einigen Aufschluß, führt aber oft in die Irre. Der gegenwärtige Geisteszustand der Naturvölker wäre sehr belehrend, aber nur wenige Reisende sehen da klar und scharf genug. Da gibt es dann ein Gebiet seelischer Betätigung, wo es uns relativ am Leichtesten möglich ist, uns in den primitiven Menschen hineinzudenken, weil wir in uns selbst oder in unserer Umgebung noch annähernd Ähnliches erleben können. Ich meine die Glaubensüberzeugungen und Gefühle, die Hoffnungen und Wünsche, alle die Erlebnisse, die wir in dem Wort  Religion  zusammenzufassen gewohnt sind. Auch Menschen, die alle Religion von sich getan zu haben glauben, können Situationen und Augenblicke erleben, wo ihnen die Existenz unsichtbarer geistiger Mächte, von denen sich der Mensch abhängig fühlt, doch nicht ganz aus dem Bereich aller Möglichkeit verbannt zu sein scheint. Sicher ist bei den meisten Menschen zumindest so viel davon zu finden, daß sie fähig sind, die Glaubensvorstellungen primitiver Menschen, wenn nicht zu teilen, so doch zu begreifen. Gerade die Entstehung und Entwicklung der religiösen Überzeugungen ist so recht geeignet, den sozialen Faktor in der Bildung von Urteilen und Meinungen ins rechte Licht zu setzen.

Die reiche Mannigfaltigkeit, in der uns die Religionen der Naturvölker entgegentreten, ist von der vergleichenden Wissenschaft auf zwei Grundformen zurückgeführt worden, die wir kurz als Naturverehrung und als Seelenkult bezeichnen. Die Naturverehrung hat ihren letzten Grund in der in allen Menschen lebenden Tendenz, die Vorgänge ihrer Umgebung nach einer Analogie der menschlichen Willenshandlungen zu deuten und damit zu verlebendigen. Ich habe dieses allgemeine psychologische Gesetz die fundamentale Apperzeption genannt und nachgewiesen, daß die Gliederung des Satzes in Subjekt und Prädikat die deutlichste und zugleich bedeutsamste Verifizierung dieses Gesetzes ist. Die belebende Auffassung der Umgebung ist noch dadurch charakterisiert, daß wir den Willen oder die Kraft immer in das Innere des Dinges hineinverlegen. Der primitivste Mensch sieht sich infolge dieser ihm ursprünglichen und natürlichen Auffassung von einer Unzahl mächtiger Dämonen umgeben und bedroht. Völker, die auf einer niedrigen Stufe stehen bleiben, lassen diese Dämonen fast ganz gestaltlos. Jedes Ding in ihrer Umgebung, das nur irgendetwas Auffallendes an sich hat, kann der Sitz eines solchen Dämons sein. Der Schwarze von Neuguinea trägt ein Holzklötzchen, einen Strohhalm, einen Stein in sein Haus und erweist dem darin vermuteten Dämon gewisse Ehren. Die zur Kultur veranlagten Völker sind über diese Phase, die gewiß auch sie durchgemacht haben, bald herausgekommen. Sie haben den unsichtbaren Mächten tierische oder menschliche Gestalt verliehen und dadurch höhere religiöse Gebilde geschaffen. Hier zeigt sich nun der soziale Faktor sofort wirksam.

Stellen wir uns vor, daß unter den Griechen zuerst ein Einzelner die Phantasievorstellung bildete, daß die Sonne ein Wagen mit zwei Pferden ist, den der Sonnengott lenkt. Solange er allein bleibt, ist dieses Phantasieerlebnis eine Seifenblase, die spurlos vergeht. Erst wenn er seine Idee mitteilt, wenn Andere Ähnliches erlebt haben und ihm zustimmen, bekommt die Vorstellung eine gewisse Festigkeit, die ihre Erhaltung und Fortpflanzung ermöglicht. Alle Göttergestalten, die von Indern, Persern, Ägyptern, von Babyloniern und Griechen, von Römern, Germanen, Kelten und Slawen jemals angebetet wurden, sind soziale Verdichtungen von Phantasieerlebnissen, die eben dadurch Festigkeit und Wirksamkeit erlangt haben. Noch deutlicher ist das vielleicht beim Seelenkult. Der Glaube an die Seelen der Verstorbenen wird durch keine direkte sinnliche Wahrnehmung gestützt. Man hat deshalb den Ursprung dieses Glaubens, wie ich meine, ganz richtig in den Traumerlebnissen gesucht. Es ist kein Zweifel, daß Kinder und Urmenschen das im Traum Vorgestellte als etwas tatsächlich Erlebtes, als etwas Reales empfinden. Stellen wir uns nun vor, daß etwa der Häuptling eines Stammes im Kampf gefallen ist. Wahrscheinlich wird mancher Stammesgenosse von diesem bedeutsamen Ereignis in der nächsten Nacht träumen. Jeder Einzelne betrachtet diesen Traum als wirkliches Erlebnis und glaubt, der Verstorbene sei ihm in der Nacht leibhaftig erschienen. Wenn er nun von diesem Ereignis nicht weiter spricht, so hat er es bald vergessen und es hat keine weiteren Folgen. Wenn er es aber Anderen erzählt und diese Anderen Ähnliches erlebt haben, bekommt die Erscheinung des Häuptlings Realität. Die Bestätigungen bestärken die Stammesgenossen in dem Glauben, daß der Verstorbene in ihrer Nähe weilt und daß er an ihren Geschicken teilnimmt. Der Tote ist noch da, er kann nützen und schaden: und so empfiehlt es sich, ihm Dienste zu erweisen. Der so entstandene Ahnenkult, der besonders in Japan entwickelt ist, beruth also auf dem, was ich soziale Verdichtungen nannte. Ohne die gegenseitige Bestärkung können weder Göttergestalten noch die Seelen Verstorbener die genügende Festigkeit und Wirksamkeit erhalten. Durch die Autorität der Eltern und Priester wird dann dieser Glaube fortgepflanzt und wird zum unveräußerlichen Bestandstück des seelischen Inventars. Dasselbe aber, was wir hier für die Naturreligionen konstatiert haben, vollzieht sich auch bei den Religionssystemen, die von großen Persönlichkeiten gestiftet werden.  Buddhas  und  Mohammeds  Visionen werden zu wirkenden Kräften erst dadurch, daß ihre Anhänger sie zu sozialen Verdichtungen ausgestalten.

Die soziale Verdichtung vermag also seelischen Gebilden, die der Phantasie, dem Traumleben, der Vision ihren Ursprung verdanken, einen hohen Grad an Festigkeit zu verleihen. Die Urteile, zu denen solche Vorstellungen Anlaß geben, werden von vielen Menschen viele Generationen hindurch für wahr gehalten und zur Richtschnur des Handelns genommen. Die soziale Verdichtung beschränkt sich aber nicht auf dieses Gebiet. Sie nimmt vielmehr auch in ganz konkreten Erfahrungen des täglichen Lebens, in den darauf gegründeten Urteilen und den dadurch veranlaßten Maßnahmen einen sehr großen Raum ein. Wir entscheiden uns im Leben fast immer aufgrund von größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeiten und können fast niemals das Eintreten voller mathematischer Sicherheit abwarten. Dabei ist aber der Umstand, daß auch Andere so denken und handeln, für uns von der allergrößten Bedeutung; und darin liegt die Wirkung der zahlreichen sozialen Verdichtungen, unter deren Einfluß wir stehen. So sind unsere Ansichten über die Nützlichkeit oder Schädlichkeit des Genusses von Alkohol, des Rauchens, die verschiedenen Arten von Sport nicht etwa das Resultat selbständiger Überlegungen, sondern soziale Verdichtungen, die in solchen Dingen unser Meinen und unser Tun bestimmen. Selbst wissenschaftliche Theorien sind zum nicht geringen Teil durch Tradition fortgepflanzte soziale Verdichtungen, die neuen Anschauungen gegenüber sich oft als schwer zu besiegender Widerstand geltend machen. Das Phlogiston, die Fernwirkung, der  horror vavui,  auch die Atomtheorie sind bekannte Beispiele dafür. Deshalb müssen die überlieferten Begriffe einer Wissenschaft von Zeit zu Zeit revidiert werden. Unter den lebenden Forschern hat keiner diese Revisorarbeit so kräftig und erfolgreich besorgt wie ERNST MACH. Und gerade er hat immer wieder darauf hingewiesen, daß grundlegende wissenschaftliche Prinzipien, wie, zum Beispiel, das von der Erhaltung der Arbeit, im instinktiven, also ganz und gar sozial bedingten Denken vorgebildet sind.

Um nun zu zeigen, daß nicht nur Phantasiegebilde, sondern auch Produkte des nüchternen, auf das Tatsächliche gerichteten Denkens der sozialen Verdichtung bedürfen, will ich jetzt, wo unser Blick für den sozialen Faktor geschärft ist, einen Schritt weitergehen und die Elemente des empirischen und des wissenschaftlichen Erkennens auf ihre sozialen Gehalt untersuchen.

Wir denken in Begriffen und das charakteristische Merkmal des Begriffs ist seine Allgemeinheit, sein repräsentativer Charakter. Der Begriff  "Mensch"  repräsentiert in unserem Denken alle Menschen, weil durch das Wort alle Merkmale, die allen Menschen gemeinsam sind, in eine ideale Einheit zusammengefaßt werden. Man hat oft gefragt, wie wir dazu gekommen sind, so viele Einzeldinge in einem einzigen Denkakt zusammenzufassen. Die Beantwortung dieser Frage ist meiner Überzeugung nach nur möglich, wenn man sich vorher klar macht, daß alle seelischen Vorgänge Lebensvorgänge sind und auf die Erhaltung des Individuums und der Gattung gerichtet sind. Nur die biologische Betrachtungsweise kann hier Klarheit schaffen. Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich das Problem des Allgemeinen durch meine Theorie der typischen Vorstellungen ("Lehrbuch der Psychologie", vierte Auflage, Seite 97f) zu lösen versucht. Indem ich diese Theorie kurz darlege und zugleich weiterentwickle, wird das soziale Moment klar hervortreten.

Für den Urmenschen sind, wie für das ganz kleine Kind, die Dinge der Umwelt noch keine selbständigen, in ihren Einzelheiten interessierende Gegenstände, sie sind vielmehr nur Anlässe zu Angriffs- und Abwehrbewegungen. Was keine solche Reaktion hervorruft, ist auf dieser Entwicklungsstufe für das Bewußtsein einfach nicht vorhanden. Wenn wir diese Tatsache vom Standpunkt unsere voll entfalteten Bewußtseins aus klar formulieren wollen, so können wir sagen: dem primitiven Menschen kommen nur die biologisch bedeutsamen Merkmale der Dinge zu Bewußtsein. Das heißt: im Urzustand bemerkt der Mensch nur, was unmittelbar mit seiner Lebenserhaltung zusammenhängt. Es ist nicht etwa so, daß er von den anderen Merkmalen die Dinge abstrahiert, nein: er weiß von diesen Merkmalen gar nichts. Den Inbegriff dieser biologisch bedeutsamen Merkmale eines Dings nenne ich nun die typische Vorstellung dieses Dings. Diese Vorstellung ist anschaulich lebendig und hat zugleich repräsentativen Charakter. Alle Dinge nämlich, die diese Merkmale haben, veranlassen mich zu denselben Reaktionen, und "worauf in gleicher Weise reagiert wird, das fällt unter einen Begriff" (MACH, Wärmelehre). Die so entstandene typische Vorstellung, die Vorläuferin des logischen Begriffs, enthält nun einen von mir selbst bisher übersehenen sozialen Faktor. Der Mensch hat zweifellos als Herdentier begonnen, und solange er ganz Herdentier bleibt, reagieren die einzelnen Menschen auf die Dinge der Umgebung in blinder instinktiver Nachahmung einfach so, wie sie die anderen Wesen reagieren sehen. Aus diesen nachgeahmten Reaktionen bilden sich aber bei den Einzelnen die typischen Vorstellungen der gewöhnlich vorkommenden Dinge. Die typische Vorstellung hat also gar nichts individuell Bestimmtes und individuell Gefärbtes. Sie stellt vielmehr mit ihren fast eingeübten Reaktionstendenzen die Höhe der Anpassung an die Durchschnittsumgebung dar, zu der es die Herde bis jetzt gebracht hat. Die typische Vorstellung ist also ebenfalls eine soziale Verdichtung. Das Allgemeine, das sie enthält, ist ein biologisch Allgemeines, das durch soziale Verdichtung gefestigt ist.

Einen wichtigen Schritt in der Weiterentwicklung des begrifflichen Denkens bringt die Entstehung der Sprache. Dadurch, daß gleiche oder doch ähnliche Dinge mit demselben Namen bezeichnet werden, erhält das Gemeinsame dieser Dinge gleichsam einen Körper und einen Kristallisationspunkt. Es wird dadurch möglich, die Erfahrungen, die man an den Dingen macht, im Wort ökonomisch aufzuspeichern und zur Verwertung bereit zu halten. Der so entstandene Wortbegriff ist ein ökonomisch Allgemeines, das wiederum einen sehr bedeutsamen sozialen Faktor enthält. Alle Sprachgenossen verstehen das Wort und gebrauchen es in ähnlicher Weise. Die im Wortbegriff verdichteten Erfahrungen sind als eine Gemeingut der Sprachgenossen und jeder Einzelne hat Anteil daran. Auch der Wortbegriff ist eine soziale Verdichtung. Das gibt ihm seine Festigkeit und Wirksamkeit. Wenn sich der Inhalt des Wortbegriffs je nach den neuen Erfahrungen auch stetig ändert, so vollzieht sich diese Änderung doch langsam und man kan für einen gewissen Zeitraum, in dem die sozialen Zustände keine große Umwälzung erleben, von einer relativen Stabilität der Wortbedeutungen sprechen.

Die typische Vorstellung und ihr Biologisch-Allgemeines, der Wortbegriff und das in ihm enthaltene Ökonomisch-Allgemeine, sind beide soziale Verdichtungen. Sie bezeichnen den Grad der Anpassung und die Gesamterfahrungen einer Menschenherde. Der Einzelne ist auf dieser Entwicklungsstufe in seinem Denken ebenso sozial gebunden wie in seinem Wollen und Handeln. Wahr ist für jeden das, was alle glauben, worin alle übereinstimmen. Dies gilt für die empirische Beurteilung der Umwelt genau wie für die religiösen Vorstellungen.

Der primitive Mensch z. B. ist ebenso fest davon überzeugt, daß jeder Todesfall durch irgendeinen Dämon oder Zauberer hervorgerufen wird, wie etwa davon, daß der Dattelbaum Datteln gibt. Vielleicht würde er eine Änderung in der empirischen Welt sogar noch eher für möglich halten als in der religiösen. Für diese Stufe reichen die sozialen Verdichtungen, die in den typischen Vorstellungen und in den Wortbegriffen vorliegen, aus. Erst wenn der Mensch aus der Herde heraustritt, wenn er sich individualisiert, schafft er sich präzisere Denkinstrumente.

Wie diese Individualisierung vor sich ging, ist oft geschildert worden. Der Ackerbau, der die Menschen seßhaft machte, führte zur Entstehung von Dörfern, aus denen sich Städte und dann größere Gemeinwesen entwickelten. Dabei vollzieht sich die weitaus bedeutsamste Veränderung im Wesen des Menschen infolge der sozialen Differenzierung durch eine immer weitergehende Teilung der Arbeit. Die urzeitliche Herde gliedert sich in Klassen, Stände und Berufszweige. Die Teilung der Arbeit führt zu einer Differenzierung der Interessen und damit zu einer Differenzierung der Charaktere. Der Einzelne muß in Wettbewerb treten mit seinen Berufsgenossen und findet auch in einem immer komplizierter werdenden Gemeinwesen ein reiches Feld der Tätigkeit. Der Kampf löst ganz neue seelische Kräfte aus. Der Herdenmensch entfaltet sich zu einer selbständigen, eigenartigen und eigenberechtigten Persönlichkeit. Der Kulturbesitz der Menschen wird durch die so entfalteten Kräfte in ungeahnter Weise bereichert. Neue Bedürfnisse entstehen, und indem man sie zu befriedigen sucht, werden immer neue Kulturgüter geschaffen. Der Einzelne macht sich unabhängiger von der überlieferten Sitte, von einem überlieferten Glauben. Er wird selbständig in seiner Zielsetzung, in seinem Wollen und damit auch in seinem Denken.

Schon der Ackerbau zwang den Menschen, sich entferntere Ziele zu setzen. Er muß die Aussaat machen und auf die Ernte warten. In der Zwischenzeit muß er auf alles achten, was seinen Zwecken dienen kann. All das nimmt größere Dimensionen an, wenn sich in einem komplizierten Gemeinwesen Handel und Gewerbe entwickeln, wenn Politik und Verwaltung das Nachdenken in Anspruch nehmen. In der Nomadenherde wurden die Dinge der Umgebung nur so weit beachtet, wie sie eine augenblickliche Maßregel erforderten. Die Deutung und Verwertung der Eindrücke floß in  einem  Akt zusammen. Das ist jetzt anders geworden. Zwischen Deutung und Verwertung schaltet sich eine oft recht große Wartezeit ein. Jedes einzelne Ding, jede Tatsache kann für meine entfernteren Zwecke bedeutsam werden. Wir lernen allmählich auf Vorrat urteilen, indem wir nicht mehr die augenblickliche Verwertung, sondern die mögliche Verwertbarkeit in der Zukunft beachten. Aus diesem Urteilen auf Vorrat konnte erst  das  entstehen, was wir heute theoretisches Denken nennen. Wir lernen feinere Unterscheidungen machen, und wie sich die Menschenherde differenziert und gegliedert hat, so differenziert und gliedert sich auch die Umwelt. Auf dem engeren Gebiet, das sich jetzt der Einzelne zur Bearbeitung wählt, gewinnen aber auch die einzelnen Dinge, ganz abgesehen von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gattung, ein großes Interesse und damit eine neue Bedeutung. Für den selbständig gewordenen Menschen, der sich selbst als Einzelweisen fühlt, hat auch das einzelne Ding, die einzelne Tatsache ihre Eigenberechtigung. Zu dieser Erkenntnis des Individuellen, zu liebevoller und genauer Beobachtung der einzelnen Dinge und Tatsachen wurde der Mensch aber erst fähig, als er sich selbst zu einer eigenartigen, ihres Wertes sich bewußten Persönlichkeit hinaufdifferenziert hatte.

Die soziologische Betrachtung des Erkenntnisprozesses hat also ergeben, daß die gewöhnliche Auffassung der Psychologen, wonach wir von individuellen Wahrnehmungen zu vagen Allgemeinvorstellungen und von da zu streng logischen Begriffen aufsteigen, dem wirklichen Gang der Entwicklung nicht entspricht. Unsere Erkenntnis beginnt vielmehr mit vagen typischen Vorstellungen, die dann durch Wortbegriffe etwas genauer bestimmt werden. Diese beiden aber wecken ebenso wie die Phantasieerzeugnisse des religiösen und mythischen Denkens nur dadurch Erkenntnis, daß sie soziale Verdichtungen sind. Das Denken der Menschheit beginnt mit sozialen Verdichtungen und erst das Heraustreten des Menschen aus der Herde, erst die Ausbildung selbständiger Persönlichkeiten durch soziale Differenzierung führt uns über die sozialen Verdichtungen hinaus zur objektiven Erkenntnis der Tatsachen und Gesetze. Zum sozialen Faktor muß erst der individuelle kommen, wenn wirkliche Erkenntnis entstehen soll.

Die Wirkung dieses individuellen Faktors auf die allmähliche Gestaltung des menschlichen Erkennens zu untersuchen, ist eine höchst reizvolle, gewiß sehr lohnende, aber, wie ich glaube, heute noch nicht ganz zu bewältigende Aufgabe. Dazu fehlen noch wichtige historische Vorarbeiten. Ich will deshalb nur auf zwei Richtungen hinweisen, in denen sich diese Wirkung des individuellen Faktors bisher bewegt hat.

Der selbständig gewordene Mensch will sich zunächst von den Banden der sozialen Verdichtungen befreien. Er will nicht die überlieferten Meinungen über die Dinge, sondern die Dinge selbst kennenlernen. Er gibt dem Erkennen die Richtung auf das Objektive. Wahr ist nicht mehr, was alle glauben, sondern, was durch genaue Beobachtung und Messung an den Dingen selbst konstatiert ist. Wir untersuchen die Dinge und Vorgänge mit unseren Sinne und Instrumenten, damit wir genau wissen, was wir von ihnen zu erwarten haben. Indem wir auf die Regelmäßigkeiten des Geschehens achten, erfahren wir immer genauer, daß nicht  alles  aus  allem  werden kann, daß wir anhand der Erfahrung unsere Erwartung einschränken müssen, und in dieser Einschränkung bestehen, wie MACH zuerst gesehen hat, die Naturgesetze. An die Stelle des intersubjektiven Kriteriums der Wahrheit, das in der Übereinstimmung der Denkgenossen bestand, tritt als objektive Kriterium das Eintreffen der Voraussagen. Darin zeigt sich wieder die aktivistische Richtung auch des rein theoretischen Denkens, dem der Zusammenhang mit seinem Mutterboden, dem Selbsterhaltungstrieb, nie ganz verloren geht. Die Wahrheit ist immer eine Richtungslinie für menschliches Handeln. Deshalb behält auch der soziale Faktor seine Bedeutung. Der einzelne Forscher mag eine neue Wahrheit ganz allein und unabhängig gefunden haben, er mag ihre objektive Gültigkeit durch das Eintreffen der Voraussagen unwiderleglich bewiesen haben. Zur wirksamen Macht kann die Wahrheit doch nur dadurch werden, daß sie von der Gesamtheit anerkannt und in die Tat umgesetzt wird. Auch objektive Wahrheiten müssen zu sozialen Verdichtungen werden, wenn sie Festigkeit und Wirksamkeit erhalten sollen.

Durch die Richtung auf das Objektive hat der individuelle Faktor im Verein mit dem sozialen Faktor die Wissenschaft geschaffen und damit dem Menschen Macht über die Dinge gegeben. Das selbständig gewordene Individuum hat aber seine gesteigerte Erkenntnisfähigkeit auch in einer anderen Richtung betätigt, wo sie in ganz anderer Weise gewirkt und durchaus nicht einwandfreie Ergebnisse geliefert hat. Diese Richtung weist, im Gegensatz zu der bisher betrachteten, auf das Subjektive.

Alle sozialen Verdichtungen, mögen sie als Sitte und Brauch, als empirische Erkenntnis oder als Religion auftreten, sie alle zitiert die erstarkte Persönlichkeit vor das Forum der eigenen Vernunft. Hier soll endgültig entschieden werden, was wahr und was gut ist. Der Glaube an diese Allmacht der eigenen Vernunft ist seit den Tagen des PYTHAGORAS und PLATON bei Mathematikern und Philosophen immer fester geworden. Die Mathematiker haben Erkenntnisse gefunden, die sich in der Erfahrung allgemein bewähren. Sie haben der Naturwissenschaft durch eine immer abstraktere und immer verfeinertere Bearbeitung der Zahlbegriffe überaus präzise Denkmittel in die Hand gegeben, mit deren Hilfe die Fortschritte der Physik und Chemie erzielt und für die Technik verwertet werden konnten. Die Arbeit des abstrakten Denkens ist dabei so groß, daß die Mathematiker den empirischen Ursprung und die stete Kontrolle durch die Erfahrung leicht übersehen. Die Philosophen glauben nun, die Methode, die sich auf dem Gebiet der Zahlenbeziehungen so bewährt hat, auf das Universum anwenden zu dürfen. Wahr ist für Menschen, die an die Allmacht der Vernunft glauben, nun nicht mehr  das,  was alle glauben, auch nicht das, was sich durch Sinneswahrnehmung als objektiv gültig erweist. Wahr sind vielmehr einzig und allein die Gedanken, die harmonisch zusammenstimmen und sich widerspruchslos zu Ende denken lassen. Wahrheit ist also nichts anderes als Denknotwendigkeit. Der individualistische Ursprung dieses Wahrheitsbegriffs ist bisher nicht erkannt worden, weil nie versucht wurde, die Entwicklung der Erkenntnis soziologisch zu beleuchten.

Alle großen Systeme genialer Philosophen zeigen, bei allem Streben nach Objektivität und Allgemeinheit, diese Richtung auf das Subjektive. Die Denkphantasie des Weltweisen ist überall geschäftig, innere Lücken auszufüllen und Klüfte zu überbrücken. Denn es soll etwas Ganzes geschaffen werden, weil nur ein Ganzes dem Bedürfnis der sich selbst als Einheit fühlenden Persönlichkeit entspricht. So großartig nun auch manche dieser Konzeptionen uns erscheinen: sie haben doch etwas Gefährliches an sich. Sie stehen da wie gastliche Gebäude, die uns zum Eintritt einladen. Der geistvolle Hausherr stellt uns all seinen Besitz zur Verfügung, wir sind der Welt auf eine Zeit entronnen, wir fühlen uns sicher geborgen in den idealen Räumen. Es gewährt eine Art ästhetischen Behagens, sich ganz in ein großes System hineinzudenken. Aber ich kann nicht zugeben, daß das Ziel der Philosophie das ästhetische Behagen ist. So hoch ich auch den ethischen Wert der Freude am Schönen einschätze und so groß mir deshalb auch der Kulturwert der Kunst erscheint: die Philosophie hat eine andere Aufgabe. Dem Denker ziemt nicht Beschaulichkeit, sondern Arbeit.

Es wird keine leichte Aufgabe sein, den objektiven und den subjektiven Faktor in den Systemen den großen Denker scharf voneinander abzugrenzen. Beide Faktoren sind oft so ineinander verschlungen, daß ein sehr geübter Blick dazu gehört, sie von einander zu scheiden. Bei den großen Vertretern der Metaphysik, namentlich bei PLATO, SPINOZA, HEGEL, wird man neben einem starken und erfolgreichen Wirklichkeitssinn durch eine tiefdringende psychologische Analyse immer auch ein gutes Stück Mystik finden, ein Versenken in die eigene Seele, aus der sich das Wesen des Universums erschließen soll. Haben wir aber einmal diese beiden Richtungen im Denken der selbständig gewordenen Persönlichkeit erkannt, so muß diese Scheidung gelingen. Wir werden dann den Wert des philosophischen Systems nach  dem  bemessen, was darin an objektiver Erkenntnis enthalten ist, mag sich diese Erkenntnis nun auf die Natur oder auf den Menschengeist beziehen. Dabei werden wir immer noch den subjektiven Faktor des Systems, die darin enthaltene Kraft der Denkphantasie oder die Höhe der sittlichen Forderung persönlich bewundern dürfen. Immer aber werden wir es als Aufgabe des Philosophen ansehen, den Blick auf das Ganze zu richten und die Hände nicht in den Schoß zu legen.

Die Philosophie darf das selbständig gewordene, in sich erstarkte Individuum nicht zur Isolierung führen; sie darf den Menschen nicht der Menschheit entfremden. Daß der Mensch als Herdentier begann und sich erst nach und nach zur Persönlichkeit entwickelte, ist eins der sichersten und zugleich eins der wichtigsten Ergebnisse der Soziologie. Unsere Betrachtung hat gezeigt, daß auch die Entwicklung der Erkenntnis diesen Weg gegangen ist. Der menschliche Verstand arbeitet anfangs nur mit sozialen Verdichtungen. Solche allgemeinen Vorstellungen und Wortbegriffe sind seine Denkmittel. zur objektiven und genauen Beobachtung des Einzelnen ist er noch unfähig. In gewissem Sinn aber bleibt das Denken immer (das können wir jetzt hinzufügen) unter der Herrschaft der sozialen Verdichtungen. Wir operieren heute noch mit typischen Vorstellungen und mit Wortbegriffen mehr, als wir glauben. Das selbständig gewordene Individuum lernt das Einzelne genau beobachten und vermehrt durch diese Richtung auf das Objektive den Wahrheits- und den Kulturbesitz der Menschheit. Dazu aber müssen die objektiven Wahrheiten zu sozialen Verdichtungen werden, weil sie nur dann ihre Wirkung zeigen. Die Erstarkung des Individuums führt aber auch zum Glauben an die Selbstherrlichkeit der Vernunft. Dem daraus entstehenden zu starken Individualismus in der Erkenntnisentwicklung muß nun die Soziologie entgegenwirken. Sie muß darauf hinweisen, daß die menschliche Vernunft ihre Schranke findet an den Objekten und ihr Betätigungsgebiet in der sozialen Förderung der Menschheit. Der Mensch befreit sich nicht, um sich von der Gesellschaft, die er nicht entbehren kann, zu isolieren, sondern, um ihr neue Kräfte zuzuführen.

Die Soziologie muß ferner darauf hinweisen, daß die Wahrheit der Erkenntnisse immer zugleich eine Richtungslinie für das Handeln ist. Der von Amerika gekommene Pragmatismus betont den aktivistischen Charakter der Wahrheit und berührt sich in diesem Punkt mit den Bestrebungen der Soziologie. Wir kämpfen gemeinsam gegen die allzugroße Beschaulichkeit der Philosophie. Wir wollen die Philosophen daran erinnern, daß sie sich heute nicht mehr, wie zu den Zeiten des PYTHAGORAS, den Luxus erlauben dürfen, Zuschauer auf dem Markt des Lebens zu sein. Statt sich in luftigen Abstraktionen zu bewegen, sollen sie herabsteigen in das wirkliche Leben mit all seinen Härten und Qualen. Sie sollen mit den Problemen ringen, die das Leben aufgibt, und nicht mit solchen, die sich der einsame Denker zurechtkonstruiert. Die Betrachtung des sozialen Faktors in der Erkenntnis ist so recht geeignet, alle theoretischen Denker daran zu mahnen, daß die menschliche Erkenntnis als Betätigung des Lebenstriebes entsteht und daß es die höchste und die letzte Aufgabe des Denkens sein muß, dem Leben zu dienen.
LITERATUR: Wilhelm Jerusalem, Soziologie des Erkennens, "Zukunft", Bd. 27, Berlin 1909