ra-3H.-J. LieberW. JerusalemW. Stark    
 
MAX SCHELER
Probleme einer
Soziologie des Wissens

[1/2]

"Raffael braucht einen Pinsel; seine Ideen und künstlerischen Visionen schaffen ihn nicht. Er braucht politisch und sozial mächtige Auftraggeber, die ihre Ideale zu verherrlichen ihm auftragen; sonst vermag er sein Genie nicht auszuwirken. Luther braucht die Interessen der Fürsten, Städte, der partikular gerichteten Territorialherren, brauchte das aufstrebende Bürgertum; ohne diese Faktoren wäre es nichts geworden mit der Verbreitung der Lehren vom bibellesenden spiritus sanctus internus und der sola-fides-Lehre."

"Von irgendeiner faktischen Einheit der Menschennatur als Voraussetzung der Historie und Soziologie zu reden, ist unnütz, ja verderblich. Eine gemeinsame Strukturgesetzlichkeit durchwaltet nur die je lebendigen Kulturelemente einer Gruppe, durchwaltet Religion und Kunst, Wissenschaft und Recht eines Kultur-Konkretums. Diese für jede Gruppe in den Hauptphasen ihrer Entfaltung herauszuarbeiten, ist eines der höchsten Ziele, das sich die Geistesgeschichte setzen kann. Jede faktische und allen Menschen von Anfang an mitgegebene bestimmte eingeborene Funktionsapparatur der Vernunft - dieses Idols der Aufklärungszeit und auch noch Kants - leugnen wir also unbedingt als Voraussetzung der Soziologie."


Vorwort

Das Buch, das ich unter dem Titel "Die Wissensformen und die Gesellschaft" der Öffentlichkeit übergebe, enthält einen wesentlichen Teil der Ergebnisse meiner soziologischen und erkenntnistheoretischen Forschungen in den letzten zehn Jahren. Die gleichzeitige Aufnahme einer wissenssoziologischen Abhandlung und einer ausgedehnten erkenntnistheoretischen und ontologischen Arbeit in ein und dasselbe Werk könnte auf den ersten Blick Verwunderung erregen. Sie hat ihren tieferen Grund in der mich leitenden prinzipiellen Überzeugung, daß erkenntnistheoretische Untersuchungen ohne eine gleichzeitige Erforschung der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der obersten Typen menschlichen Wissens und Erkennens zu Leere und Unfruchtbarkeit verurteilt sind; eine Entwicklungslehre und Soziologie des menschlichen Wissens aber - wie sie in ausgedehnterer Weise zuerst CONDORCET und AUGUSTE COMTE versuchten - richtungs- und haltlos und ohne letztes Fundament bleiben muß, wenn nicht klar bewußte erkenntnistheoretisch sachliche Überzeugungen das Unternehmen führen. Nicht die menschliche "Vernunft" ihrem formalsten Wesen nach, die den "Menschen" mitdefiniert, wohl aber das, was man ihre "Organisation" und ihr subjektiv-kategoriales Gefüge zu nennen pflegt, befindet sich im  Werden  und in einer Entwicklung, die wahrscheinlich Wachstum und Verlust zugleich ist. Eine absolute geschichtliche  Konstanz  "menschlicher" Vernunftformen und -Prinzipien, die der größte Teil aller bisherigen Erkenntnistheorie als unwandelbaren Gegenstand ihrer Forschung naiv vorausgesetzt hat, ist nach der in diesem Buch vertretenen Ansicht ein  Idol.  Die beiden größeren Abhandlungen des Bandes, "Soziologie des Wissens" und "Arbeit und Erkenntnis, eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt", stehen als im Verhältnis der gegenseitigen  Ergänzung  zueinander, und zwar in dem Sinne, daß sie - obgleich streng methodisch unabhängig voneinander unternommen und ausgeführt - zu denselben Resultaten in frei und ungezwungen konvergieren [übereinstimmen - wp]. Eben in dieser "freien Konvergenz" unter gegenseitigen Bestätigungen und Verifizierungen ihrer Resultate über die "Formen des menschlichen Wissens" und die Gesetze des Erkennens in diesen Formen erblickt der Verfasser den Hauptwert seiner Untersuchungen und die Bekräftigung der Wahrheit seiner Grundlehren.

Eine solche Konvergenz ergibt sich im besonderen Maße da, wo es sich um die genaue Bestimmung der Bedeutung handelt, welche die praktisch-technische Einstellung des Menschen europäisher Neuzeit auf eine  Beherrschung  der Welt (im Gegensatz zu einer  rein  theoretischen liebend-kontemplativen Grundeinstellung) für die Ausbildung schon der eigenartigen Ausgangspunkte, der Ziele und der kategorialen Formen seines Welterkennens besaß und zum Teil noch besitzt. Unser Zeitalter - zum erstenmal in der bisherigen Geschichte der sogenannten Neuzeit - erteilt uns durch die gewaltig gewachsenen Vergleichsmöglichkeiten der Wissenskulturen und Erkenntnisformen der Völker und Zeitalter und nicht minder kraft der tiefgehenden Erschütterungen fast aller Grundlagen des neuzeitlichen Weltbildes die volle und souveräne Freiheit und die genügende Distanz, ein  neues  Wort über die Entwicklungsgesetze des menschlichen Wissens und seiner Formen zu wagen: ein Wort zugleich, das wesentlich andere Zukunftsperspektiven für die Weiterentwicklung unseres ganzen theoretischen Weltbildes in Philosophie und Wissenschaft eröffnet, als die Ganz- und Halbformen der positivistischen und kritizistischen philosophischen und entwicklungstheoretischen Lehren uns gegeben hatten und von ihren Voraussetzungen aus geben mußten. Eine eigentliche umfassende Entwicklungslehre des menschlichen Wissens hatte hierbei - und das ist sein großer  Vorzug - bisher nur die Philosophie des  positivistischen  Gedankenkreises (von CONDORCET, COMTE, SPENCER bis MACH, DURKHEIM und LEVY-BRUHL) gegeben. Die deutsche Philosophie, insofern sie insbesondere an KANT orientiert war, blieb auf diesem BOden im Ganzen gesehen unfruchtbar (1). Trotz aller bisherigen kritischen Versuche, z. B. COMTEs "Dreistadiengesetz", hat keine Lehre auf die europäische Bildung suggestiver eingewirkt als die positivistische. Sie war - offen ausgesprochen oder verschwiegen - geradezu ein Grundartikel der Überzeugung des wissenschaftlich Gebildeten unseres Zeitalters. Eben diese Lehre wird durch dieses Buch nicht nur streng widerlegt, indem ihre vielfachen Irrtumsquellen aufgedeckt werden; sie wird zugleich auf positive Weise ersetzt durch ein  neues,  völlig anders gestaltetes Bild der Entwicklung, in welchem das, was COMTE als die Grundrichtung der Entwicklung menschlichen Wissens erschienen ist, nur als eine partikulare, in manchen Hinsichten sogar rückläufige Nebenrichtung des  westeuropäischen  Denkens auf einem kleinen Kurvenstück der welt-geschichtlichen Wissensbewegung erscheint. Die Ursachen dieser rückläufigen Nebenrichtung, insbesondere die Ursachen für das zeitweilige Zurücktreten der  metaphysischen  Erkenntnisversuche zugunsten der positiven Wissenschaften einerseits, der kirchlichen Restaurationen andererseits, werden genau aufgewiesen. Die "Soziologie des Wissens" ist in ihrem ersten Teile, der "Wesen und Ordnung der geschichtlichen Kausalfaktoren" behandelt, zugleich aber der erste  positive  Versuch, die Einseitigkeiten und prinzipiellen Irrtümer sowohl der naturalistischen Geschichtslehren, voran des Ökonomismus von KARL MARX, als der ideologischen und szientifischen Geschichtsauffassungen prinzipiell zu überwinden (HEGEL und COMTE). Das hier entwickelte  Grundgesetz  der zeitlich und nach Epochen der Kultur wechselnden Arten des Zusammenspiels der geistig-ideenhaften und der triebhaft-realen Determinations- und Wirkfaktoren des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens wird in der ihrem Abschluß entgegengehenden "Anthropologie" des Verfassers (insbesondere in dem Teil, der von der Psychologie des Alterns handelt) eine noch tiefere Fundierung erhalten, als sie in diesem Rahmen zu geben möglich war.

Beide  größere Abhandlungen aber haben im Zusammenhang der Veröffentlichungen des Verfassers und seiner geistigen Entwicklung - unabhängig von ihrem Eigenwert für die speziellen Gegenstände, die sie behandeln - den gewichtigen Sinn, ein  Eingangstor  zu eröffnen für  streng methodisches metaphysisches Erkennen  und Denken. Dieser Denkart eine  freie Bahn  zu brechen - gegen Mystik, Obskurantismus aller Art und Positivismus zugleich -, ist eines der Hauptziele dieses Buches. Erst in zweiter Line ist das Buch auch eine  Einleitung  in die Metaphysik des Verfassers, wie sie in tiefreichenden Erschütterungen insbesondere seiner religiösen Gedankenwelt in den letzten fünf Jahren in ihm langsam zur Reife und zur Klarheit gekommen ist. Sowohl der historisch-soziologische Versuch, die metaphysische Erkenntnisart und ihre Methodik als eine geschichtlich "überlebte" Stufe des menschlichen Geistes darzutun (COMTE, SPENCER, DILTHEY u. a.), als die erkenntnistheoretischen Versuche, unser Erkennen einzubannen in die sogenannten "Grenzen möglicher Erfahrung, Beobachtung und Messung", sind eben durch die beiden größeren Arbeiten dieses Buches vom Verfasser als streng  widerlegt  erachtet. Die hier nur nach der prinzipiellen Seite ausgeführte Logik, Erkenntnistheorie und - das Wichtigste - Erkenntnis technik  der philosophischen Metaphysik selbst wird im ersten Band der Metaphysik des Verfassers, der sich ausschließlich mit Wesen und Möglichkeit einer metaphysischen Erkenntnis beschäftigt, eine weit eingehendere gründliche Durchführung im Einzelnen finden.  Man wird die Metaphysik des Verfassers nur verstehen, wenn man dieses Buch gelesen hat.  Auch die im Text dieses Bandes einmal als Teil des Buches selbst genannte Abhandlung, "Soziologie der dinglichen Vergottung des Stifters", welche einige Andeutungen in der "Soziologie des Wissens" breit zu fundieren bestimmt ist, hat die indirekte Nebenbedeutung, das  Daseinsrecht  der Metaphysik gegen die engbegrenzenden und zugleich erstarrenden Ansprüche der Offenbarungskirchen neu zu begründen. Ist doch die  "dingliche  Vergottung des Stifters" (oder seiner Lehre, z. B. Koran) überall, wo sich eine Kirchen- und Dogmenbildung in der Geschichte abspielte, der  primäre  Grundvorgang, sozusagen die  prima causa  des  ganzen  Prozesses, d. h.  des  Prozesses, der auch im Abendland das selbständige metaphysische Erkennen und Denken noch weit tiefgehender und machtvoller untergraben hat als selbst die Theorie und die einseitige, ja zeitweise fast ausschließliche Praxis einer  nur  positivistisch-pragmatischen Arbeits- und Leistungswissenschaft. Dieser Aufsatz konnte jedoch in diesen Band nicht mehr aufgenommen werden, da sein Umfang für das Werk zu groß wurde. Er wird daher an anderer Stelle veröffentlicht werden.

Wie also einerseits das hier vorliegende Buch eine "Einleitung" sein soll für die Metaphysik des Verfassers und eine Rechtfertigung ihres Unternehmens und insofern auf die Zukunft deutet, so deutet es andererseits auf ältere Arbeiten des Verfassers zurück, die demselben Problemkreis angehören. Um dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich über Alles zu unterrichten, was der Verfasser über die Probleme dieses Bandes früher gesagt hat, sei auf das Folgende verwiesen:
    1. Der Vortrag "Die Formen des Wissens und die Bildung" (Bonn 1925) fundiert die Lehre von den "Wissensarten" tiefer, die der Verfasser auch in den vorliegenden Arbeiten gibt. Er bringt sie zugleich auch in eine enge Verbindung mit der Idee und dem Prozeß der  Menschenbildung, gibt auch auf die Anthropologie und Metaphysik des Verfassers schon einige vordeutende Hinweise.

    2. Die Abhandlungen "Das Dreistadiengesetz des Auguste Comte" und "Soziologie, Weltanschauungssetzung und Weltanschauungslehre" (enthalten in Band I der "Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre", Leipzig 1923) sind Vorarbeiten zur Soziologie des Wissens, die einige Punkte genauer behandeln, als es im Rahmen des vorliegenden Bandes möglich war.

    3. Wie die  "Arbeit"  in diesem Band untersucht wird nach dem Maß ihrer Gestaltungskraft für die Welt erkenntnis, so hat der dritte Band der "Schriften zur Soziologie und Weltanschauung" die "Arbeit" in ihrer Stellung im Reich der  Werte genauer ins Auge gefaßt (vgl. ferner hierzu die Abhandlung "Das Ressentiment im Aufbau der Moralen" im ersten Band des Buches "Vom Umsturz der Werte" und die Schrift "Die Ursachen des Deutschenhasses"). Nur zusammen genommen mit diesem Buch geben diese Aufsätze das Ganze der "Philosophie der Arbeit" des Verfassers.
Die "Versuche einer Soziologie des Wissens" betitelte Abhandlung war zuerst als ein einleitender Teil des im Auftrag des Kölner "Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften" erschienenen Sammelwerks "Soziologie des Wissens erschienen. Da ein Sonderdruck vom Autor vertraglich nicht zugelassen, aber von vielen Seiten lebhaft gewünscht wurde, erscheint die Abhandlung neu in diesem Band. Sie ist dabei nicht nur durchgesehen und vielfach stilistisch verbessert worden, sondern auch recht erheblich (zirka ein Drittel) erweitert und ergänzt worden. Die Lehre von der "Logik der Klassen" z. B. ist ganz neu hinzugefügt. Die zweite Abhandlung "Arbeit und Erkenntnis" wird hier zuerst veröffentlicht. Sie löst ein Versprechen ein, das der Verfasser schon vor Jahren gegeben hatte. Sie möchte an erster Stelle das Wahre vom Falschen innerhalb der vielförmigen philosophischen Gedankenbewegung des sogenannten  Pragmatismus  genau scheiden. Der Verfasser weiß sich dabei in einem scharfen Gegensatz ebenso zur pragmatistischen  Philosophie  jeder Art wie zu aller einseitigen unbedachten Verwerfung, die der Pragmatismus auch in seiner  methodischen  Bedeutung für die  exakten Wissenschaften  besonders in Deutschland bisher gefunden hat. Die Abhandlung gibt zweitens eine eingehende Lehre von den faktischen und möglichen  philosophischen Deutungen der mechanischen Naturlehre  und eine genau abgewogene Entscheidung in diesen zentralen Fragen der Naturphilosophie. Das Stück über die "Arten der Naturerkenntnis" ist auch für die Erkenntnistheorie der Metaphysik von erheblicher Bedeutung. Die Abhandlung gibt drittens die Grundlegung einer  Philosophie der Wahrnehmung, der Phantasietätigkeit und des Realitätserlebnisse,  die gleichfalls für die Erkenntnistheorie der Metaphysik von entscheidender Bedeutung sind. Daß der Verfasser das in diesen Teilen Gegebene nur zu finden vermochte auf dem breiten Boden der Leistungen der gerade für die philosophischen Fundamentalprobleme so fruchtbaren neueren deutschen experimentellen Psychologie, wird der Kundige sofort bemerken. Leider konnte der Verfasser die für die Philosophie der Wahrnehmungen und des Realitätsbewußtseins sehr wichtige Arbeit von DAVID KATZ, "Der Aufbau der Tastwelt (1925) nicht mehr berücksichtigen. Nicht weniger wird der Kundige das enge Band bemerken, das den Verfasser mit den Arbeiten seiner medizinischen Freunde aus der jugendkräftig emporstrebenden Psychopathologie verbindet.

Der dritte Aufsatz "Universität und Volkshochschule" ist zuerst in dem Sammelwerk "Soziologie und Volksbildungswesen" (im Auftrag des Kölner Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften, hg. von LEOPOLD von WIESE) gedruckt worden. Er wurde in diesen Band aufgenommen (verbessert), da die Forderungen, die er in Bezug auf die Gestaltung unseres deutschen Bildungswesens enthält, erst auf dem Hintergrund der hier vorgelegten Theorie und Soziologie der Wissensformen ihr volles Gewicht und ihre tiefere Begründung erhalten.



I. Wesen und Begriff
der Kultursoziologie

Die nachfolgenden Ausführungen verfolgen ein begrenztes Ziel. Sie wollen die Einheit einer  Soziologie des Wissens  als eines Teils der  Kultursoziologie  herausstellen und vor allem die Probleme dieser Wissenschaft systematisch entwickeln. Sie beanspruchen keines dieser Probleme endgültig zu lösen; wohl aber wollen sie die Richtungen und Wege eingehend diskutieren, auf welchen dem Verfasser ihre Lösungen zu liegen scheinen. Sie wollen in einer Rhapsodie, in einer ungeordneten Menge vorhandener, teils durch die Wissenschaft schon voll ergriffener, teils nur halberfaßter oder nur geahnter Probleme, wie sie die fundamentale Tatsache der  sozialen  Natur allen Wissens, aller Wissensbewahrung und -überlieferung, aller methodischen Erweiterung und Förderung des Wissens stellt, eine systematische Einheit zu bewirken suchen. Die Beziehungen einer Soziologie des Wissens zur Ursprungs- und Geltungslehre des Wissens (Erkenntnistheorie und Logik), zur entwicklungsgenetischen und -psychologischen Betrachtung des Wissens von Tier zu Mensch, vom Kind zum Erwachsenen, vom Primitiven zum Zivilisierten, von Stadium zu Stadium innerhalb reifer Kulturen, das heißt zur Entwicklungspsychologie, zur positiven Geschichte des Wissens jeder Art, zur Metaphysik des Wissens, zu den übrigen Teilen der Kultursoziologie (Religions-, Kunst-, Rechtssoziologie) und zur Realsoziologie (Soziologie der Bluts-, Macht- und Wirtschaftsgruppen und ihrer wechselnden "Einrichtungen") müssen dabei notwendig berührt werden. Und zweitens, daß sie die ganze Fülle des (vorwiegend) menschlichen, objektiven und subjektiven, Lebensinhaltes, heiße er wie auch immer, analysiert und deskriptiv wie kausal ausschließlich nach seiner  tatsächlichen,  also nicht "normativen" oder ideal seinsollenden Determiniertheit durch die zeitlich sukzessiven und gleichzeitigen  Verbindungs- und Beziehungensformen  erforscht, die zwischen Menschen sowohl im Erleben, Wollen, Handeln, Verstehen, Aktion und Reaktion, als auch in objektiv realer und kausaler Art bestehen, das heißt also in einer solchen Art, die in keiner Weise in das "Bewußtsein von Etwas" der beteiligten Menschen zu fallen braucht. (2)

Die obersten  Einteilungen  der Soziologie, die wir hier ohne nähere Begründung nur anführen, richten sich uns nach den Gesichtspunkten:
    1. Wesens betrachtung und Erforschung  zufälliger Tatsachen, das heißt:  reine = apriorische und andererseits  empirisch-induktive Soziologie (3)

    Zur Festlegung des  Oberbegriffes  "Soziologie" überhaupt dienen uns hierbei nur  zwei Merkmale: Erstens, daß es diese Wissenschaft nicht mit individuellen Tatsachen und Ereignissen, sondern mit  Regeln, Typen (Durchschnitts- und logischen Idealtypen) und womöglich  Gesetzen zu tun.

    2. Gleichzeitige oder sukzessive Verknüpfung und Beziehung der Menschen und Gruppen, das heißt: soziologische  Statik und  Dynamik (Comte). Von aller Geschichtsphilosophie scheidet die soziologische Dynamik ihr Ausschluß objektiv gemeinter Zweck-, Wert- und Normbetrachtung, also ihr streng kausaler und (künstlich) wertungsfreier Standort, was die Heranziehung von Wertschätzungen, Idealen usw. als psychischer und historischer Kausalfaktoren natürlich nicht ausschließt.

    3. Untersuchung des  vorwiegen geistig bedingten und auf geistige, das heißt  "ideale" Ziele gerichteten Seins und Handelns, Wertens und Verhaltens des Menschen, und eine Untersuchung des  vorwiegen durch  Triebe (Fortpflanzungstriebe, Nahrungstriebe, Machttriebe) und zugleich auf die  reale Veränderung von Wirlichkeiten intentional gerichteten Handelns, Wertens und Verhaltens nach ihrer sozialen Determiniertheit. Dieses "vorwiegend" - denn jeder wirkliche Akt eines Menschen ist geistig und triebhaft zugleich - und schärfer gesagt, die je entweder auf Ideales oder auf Reales  endgültig  gerichtete Zielintention ist es, nach der wir zwischen einer  Kultur-  und  Realsoziologie  unterscheiden.
Gewiß verändert auch der experimentierende Physiker, der Maler, der Musiker die Wirklichkeit, wenn er experimentiert, malt, musiziert, komponiert usw.; aber doch nur, um ein  ideales  Ziel zu erreichen, zum Beispiel wahres Wissen über die Natur zu finden, einen künstlerisch wertvollen Sinngehalt sich und anderen zur Anschauung und zum Genuß zu bringen usw. Und gewiß hat es andererseits der Wirtschaftsführer wie der einfache Industriearbeiter niedrigster Qualifikation, der Mensch als Produzierendes und konsumierendes Wesen überhaupt, hat es jeder Arbeiter, dessen Endziel die Veränderung eines Wirklichen ist (der praktische Techniker im Unterschied vom Gelehrten und Technologen z. B.), der führende Politiker wie derjenige, der seine Stimme zur Wahl abgibt, mit einer Fülle vorbereitender, speziell geistiger, auf Ideales gerichteter Tätigkeiten zu tun, aber eben doch nur um eines  realen  Zieles willen, d. h. um eine Veränderung der Wirklichkeit zu bewirken. Einmal endet die Tätigkeit in der idealen, das andere Mal in der realen Welt. All jene Lehren, die etwa die Wirtschaft ohne einen Rückgang auf den Nahrungstrieb, den Staat und staatsähnliche Gebilde ohne einen Rückgang auf Machttriebe, Ehe ohne Rückgang auf die Geschlechtstriebe umgrenzen wollen, weisen wir als törichten Spiritualismus zurück. Es ist unsinnig zu behaupten, die Wirtschaft habe ansich nichts mit dem Nahrungstrieb und der Ernährung der Menschen zu tun, da es ja auch Verlage und Kunstgeschäfte gibt, da man ebensowohl Bücher und Butterblumen kaufen und verkaufen kann, da ja auch die Tiere einen Nahrungstrieb haben und sich  ohne  Wirtschaft ernähren. Die Wirtschaft sei also in genau demselben Sinn geistig und rational bestimmt und zielbestimmt wie Kunst, Philosophie, Wissenschaft usw. So ist es nicht! Ohne den Nahrungstrieb und das objektive Ziel, dem er biologisch dient, die Ernährung, würde es keine Wirtschaft geben - und auch keine Verlage, und keinen Kunsthandel. Ohne Machttrieb würde es keinen Staat geben, auch keine staatliche Kulturpolitik und kein staatlich gesetztes Recht, welche Angelegenheit auch immer es ist, die es regelt. Nur das ist an obiger These richtig, daß es ohne den Geist und seine normative Regelung keine Wirtschaft gäbe, keinen Staat usw.  Und darum ist für die Kultursoziologie eine Geistlehre des Menschen, und für die Realsoziologie eine Trieblehre des Menschen eine notwendige Voraussetzung. (4)

Diese letzte Einteilung der Soziologie in Kultur- und Realsoziologie, Soziologie des  Über- und  Unter baus des gesamten menschlichen Lebensinhaltes, ist freilich eine Scheidung, die zwar zwei extreme Pole setzt, in deren Bereich es jedoch eine Fülle vermittelnder Übergänge gibt: zum Beispiel die Technik, deren Gestaltung ebenso von ökonomischen, als staatlich-rechtlichen wie von wissenschaftlichen Faktoren abhängig ist; oder im Gegensatz zu "reiner" zweckhaft und utilitarischer, respektive durch die Wertungen und Ideale der je Mächtigen, etwa einer religiösen Herrschaftskaste, bedingte Kunst. Aber eben nach diesen beiden Polen hin eine soziologisch bedingte Erscheinung typologisch zu kennzeichnen, und nach Regeln zu bestimmen, was etwa an ihr durch die autonome Selbstentfaltung des Geistes, zum Beispiel die logisch-rationale Entwicklung des Rechts, durch die immanente Sinnlogik der Religionsgeschichte usw., bedingt ist, und was andererseits durch die Determination der stets durch eine "Triebstruktur" bedingten soziologischen  Realfaktoren  der jeweiligen "Institutionen und  ihrer  Eigenkausalität - das gerade ist die Hauptaufgabe der Soziologie. Ohne die genannte Unterscheidung von Kultur- und Realsoziologie aber kann sie diese Aufgabe nicht lösen. Diese Scheidung ist nun ferner zwar eine  ontologisch  und nicht nur "methodisch" gegründete, aber eine für das Endziel der Soziologie insofern vorläufige Scheidung, als erst in der Erkundung der Arten und Ordnungsfolgen des Zusammenwirkens der idealen und realen, der geistig und triebhaft bedingten Bestimmungsfaktoren des stets sozial  wesentlich  mitbedingten Lebensinhaltes des Menschen ihre letzte und eigentliche Aufgabe besteht. Ja, in der Erkenntnis eines obersten  Gesetzes der Folge ordnung - nicht der Zeitfolge im Sinne einer faktischen Sukzession der Erscheinungen der Menschheitsgeschichte, die das falsche, ja logisch widersinnige Ideal COMTEs gewesen ist; widersinnig, da die Geschichte des Menschen nur  einmal  abläuft - der  Wirksamkeit  der idealen und realen "soziologisch" bedingten, das heißt durch Beziehungen zwischen Menschen, Beziehungsarten und Gruppierungen bedingten Faktoren der Determination jedes Gesamtlebensinhaltes der Menschengruppen sehe ich ein oberstes Ziel aller überdeskriptiven und klassifizierenden, das heißt aller  kausalen  Soziologie. Es handelt sich also nicht  nur  um Phasenregeln, die auf Wirtschafts-Machtverhältnisse, Fortpflanzungsverhältnisse und -formen (um die oberste Einteilung der Realfaktoren zu nennen) verschiedener Gruppen und Kulturen in ihrem zeithaften Werden zutreffen, respektive auf Religion, Metaphysik, Wissenschaft, Kunst, Recht in ihrem Werden in der Zeit als "Idealfaktoren" zutreffen, sondern, so wichtig auch diese deskriptive Aufgabe als vorläufige sein mag, es handelt sich um etwas ganz anderes: Nämlich um ein  Gesetz der Ordnung der Wirksamkeit der Ideal- und Realfaktoren,  aus dem sich zu  jedem  Zeitpunkt des historisch-zeitlich sukzessiven Ablaufs sozialmenschlicher Lebensprozesse das ungeteilte Ganze des Lebensinhaltes der Gruppen aufbaut; nicht um ein Gesetz der fertigen Gewordenheiten in der Zeitfolge, sondern um eine Gesetz des  möglichen  dynamischen  Werdens  irgendwelcher Gewordenheiten in der Ordnung des zeithaften Wirkens.

Ein solches "Gesetz" - wie ich es seit Jahren anstrebe und auch prinzipiell gefunden zu haben glaube, ohne freilich den vollen Beweis (5) dafür bieten zu können - hätte eine Reihe Eigenschaften, die man genau angeben kann:

1. Dieses Gesetz bestimmt erstens die prinzipielle Art des Zusammenwirkens, in der Ideal- und Realfaktoren, objektiver Geist und reale Lebensverhältnisse wie ihr subjektives menschliches Korrelat, das heißt die jeweilige "Geistesstruktur" und die "Triebstruktur", auf den möglichen Fortgang des sozial-historischen Seins und Geschehens, auf Erhaltung und Veränderung einwirken. Hier ist unsere These folgende: Der Geist im subjektiven und objektiven Sinn, ferner als individualer und kollektiver Geist, bestimmt als Kulturinhalte, die da  werden  können, nur und ausschließlich ihre  Soseins beschaffenheit. Der Geist als solcher hat jedoch ansich ursprünglich und von Haus aus  keine  Spur "Kraft" oder "Wirksamkeit", diese seine Inhalte auch ins  Dasein  zu setzen. Er ist wohl ein "Determinationsfaktor", aber kein "Realisationsfaktor" des möglichen Kulturwerdens. Negative Realisationsfaktoren oder reale Auslesesfaktoren aus dem objektiven Spielraum des je durch die geistige verstehbare Motivation Möglichen sind vielmehr stets die realen, triebhaft bedingten Lebensverhältnisse, das heißt die besondere Kombination der Realfaktoren, der Machtverhältnisse, der ökonomischen Produktionsfaktoren und der qualitativen und quantitativen Bevölkerungsverhältnisse, dazu die geographischen und geopolitischen Faktoren, die jeweils vorliegen. Je "reiner" der Geist, desto machtloser im Sinne eines dynamischen Wirkens ist er in Gesellschaft und Geschichte (6). Das ist das große gemeinsame Wahrheitselement jeder skeptischen, pessimistischen, naturalistischen Geschichtsauffassung, der ökonomischen wie der rassenmäßigen, der machtpolitischen wie der geopolitisch-geographischen: Erst da, wo sie "Ideen" irgendwelcher Art mit Interessen, Trieben, Kollektivtrieben oder, wie wir letztere nennen, "Tendenzen"  vereinen,  gewinnen sie indirekt Macht und Wirksamsmöglichkeit; zum Beispiel religiöse, wissenschaftliche Ideen.  Positiver  Realisationsfaktor eines rein kulturellen Sinngehaltes aber ist stets die  freie  Tat und der freie Wille der "kleinen Zahl" von Personen, an erster Stelle der Führer, Vorbilder, Pioniere, die kraft der bekannten Gesetze der Ansteckung, der willkürlichen und unwillkürlichen Nachahmung (Kopierung), durch eine "große Zahl", eine Mehrheit, nachgeahmt werden. Also "verbreitet" sich Kultur (7).

Anders ist das Bestimmungsverhältnis von jeweils bestehenden und bestimmten Ideal- + Realfaktoren und ihren subjektiven Korrelaten in den Menschen (Geist- und Triebstruktur) gegenüber neu  werdenden  Realfaktoren, zum Beispiel politischen Machtverhältnissen internationaler Art, ökonomischen Produktionsverhältnissen, Rassenmischungen und Rassenspannungen. Der Spielraum ihres objektiven und realen "Möglichwerdens" ist nach Dasein und Sosein überhaupt nicht durch die Idealfaktoren bestimmt, sondern nur durch die jeweils vorher gegebenen Realfaktoren und ihre Beschaffenheit. Ihnen gegenüber kommt also (genau umgekehrt wie vorher) allem, was wir "Geist" nennen, nur eine  negative  "lenkende", das heißt hemmende oder enthemmende  kausale  Bedeutung zu, und zwar eine prinzipiell  nur  negative Realisationsbedeutung - also überhaupt keinerlei soseinsbestimmende Determinationsbedeutung. Der  menschliche  Geist - der singulär persönliche wie kollektive - und Wille vermag hier nur eines: hemmen und enthemmen (loslassen) dasjenige, was aufgrund der streng autonomen, realen, sinn blinden  Entwicklungskausalität ins Dasein treten will. Setzt der Geist sich Ziele des Soseins und der Umgestaltung der Realfaktoren, die nicht mindestens im Spielraum des eigenkausalen Zusammenhangs der Realfaktoren gelegen sind, so beißt er auf Granit, und seine "Utopie" zerflattert ins Nichts. Die sogenannte Planwirtschaft, oder eine "weltpolitische Verfassung", oder eine planvolle gesetzliche Eugenetik und Rassenauslese sind zum Beispiel derartige Utopien.

Andererseits ist es stets ein  grundirriges  Unterfangen, den positiven Sinngehalt und Wertgehalt einer bestehenden Religion, einer Kunst, einer Philosophie und Wissenschaft, einer Rechtsbildung aus den  realen Lebensverhältnissen,  seien es blutsmäßige, ökonomische, machtpolitische oder geopolitische,  eindeutig  ableiten zu wollen. Nur dasjenige, was aus diesem Spielraum der inneren und sinngesetzlichen (8) Soseinsdetermination von Religions-Rechts-Geistesgeschichte  nicht  geworden ist - obwohl es rein geistesgeschichtlich ebenso potentiell werdens möglich  war wie das faktisch Gewordene -, "erklärt" der Stand der Realverhältnisse, die jeweilige Kombination der Realfaktoren. RAFFAEL braucht einen Pinsel; seine Ideen und künstlerischen Visionen schaffen ihn nicht. Er braucht politisch und sozial mächtige Auftraggeber, die  ihre  Ideale zu verherrlichen ihm auftragen; sonst vermag er sein Genie nicht auszuwirken. LUTHER braucht die Interessen der Fürsten, Städte, der partikular gerichteten Territorialherren, brauchte das aufstrebende Bürgertum; ohne diese Faktoren wäre es nichts geworden mit der Verbreitung der Lehren vom bibellesenden "spiritus sanctus internus" [inneren heiligen Geist - wp] und der "sola-fides" [allein durch Glauben - wp]-Lehre. Wie wir also einerseits alle naturalistischen, soziologischen Auffassungen für das Werden des Sinngehaltes der Geisteskultur a limine [von vornherein - wp] zurückweisen, so müssen wir andererseits auf dem Boden der reinen Kultursoziologie jede Lehre abweisen (wie sie etwa HEGEL entspräche), daß der kulturhistorische Ablauf ein  rein  geistiger und  sinnlogisch  bestimmter Prozeß ist. Ohne die negativ-selektierende Kraft der Realverhältnisse und ohne die  freie  Willenskausalität der "führenden" Personen - freilich ist diese Freiheit nur auf ein "Ob" und "Ob nicht" des Tuns beziehbar,  nie  auf die sinnlogische Frage  "Was" - folgt aus den rein geistigen Determinationsfaktoren auch auf dem Boden einer reinen und reinsten Geisteskultur gar nichts. Erst recht nichts natürlich auf dem Boden der Wirklichkeiten, mit denen es die Realsoziologie zu tun hat. Diese Wirklichkeiten gehen nach Dasein, Sosein und Wert (also auch nach dem sogenannten "Fortschritt" und "Rückschritt") ihren streng  notwendigen  und vom Wertgedanken und Seinsgedanken des subjektiv  menschlichen  Geistes aus gesehen (9) "blinden" Gang, ihren  Schicksalsgang. Und nur eines bleibt ein souveränes, unabänderliches Vorrecht des Menschen: durch seinen Geist das Kommende zwar nicht berechnen, aber nach einer stets hypothetisch und wahrscheinlich bleibenden  Erwartungs bildung "mit ihm rechnen" zu können; ferner durch seinen Willen das Daseinwerden eines sonst Kommenden vorläufig zu hemmen, zu verhüten, anderes aber in der  Zeitfolge und ihrem Metrum (nicht aber in der  Zeitordnung,  die vorbestimmt und unabänderlich ist) zu beschleunigen oder zu verzögern - so etwa, wie es der Katalysator für den Prozeß der chemischen Verbindung tut.

Im Geistig-Kulturellen also gibt es potentiell "Freiheit" und Autonomie des Geschehens nach Sosein, Sinn und Wert, aber stets in dem realen Ausdruck  suspendierbar  durch die Eigenkausalität des "Unterbaues"; "liberté modifiable" [veränderbare Freiheit - wp] möchte man es nennen.

Im Feld der Realfaktoren gibt es umgekehr nur nur jene "fatalité modifiable" [veränderbares Schicksal - wp] von der COMTE treffend und richtig gesprochen hat. Dort wirken die Realverhältnisse suspendierend auf das, was aus den geistigen Potenzen wirklich wird. Hier wirkt der Geist suspendierend im Sinne der Zeitverschiebung für das, was dem Schicksalsganz der geschichtlichen Tendenzen entspricht.

2. Eine zweite Eigenschaft des gesuchten Gesetzes der Kausalfaktoren ist, daß es drei dynamische und statische Arten und Beziehungen umfaßt und einheitlich verknüpft:
    a) die Beziehungen der Idealfaktoren  untereinander: α) statisch  β) dynamisch,  γ) so, daß auch die jeweiligen "Zustände", die "Statik", sich als Folge, als relatives Momentbild der Dynamik ergeben, das heißt stets als Schichtenlagerung jeweils älterer und jüngerer Kraftwirkungen;

    b) die Beziehungen der einzelnen Realfaktorenarten  untereinander - wiederum in diesen drei Hinsichten;

    c) die Beziehungen der drei Hauptgruppen von Realfaktoren zu den einzelnen Idealfaktorenarten - natürlich im Spielraum der eben bestimmten und bezeichneten allgemeinen Gesetzmäßigkeit von Ideal- und Realfaktoren überhaupt.
Zu allen Zeiten und überall, wo wir es mit menschlicher Gesellschaft zu tun haben, treffen wir irgendeinen "objektiven Geist" (10), das heißt einen in irgendeiner Materie oder in reproduzierbaren psychophysischen Tätigkeiten verkörperten Sinngehalt an, zum Beispiel Werkzeuge, Kunstwerke, Sprache, Schrift, Institutionen, Sitten, Bräuche, Riten, Zeremonien usw. und, ihm subjektiv genau entsprechend, eine wechselnde  Struktur des "Geistes"  der Gruppe, der für das Einzelweisen mehr oder weniger bindende oder als "verbindlich" erlebte Bedeutung und Gewalt besitzt. Gibt es nun  eine Ordnung,  in der sich diese objektiven Sinngehalte der Kultur und die geistigen Aktgefüge, in denen sie sich konstituieren, in denen sie sich ebensowohl "erhalten" wie verändern, untereinander  gesetzlich fundieren?  Wie verhalten sich  genetisch  zueinander z. B. Mythos und Religion; Mythos und Metaphysik; Mythos und Wissenschaft; Sage, bzw. Legende, und Historie; wie Religion und Kunst; wie Kunst und Philosophie; wie Mystik und Religion; wie Kunst und Wissenschaft; wie Philosophie und Wissenschaft; wie das Reich der geltenden Werte zu einem jeweils theoretisch "angenommenen" Dasein und Sosein der Welt? Die gleichzeitigen Sinnbezüge und die Werdensbeziehungen (Motivationen) zwischen diesen objektiven Sinngefügen sind ungemein zahlreich, und  jede  dieser Beziehungen erfordert eine ausgedehnte, gesonderte Untersuchung. Die Meinung kann dahin gehen, das alles stehe freilich überall irgendwie in "gegenseitiger" Abhängigkeit und in einer sogenannten Wechselmotivation; aber eine  gesetzliche Ordnung  der Fundierung dieser Dinge gäbe es nicht. Wir sind nun, ohne es  hier in extenso [ausführlich - wp] beweisen zu können, ganz entgegengesetzter Meinung. Es gibt zwischen den Idealfaktoren untereinander  essentielle,  nicht nur zufällig-existentielle Abhängigkeiten voneinander im Sein  und  Werden, so schwierig es auch immer ist, sie zu eruieren. Es gibt solche Abhängigkeiten zum Beispiel zwischen Religion, Metaphysik, positiver Wissenschaft, zwischen Technik und positiver Wissenschaft, zwischen Religion und Kunst usw. Sie entsprechen genau der  Ursprungs- und Aufbauordnung ("Fundierung") der mit dem  Wesen  des Menschengeistes gegebenen Akte. Wert- und Seinerkennen, Wertschätzen bzw. Wertvorziehen einerseits und Wollen und Handeln andererseits, Wahrnehmen bzw. Vorstellen von Gegenständen und durch Triebimpulse einer bestimmten Trieb richtung  (als Bedingung solcher Perzeptionen) Bewegtsein, praktischer Willens- und Bewegungsimpuls und zweckfreier Ausdrucksimpuls, Denken und Sprechen beispielsweise bauen sich nicht "bald so", "bald anders" aufeinander auf, sondern nach strengen Gesetzen ihres Wesens. (11) In einer Allgemeinsten  Wesenslehre vom menschlichen Geist  sind daher auch alle faktischen Abhängigkeiten der objektiven Kulturgehalte, die wir empirisch finden, in letzter Linie zu verankern. Wer da von einer beliebigen "Wechselwirkung" redet, irrt. Aber in dem sehr allgemeinen und formalen Rahmen dieser Gesetze der geistigen Akte überhaupt gibt es nun wechselnde, entstehende und vergehende  Sonderstrukturen und Funktionsorganisationen  der  Gruppen geister, die jeweils zu eruieren das höchste Ziel bedeutet, das sich eine deskriptiv beginnende Erkenntnis einer jeweils individuellen historischen Gruppenkultur nach  allen  Seiten und allen Wert- und Güterarten hin zu setzen hat. Von jenen allgemeinsten Wesensgesetzen des Geistes abgesehen, - die aber eben überhaupt keine Gesetze "eines" wirklichen Geistes, einer wirklichen Gruppe oder eines Einzelwesens sind - existiert  Geist von vornherein nur in einer  konkreten Vielheit  von unendlich mannigfachen Gruppen und Kulturen. Von irgendeiner  faktischen  "Einheit der Menschennatur" als Voraussetzung der Historie und Soziologie zu reden, ist also unnütz, ja verderblich.  Eine gemeinsame  Struktur- und Stilgesetzlichkeit durchwaltet nur die je lebendigen Kulturelemente  einer  Gruppe, durchwaltet Religion und Kunst, Wissenschaft und Recht  eines  Kultur-Konkretums. Diese für jede Gruppe in den Hauptphasen ihrer Entfaltung herauszuarbeiten, ist eines der höchsten Ziele, das sich die  Geistes geschichte setzen kann (12). Jede faktische und allen Menschen von Anfang an mitgegebene  bestimmte  "eingeborene" Funktionsapparatur der Vernunft - dieses Idols der Aufklärungszeit und auch noch KANTs - leugnen wir also unbedingt als  Voraussetzung  der Soziologie, ebenso wie die meist damit engverbundene Lehre von der monophyletischen [geschlossene Abstammungsgemeinschaft - wp] Entstehung des Menschen. Geistige Einheit wie die Blutsverwandtschaft aller Rassen mag ein  Ziel  aller Historie sein - alle Geschichte ist faktisch auch eine Geschichte der Blutsnivellierung -, ein  Ausgangspunkt  des Geschehens und eine Voraussetzung für die Soziologie ist sie sicher nicht. (13) Der Pluralismus der Gruppen und Kulturformen vielmehr ist der Standort, von dem alle Soziologie auszugehen hat. Das Werden der jeweils als relativ "ursprünglich" angenommenen Geistesstrukturen können wir noch prinzipiell, nicht aber  in concreto,  "verstehen"; das heißt wir können verstehen, wie überhaupt Geistesstrukturen, die durch Tradition weitergetragen werden, aus einem amorphen Geist heraus entspringen können und müssen,  wenn  sie entspringen: nämlich durch eine allmähliche "Funktionalisierung" von echten Ideen- und Ideenzusammenhangserfassungen (am "zufällig" Wirklichen), - eine "Funktionalisierung", die zuerst durch Pioniere vollzogen, nachher von den Massen "mit- und nachvollzogen" wird, nicht von außen her "nachgeahmt" wie Bewegungen und Handlungen. Insofern  können  die Geistes- und Vernunftapparaturen jedes großen Kulturkreises und jeder großen Kulturperiode, ihrer  Vielheit und Verschiedenheit ungeachtet,  sehr wohl partiell und inadäquat wahr und seinsgültig sein, obgleich sie es natürlich nicht müssen (14). Denn sie entspringen ja ja alle aus der Erfassung des  einen  ontischen Ideen- und Wertrangordnungsreiches, das diese "zufällige" Weltwirklichkeit durchflicht. Einem philosophischen Relativismus, wie ihm SPENGLER zum Beispiel verfällt, entgehen wir als  trotz  unserer Annahme einer  Vielheit  von Vernunftorganisationen. Aber nicht dadurch entgehen wir diesem Relativismus, daß wir wie billige absolute Wertphilosophien der Gegenwart die klar erkennbare Tatsache der  Relativität  auch der Vernunftorganisationen selbst leugnen oder beschränken und dann einem ebenso billigen "Europäismus" oder sonst einem Standpunkt verfallen, der, nur nach Maßgabe  einer  Kultur aufgerichtet, diesen "Standort" für allmenschlich und allhistorisch gültig hält, auch nicht dadurch, daß wir, wie zum Beispiel TROELTSCH es seltsam genung wünscht (15), diesen unseren europäischen Standort,  trotz  Erkenntnis seiner Relativität, mit einem bloßen "Postulat", d. h. "sic volo, sic jubeo" [So will ich es, so befehle ich! - wp], eben "bejahen";  sondern  wir entgehen ihm dadurch, daß wir - ähnlich wie es auf ihrem Boden die EINSTEINsche Theorie getan hat - das der Wesensidee des Menschen entsprechende  absolute  Ideen- und Wertreich ganz gewaltig viel höher über alle  faktischen  bisherigen Wertsystem der Geschichte gleichsam aufhängen, wie beispielsweise alle  Güter ordnungen,  Zweck ordnungen,  Norm ordnungen der menschlichen Gesellschaft in Ethik, Religion, Recht, Kunst als  schlechthin  relativ und historisch wie soziologisch jeweils standpunktlich bedingt ansehen, nichts bewahrend als die  Idee  des ewigen, objektiven Logos, in dessen überschwängliche Geheimnisse in Form einer hierzu wesens notwendigen Geschichte  des Geistes einzudringen nicht  einer  Nation,  einem  Kulturkreis,  einem  oder allen bisherigen Kulturzeitaltern zukommt, sondern nur  allen zusammen  mit Einschluß der zukünftigen in jeweils  solidarischer,  zeitlicher wie räumlicher  Kooperation  unersetzlicher, weil individualer, einmaliger Kultursubjekte.  In concreto  und im Einzelnen können wir die als "ursprünglich" angenommenen Geistesstrukturen der Gruppen jedoch ebensowenig noch erklären, wie wir den "Geist" überhaupt als  Urvoraussetzung  einer Menschengeschichte, ja des Menschen selbst (seiner "Idee"), aus den psychischen Funktionen seiner tierischen Vorfahren erklären können (16). Wir können im höchsten Fall nur zeigen, wie sich  Struktur aus Struktur  sinngesetzlich und verstehbar entwickelt, zum Beispiel die Folge der abendländischen Kunststile, Religionsformen auseinander usw.

In einem scharfen Gegensatz zu dieser Entwicklung der  Geistesstrukturen  auseinander nach Entwicklungsschrittgesetzen stellen wir die Erscheinung der  Kumulation  der Werke, die immer nur jeweils  einer  Geistesstruktur und jeweils einer zeitlich und örtlich abgegrenzten Kultureinheit entsprechen. Da wir eine wahre und echte  Genese  aller subjektiv funktionellen Aprioristruktur des menschlichen Geistes - und nicht wie KANT deren  Konstanz - annehmen, so müssen wir die Lehren, und zwar  alle  Lehren, die in der Geschichte des Menschen nur eine Kumulation der Leistungen und Werke sehen, nicht aber Entwicklung und Umbildung der geistigen  Fähigkeiten  des Menschen und an erster Stelle des apriorisch subjektiven  Apparates  des Denkens, Wertens jeder Art, auf das Bestimmteste ablehnen. Gewiß hat sich nach unserer Ansicht, da wir zumindest jede kulturell bedeutsame  Erblichkeit  erworbener psychischer sogenannter Eigenschaften (mit WEISMANN, der jungen exakten Erblichkeitslehre, jetzt auch BUMKE, siehe "Kultur und Entartung") unbedingt ablehnen, der psychophysische menschliche Organismus in historischer Zeit  nicht  wesentlich verändert, es sei denn aus dem schon vorausgesetzten  Einfluß der Kultur  selbst. Die SPENCERs ganze Soziologie durchwirkende Lehre, es könnten die Geistesstrukturen von der sogenannten "Gattung" erworben und dann auf das Individuum erblich übertragen sein, weisen wir daher ab. Aber der Schluß, den WEISMANN zieht, alle Geschichte der Kultur sei darum  nur  Kumulation, gilt für uns keineswegs. WEISMANN wie SPENCER setzen ja voraus, es sei nicht nur - was auch wir bejahen - jenes Vitalpsychische, das wir essentiell mit den höheren Menschenaffen teilen, sondern auch der "Geist", die "Vernunft" des Menschen  eindeutig  durch sein psychophysisches System bedingt. Das aber verneinen wir (17), behaupten vielmehr, daß der Geist des Menschen für Soziologie, Psychologie, Biologie, Geschichte einfach eine hinzunehmende  Voraussetzung  ist und ein Problem höchstens noch metaphysischer und religiöser Ordnung, nicht aber der Ordnung der positiven empirischen Wissenschaft. Ist das aber der Fall, so ist der Geist selbst und sind  auch seine Kräfte,  und ist nicht nur die Summe der Leistungen, die aus ihm bei einem bestimmten  Stand  seiner Entfaltung kraft wechselnder Bluts- und Milieubedingungen hervorgehen, einer  wahren und wirklichen Selbstentfaltung  unterworfen, die jeweils Fortschritt und Wachstum, aber auch Rückschritt und Abnahme bedeuten kann; auf alle Fälle einer Veränderung seiner  Konstitution  selbst. Veränderungen der Denk- und Anschauungs formen,  wie bei Übergang der "mentalité primitive", wie sie LEVY-BRUHL jüngst beschrieb, zum zivilisierten Zustand des nunmehr dem Widerspruchssatz und Identitätsprinzip folgenden Menschendenkens; Veränderungen der Ethosformen als Formen des Wertvorziehens selbst, nicht bloß der  Güter schätzungen, die aufgrund von  ein und demselben  Wertvorzugsgesetz oder Ethos entstehen; Veränderungen des Stilfühlens und Kunstwollens selbst (wie man sie seit RIEGL in der Kunstgeschichte annimmt), Veränderungen wie die von der frühabendländischen organologischen Weltansicht, die bis ins 13. Jahrhundert reicht, zur mechanischen Weltansicht; Veränderungen wie jene von einer vorwiegenden Gruppierung der Menschen nach Geschlechterverbänden ohne staatliche Autorität zum Weltalter der "politischen Gesellschaft" und des Staates, oder von vorwiegend "lebensgemeinschaftlicher" zu einer vorwiegend "gesellschaftlichen Gruppierungsform", oder von vorwiegend magischer Technik zu vorwiegend positiver Technik, sind Veränderungen einer völlig  anderen  Größenordnung (nicht Größe) als solche etwa durch eine kumulierte  Anwendung  eines bereits ausgebildeten Verstandes, wie er etwa der abendländischen Denkart entspricht, oder als solche der "praktischen Moralität" und der bloßen Anpassung einer Ethosform an wechselnde historische Umstände (zum Beispiel des christlichen Ethos an wechselnde historische Umstände (z. B. des christlichen Ethos an spätantike, mittelalterliche, moderne Wirtschafts- und Gesellschaftszustände (18), oder Veränderungen nur  innerhalb  der Spannweite vorwiegend organologischer und vorwiegend mechanischer Weltansicht. Für die Soziologie der Wissensdynamik ist nichts wichtiger als dieser Unterschied, ob die Denk-, Wertschätzungs- und Anschauungsformen der Welt  selber  einer Vreänderung unterliegen, oder nur ihre  Anwendung  auf die  quantitativ  und  induktiv  erweiterten Erfahrungsmaterialien. Eine bestimmte genaue Kriterienlehre dieses Unterschiedes und seiner Stufen ist noch auszubilden.

Eine allgemeine Erscheinung aller geistigen Entwicklung ist ferner der schon von HERBERT SPENCER klar gesehene Vorgang der  Differenzierung und Integrierung  der Kulturgebiete und der geistigen Akte und Werterlebnisse, die ihnen zugrunde liegen. Er spiegelt sich am gröbsten und schärfsten im allmählichen Auseinandertreten der Führer- und Pioniertypen der Gruppen und geistigen Berufe; zum Beispiel Magier, Arzt, Priester, Techniker, Philosoph (Weiser), Gelehrter, Forscher usw. Aber bei der Anwendung dieses Satzes von Differenzierung und Integrierung ist es von fundamentaler Wichtigkeit, daß die  Stufenordnung  dieser Differenzierung genau festgestellt wird. Große Irrtümer schreiben sich gerade daher, daß diese Stufen falsch angesetzt werden. So muß man z. B. anerkennen, daß religiöses, metaphysisches und positives Wissen, oder wie wir auch sagen können, Heils-, bzw. Erlösungswissen, Bildungswissen und Leistungs-, bzw. Naturbeherrschungswissen, sich  gleich  ursprünglich aus der Vorstufe des natur- und geschichts mythischen  Denkens und Schauens - dem "*Völkerwachtraum" - abdifferenzieren und dann erst eine weitgehend eigengesetzliche Entwicklung nehmen. Dadurch, daß z. B. COMTE schon das Mythische für das Religiöse hält, daß er ferner verkennt, daß in der Neuzeit des Abendlandes keineswegs die Religion gegenüber der Metaphysik an Bedeutung  abnimmt,  sondern sich nur viel  schärfer  als im Mittelalter von ihr  differenziert,  nicht minder auch die positive Wissenschaft und Metaphysik sich viel schärfer voneinander scheiden - schon dadurch, daß jene jetzt erst als  unendlicher Prozeß,  diese als personal gebundenes und geschlossenes  "System auftritt -, kam es zu der grundfalschen Lehre des sogenannten "Dreistadiengesetzes", d. h. zu der Lehre, daß sich das metaphysische Essenzdenken aus dem religiösen, das positive Denken aus dem metaphysischen "entwickelt". COMTE nahm also als zeitliche Entwicklungsstufen, was  de facto  nur ein Differenzierungsprozeß des Geistes ist (19). Oder: Aus der magischen Technik der Naturkräfte differenziert sich gleich ursprünglich die  positive  Beherrschungstechnik einerseits, die religiöse  kultische  Ausdruckstechnik und die rituelle Darstellungstechnik heiliger Vorgänge andererseits ab. Wird das verkannt, so ergeben sich schwere Irrtümer. Ähnlich haben Kunst und Gewerbetechnik (Werkzeugtechnik) zweifellos einen gemeinsamen Ausgangspunkt in Gebilden, die Seelenvorgänge ausdrücken und dabei  zugleich  so erfolgen, daß sie nützlichen Zwecken dauernd dienen können (20). Wird aber der Zusammenhang etwa so verkannt, daß man, sei es die Kunst aus der Arbeit und Technik ableitet (wie es etwa SEMPER in seinem Werk über Stilentwicklung und zum Teil BÜCHER in "Arbeit und Rhythmus" zuletzt getan haben), oder umgekehrt diese aus jener (wie es die Romantiker taten; jetzt viel zu vorschnell auch FROBENIUS), so ergeben sich tiefe Irrtümer. Lehren wie jene F. A. LANGEs, daß die Metaphysik eine "Dichtung in Begriffen" ist, oder OSTWALDs These, die Kunst sei eine "ahnende Vorform der Wissenschaft"; oder der "gnostische" Irrtum, Religion sei wesensmäßig eine herabgesunkene Massen- und Volks metaphysik  in "Bildern" (SPINOZA, HEGEL, EDUARD von HARTMANN, SCHOPENHAUER usw.); oder der umgekehrte BONALDs und JOSEPH des MAISTREs, daß die Metaphysik stets eine nur nachträglich rationalisierte, auf die Offenbarung durch Personen oder Uroffenbarung rückgängige Volksreligion, bwz. die Metaphysik eine widerrechtlich rationalisierte, nachträglich in ein Sytem gepreßte Prophetie religigiöser oder dichterischer Art sei (MAX WEBERs und KARL JASPERs "prophetische Philosophie"); ferner überhaupt alle Lehren, die eine oder zwei der vorgenannten drei Wissensarten aufgrund ganz partikularer Entwicklungsrichtungen einer engbegrenzten Kultur, zum Beispiel der spätwesteuropäischen, ohne weiteres für "aussterbend" halten, wie COMTE die Arten des Heilswissens und des metaphysischen Wissens, WILHELM DILTHEY nur die Art des "metaphysischen" Wissens (21), sind  schwere  Irrtümer ein und desselben Typus. Es sind Irrtümer, die sich aus falschen Ansätzen der Differenzierungs- und Integrierungsprozesse und besonders des  Grades  der Ursprünglichkeit der betreffenden Geistesgebilde, ergeben ferner daraus, daß man gewisse  sekundäre  Verwebungs- und Vermischungserscheinungen der obersten geistigen Kulturgebilde für logisch-idealtypische nimmt. So kann sich zum Beispiel die  Mystik - eine generelle, streng definierbare Kategorie geistigen Verhaltens, nämliche ekstatischen unmittelbaren Identifikationswissens in Anschauung und Gefühl - sowohl mit einer bestimmten  Religion  und deren Dogma (indische, christliche, sufistische, jüdische, taoistische Mystik) wie mit philosophischer  Metaphysik  (z. B. PLOTIN, SPINOZA, SCHOPENHAUER, SCHELLING, BERGSON), sowohl mit einem spiritualistischen wie auch naturalistischen  Inhalt  der Weltanschauung verbinden (kühle Intellektuellenmystik, z. B. die PLOTINs, vitale Rauschmystik, z. B. Kulte des  Dionysos),  sowohl mit vorwiegend theoretischem Verhalten (Kontemplationsmystik) wie mit praktischen Verhalten (praktisch asketische Mystik und Glaube, daß die  Unio  im Vollzug des Willensaktes einer bestimmten obersten Normierung erfolgt, zum Beispiel THOMAS KEMPIS). Immer bleibt jedoch "die" Mystik eine selbständige Kategorie der Arten des Wissens oder der Teilnahme an einem vorausgesetzten, nie aus  ihren  Wissensquellen selbst hervorgegangenen absolut Seienden und Werthaften, und zwar eine Teilnahme, die  stets und immer (genetisch) eine völlig  unschöpferische  Sekundär- und Späterscheinung - ein Zurück! - ist. Verkennt man das, so wird man etwa wie viele kirchliche Schriftsteller die christlich orthodoxe Mystik zu "der" Mystik machen wollen und ihre ganze überkonfessionelle, ja überreligiöse Natur verkennen; oder wird sie zu einer selbständigen Quelle "religiöser" Erkenntnis machen wollen (22) oder zu einer Quelle "metaphysischer" Erkenntnis, wie zum Beispiel SCHOPENHAUERs und BERGSONs "Intuitivismus". Die Mischformen setzen eben durchaus den Bestand der  reinen  Typen voraus.
LITERATUR: Max Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926
    Anmerkungen
    1) Nur ERNST CASSIRER versucht neuerdings in seiner bedeutenden "Philosophie der symbolischen Formen" etwas ähnliches. Leider nahm ich von dem hier besonders in Frage kommenden zweiten Band seines Werkes zu spät Kenntnis um ihn hier noch verwerten zu können. Der Kundige wird jedoch bemerken, wie in vielen und wesentlichen Punkten sich Resultate CASSIRERs (trotz der grundverschiedenen sachphilosophischen Voraussetzungen) mit den meinigen decken.
    2) Wir verwerfen also damit die MAX WEBERsche Einschränkung der Soziologie auf verstehbare subjektive und objektive "Sinngehalte" (= objektiver Geist). Hat jemand etwa eine Überzeugung des Göttlichen, oder über den Gang seiner Volksgeschichte, oder über den Bau des Sternenhimmels, "weil" er zu den privilegierten Ständen gehört oder zu den unterdrückten Schichten, weil er preußischer Beamter oder ein chinesischer Kuli ist, weil er blutsmäßig diese und nicht jene Rassenmischung darstellt, so braucht weder er selbst noch irgendein Mensch diesen Tatbestand zu "wissen", oder auch nur zu "ahnen". Ja, in letzter Linie gilt für uns durchaus der Satz von KARL MARX, daß es das  Sein  der Menschen ist (freilich nicht nur ihr ökonomisches, "materielles" Sein, wie MARX gleich mitsetzt), nach dem sich auch ihr mögliches "Bewußtsein", "Wissen", ihre Verstehens- und Erlebnisgrenzen richten.
    3) Einen Hauptteil unserer reinen Soziologie, die Lehre von den  Wesens formen menschlicher Verbände, gibt der letzte Abschnitt meines "Formalismus in der Ethik" (Seite 440-607).
    4) Ich werde in meiner "Philosophischen Anthropologie" beide Theorien ausführlich entwickeln. Daß eine Entwicklungslehre der menschlichen Triebe und eine Triebenergetik das Fundament aller Realsoziologie ist, hat in neuester Zeit MacDOUGALL am klarsten erkannt.
    5) Eine weit eingehendere Begründung des Gesetzes wird der Schlußband IV unserer Reihe "Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre", betitelt "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" erbringen.
    6) Die Senkung des Wertniveaus jeder geistigen Sache, z. B. einer bestimmten Religion, einer Kunstform, bei steigender Verbreitung und Machtgewinn in den Massen ist daher ein unaufhebbares Gesetz aller menschlichen Sinn- und Wertrealisierung.
    7) Das Gesetz der wenigen Pioniere und der vielen Nachahmenden hat GABRIEL TARDE in seinem Buch "Les lois de l'imitation" zuerst klargestellt.
    8) Ich brauche nicht zu sagen, daß mit den Gegensätzen "wahr-falsch", "gut-böse", "schön-häßlich", "heilig-profan" und mit analogen Wertgegensätzen die Sinngesetzlichkeit nicht das mindeste zu tun hat.
    9) Vom metaphysischen "Sinn" dieser Schicksale sehe ich hier ausdrücklich ab.
    10) Eine beachtenswerte Einteilung der Arten des "objektiven Geistes" gab jüngst KARL FREYER in seinm Buch "Zur Theorie des objektiven Geistes", 1923.
    11) Neben den Wesensgesetzen der Aktfundierungen statischer Art gibt es ferner die bisher fast gar nicht in ihrer logischen Bedeutung erkannten Entwicklungs schritt& gesetze, die es weder mit sogenannten Phasenregeln einer Mehrheit tatsächlicher Entwicklungsreihen zu tun haben (die durch einen Vergleich dieser Reihen gewonnen werden), noch mit bloßen sogenannten "Richtungs"linien  einer  unwiederholbaren tatsächlichen Entwicklung (z. B.: Entwicklung der  einen  irdischen Menschheit  oder  des Preußenstaates), bei denen von Gesetzen zu sprechen sinnlos ist. Eine "Richtung" kann zwar durch einen zeitlichen Phasenvergleich einer Gruppe erschlossen werden (Hauptrichtung, Nebenrichtung, Sackgasse, Ausweg usw.), ist aber nie ein "Gesetz". Das Entwicklungs schritt gesetze dagegen ist ein  Wesens gesetz des Übergangs von Stufe zu Stufe der Entwicklung, so, daß die faktischen besonderen Ausgangspunkte und Endpunkte der Entwicklung dabei beliebig variabel bleiben. Es beherrscht alle  möglichen  tatsächlichen Entwicklungen.
    12) Das heißt die Geschichte der Bildung, des Wachstums, der Abnahme, Strukturveränderung des Geistes  selber,  nicht seiner Leistungen und Werke.
    13) Diese hier zurückgewiesene Einheitslehre der "vernünftigen Menschennatur" ist eine Voraussetzung des durchaus selbst  nur  europäischen "Humanismus" (so auch ERNST TROELTSCH in seinem "Historismus"), der sie von der Kirchenlehre übernahm, nun den Sündenfall und die Erbschuld dabei streichend.
    14) Über die "Funktionalisierung" gegenständlicher Wesenserkenntnis habe ich eingehender im 2. Halbband des Buches "Vom Ewigen im Menschen", zweite Auflage, Seite 167f gehandelt.
    15) Vgl. ERNST TROELTSCH: "Der Historismus und seine Überwindung"; siehe ferner seine von FRIEDRICH von HÜGEL herausgegebenen Vorträge in England, Seite 76f.
    16) Strenge Beweise für diese obigen Sätze und die Rechtfertigung der Bezeichnung der "Idee" des Menschen im Unterschied vom empirischen Begriff "Menschtier" werde ich in meiner "Anthropologie" erbringen.
    17) Ich muß auch hier auf meine seit Jahren vorgetragene, demnächst erscheinende Anthropologie verweisen. Andeutungen zu diesem Problem gab bereits mein Aufsatz "Die Idee des Menschen" im ersten Band "Vom Umsturz der Werte".
    18) Vgl. hierzu in meiner "Ethik" besonders das Kapitel über die  Relativitätsstufen der Werte und des Wertens,  Seite 272f.
    19) Vgl. dazu meinen Aufsatz über COMTEs Dreistadiengesetz in "Zur Soziologie und Weltanschauungslehre", Bd. I, "Moralia".
    20) Dieser Satz gilt in großer Allgemeinheit für alle primitiven Erfindungen und Werzeuge, z. B. alle primitiven Formen der Feuerbereitung (Feuerbohrer usw.). Sie sind stets kultische Ausdrucksformen innerer Erlebnisse und Werkzeuge zugleich. Die Idee der menschlichen Zeugung, die Auffassungen der Erde als zu befruchtende Mutter ist fast überall ein leitendes Vorbild dieser Erfindungen.
    21) Siehe DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften"; ferner "Die geistige Welt", I. und II. In seinem trefflichen Vorbericht zeigt GEORG MISCH eingehend, daß DILTHEY von seinem in seiner stark positivistisch gefärbten Frühperiode eingenommenen Standpunkt, Metaphysik sei Begriffsdichtung, immer mehr abgekommen ist (a. a. O., Seite 37 und 61). Aber auch in der Schrift "Das Wesen der Philosophie" heißt es noch: Denn nachdem die allgemeingültige Wissenschaft der Metaphysik für immer zerstört ist, ... (a. a. O., Seite 370).
    22) Zum Beispiel neuerdings HEINRICH SCHOLZ in seiner "Religionsphilosophie", zweite Auflage, Berlin 1923.