ra-2R. OttoE. AdickesTh. ZieglerR. A. LipsiusW. HerrmannJ. F. Fries    
 
VIKTOR CATHREIN
Glauben und Wissen

"Die tiefste Wurzel der grundverschiedenen Auffassung der Religion, welche die Katholiken von ihren Gegnern trennt, liegt nicht auf dem Gebiet des Glaubens, wie man erwarten sollte, sondern auf dem des Wissens."

"Es gibt in der Wirklichkeit keine Pflanze im allgemeinen. Jede existierende Pflanze ist ein ganz bestimmtes Individuum von bestimmter Art, bestimmter Größe und Gestalt, bestimmtem Standort usw. Dasselbe gilt von allen anderen Dingen. Es existiert kein Mensch im allgemeinen, keine Kraft, keine Bewegung im allgemeinen und dgl. Wie kommen wir also zu solchen Allgemeinbegriffen, die eine objektive und unwandelbare, von Zeit und Ort unabhängige Gültigkeit haben und die Grundlage und Vorbedingung für die allgemein gültigen und notwendigen Grundsätze bilden, ohne die es keine Wissenschaft geben kann? Ja, sind solche Allgemeinbegriffe überhaupt möglich?"

"Kant kann überhaupt nie behaupten, was ein Ding in Wirklichkeit ist, ohne sich selbst zu widersprechen. Die Brücke zwischen unserem Erkennen und der objektiven Wirklichkeit ist abgebrochen. Unsere Denkmaschine arbeitet nur mit subjektiven Erkenntnisformen und subjektivem Schein, die nie zur wirklichen Welt führen. Wir sind eingeschlossen in einer Wolke subjektiver Erscheinungen; was darüber hinausliegt, ist unbekanntes Land."

"Die Sinnenwelt ist überhaupt das Produkt unseres eigenen Geistes und nur in unseren Vorstellungen vorhanden. Ein theoretisches Erkennen der Dinge-ansich, der realen Welt außerhalb von uns, ist eine Unmöglichkeit, ja ein Widerspruch, weil unser Erkennen an die Natur unseres Erkenntnisvermögens gebunden ist. Nur glauben können wir, daß unser Denken mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieser Glaube ist ein inneres Erlebnis, eine unmittelbare gewisse Überzeugung."


Einleitung

"Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt zwischen Glauben und Unglauben." Dieses Wort GOETHEs (Westöstlicher Diwan) ist unzweifelhaft richtig, nur segelt der Unglaube oft nicht unter seiner eigenen Flagge, sondern unter der des Wissens einher. Nach dem biblischen Bericht wurde schon im Paradies das Wissen gegen den Glauben ausgespielt, und so ist es auch wieder in unserer Zeit. Wissenschaft und Glaube werden als unversöhnliche Gegensätze hingestellt, die sich so wenig vertragen wie Licht und Finsternis. "Der Glaube ist der Verzicht auf die Wissenschaft", so wird uns immer wieder versichert. Wer also nicht auf das Wissen verzichten will - und wer möchte das? -, von dem wird der Verzicht auf den Glauben gefordert.

Die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen, von Vernunft und Offenbarung ist in der Tat das tiefste Problem der christlichen Religionsphilosopie, das fast mit allen religionswissenschaftlichen Fragen mancherlei Berührungspunkte hat. Nach christlicher Lehre ist ja der Glaube die Wurzel und das Prinzip des ganzen christlichen Lebens; ohne Glaube ist es unmöglich, zu Gott zu gelangen und ihm zu gefallen. Die erste und grundlegendste Frage der christlichen Religionsphilosophie ist deshalb die Frage: Was ist der Glaube und wie gelangt man zum Glauben? Was ist das Wissen? Wie gelangt man zum Wissen? Wie verhalten sich beide zueinander?

Dies ist auch die Grundfrage, deren Beantwortung nicht nur Christen und Ungläubige, sondern auch Katholiken und Protestanden voneinander scheidet und sowohl dem Protestantismus wie auch dem Katholizismus sein eigentümliches Gepräge aufdrückt. Solange hier die Gegensätze nicht ausgeglichen sind, ist an eine Verständigung zwischen Protestanten und Katholiken nicht zu denken.

Und doch, wer die neuere, überaus zahlreiche Literatur über diese Frage in etwa überblickt, gewinnt den Eindruck, daß sich die Gegensätze, anstatt zu mildern, verschärfen. Die Kluft wird immer größer. Man versteht sich gegenseitig kaum mehr. Was für eine Masse von Unklarheiten, Mißverständnissen und Entstellungen begegnen uns in dieser Literatur!

Das ist umso mehr zu bedauern, als es sich um eine so eminent praktische, tief in die Lebensführung des Menschen eingreifende Frage handelt, um eine Frage, die nicht bloß den Theologen von Fach interessiert, sondern alle Gebildeten ohne Ausnahmen, Katholiken und Protestanten. Vielfach wird auch die katholische Auffassung von Glauben und Wissen als Grund geltend gemacht, um katholischen Gelehrten den Zugang zu den Lehrstühlen an unseren Universitäten zu verweigern. Wir erinnern hier nur an den jüngst von Professor MOMMSEN entfesselten Entrüstungssturm der "Voraussetzungslosen" gelegentlich der Ernennung eines katholischen Geschichtsprofessors in Straßburg.

Angesichts dieses Tatbestandes wird wohl niemand eine klare, ruhige und rein sachliche Darlegung des Verhältnisses von Glauben und Wissen als eine unzeitgemäße oder unnütze Arbeit ansehen. Eine solche soll dem Leser in den folgenden Blättern dargeboten werden. Ich werde die katholische Auffassung soviel wie möglich nach allen Seiten klarlegen, mit der protestantischen Auffassung vergleichen und soweit tunlich begründen; jedoch wird es mein angelegentliches Bemühen sein, bei aller Entschiedenheit in der prinzipiellen Seite der Frage alles Verletzende möglichst zu vermeiden und eine Verständigung zwischen  gläubigen  Protestanten und Katholiken anzubahnen.

Der Leserkreis, an den ich mich wende, sind nicht bloß Fachgelehrte, sondern alle Gebildeten, die sich über das hochwichtige Problem von Glauben und Wissen Rechenschaft geben wollen. Dementsprechend war es auch mein Bemühen, möglichst klar und durchsichtig zu schreiben. Eine populäre und zugleich gründliche Behandlung dieser Frage ist unmöglich. Sie hängt zu innig mit logischen und erkenntnistheoretischen Problemen zusammen und setzt notwendig ein gewisses Maß philosophischer Bildung voraus. Dem Theologen vom Fach wird es zuweilen scheinen, daß ich einige Fragen als selbstverständlich kürzer hätte behandeln können, aber er möge nicht den Leserkreis aus den Augen verlieren, für den das Büchlein bestimmt ist.

Das Verhältnis von Glauben und Wissen ist zwar von katholischer Seite schon wiederholt in gründlicher Weise behandelt worden, so z. B. von Professor Freiherrn von HERTLING (Das Prinzip des Katholizismus, 1899). von Professor J. MAUSBACH (Wissenschaftliche Beilage der Germania, 1899, Seite 65f und 1900, Seite 289f) von Professor BRAIG (Die Freiheit der philosophischen Forschung, 1894), von Pater Rob.  von Nostitz-Rieneck S. J. [Sociétas Jesu - wp] (in den Stimmen von Maria-Laach LVI, Seite 17f; LVII Seite 125 und 425; LX Seite 121f) u. a. Doch gingen die Genannten alle vom Begriff des Wissens als einem gegebenen und selbstverständlichen aus. Für den Katholiken ist er es auch. Nicht so für die Andersgläubigen, die heute vielfach die erkenntnistheoretischen Wege KANTs wandeln und gerade durch ihre grundverschiedene Auffassung vom Wissen zu ihrer Stellung zum Glauben geführt werden. Ich glaubte deshalb eingehender den Begriff des Wissens entwickeln zu müssen und zwar mit steter Berücksichtigung der gegnerischen Ansichten. Natürlich wurde es infolge davon nötig; erkenntnistheoretische Fragen zu erörtern, die zum Teil abstrakt sind und an die Denkkraft des Lesers gewisse Anforderungen stellen. Wer also nur an Feuilletons und Romane gewöhnt ist, wird wahrscheinlich an der vorliegenden Schrift wenig Geschmack finden. Wer sich aber die Arbeit nicht verdrießen läßt, einem so hochwichtigen Problem auf den Grund zu gehen, wird mir hoffentlich Dank wissen, daß ich ihm die Mühe durch eine übersichtliche Zusammenstellung und möglichst durchsichtige Darlegung nach Kräften zu ermöglichen und zu erleichtern suchte.

Wir betrachten zuerst das Wissen, dann den Glauben und schließlich das Verhältnis von Wissen und Glauben zueinander.




Erstes Kapitel
Das Wissen

Die tiefste Wurzel der grundverschiedenen Auffassung der Religion, welche die Katholiken von ihren Gegnern trennt, liegt nicht auf dem Gebiet des Glaubens, wie man erwarten sollte, sondern auf dem des  Wissens. 

Nach katholischer Anschauung ist der Glaube ein Fürwahrhalten dessen, was Gott geoffenbart hat. Um glauben zu können, muß ich zuvor  wissen,  daß sich Gott geoffenbart hat. Aber kann ich das wissen? Was ist überhaupt das Wissen und wie weit erstreckt sich sein Gebiet? Die Beantwortung dieser Frage ist der Punkt, an dem sich die Wege zwischen Katholiken, Protestanten und Ungläubigen scheiden.

Wir wollen uns drei Fragen der Reihe nach zur Beantwortung vorlegen.
    Erstens:  Was ist das Wissen im allgemeinen?

    Zweitens:  Gibt es überhaupt ein Wissen in  religiösen  Dingen?

    Drittens:  Gibt es ein Wissen der  christlichen  Offenbarung im besondern?

Erster Artikel
Das Wissen im Allgemeinen

§ 1.
Begriff und Eigenschaften des Wissens

HUME sagt einmal, das Haupthindernis einer philosophischen Untersuchung ist, die Dunkelheit und Vieldeutigkeit der Begriffe. Das ist gewiß sehr wahr und gilt besonders in der uns beschäftigenden Frage, über der vielfach ein dichter Londoner Herbstnebel lagert und jede deutliche Umschau verhindert. Suchen wir uns also über die Grundbegriffe klar zu werden.

"Alle Menschen begehren von Natur aus zu  wissen",  sagte schon der große Denker von Stagira [Aristoteles - wp]. Was ist das Wissen?

Im weitesten Sinne versteht man unter Wissen jede  sichere  Erkenntnis einer Sache, auf welche Weise dieselbe auch gewonnen sein mag. In einem engeren Sinn bezeichnet man mit Wissen im Gegensatz zum Glauben jede sichere Erkenntnis, zu der man nicht durch fremdes Zeugnis, sondern durch eigene Beobachtung oder eigenes Nachdenken gelangt ist.

Im strengsten und eigentlichsten Sinn jedoch versteht man unter Wissen nur die wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. die sichere Erkenntnis einer Sache aus ihren Gründen. Bei eigentlichen Wissen sehe ich nicht bloß ein,  daß  die Sache ist, sondern auch,  wie  sie ist und  warum  sie so ist und nicht anders sein kann, und zwar auf Gründe hin, die in der Sache selbst liegen und jeden Zweifel an der Richtigkeit der Erkenntnis ausschließen.

Das eigentliche Wissen zeichnet sich also vor jeder anderen natürlichen Erkenntnis aus, nicht nur durch die Zweifellosigkeit des Fürwahrhaltens, sondern auch durch den notwendigen Zusammenhang mit der objektiven Wahrheit der Sache. Beim Wissen sehen wir klar ein, daß die Sache notwendig so ist, wie wir sie erkennen, und nicht anders sein kann, und zwar urteilen wir so gestützt auf Gründe, die der Sache selbst entnommen sind und die uns die Richtigkeit unserer Erkenntnis verbürgen.

Die Erfahrung allein, d. h. die Summe der inneren und äußeren Erlebnisse, die wir selbst unmittelbar wahrnehmen, kann uns kein eigentliches Wissen liefern. Sie bietet uns nur Tatsachen und die bloße Erkenntnis dieser Tatsachen ist noch kein eigentliches Wissen. Wenn ich z. B. einen Stein fallen sehe, so ist diese unmittelbare Wahrnehmung noch kein eigentliches Wissen. Erst wenn ich erkenne, warum und nach welchen Gesetzen der Stein fällt und notwendig fallen muß, habe ich eine wissenschaftliche Erkenntnis. Zum Wissen im strengen Sinne bedarf es außer der Erfahrungstatsachen noch allgemeingültiger und notwendiger Grundsätze und Prinzipien.

Die wahre Wissenschaft beansprucht für ihre Ergebnisse und folglich auch für die Grundsätze, auf die sie sich stützt und von denen sie ausgeht,  eine unumstößliche und allgemeine objektive Gültigkeit.  Wenn der Mathematiker behauptet, daß parallele Linien sich nicht schneiden können, so weiß er, daß diese Behauptung unbedingt notwendig ist und für alle möglichen parallelen Linien gilt. Der Satz ist von Zeit und Ort völlig unabhängig und er wird vom Mathematiker nicht infolge einer bloß subjektiven Nötigung für wahr gehalten, sondern infolge seiner Einsicht in das Wesen der parallelen Linien. Er fühlt sich in seinem Urteil klar abhängig von einem objektiv gültigen Verhältnis und deshalb weiß er auch, daß er seine mathematischen Sätze auf die wirklich existierenden Dinge anwenden und sie gebrauchen kann, z. B. um die Höhe der Berge, die Entfernungen der Sterne, die Schnelligkeit ihrer Bewegungen usw. zu berechnen.

Wie den Sätzen der Mathematik, so kommt auch den Sätzen der Logik und Metaphysik eine unbedingte Notwendigkeit und allgemeine objektive Gültigkeit zu. Immer und überall ist das Ganze größer als sein Teil, immer und überall schließen sich Sein und Nichtsein gegenseitig aus, so daß nichts zugleich und unter derselben Hinsicht sein und nicht sein, so und anders sein kann; immer und überall ist, was wirklich ist, auch möglich und dgl.

Aber hier entsteht nun die schwierige Frage, wie kommen wir zu solchen allgemeinen und notwendigen Kenntnissen von einer objektiven und unwandelbaren Gültigkeit? Unsere Erkenntnis geht von der Erfahrung aus. Die Erfahrung bietet uns aber nur konkrete und einzelne Dinge und Erscheinungen in einem beständigen Wechsel. Es gibt in der Wirklichkeit keine Pflanze im allgemeinen. Jede existierende Pflanze ist ein ganz bestimmtes Individuum von bestimmter Art, bestimmter Größe und Gestalt, bestimmtem Standort usw. Dasselbe gilt von allen anderen Dingen. Es existiert kein Mensch im allgemeinen, keine Kraft, keine Bewegung im allgemeinen und dgl. Wie kommen wir also zu solchen Allgemeinbegriffen, die eine objektive und unwandelbare, von Zeit und Ort unabhängige Gültigkeit haben und die Grundlage und Vorbedingung für die allgemein gültigen und notwendigen Grundsätze bilden, ohne die es keine Wissenschaft geben kann? Ja, sind solche Allgemeinbegriffe überhaupt möglich?

Es gibt nicht wenige, die diese Möglichkeit einfach leugnen und damit jeder wahren Metaphysik den Boden entziehen. Man kann dieselben als  Nominalisten  im weitesten Sinn bezeichnen, oder auch als  Phänomenalisten im Gegensatz zu den Realisten, welche an den Allgemeinbegriffen von objektiver Gültigkeit festhalten.


§ 2.
Nominalismus und Realismus
in der älteren Philosophie

Nach dem Voranschreiten HERAKLITs des Dunklen leugneten im Mittelalter die  Nominalisten,  namentlich ROSCELLIN, das Dasein eigentlicher Allgemeinbegriffe. Sie gaben wohl zu, daß wir uns allgemeiner Ausdrücke bedienen, wie z. B. des Ausdruckes "Mensch", aber sie leugneten, daß diesen Ausdrücken eigentliche Allgemeinbegriffe entsprechen. Die allgemeinen Ausdrücke galten ihnen nur als unbestimmte und verschwommene Bezeichnung vieler ähnlicher Einzeldinge. Diese Ansicht wurde von den Scholastikern fast allgemein verworfen und mit Recht. Der allgemeinen Ausdruck "Mensch" hat sicher eine ganz bestimmte Bedeutung; es entspricht ihm ein bestimmter Begriff. Dieser Begriff kann aber kein Begriff eines konkreten Einzelwesens sein, sonst könnte ich ihn nicht von vielen Einzelwesen aussagen und behaupten:  Plato  ist ein Mensch,  Sokrates  ist ein Mensch,  Cäsar  ist ein Mensch usw. Der Begriff kann auch kein Sammelbegriff (Kollektivbegriff) vieler Einzelwesen sein, sonst könnte ich ihn nicht von den Einzelwesen aussagen. Wenn ich behaupte,  Cicero  ist ein Mensch, so will ich damit gewiß nicht aussprechen,  Cicero  sei ein Sammelwesen oder eine Vielheit von Wesen. Auch wenn nur ein einziger Mensch auf Erden leben würde, könnte man den Namen und Begriff des Menschen auf ihn anwenden.

Der extreme Nominalismus war zu augenscheinlich unhaltbar, um sich lange behaupten zu können. Er wurde bald durch eine mildere Richtung, den sogenannten  Konzeptualismus,  verdrängt, dessen Hauptvertreter OCKHAM, BIEL u. a. zwar Allgemeinbegriffe annahmen, aber ihre objektive Gültigkeit in Abrede stellten. Die Allgemeinbegriffe betrachteten sie als subjektive Denkformen, durch die wir viele Dinge wegen der Ähnlichkeit, die ihnen der Verstand beilegt, zusammenfassen.

Allein wir sagen doch unsere Allgemeinbegriffe von den Dingen aus. Wenn wir behaupten, der Löwe ist ein Tier und der Adler ist ein Tier, wollen wir damit sagen, der Begriff des Tiers sei sowohl im Adler wie auch im Löwen verwirklicht. Was der Begriff besagt, ist im Tier enthalten. Wäre der Begriff  Tier  eine bloße subjektive Denkform, der in den Tieren nichts Wirkliches entspräche, so wäre unsere Aussage sinnlos, ja falsch.

Gegenüber den Nominalisten und Konzeptualisten hielten die großen Scholastiker, insbesondere THOMAS von AQUIN und seine Schüler, an der Erklärung der Allgemeinbegriffe fest, die schon ARISTOTELES gegeben und begründet hatte. PLATO hatte, um die Notwendigkeit, Allgemeingültigkeit und Unwandelbarkeit unserer Allgemeinbegriffe zu erklären, objektiv existierende allgemeine und unwandelbare Ideen angenommen, die den eigentlichen Gegenstand unserer Verstandesbegriffe bilden. Die Einzeldinge wären nur deshalb Dinge bestimmter Art, weil sie irgendwie an den ewigen und unveränderlichen Urbildern teilnehmen. Sein großer Schüler widerlegte diese Ansicht eingehend und zeigte, wie der Geist von der Erfahrung ausgehend durch Abstraktion zu allgemeinen und unwandelbaren Begriffen gelangt.

Die Sinne, so führt er aus, nehmen allerdings nur die konkreten Einzeldinge mit ihren zufälligen und wandelbaren Eigenschaften wahr. Unser geistiges Erkenntnisvermögen aber kann in diesen Einzeldingen vom Konkreten und Zufälligen absehen und bis zum Wesen der Dinge vordringen. Es erkennt nicht bloß dieses oder jenes konkrete Sein, sondern das Sein überhaupt im Gegensatz zum Nichtsein; ebenso erkennt es nicht bloß diesen oder jenen konkreten Menschen, sondern den Menschen überhaupt, das, was das Wesen des Menschen im Unterschied zu anderen Dingen ausmacht und worin alle Menschen miteinander übereinstimmen. Dieser von allen zufälligen Eigenschaften absehende, nur das Wesen des Dings erfassende Begriff ist unwandelbar und notwendig. Der Begriff des Kreises gilt von jedem wirklichen und möglichen Kreis, und dieser Begriff ändert sich nicht. Es gibt nur eine Wesenheit des Kreises, die genügend durch die Definition charakterisiert ist: eine in sich selbst zurückkehrende ebene Linie, deren Punkte sämtlich gleichweit von einem außerhalb der Linie gelegenen Punkt abstehen. Auch wenn es in Wirklichkeit keinen Kreis gäbe, so bliebe doch der Begriff des Kreises derselbe; er ist unabhängig von Zeit und Ort und gilt für jeden Verstand, der die Wahrheit richtig zu erfassen vermag.

Diese Allgemeinbegriffe haben objektive Wirklichkeit; ihr  Inhalt  ist der Erfahrung entnommen, wenn derselbe auch nicht in gleicher Weise in den Dingen und in unserem Erkenntnisvermögen ist. Der in der Wirklichkeit lebende Mensch ist immer ein nach Größe, Alter, Talent, Geschlecht usw. genau bestimmter Mensch; aber er hat doch das Wesen des Menschen, in dem er mit allen anderen Menschen übereinstimmt, und der Verstand vermag von den individuellen Bestimmungen abzusehen und nur das Wesen des Menschen zu erfassen. Dieses Wesen existiert in seiner allgemeinen Form, d. h. in seiner Loslösung von allen individuellen Bestimmungen nur im Verstand; aber der  Inhalt  dieses Verstandesbegriffs ist in vielen Menschen verwirklicht; er ist also keine rein subjektive Erkenntnisform.

Unsere Erkenntnis wird durch diese Abstraktion nicht falsch. Abstrahieren heißt nichts anderes als an ein und demselben Ding die eine Seite oder Eigenschaft wahrnehmen ohne die andere. Wenn ich wahrnehme, daß sich in der Ferne ein Gegenstand bewegt, ohne genau zu sehen, was er ist, ist meine Erkenntnis zwar unvollkommen, aber nicht falsch. Desgleichen ist meine Erkenntnis nicht falsch, weil ich bloß das Wesen eines Dinges denke, losgelöst von allem, was es zu einem einzelnen, besonderen Ding macht.

Die Fähigkeit zu abstrahieren, ist einerseits eine Vollkommenheit, andererseits eine Unvollkommenheit des menschlichen Verstandes. Die Sinne nehmen immer nur konkrete Einzeldinge wahr. Das Auge z. B. sieht nur den konkreten Baum in seiner bestimmten Größe, Gestalt, Farbe usw.; es kann keinen Baum im Allgemeinen sehen. Die Sinne sind deshalb nicht imstande, das Erkannte zu zergliedern, das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Allgemeine vom Besonderen zu unterscheiden und so die Beziehungen der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Einheit und Vielheit, der Über- und Unterordnung zu erkennen. Das ist ein Vorzug des Verstandes, allerdings ein Vorzug, der in einer gewissen Unvollkommenheit begründet ist. Gerade weil wir nicht imstande sind, die Erkennbarkeit eines Dings durch einen einzigen, adäquaten Begriff allseitig zu erschöpfen, denken wir dasselbe durch verschiedene Begriffe, von denen jeder nur eine Seite derselben darstellt. Die göttliche, unendliche Vernunft erfaßt durch einen einzigen Begriff alle Dinge nach allen Richtungen mit unendlicher Vollkommenheit und Klarheit.

Die Fähigkeit zu abstrahieren hat aber nicht bloß in unserem subjektiven Erkenntnisvermögen ihre Grundlage, sondern auch in der Natur der geschaffenen Dinge selbst. Je höher ein Wesen in der Stufenleiter der Geschöpfe steht, umso mehr Vollkommenheiten vereinigt es in sich. Der Mensch z. B. hat nicht bloß die Vollkommenheiten der anorganischen Dinge, sondern auch das vegetative Leben der Pflanzen, das sinnliche Erkennen und Begehren der Tiere. Wir können deshalb in ihm verschiedene Vollkommenheiten unterscheiden, obwohl sie alle zu  einem  menschlichen Wesen vereint sind. Hierzu kommt noch, daß in allen endlichen Dingen die Wesenheit von der Existenz unterschieden werden muß. Es liegt z. B. nicht im Wesen des Menschen, zu existieren, sonst könnte es keine bloß möglichen Menschen geben, oder es müßten alle möglichen Menschen existieren, was offenbar unrichtig ist. Wir sind deshalb genötigt, begrifflich das Wesen des Menschen von seinem Dasein und folglich von allen zufälligen Bestimmungen, die das Dasein voraussetzen, zu unterscheiden. Dasselbe gilt von allen anderen Geschöpfen.

Obwohl unsere allgemeinen Begriffe der Erfahrung entlehnt sind, so ist doch unsere Erkenntnis nicht auf die Sinnenwelt eingeschränkt. Viele Begriffe, die wir der Erfahrung entnehmen, sind ihrer Natur nach ganz allgemein: so die Begriffe des Seins, der Einheit und Vielheit, des Werdens, der Veränderung, der Ursache und dgl., die sich auf alle Dinge in gleicher Weise beziehen. Sodann gehört zu den Erfahrungsgegenständen auch unser eigenes Denken und Wollen.

Aus diesen allgemeinen Begriffen gelangen wir durch Vergleich und Analyse zu allgemein gültigen und unwandelbaren analytischen Urteilen und Grundsätzen, z. B. zum Grundsatz des Widerspruchs, zu dem Grundsatz, daß jedes Ding seinen zureichenden Grund haben muß; daß zwei Dinge, die einem dritten gleich sind, auch unter sich gleich sein müssen, daß kein Ding sich selbst aus dem Nichts hervorbringen kann und dgl. Durch Schlußfolgerungen aus diesen Prinzipien und den Tatsachen der Erfahrung können wir den Kreis unserer Erkenntnisse mehr und mehr erweitern.

Ein Haupteinwand gegen die dargelegte Erkenntnistheorie ist die Schwierigkeit, zu erklären, wie der Verstand aus dem Material der sinnlichen Wahrnehmungen und Phantasiebilder durch Abstraktion sich seine Begriffe bildet. Daß hier eine gewisse Schwierigkeit liegt, soll nicht geleugnet werden, obwohl die scharfsinnigen Untersuchungen eines THOMAS von AQUIN und anderer Denker auch hierin manches Dunkel aufgehellt haben. Aber auch wenn uns der Prozeß noch viel verborgener wäre, als er es ist, so wäre das kein Grund, an der  Tatsache  dieses Prozesses zu zweifeln. Wir wissen auch nicht genau, wie sich die Tätigkeit des Sehens in unserem Auge oder mittels desselben vollzieht; ist das etwa ein Grund, an der Wahrheit und Richtigkeit des Sehens zu zweifeln? Keineswegs. In unzähligen Vorgängen unseres Lebens vermögen wir die  Tatsache  mit Sicherheit zu konstatieren, ohne von uns von einem  Wie  genau Rechenschaft geben zu können.

Den tiefsten ontologischen Grund für die Fähigkeit unserer Vernunft, die objektive Welt richtig zu erfassen und sich allgemeine und unwandelbare Begriffe und Grundsätze zu bilden, hat die christliche Philosophie von jeher darin gefunden, daß der Mensch eine geistige Erkenntniskraft besitzt, die aus derselben Quelle stammt, der alle Dinge ihr Dasein verdanken. Alle geschaffenen Dinge sind nur Abbilder der göttlichen Wesenheit oder zeitliche Verwirklichungen der ewigen Ideen des Schöpfers, und die menschliche Vernunft ist ein Abglanz, ein Ebenbild der einen, ewigen Vernunft, welche die Ideen zur Erschaffung aller Dinge geliefert hat. Aber freilich, an diesem Punkt scheiden sich die Wege der christlichen und der "modernen" Philosophie.


§ 3.
Der Nominalismus Kants

Die aristotelische Erkenntnistheorie war durch die tiefsinnigen Untersuchungen eines ALBERTUS MAGNUS, eines THOMAS von AQUIN, eines BONAVENTURA und anderer großer Denker allmählich zur allgemeinen Herrschaft gelangt. Nach der Reformationszeit wurden diese Untersuchungen katholischerseits wieder aufgenommen und in manchen Punkten weitergeführt, ohne daß man an den wesentlichen Grundlagen der Theorie rüttelte. Auch auf protestantischer Seite hielt man nach der Reformation an der altbewährten Theorie fest. Das beweist u. a. die Tatsache, daß selbst an protestantischen Universitäten die  Disputationes metaphysicae  des FRANZ SUAREZ († 1617) den philosophischen Vorlesungen zugrunde gelegt wurden.

KANT selbst gehörte in der früheren Periode seiner Lehrtätigkeit der  Wolffischen Schule  an, die auf dem Boden der überlieferten Anschauungen stand. Erst in der späteren Periode wurde er durch die englischen Empiristen und Skeptiker einer ganz neuen nominalistischen Erkenntnistheorie zugeführt, die seitdem das Denken weiter Kreise beherrscht.

Der Empirismus muß konsequent zur Leugnung aller allgemeinen, notwendigen und unwandelbaren Begriffe und Grundsätze führen. Die Erfahrung kann uns nur lehren, was bisher geschehen ist, aber nicht, was notwendig immer und überall geschehen  muß.  Die konsequenten Empiristen und Sensualisten leugnen deshalb auch die eigentlichen Allgemeinbegriffe; diese gelten ihnen nur als undeutliche und verschwommene Zusammenfassungen vieler Einzelvorstellungen.

KANT wollte dem Empirismus gegenüber die Notwendigkeit und Allgemeinheit unserer Erkenntnis retten, aber in einer Weise, die ihn zum extremsten Nominalismus und Subjektivismus führt. Angesichts des nachhaltigen Einflusses, den der Königsberger Philosoph durch seine Erkenntnistheorie auf die Auffassung von Glauben und Wissen bis heute ausübt, ist es unerläßlich, daß wir diese Theorie einer eingehenden Prüfung unterwerfen. I. KANT selbst erzählt in einem Brief aus dem Jahre 1772, daß ihn HUME aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt hat. Gegen den Skeptiker wollte er die Grundlagen unseres Denkens untersuchen und seine Grenzen genau abstechen. Er geht von der Lehre der Urteile aus.

Es gibt nach ihm zwei Arten von Urteilen:  Erfahrungsurteile  (Urteile  a posteriori),  die sich auf besondere und zufällige Dinge beziehen, z. B. das Urteil: es ist kalt oder warm; und von der  Erfahrung unabhängige,  allgemeine und notwendige  Urteile  (Urteile  a priori).  Diese letzteren können nicht aus der Erfahrung stammen, die uns bloß über Besonderes und Zufälliges berichtet: sie zerfallen wieder in zwei Arten: die analytischen und synthetischen Urteile  a priori.  Die  analytischen  Urteile sind solche, in denen wir das Prädikat durch eine bloße Analyse des Subjekts finden. Diese haben bloß Wert für unsere subjektiven Begriffe und erweitern unsere Erkenntnisse nicht, es sind bloße Erläuterungsurteile. Die  synthetischen Urteile a priori  hingegen sind allgemeine und notwendige Urteile, in denen das Prädikat nicht durch eine bloße Analyse des Subjekts gefunden werden kann, die also unser Wissen erweitern. Diese synthetischen Urteile  a priori  bilden die eigentliche Grundlage der kantischen Erkenntnistheorie.

Daß  wir solche synthetischen Urteile  a priori  haben, behauptet KANT mit großer Zuversicht. Er glaubt, alle mathematischen Sätze, z. B.  7 + 5 = 12,  seien derartige Urteile, ebenso alle allgemeinen Grundsätze der Naturwissenschaften, ja selbst die metaphysischen Grundsätze, wie z. B. daß alles, was geschieht, eine Ursache haben muß und dgl.

Aber  wie  sind solche Urteile möglich? Das ist nun die Kernfrage, die KANT in seiner "Kritik der reinen Vernunft" untersuchen und lösen will. Er unterscheidet drei Erkenntnisvermögen - die er, nebenbei bemerkt, ohne einen weiteren Beweis als gegeben annimmt -: das Anschauungsvermögen, den Verstand und die Vernunft. Jedes dieser Vermögen hat seine inhaltsleeren, von der Erfahrung unabhängigen (reinen) Erkenntnisformen. Durch das sinnliche  Anschauungsvermögen  mit seinen angeborenen Formen von Zeit und Raum haben wir Vorstellungen von außerhalb von uns und nebeneinander liegenden und aufeinander folgenden Dingen. Wir nehmen jedoch nur die Erscheinungen der Dinge wahr, nicht die Dinge-ansich. Was jenseits der Erscheinungen liegt, wissen wir nicht. Ziehen wir von den Erscheinungen alles ab, was auf Rechnung unseres Anschauungsvermögens fällt, so bleibt uns nur ein unbekanntes  X von dem wir den Eindruck herleiten, den unsere Sinne empfangen. Dieses unbekannte  X  ist das "Ding ansich".

Die Erscheinungen unseres Anschauungsvermögens sind nun der Stoff unserer Verstandestätigkeit. Der  Verstand  erzeugt spontan und unabhängig von aller Erfahrung gewisse Erkenntnisformen, in welche der Stoff der sinnlichen Erfahrung eingefügt wird. Diese Formen (Kategorien) sind nicht der Gegenstand der Erfahrung, sondern eine Bedingung derselben. Denn ich kann nur das als Objekt erkennen, was die Form annimmt, durch welche das Ich (d. h. mein ursprüngliches Bewußtsein) alles Gegebene gestaltet. Die Verstandesformen haben daher objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil  a priori.  Da die Dinge ansich für uns unerkennbar sind, ist eine eigentliche Metaphysik, die uns das Wesen der Dinge enthüllt, unmöglich; möglich ist nur eine Metaphysik der Erscheinungen.

KANT unterscheidet zwölf Kategorien oder Stammbegriffe des Verstandes, z. B.  Einheit, Vielheit, Realität, Kausalität, Dasein  und  Nichtsein  usw. Die Dinge-ansich haben weder Einheit noch Vielheit, sie sind keine Substanzen, unterliegen nicht der Kausalität oder sonst einer Kategorie. Diese gelten bloß für die Erscheinungsobjekte unseres Bewußtseins. Wir geben also der Natur Gesetze, nicht sie für uns. Wir bringen die Natur erst durch unsere geistigen Gesetze zustande.

Die Tätigkeit des Verstandes haftet am Endlichen und Bedingten; die  Vernunft,  das dritte Erkenntnisvermögen, sucht zum Unendlichen und Unbedingten vorzudringen und die Verstandesbegriffe zu einer höheren Einheit zu verknüpfen. Sie bildet sich die Idee der  Seele  als einer immer beharrenden Substanz, die Idee der  Welt  als einer unbegrenzten Kausalreihe und die Idee  Gottes  als des Inbegriffs aller Vollkommenheiten. Da diese Ideen auf Objekte gehen, welche jenseits der Erfahrung liegen, so haben sie keine theoretische Gültigkeit. Eine rationale Psychologie, Kosmologie und Theologie sind unmöglich. Die Beweise für das Dasein Gottes sind nur Sophistikationen, die jedoch der Vernunft so natürlich sind, daß auch der Weiseste sich kaum vor ihnen zu hüten vermag.

II. Das ist in Kürze das Ergebnis der kantischen "Kritik der reinen Vernunft". Werfen wir einen prüfenden Blick auf dasselbe.

 1.  Die Grundvoraussetzung, auf der das Lehrgebäude des Kritizismus ruht, ist die Annahme: Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit in unserer Erkenntnis lasse sich nur  a priori  und nicht aus der Erfahrung gewinnen. Damit will KANT nicht bloß sagen, die Erfahrung  allein  könne uns keine allgemeinen und notwendigen Begriffe und Grundsätze liefern; dagegen ließe sich nichts einwenden. Er meint vielmehr, aus der Erfahrung lassen sich auf keine Weise solche Begriffe und Grundsätze erwerben. Diese Voraussetzung nimmt KANT, wie ÜBERWEG (1) sehr richtig bemerkt, vollständig beweislos an und legt sie allen seinen Voraussetzungen zugrunde. Das ist gewiß höchst merkwürdig und nichts weniger als kritisch. Schon ARISTOTELES hatte gegen PLATO gezeigt, wie es möglich ist, durch Abstraktion aus der Erfahrung zu notwendigen und allgemeinen Kenntnissen zu gelangen; dasselbe zeigten die großen Denker des Mittelalters gegen die Nominalisten, und ihnen folgten die meisten Philosophen der Neuzeit, sogar KANT selbst in der ersten Periode seiner Spekulation. Und nun wird auf einmal und ohne jeden Beweis zur Grundvoraussetzung des Systems die Annahme gemacht, notwendige und allgemeine Kenntnisse könnten nur rein  a priori  aus der Vernunft selbst stammen! Ist das nicht ein Dogmatismus der schlimmsten Art?

 2.  Auch die Art und Weise, wie KANT sein erkenntnistheoretisches Problem stellt und lösen will, ist widerspruchsvoll. Er wirft dem Dogmatismus vor, daß er eine Metaphysik konstruierte, ohne zu fragen, ob eine solche überhaupt möglich ist oder ob und wie weit die menschliche Vernunft imstande ist, die Wirklichkeit zu erkennen. Um diese Lücke auszufüllen, will KANT die Zuverlässigkeit der Vernunft in Frage stellen und untersuchen.

Nun fragt sich gleich, womit will denn KANT die Zuverlässigkeit der Vernunft prüfen? Offenbar kann er sich dazu nur derselben Vernunft bedienen, deren Zuverlässigkeit in Frage steht. Entweder muß er also die Vertrauenswürdigkeit der Vernunft im Widerspruch zu seinem Vorhaben beständig voraussetzen oder aber er muß seinen Untersuchungen jede Zuverlässigkeit absprechen.

Mit Recht hat deshalb schon HEGEL gegen KANT eingewendet, vor dem Denken das Denken prüfen wollen, heißt denken wollen vor dem Denken, oder gleichsam schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen. KUNO FISCHER u. a. wollen diese Einwendung mit der Bemerkung ablehnen, KANT habe nicht untersuchen wollen,  ob  wir mit der Vernunft die Wahrheit erkennen können, sondern bloß,  wie  sich die Vernunft dabei zu verhalten hat, wie man auch einem Menschen vor dem Schwimmen das Schwimmen erklären kann. Allein die Bemerkung trifft nicht zu. KANT will ergründen, wie Erfahrung möglich ist, d. h. wie wir die Wirklichkeit erkennen. Erkennen wir überhaupt etwas? Das ist der Sinn der kantischen Fragestellung. Das zeigt ja auch das Resultat, zu dem er schließlich gelangt. Er leugnet einfach, daß wir  etwas  erkennen, eine wahre Metaphysik ist unmöglich (2).

 3.  Auch dadurch verwickelt sich KANT in Widersprüche, daß er unserem Erkenntnisvermögen die Fähigkeit abspricht, das wirkliche Sein der Dinge außerhalb unseres Erkenntnisakts zu erfassen, es also auf den bloßen Schein der Dinge einengt, und doch zugleich uns eingehend über das wirkliche Wesen unserer Erkenntnis belehren will. Er nimmt ja - allerdings ohne Beweis - drei ganz verschiedene Erkenntnisvermögen im Menschen an, die voneinander abhängen, die ihre bestimmten, inhaltsleeren Erkenntnisformen haben und die uns nur über den Inhalt unserer sinnichen Erfahrung berichten können. Das sind doch wohl alles Aussagen über das wirkliche  Wesen  unserer Erkenntnis, also über das Ding-ansich, von dem wir nach KANT nichts wissen können. KANT kann überhaupt nie behaupten, was ein Ding in Wirklichkeit ist, ohne sich selbst zu widersprechen. Die Brücke zwischen unserem Erkennen und der objektiven Wirklichkeit ist abgebrochen. Unsere Denkmaschine arbeitet nur mit subjektiven Erkenntnisformen und subjektivem Schein, die nie zur wirklichen Welt führen. Wir sind eingeschlossen in einer Wolke subjektiver Erscheinungen; was darüber hinausliegt, ist unbekanntes Land.

 4.  Auf einen weiteren offenkundigen Widerspruch im kantischen System haben schon G. E. SCHULZE (Aenesidemus) und FICHTE nachdrücklich hingewiesen. In unseren Anschauungen haben wir Erscheinungen von außerhalb von uns liegenden, zeitlich aufeinander folgenden Dingen. Nun fragt sich: wirken diese "Dinge ansich" auf unsere Sinne? Sind sie Mitursache unserer Anschauungen? Wenn ja, dann haben wir Kausalität, Wirklichkeit, Zeitlichkeit usw. in den Dingen selbst und unabhängig von unseren Erkenntnisformen im Widerspruch zu KANTs Annahme, daß Kausalität, Wirklichkeit usw. bloß apriorische Erkenntnisformen sind. Wenn  nein,  dann haben wir keinen Grund mehr, von einem Ding-ansich zu reden; wir können nicht bloß nicht wissen, was das Ding-ansich ist, sondern nicht einmal, ob es überhaupt ein Ding-ansich gibt. Alles löst sich dann in einen bloß subjektiven Schein auf, und es darf uns nicht wundern, daß schon Fichte das Ding-ansich fallen ließ und aus den kantischen Grundanschauungen den reinsten subjektiven Idealismus herleitete.

 5.  Geradezu unbegreiflich ist die Lehre KANTs von den Anschauungsformen der Sinnlichkeit. Wäre die Lehre richtig, so müßten uns die Affektionen von außen einen völlig ungeformten chaotischen Stoff liefern. Sonst könnte sich ja dieser Stoff nicht widerstandslos dem apriorischen Gesetz der Verknüpfung und Ordnung durch unseren Verstand fügen. Andererseits muß dieser Stoff doch irgendwie geordnet sein. Wie kämen wir sonst dazu, nicht alle subjektiven Formen auf jeden Stoff in gleicher Weise anzuwenden? Wer annimmt, der Verstand treibe mit dem chaotischen Erfahrungsstoff ein rein willkürliches Spiel und werde in keiner Weise durch die Verschiedenheit des Stoffes bestimmt, leugnet jeden Unterschied von Empirischem und Apriorischem, von Subjektivem und Objektivem in unserer Erkenntnis und wird schließlich zum vollen Skeptizismus geführt. Welche Gewähr haben wir dann noch von der geringsten objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnisse?

Nach KANT sind Zeit und Raum in keiner Weise in den Dingen, sondern nur Anschauungen unserer Sinne. Wirklich merkwürdig! Wer mit gesunden Sinnen durch eine Straße geht, weiß doch sehr gut, welche Häuser rechts und welche links von der Straße liegen: er weiß auch sehr gut, in welcher Reihe sie aufeinander folgen und daß nicht er durch seine Wahrnehmung diese Reihenfolge, sondern die Reihenfolge seine Wahrnehmung bestimmt. Wer wiederholt mit dem Dampfer den Rhein befährt, sieht die Städte, Dörfer, Burgen, Hügel usw. immer in derselben Reihenfolge an sich vorüberziehen, und er kann sich leicht überzeugen, daß alle Mitreisenden die gleiche Erfahrung machen. Wenn die Astronomen die Planetenbahnen bestimmen, ihre Entfernung von der Sonne, die Geschwindigkeit der Planetenbewegungen usw., so setzen sie voraus, sie hätten es hier nicht mit bloß subjektiven Anschauungen zu tun, sondern die Sterne beschrieben objektiv im Himmelsraum in schönster Ordnung und Regelmäßigkeit ihre Bahnen und die Ursache der elliptischen Form der Planetenbahn liege in der Anziehung der Sonne und nicht in einer Kategorie unseres Verstandes. - Desgleichen wenn die Geschichtsschreiber so genau durch eine Erforschung der Urkunden und Denkmäler Zeit und Aufeinanderfolge der Ereignisse zu bestimmen suchen, setzen sie die Aufeinanderfolge als eine objektiv gegebene voraus.

Man mag zugeben, daß der abstrakte Begriff der Zeit und des Raumes nicht ohne die vergleichende und abstrahierende Tätigkeit des Verstandes zustande kommt, aber das Nebeneinander und die Aufeinanderfolge der Dinge ist unabhängig von unserem Verstand da.

 6.  KANT schreibt in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" (3):
    "Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie  a priori  etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen,  daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten,  welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben  a priori  zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, wie mit den ersten Gedanken des KOPERNIKUS bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.  In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen." 
Diese Worte enthüllen das Grundverkehrte in der ganzen kantischen Anschauung. Was wollen wir denn bei all unserem Denken und Forschen? Die Welt erkennen,  wie sie in Wirklichkeit ist.  KOPERNIKUS hat deshalb eine neue Erklärung der Planetenbewegungen aufgestellt, weil er erkannte, daß die bisherige der Wirklichkeit nicht entsprach, mithin falsch war; er setzte also voraus, daß sich unser Denken nach dem objektiven Sachverhalt und nicht dieser nach unserem Denken richten muß. In der Tat, was will der Astronom, wenn er die langen Nächte mit seinem Fernrohr den Sternenhimmel beobachtet? Meint er, die Sterne müßten sich nach seinen Anschauungen richten? Oder will er bloß wissen, wie sich die Sterne in seinem Denken ausnehmen? Keineswegs. Er will wissen, was die Stern  sind,  welche Entfernungen uns von ihnen trennen, nach welchen Gesetzen sie sich bewegen und verändern, aus welchen Stoffen sie bestehen usw.

Dasselbe gilt von allen Naturwissenschaften und folglich auch von unseren allgemeinsten Begriffen und Grundsätzen, die den Gegenstand der Metaphysik bilden und ohne die keine wahre Wissenschaft möglich ist. Behaupten, wir seien nicht imstande, mit unseren allgemeinen Begriffen und Grundsätzen die objektive Wirklichkeit zu erfassen, zerschneidet jeder Wissenschaft, ja jedem vernünftigen Denken den Lebensnerv. Es ist nicht zufällig, daß auf KANT die tolle Spekulation eines SCHELLING, HEGEL u. a. folgte, welche die ganze Welt  a priori  konstruieren wollte, wie die Spinne ihre Netze aus sich heraus entwickelt. F. A. LANGE redet von einer "idealistischen Sturzwelle", die seit FICHTE und SCHELLING über Deutschland hereinbrach, und die Hauptschuld an dieser Erscheinung trägt der Königsberger Philosoph.

EDUARD von HARTMANN ist in vielen Punkten ein scharfer Gegner der kantischen Erkenntnistheorie, er meint aber doch in einem Punkt KANT gegen die Angriffe seiner Gegner in Schutz nehmen zu können.
    "Kant  hat ... nicht die Unerkennbarkeit der Dinge-ansich behauptet, sondern nur ihre  philosophische  Unerkennbarkeit im Sinne des Wortes  Philosophie,  den er allein gelten läßt. Er hat nicht behauptet, daß die Dinge ansich jenseits der Grenzen unseres Vernunftgebrauches überhaupt liegen, sondern nur, daß sie jenseits des philosophischen Vernunftgebrauchs im Sinne einer apodiktisch gewissen Erkenntnis liegen. ... Auch nach kantischen Grundsätzen bleibt es durchaus offen, sich um die induktive Erforschung der Dinge-ansich zu bemühen, vorausgesetzt, daß jemand eine Erkenntnis von nicht apodiktischer Gewißheit überhaupt der Forschungsmühe wert erachtet." (4)
Diese Ehrenrettung KANTs muß als ganz mißglückt bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen philosophischer und nichtphilosophischer Erkenntnis ist nicht nur in sich unhaltbar, sondern auch nicht im Sinne KANTs. KANT will überhaupt untersuchen, ob und wie weit die  menschliche Vernunft  zuverlässig ist. Hat nun etwa der Philosoph eine andere Vernunft als der gewöhnliche Sterbliche? Keineswegs.  Jeder  Mensch hat nach KANT die drei oben gekennzeichneten Erkenntnisvermögen: sinnliche Anschauung, Verstand und Vernunft; bei  jedem  verläuft der Erkenntnisprozeß in derselben Weise, bei  jedem  liefern die sinnlichen Anschauungen nur die Erscheinungen der Dinge, nicht die Dinge-ansich, und damit ist jeder sicheren Erkenntnis der Wirklichkeit der Boden entzogen. Wenn der Bauer zusammenrechnet  7 + 5 = 12,  so ist das ebenso ein synthetisches Urteil  a priori,  wie wenn der Mathematiker und Philosoph diese großartige Operation vollzieht. Der Philosoph kommt im Wesentlichen auf keinem anderen Weg zur Wahrheit als der Bauer, der Handwerker und der Spekulant.


§ 4.
Der deutsche Nominalismus seit Kant

Nichts zeigt deutlicher, daß die kantische Erkenntnistheorie letzten Endes zum reinsten Subjektivismus führen muß, als der Umstand, daß durch ihren Einfluß die deutsche Philosophie immer mehr auf die Wege des extremsten Phänomenalismus und Relativismus geraten ist.

Vom idealistischen Rausch der sogenannten spekulativen Periode FICHTEs, SCHELLINGs und HEGELs war schon die Rede. Aber auch außerhalb dieser Schulen und nach ihrem Zusammenbruch blieb die deutsche Philosophie vielfache in den idealistischen Anschauungen der kritischen Schule verstrickt. So bekennt sich z. B. HERMANN LOTZE (1817-1881) ausdrücklich als Anhänger KANTs. In seiner "Logik" schreibt er (5): "Es ist im Wesentlichen die Ansicht  Kants,  die ich vertrete und von der die deutsche Philosophie nie hätte lassen sollen." Allerdings korrigiert er in einigen Punkten seinen Lehrmeister, aber im Wesentlichen ist er bei der kritischen Erkenntnistheorie stehen geblieben. Wie KANT, gilt auch ihm die Sinnenwelt als bloße Erscheinung. Raum und alle räumlichen Beziehungen sind lediglich subjektive Anschauungsformen, unanwendbar auf die Dinge, welche die bewirkenden Gründe all unserer sinnlichen Einzelanschauungen sind (6).

Dasselbe gilt von der Zeit. Die Sinnenwelt ist überhaupt das Produkt unseres eigenen Geistes und nur in unseren Vorstellungen vorhanden. Ein theoretisches Erkennen der Dinge-ansich, der realen Welt außerhalb von uns, ist eine Unmöglichkeit, ja ein Widerspruch, weil unser Erkennen an die Natur unseres Erkenntnisvermögens gebunden ist. Nur  glauben  können wir, daß unser Denken mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Dieser Glaube ist ein inneres Erlebnis, eine unmittelbare gewisse Überzeugung.

Der Glaube muß uns also aus dem Schiffbruch der Metaphysik heraushelfen!

Ein Anhänger der kantischen Erkenntnistheorie scheint auch WILHELM WUNDT, ohne Zweifel einer der einflußreichsten deutschen Philosophen der Gegenwart, zu sein. Zumindest beruhen nach ihm Raum und Zeit auf subjektiven Gesetzen der Synthese der Vorstellungen. Desgleichen sind die Begriff der Kausalität und Substanz, deren man zur Naturerklärung bedarf, psychologischen Ursprungs. Nur von diesem Standpunkt aus begreift man den wunderlichen Satz WUNDTs: "Im 17. Jahrhundert gibt Gott Naturgesetze, im 18. Jahrhundert tut es die Natur und im 19. besorgen es die einzelnen Naturforscher." (7)

Aus neuester Zeit sei als Anhänger KANTs HEINRICH SPITTA erwähnt. Zu den unbedingten Wahrheiten kann uns die Wissenschaft nicht verhelfen. Die Wissenschaft forscht nach den Naturgesetzen, aber diese Gesetze sind schließlich nur Gesetze, welche der Geist der Natur aufdrückt, "Normen, welche der Intellekt sich selbst gibt in der Erforschung der Natur, die er, von sich aus gesehen, also aus dem Bedürfnis, die Natur zu erklären ... ihr unterschiebt und damit ihr ebenfalls vorschreibt". (8) Aus  der  Natur ist  seine  Natur geworden. Absolute Wahrheiten sind auf diesem Weg nicht erreichbar. Die Wissenschaft hat dieses oder jenes erklärt, kann nur bedeuten: wir mit unseren gegenwärtigen Mitteln haben uns durch eine künstliche Unterschiebung einer idealen Norm dieses oder jenes Geschehen zurechtgelegt und damit angeeignet (9).

Alle wissenschaftliche Gewißheit beruth auf der Voraussetzung der Unveränderlichkeit unseres Intellekts. Ob aber diese Voraussetzung zutrifft, können wir nicht wissen. Deshalb besitzen wir selbst in den mathematischen Axiomen keine unbedingte Wahrheit.
    "Wenn man mit einer gewissen Emphase behauptet hat, daß  2 x 2 = 4  sei überall, auf allen Planeten, und erweitern wir dies dahin, es sei überhaupt überall und stets, in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, von Ewigkeit zu Ewigkeit, so ist das nichts mehr als eine unerwiesene und unbeweisbare Behauptung; man behauptet da etwas, was kein Mensch wissen kann." (10)
Der Satz hat nur Geltung, wenn man voraussetzt, der menschliche Intellekt sei der einzig denkbar, der Intellekt schlechthin. Allein gerade das steht in Frage. "Absolute Geltung kommt ihnen (den mathematischen Sätzen) ebensowenig zu, wie irgendeiner anderen wissenschaftlichen Erkenntnis." (11)

Solche axiomatische Erkenntnisse sind letzte Tatsachen, über die der Intellekt nicht hinauszukommen vermag, Grenzbestimmungen, bei denen man sich schließlich beruhigt.
    "Er kann eben nichts anderes, als sich in Gottes Namen hierbei zu beruhigen - das und gar nichts anderes ist es mit jener unvergleichlichen Sicherheit der Axiome." (12)

    "Kann ich wissen, ob  reine  Wahrheit  die  Wahrheit ist? Antwort: ich kann es nicht wissen. Es gibt für uns nichts Unbedingtes." (13)
Doch will SPITTA nicht auf alle unbedingte und absolute Wahrheit verzichten, aber nicht die Wissenschaft kann uns dieselbe verschaffen, sondern nur der  Glaube

Diese Verzweiflung an aller unbedingten Wahrheit auf dem Boden der Wissenschaft ist ganz folgerichtig vom Standpunkt der Erkenntnistheorie KANTs. Woher nähme denn unser Verstand das Vorrecht, der einzige ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht zu sein?

SPITTA ist in dieser Beziehung konsequenter als Professor PAULSEN. KANT hielt unbeugsam an einem System ewiger, unveränderlicher Wahrheiten fest. PAULSEN selbst bezeichnet als den charakteristischen Zug im kantischen denken "den starren, formalistischen Rationalismus des Systems".
    "Das Ziel der kritischen Erkenntnistheorie ist, die Möglichkeit  absoluter, ewiger Wahrheiten  nachzuweisen. Sie behauptet gegen  Humes  Relativismus, daß es Natur- und Sittengesetze von absoluter Allgemeinheit und Notwendigkeit gibt." (14)
Dem gegenüber behauptet PAULSEN, die neuere Zeit sei über KANT hinausgegangen. Sie neigt der "historisch-genetischen und damit relativistischen Denkweise" zu und hat die absoluten Wahrheiten aufgegeben.
    "Es gibt, abgesehen von der Logik und Mathematik, nur relative, nicht ewige Wahrheiten. Die Wirklichkeit ist in beständigem Fluß, ihr folgt die Erkenntnis.  Der Ewigkeit und Unveränderlichkeit Gottes entsprach der theologische Dogmatismus; den starren Substanzen, womit die mathematische Physik rechnete, entsprach der rationalistische Dogmatismus;  einer Welt des Werdens entspricht die genetisch-relativistische Denkweise." 
Gewiß ist es folgerichtig, daß eine Zeit, die alles in den Strom der Entwicklung und des Werdens stellt, die absoluten Wahrheiten aufgegeben hat. Aber höchst inkonsequent ist es, wenn PAULSEN mitten in diesem Strom eine Felseninsel auftauchen läßt, um darauf seine Logik und Mathematik zu bergen. Woher nehmen denn die Logik und Mathematik ihr Recht, nicht mit dem Brandmal der Relativität und Veränderlichkeit gezeichnet zu werden? Nach KANT und seinen Anhängern sind ja die mathematischen Urteile synthetische Sätze  a priori  gerade wie die metaphysischen Sätze, z. B. das Kausalitätsprinzip.

Aber auch abgesehen von kantischen Voraussetzungen ist es ganz inkonsequent, den metaphysischen Wahrheiten die absolute Gültigkeit abzusprechen und diese doch den logischen und mathematischen Wahrheiten zu belassen. Die Logik und Mathematik setzen eine große Anzahl von Begriffen und Grundsätzen voraus, die  allen  Wissenschaften gemeinsam sind. Die  Mathematik  z. B. setzt mit den anderen Wissenschaften die Begriffe  Ausdehnung, Raum, Zeit, Bewegung, Gleichheit, Ähnlichkeit, Größe, Veränderung, Kraft, Ursache, Wahrheit, Sicherheit, Frage, Beweis, Schlußfolgerung  und dgl. voraus. Desgleichen setzt sie voraus den Grundsatz vom Widerspruch, daß nichts unter derselben Hinsicht zugleich sein und auch nicht sein kann, den Grundsatz, daß jede Veränderung eine Ursache haben muß, daß zwei Dinge, die einem dritten gleich sind, auch unter sich gleich sein müssen; ferner setzt sie die Objektivität unserer Begriffe, die Fähigkeit unserer Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, voraus und dgl. Sind diese Begriffe und Grundsätze nicht absolut gültig, so ist es um die absolute Allgemeinheit und Notwendigkeit der Mathematik geschehen; sind sie aber unveränderlich, so ist damit eine unverrückbare Grundlage für alle Wissenschaften gegeben.

PAULSEN muß also, um folgerichtig zu sein, allgemein alle unwandelbaren, absolut gültigen Begriffe und Grundsätze leugnen. Und dahin führt meines Erachtens mit notwendiger Konsequenz die kantische Erkenntnistheorie. Ist eine eigentliche Metaphysik unmöglich, ist all unser Denken nur eine Verarbeitung unserer Anschauungen durch rein subjektive Geistesformen, dann ist es um jede objektive Wahrheit und Gewißheit geschehen, wir haben keine Gewähr mehr dafür, daß unser Denken nicht beständig wechselt. Behaupten, es gebe allgemeingültige, notwendige Begriffe, hieße behaupten, es gebe eine objektive, von unserem Denken unabhängige und unwandelbare Wirklichkeit; diese Behauptung wäre vom kantischen Standpunkt ein Widerspruch, und die richtige Konsequenz aus dem kritischen Idealismus ist die Verzweiflung an jeder wahren und echten Wissenschaft.

Die Relativität des Erkennens und Wissenschaft schließen sich nun einmal gegenseitig aus. Die Wissenschaft sucht nicht zu ermitteln, was uns  heute  zu sein scheint oder was wir  heute  über eine Sache denken, sondern was  wahr  ist. Solange wir fürchten müssen, daß ein Ergebnis unserer Forschung dereinst als unrichtig nachgewiesen werden kann, haben wir wohl eine Vermutung, eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese, aber kein sicheres Resultat der Wissenschaft. Darin besteht die Würde, sozusagen die Majestät der Wissenschaft, daß sie mit Quadern für die Ewigkeit baut, daß ihre Resultate völlig unumstößlich sind und von jedem Intellekt als war anerkannt werden müssen.

Jahrtausende lang war man von der Bewegung der Sonne um die Erde fest überzeugt. War das Wissenschaft? Die relativistische Denkweise muß das behaupten. Es schien ja allen wahr zu sein. Abr es war keine Wissenschaft, sondern ein Irrtum; es fehlte eben die Übereinstimmung des Erkennens mit dem wirklichen Sein; man dachte sich den Sachverhalt anders, als er war. So eine Erkenntnis kann alles andere sein, nur keine Wissenschaft. Der Relativismus in der Erkenntnistheorie wird schließlich dazu gedrängt, Wahrscheinlichkeit und Wahrheit oder zumindest Wahrheit und Fürwahrhalten für identisch zu erklären. Wer fest von einer Sache überzeugt ist, der  weiß  auch in einem relativistischen Sinn; denn ein anderes Wissen gibt es gar nicht. Der Relativismus muß auch die Fähigkeit der Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, leugnen und damit auf jede Sicherheit verzichten. Er kann nicht mehr zwischen wahren und falschen Urteilen unterscheiden, sondern höchsten noch zwischen mehr oder weniger zuversichtlichen subjektiven Urteilen, die nur für den Erkennenden selbst, ja genau genommen nicht einmal mehr für ihn selbst, richtig sind. Denn es fehlt jeder objektive Maßstab zu einer solchen Unterscheidung. Das ist der Bankrott aller Wissenschaft, zu dem die Leugnung aller metaphysischen, unbedingt notwendigen und allgemeingültigen Wahrheiten notwendig führen muß.

SPITTA meint, um unseren Erkenntnissen eine absolute Geltung zuschreiben zu können, müßten wir wissen, daß unser Intellekt der einzig denkbare, der Intellekt schlechthin ist. Dem ist nicht so. Wir brauchen bloß zu wissen, daß unser Intellekt fähig ist, die Wahrheit zu erkennen und daß es eine objektive Wahrheit gibt. Freilich darin muß jeder Intellekt mit dem unsrigen übereinkommen, daß er fähig ist, die Wahrheit richtig zu erkennen, sonst hört er eben auf, ein wahrer Intellekt zu sein; aber welcher Art dieser Intellekt sonst ist, das ist gleichgültig. Tatsächlich erkennen reine Geister in viel vollkommenerer Weise als wir sinnlich-geistigen Menschen, und noch viel vollkommener, ja unendlich vollkommen erkennt die Wahrheit jener Intellekt, der selbst die wesenhafte Wahrheit, der Urgrund und die Quelle aller Wahrheit ist: Gott selbst. Gerade weil jeder geschaffene Verstand ein Ebenbild der ewigen Weisheit ist, ist er auch von Haus aus veranlagt, die in den geschaffenen Dingen verwirklichten Ideen des ewigen Werkmeisters herauszulesen und mit allen anderen Arten von erkennenden Wesen ein großes Reich der Geister mit gegenseitigem geistigem Verkehr zu bilden.

Aber ist eine solche Erkenntnis der ewigen, absoluten Wahrheit auf wissenschaftlichen Weg möglich? Das wird heute von unzähligen in Abrede gestellt und wir müssen deshalb diesem wichtigen Problem unsere Aufmerksamkeit zuwenden.

LITERATUR Viktor Cathrein, Glauben und Wissen, Freiburg i. Br. 1903
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH ÜBERWEG, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. III, 1, Berlin 1924, Seite 262
    2) Vgl. TILMANN PESCH, Die Haltlosigkeit der modernen Wissenschaft, Freiburg 1877, Seite 6.
    3) KANT, Kr. d. r. V., Riga 1787, Seite XVI
    4) EDUARD von HARTMANN, Kants Erkenntnistheorie und Metaphysik in den vier Perioden ihrer Entwicklung, Leipzig 1894, Seite 94.
    5) LOTZE, Drei Bücher vom Denken, Untersuchen und Erkennen, Leipzig 1880, Seite 536.
    6) LOTZE, Mikrokosmus, Bd. III, Leipzig, Seite 491.
    7) WUNDT, Wer ist der Gesetzgeber der Naturgesetze, "Philosophische Studien", Jahrgang 1886, Seite 493
    8) SPITTA, Mein Recht auf Leben, Tübingen 1900, Seite 29
    9) SPITTA, a. a. O., Seite 44
    10) SPITTA, a. a. O., Seite 61
    11) SPITTA, a. a. O., Seite 63
    12) SPITTA, a. a. O., Seite 67
    13) SPITTA, a. a. O., Seite 80
    14) FRIEDRICH PAULSEN, Immanuel Kant - sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1899, Seite 401