p-4cr-4J. MüllerA. SpirH. HelmholtzC. ÜberhorstGoethe    
 
ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Über das Sehen und die Farben

"Alle Anschauung ist eine intellektuale. Denn ohne den  Verstand  käme es nimmermehr zur Anschauung, zur Wahrnehmung, Apprehension von  Objekten;  sondern es bliebe bei der bloßen Empfindung, die allenfalls, als Schmerz oder Wohlbehagen, eine Bedeutung in Bezug auf den Willen haben könnte, übrigens aber ein Wechsel bedeutungsleerer Zustände und nichts einer Erkenntnis Ähnliches wäre."

"Dadurch, daß wir die Farbe als einem Körper inhärierend auffassen, wird ihre diesem vorhergegangene unmittelbare Wahrnehmung durchaus nicht geändert: sie ist und bleibt Affektion des Auges: bloß als deren Ursache wird der Gegenstand angeschaut: die Farbe selbst aber ist allein die Wirkung, ist der im Auge hervorgebrachte Zustand, und als solcher unabhängig vom Gegenstand, der nur für den Verstand da ist: denn alle Anschauung ist eine intellektuale."


Vorrede zur zweiten Auflage

Ich befinde mich in dem seltenen Fall, ein Buch, welches ich vor vierzig Jahren geschrieben habe, zur zweiten Auflage nachbessern zu müssen. Wie nun zwar der Mensch, seinem Kern und eigentlichen Wesen nach, stets derselbe und unverändert bleibt, hingegen an seiner Schale, also seinem Aussehen, Manieren, Handschrift, Stil, Geschmacksrichtungen, Begriffen, Ansichten, Einsichten, Kenntnissen usw. im Laufe der Jahre große Veränderungen vorgehen; so ist, dem analog, auch dieses Werkchen meiner Jugend im wesentlichen ganz dasselbe geblieben, weil eben sein Stoff und Inhalt heute noch so wahr ist, wie damals; aber an seiner Außenseite, Ausstattung und Form habe ich nachgebessert, soweit es anging; wobei man indessen zu bedenken hat, daß die nachbessernde Hand vierzig Jahre älter ist, als die schreibende; daher hier derselbe Übelstand nicht zu vermeiden war, den ich schon bei der zweiten Auflage der Abhandlung über den Satz vom Grunde habe beklagen müssen, daß nämlich der Leser zwei verschiedene Stimmen vernimmt, die des Alten und die des Jungen; so deutlich, daß wer ein feines Ohr hat, nie im Zweifel bleibt, wer eben jetzt spricht. Dieses aber stand nicht zu ändern, ist auch im Grunde nicht meine Schuld, sondern kommt zuletzt daher, daß ein verehrtes deutsches Publikum vierzig Jahre braucht, um herauszufinden, wem es seine Aufmerksamkeit zuzuwenden wohltäte.

Ich habe nämlich diese Abhandlung im Jahre 1815 abgefaßt, worauf GOETHE das Manuskript länger behielt, als ich erwartet hatte, indem er es auf seiner damaligen Rheinreise mit sich führte: dadurch verzögerte sich die letzte Bearbeitung und der Druck, so daß erst zur Ostermesse 1816 das Werkchen ans Licht trat. - Seitdem haben weder Physiologen, noch Physiker es der Berücksichtigung würdig gefunden, sondern sind, davon ungestört, bei ihrem Text geblieben. Kein Wunder also, daß es, fünfzehn Jahre später, den Plagarius verlockte, nunmehr (as a snapper-up of unconsidered trifles [Aufschnapper von unberücksichtigten Kleinigkeiten - wp]) es zu seinem Nutzen zu verwenden.

Inzwischen habe ich vierzig Jahre Zeit gehabt, meine Farbentheorie auf alle Weise und bei mannigfaltigen Anlässen zu prüfen: jedoch ist meine Überzeugung von der vollkommenen Wahrheit derselben keinen Augenblick wankend geworden, und auch die Richtigkeit der GOETHEschen Farbenlehre ist mir noch ebenso einleuchtend, als vor 41 Jahren, da er selbst mir seine Experimente vorzeigte. So darf ich dann wohl annehmen, daß der Geist der Wahrheit, welcher in größeren und wichtigeren Dingen auf mir ruhte, auch in dieser untergeordneten Angelegenheit mich nicht verlassen hat. Das macht, er ist dem Geist der Ehrlichkeit verwandt und sucht sich die redlichen Häupter aus, - wobei er dann freilich keine sehr große Auswahl hat; zumal er eine Hingebung verlangt, welche weder die Bedürfnisse, noch die Überzeugungen, noch die Neigungen des Publikums oder Zeitalters, irgend berücksichtigt, sondern, ihm allein die Ehre gebend, bereit ist, die GOETHEsche Farbenlehre unter Newtonianern, wie eine asketische Moral unter modernen Protestanten, Juden und Optimisten zu lehren.

Bei dieser zweiten Auflage habe ich aus der ersten bloß ein Paar, nicht unmittelbar zur Sache gehörige Nebenerörterungen ausfallen lassen, dagegen aber sie durch beträchtliche Zusätze bereichert. Zwischen der gegenwärtigen und der ersten Auflage dieser Abhandlung liegt nun aber noch meine lateinische Bearbeitung derselben, welche ich unter dem Titel "Theoria colorum physiologica, eademque primaria" im Jahr 1830 dem dritten Band der von JUSTUS RADIUS herausgegebenen  Scriptores ophtalmologici minores  einverleibt habe. Diese ist keine bloße Übersetzung der ersten Auflage, sondern weicht schon in Form und Darstellung merklich von ihr ab und ist auch an Stoff ansehnlich bereichert. Obgleich ich daher sie bei der gegenwärtigen benutzt habe, behält sie noch immer ihren Wert, zumal für das Ausland. Ferner habe ich, im Jahr 1851, im zweiten Band meiner "Parerga und Paralipomena" eine Anzahl Zusätze zu meiner Farbentheorie niedergelegt, um sie vor dem Untergang zu retten; indem, wie ich daselbst angegeben habe, mir, bei meinem vorgerückten Alter, wenig Hoffnung blieb, eine zweite Auflage der gegenwärtigen Abhandlung zu erleben. Inzwischen hat es sich anders gefügt: die meinen Werken endlich zugewendete Aufmerksamkeit des Publikums hat sich auch auf diese kleine und frühe Schrift erstreckt, obwohl ihr Inhalt nur dem kleineren Teil angehört. Jedoch wird dieser letztere auch dem bloß auf Philosophie gerichteten Leser keineswegs unfruchtbar bleiben, indem eine genauere Kenntnis und festere Überzeugung von der ganz subjektiven Wesenheit der Farbe beiträgt zum gründlicheren Verständnis der kantischen Lehre von den ebenfalls subjektiven, intellektuellen Formen aller unserer Erkenntnisse, und daher eine sehr passende philosophische Vorschule abgibt. Eine solche aber muß uns umso willkommener sein, als, in diesen Zeiten überhandnehmender Roheit, Plattköpfe der seichtesten Art sich sogar erdreisten, den apriorischen und daher subjektiven Anteil der menschlichen Erkenntnis, welchen entdeckt und ausgesondert zu haben das unsterbliche Verdienst KANTs ist, ohne Umstände abzuleugnen; während zugleich andererseits einige Chemiker und Physiologen ganz ehrlich vermeinen, ohne alle Transzendentalphilosophie das Wesen der Dinge ergründen zu können, und demnach mit dem unbefangensten Realismus täppisch Hand anlegen: sie nehmen eben das Objektive unbesehen als schlechthin gegeben, und fällt ihnen nicht ein, das Subjektive in Betracht zu ziehen, mittels dessen allein jenes dasteht. Die Unschuld, mit welcher diese Leute, von ihrem Skalpel und Tiegel kommend, sich an die philosophischen Probleme machen, ist wirklich zum Erstaunen; sie schreibt sich jedoch daher, daß jeder ausschließlich sein Brotstudium treibt, nachher aber bei allem mitreden will. Könnte man nur solchen Herren begreiflich machen, daß zwischen ihnen und dem wirklichen Wesen der Dinge ihr Gehirn steht, wie eine Mauer, weshalb es weiter Umwege bedarf, um nur einigermaßen dahinter zu kommen; - so würden sie nicht mehr so dreist von "Seelen" und "Stoff" und dgl. in den Tag hinein dogmatisieren, - wie die philosophierenden Schuster.

Also die in Rede stehenden, in meinen "Parergis" einstweilen deponierten, daher aber auch wie in einer Rumpelkammer zusammengehäuften Zusätze habe ich notwendigerweise der gegenwärtigen Auflage, an ihren gehörigen Stellen, einverleiben müssen; weil ich diese doch nicht unvollkommen lassen konnte, um, betreffenden Ortes, allemal den Leser auf jenes Kapitel der "Parerga" zu verweisen. Natürlich sollen dagegen die hier verwendeten Zusätze aus der zweiten Auflage der "Parerga" weggelassen werden.

Frankfurt am Main, im November 1854



Einleitung

Der Inhalt nachstehender Abhandlung ist eine neue Theorie der Farbe, die schon am Ausgangspunkt von allen bisherigen sich gänzlich entfernt. Sie ist hauptsächlich für diejenigen geschrieben, welche mit GOETHEs Farbenlehre bekannt und vertraut sind. Doch wird sie auch außerdem, der Hauptsache nach, allgemein verständlich sein, immer aber umso mehr, als man einige Kenntnis der Farbenphänomene mitbringt, namentlich der physiologischen, d. h. dem Auge allein angehörigen Farbenerscheinungen, von denen zwar die vollkommenste Darstellung sich in GOETHEs Farbenlehre findet, die jedoch auch früher, hauptsächlich von BUFFON (1), WARIN DARWIN (2) und HIMLY (3) mehr oder weniger richtig beschrieben sind.

BUFFON hat das Verdienst, der Entdecker dieser merkwürdigen Tatsache zu sein, deren Wichtigkeit, ja, Unentbehrlichkeit zum wahren Verständnis des Wesens der Farbe aus meiner Theorie derselben erhellt. Zur Auffindung dieser selbst aber hat GOETHE mir den Weg eröffnet, durch ein zweifaches Verdienst. Erstens, sofern er den alten Wahn der NEWTONschen Irrlehre brach und dadurch die Freiheit des Denkens über diesen Gegenstand wiederherstellt; denn, wie JEAN PAUL richtig bemerkt, "jede Revolution äußert sich früher, leichter, stärker polemisch als thetisch" (Ästhetik, Bd. 3, Seite 861). Jenes Verdienst aber wird dann zur Anerkennung gelangen, wenn Katheder und Schreibtische von einer ganz neuen Generation besetzt sein werden, die nicht, und wäre es auch nur in ihren Greisen, ihre eigene Ehre gefährdet zu halten hat, durch den Umsturz einer Lehre, welche sie ihr ganzes Leben hindurch, nicht als Glaubens-, sondern als Überzeugungssache vortrug. - Das zweite Verdienst GOETHEs ist, daß er in seinem vortrefflichen Werk in vollem Maß das lieferte, was der Titel verspricht: Data  zur Farbenlehre.  Es sind wichtige, vollständige, bedeutsame Data, reiche Materialien zu einer künftigen Theorie der Farbe. Diese Theorie selbst zu liefern, hat er indessen nicht unternommen; daher er sogar, wie er Seite XXXIX der Einleitung selbst bemerkt und eingesteht, keine eigentliche Erklärung vom Wesen der Farbe aufstellt, sondern sie als Erscheinung wirklich postuliert und nur lehrt, wie sie entsteht, nicht was sie ist. Die physiologischen Farben, welche  mein  Ausgangspunkt sind, legt er als ein abgeschlossenes, für sich bestehendes Phänomen dar, ohne auch nur zu versuchen, sie mit dem physischen, seinem Hauptthema, in Verbindung zu bringen.

Wohl ist Theorie, wenn nicht durchgängig auf Fakta gestützt und gegründet, ein eitles leeres Hirngespinst, und selbst jede einzelne, abgerissene, aber wahre Erfahrung hat viel mehr Wert. Andererseits aber bilden alle einzeln stehende Fakta, aus einem bestimmten Umkreis des Gebiets der Erfahrung, wenn sie auch vollständig beisammen sind, doch nicht eher eine Wissenschaft, als bis die Erkenntnis ihres innersten Wesens sie unter einen gemeinsamen Begriff vereinigt hat, der alles umfaßt und enthält, was nur in jenen sich vorfinden kann, dem ferner wieder andere Begriffe untergeordnet sind, durch deren Vermittlung man zur Erkenntnis und Bestimmung jeder einzelnen Tatsache sogleich gelangen kann. Die so vollendete Wissenschaft ist einem wohlorganisierten Staat zu vergleichen, dessen Beherrscher das Ganze, jeden größeren und auch den kleinsten Teil jeden Augenblick in Bewegung setzen kann. Daher steht derjenige, welcher im Besitz der Wissenschaft, der wahren Theorie einer Sache ist, gegen den, welcher nur eine empirische, untergeordnete, wenngleich sehr ausgebreitete Kenntnis derselben sich erworben hat, wie ein poliziertes, zu einem Reich organisiertes Volk gegen ein wildes. Diese Wichtigkeit der Theorie hat ihren glänzendsten Beleg an der neueren Chemie, dem Stolz unseres Jahrhunderts. Nämlich die faktische Grundlage derselben war schon lange vor LAVOISIER vorhanden, in den Tatsachen, welche vereinzelt, von JOHANN REY (1630), ROBERT BOYLE, MAYOW, HALES, BLACK, CAVENDISH und schließlich PRIESTLEY, aufgefunden waren: aber sie halfen der Wissenschaft wenig, bis sie in LAVOISIERs großem Kopf sich zu einer Theorie organisierten, welche gleichsam die Seele der gesamten neueren Naturwissenschaft ist, durch die unsere Zeit über alle früheren emporragt.

Wenn wir (ich meine hier sehr wenige) ferner die NEWTONsche Irrlehre, von GOETHE, teils durch den polemischen Teil seiner Schrift, teils durch die richtige Darstellung der Farbenphänomene jeder Art, welche NEWTONs Lehre verfälscht hatte, auch völlig widerlegt sehen; so wird doch dieser Sieg erst vollständig, wenn eine neue Theorie an die Stelle der alten tritt. Denn das Positige wirkt überall mächtiger auf unsere Überzeugung als das Negative. Daher ist so wahr wie schön, was SPINOZA sagt: "Sicut lux se ipsam et tenebras manifestat; sic veritas norma sui et falsi est." [In der Tat, so wie das Licht sich selbst setzt und die Dunkelheit, so setzt die Wahrheit selbst die Standards für sich selbst und die Falschheit. - wp] (Ethik, P II, prop. 43. Schol.)

Es liegt mir fern, GOETHEs sehr durchdachtes und in jeder Hinsicht überaus verdienstliches Werk für ein bloßes Aggregat von Erfahrungen ausgeben zu wollen. Vielmehr ist es wirklich eine systematische Darstellung der Tatsachen: es bleibt jedoch bei diesen stehen. Daß er dies selbst, und nicht ohne einige Beunruhigung, gefühlt hat, bezeugen solche Sätze aus seinen "Einzelnen Betrachtungen und Aphorismen über Naturwissenschaft im allgemeinen" (Nachlaß, Bd. 10, Seite 150 und 152): "Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird." - "Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetzt der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre." - "Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch nur aus Resignation: aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere, oder innerhalb der Beschränktheit meines bornierten Individuums." - Ich hoffe, meine hier zu liefernde Theorie wird dartun, daß es nicht die Grenzen der Menschheit gewesen sind. Wie aber jene Beschränkung auf das rein Faktische in GOETHEs Geist begründet war, ja, gerade mit seinen höchsten Fähigkeiten zusammenhing, habe ich dargelegt in meinen  Parergis,  Bd. 2, Seite 146 [Bd. 10, Seite 181f dieser Gesamtausgabe]; unserem Gegenstand aber ist es nicht so wesentlich, daß ich es hier wiederholen müßte. Eine eigentliche Theorie also ist nicht in GOETHEs Farbenlehre enthalten; wohl aber ist sie dadurch vorbereitet, und ein Streben nach ihr spricht so deutlich aus dem Ganzen, daß man sagen kann, sie wird wie ein Septimakkord den harmonischen, der ihn auflöst, gewaltsam fordert, ebenso vom Totaleindruck des Werks gefordert. Wirklich gegeben ist in diesm nicht der eigentliche Bindungspunkt des Ganzen, der Punkt auf den alles hinweist, von dem alles immer abhängig bleiben muß, und auf den man von jedem Einzelnen immer zurückzusehen hat. In dieser Hinsicht nun das GOETHEsche Werk zu ergänzen, dasjenige oberste Prinzip, auf welchem alle dort gegebenen Data beruhen, in abstracto aufzustellen, und so die Theorie der Farbe, im engsten Sinne des Wortes, zu liefern, - dies ist es was die gegenwärtige Abhandlung versuchen wird, zwar zunächst nur im Hinblick auf die Farbe als physiologische Erscheinung betrachtet: allein eben diese Betrachtung wird sich, infolge der jetzt zu gebenden Darstellung, als die erste, ja durchaus die wesentlichste Hälfte der gesamten Farbenlehre herausstellen, zu welcher die zweite, die physischen und chemischen Farben betrachtende, wenn sie gleich reicher an Tatsachen ist, in theoretischer Hinsicht in einem abhängigen und untergeordneten Verhältnis stehen wird.

Die hier aufzustellende Theorie wird aber, wie jede wahre Theorie, den Datis, denen sie ihre Entstehung verdankt, diese Schuld dadurch abtragen, daß, indem sie vor allen Dingen zu erklären sucht, was die Farbe ihrem Wesen nach ist, alle jene Data jetzt erst in ihrer eigentlichen Bedeutung, durch den Zusammenhang, in den sie gesetzt sind, hervortreten und eben dadurch wieder gar sehr bewährt werden. Von ihr ausgehend wird man sogar in den Stand gesetzt, über die Richtigkeit der NEWTONschen und der GOETHEschen Erklärung der physischen Farben  a priori  zu urteilen. Ja, sie wird aus sich selbst, in einzelnen Fällen, jene Data berichtigen können: so z. B. werden wir besonders auf einen Punkt treffen, wo GOETHE, der im ganzen vollkommen recht hat, doch irrte, und NEWTON, der im ganzen völlig unrecht hat, die Wahrheit gewissermaßen aussagt, wiewohl eigentlich mehr den Worten als dem Sinn nach, und selbst so nicht ganz. Dennoch ist meine Abweichung von GOETHE in diesem Punkt der Grund, weshalb er in seinem, 1853 von DÜNTZER herausgegebenen Briefwechsel mit dem Staatsrat SCHULTZ, Seite 149, mich als einen Gegner seiner Farbenlehre bezeichnet, eben auf Anlaß der gegenwärtigen Abhandlung, in der ich doch als ihr entschiedenster Verfechter auftrete, und dies, wie ich es damals, in meinem 28-sten Jahr, schon war, beharrlich geblieben bin, bis ins späte Alter, wovon ein besonders ausdrückliches Zeugnis ablegt mein, in dem von seiner Vaterstadt, an seiner 100-jährigen Geburtsfeier ihm zu Ehren eröffneten Album, vollgeschriebenes großes Pergamentblatt, auf welchem man mich, noch immer ganz allein die Fahne seiner Farbenlehre hoch emporhaltend, erblickt, im furchtlosen Widerspruch mit der gesamten gelehrten Welt (4). Er jedoch verlangte die unbedingteste Beistimmung, und nichts darüber, noch daruntern. Daher er, als ich durch meine Theorie einen wesentlichen Schritt über ihn hinausgetan hatte, seinem Unmut in Epigrammen Luft machte, wie:
    "Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden,
    Wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden."
Darauf zielt auch schon das Vorhergehende:
    "Dein Gutgedaches, in fremden Adern,
    Wird sogleich mit dir selber hadern."
Ich war nämlich in der Farbenlehre persönlich sein Schüler gewesen; wie er dies auch in dem oben angeführten Brief erwähnt.

Ehe ich jedoch zum eigentlichen Gegenstand dieser Abhandlung, den Farben, komme, ist es notwendig, etwas über das Sehen überhaupt voranzuschicken: und zwar ist die Seite des Problems, derer Erörterung mein Zweck hier erfordert, nich etwa die optisch-physiologische, sondern vielmehr diejenige, welche ihrem Wesen nach, in die Theorie des Erkenntnisvermögens und sonach ganz in die allgemeine Philosophie einschlägt. Eine solche konnte hier, wo sie nur als Nebenwerk auftritt, nicht anders als fragmentarisch und unvollständig behandelt werden. Denn sie steht eigentlich bloß deswegen hier, damit womöglich jeder Leser zum folgenden Hauptkapitel die wirkliche Überzeugung mitbringt, daß die Farben, mit welchen ihm die Gegenstände bekleidet erscheinen, durchaus nur in seinem Auge sind. Dies hat zwar schon CARTESIUS (Dioptr. c. 1) gelehrt, und viele nach ihm; am gründlichsten LOCKE; lange vor beiden jedoch schon SEXTUS EMPIRICUS (Hypot. Pyrrh. L. II, c 7, § 72 bis 75), als welcher bereits es ausführlich und deutlich dargetan hat, ja, dabei so weit geht, zu beweisen, daß wir die Dinge nicht erkennen nach dem, was sie ansich sein mögen, sondern nur ihre Erscheinungen; welches er sehr artig erläutert durch das Gleichnis, daß wer das Bildnis des  Sokrates  sieht, ohne diesen selbst zu kennen, nicht sagen kann, ob es ähnlich ist. Bei all dem glaubte ich nicht, eine richtige, recht deutliche und unbeweifelte Erkenntnis von der durchaus subjektiven Natur der Farbe ohne weiteres voraussetzen zu dürfen. Ohne eine solche aber würden, bei der folgenden Betrachtung der Farben, noch immer einige Skrupel sich regen und die Überzeugung vom Vorgetragenen stören und schwächen.

Was ich demnach hier, jedoch nur soweit es unser Zweck erfordert, also aphoristisch und in einem leichten Umriß darstelle, nämlich der Theorie der äußeren, empirischen Anschauung der Gegenstände im Raum, wie sie, auf Anregung der Empfindung in den Sinnesorganen, durch den Verstand und die ihm beigegebenen übrigen Formen des Intellekts zustande kommt, das habe ich in späteren Jahren vollendet und auf das faßlichste, ausführlich und vollständig dargelegt in der zweiten Auflage meiner Abhandlung über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde, § 21. Dahin also verweise ich, hinsichtlich dieses wichtigen Gegenstandes, meinen Leser, der das hier Gegebene nur als einen früheren Prodromus [Vorrede - wp] dazu anzusehen hat.



Erstes Kapitel
Vom Sehen

§ 1.

Alle Anschauung ist eine intellektuale. Denn ohne den  Verstand  käme es nimmermehr zur Anschauung, zur Wahrnehmung, Apprehension [Zusammenfassung - wp] von  Objekten;  sondern es bliebe bei der bloßen Empfindung, die allenfalls, als Schmerz oder Wohlbehagen, eine Bedeutung in Bezug auf den Willen haben könnte, übrigens aber ein Wechsel bedeutungsleerer Zustände und nichts einer Erkenntnis Ähnliches wäre. Zur Anschauung, d. h. zum Erkennen eines  Objekts,  kommt es allererst dadurch, daß der  Verstand  jeden Eindruck, den der Leib erhält, auf eine  Ursache  bezieht, diese im  a priori  angeschauten Raum dahin versetzt, von wo die Wirkung ausgeht und so die Ursache als wirkend, als  wirklich,  d. h. als eine Vorstellung derselben Art und Klasse, wie der Leib ist, anerkennt. Dieser Übergang von der Wirkung auf die Ursache ist aber ein unmittelbarer, lebendiger, notwendiger: denn er ist eine Erkenntnis des  reinen Verstandes:  er ist kein Vernunftschluß, keine Kombination von Begriffen und Urteilen nach logischen Gesetzen. Eine solche ist vielmehr das Geschäft der  Vernunft,  die zur Anschauung nichts beiträgt, sondern deren Objekt eine ganz andere Klasse von Vorstellungen ist, welche auf der Erde dem Menschengeschlecht allein zukommt, nämlich die abstrakten, nicht anschaulichen Vorstellungen, d. h. die  Begriffe durch welche aber dem Menschen seine großen Vorzüge gegeben sind, Sprache, Wissenschaft und vor allem die, durch eine Übersicht des Ganzen des Lebens in Begriffen allein mögliche, Besonnenheit, welche ihn vom Eindruck der Gegenwart unabhängig erhält, und dadurch fähig macht, überlegt, prämeditiert, planmäßig zu handeln, wodurch sein Tun und Treiben sich von dem der Tiere so mächtig unterscheidet, und wodurch schließlich auch die Bedingung zu jener überlegten Wahl zwischen mehreren Motiven gegeben ist, vermöge welcher das vollkommenste Selbstbewußtsein die Entscheidung seines Willens begleitet. Das alles verdankt der Mensch den  Begriffen d. h. der  Vernunft Das Gesetz der Kausalität, als abstrakter Grundsatz, ist freilich, wie alle Grundsätze  in abstracto,  Reflexion, also Objekt der Vernunft: aber die eigentliche, lebendige, unvermittelte, notwendige Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität geht aller Reflexion, wie aller Erfahrung, vorher und liegt im  Verstand.  Mittels derselben werden die Empfindungen des Leibes der Ausgangspunkt für die Anschauung einer Welt, indem nämlich das  a priori  uns bewußte Gesetz der Kausalität angewandt wird auf das Verhältnis des unmittelbaren Objekts (des Leibes) zu den anderen nur mittelbaren Objekten: die Erkenntnis desselben Gesetzes, angewandt auf die mittelbaren Objekte allein und untereinander, gibt, wenn sie einen höheren Grad von Schärfe und Genauigkeit hat, die Klugheit, welche ebensowenig, wie die Anschauung überhaupt, durch abstrakte Begriffe beigebracht werden kann: daher vernünftig sein und klug sein, zwei verschiedene Eigenschaften sind.

Die Anschauung also, die Erkenntnis von Objekten, von einer objektiven Welt ist das Werk des Verstandes. Die Sinne sind bloß die Sitze einer gesteigerten Sensibilität, sind Stellen des Leibes, welche für die Einwirkung anderer Körper in einem höheren Grad empfänglich sind: und zwar steht jeder Sinn einer besonderen Art von Einwirkung offen, für welche die übrigen entweder wenig oder gar keine Empfänglichkeit haben. Diese spezifische Verschiedenheit der Empfindung jedes der fünf Sinne hat jedoch ihren Grund nicht im Nervensystem selbst, sondern nur in der Art, wie es affiziert wird. Danach kann man jede Sinnesempfindung ansehen als eine Modifikation des Tastsinns, oder der über den ganzen Leib verbreiteten Fähigkeit zu fühlen. Denn die Substanz der Nerven (abgesehen vom sympathischen System) ist im ganzen Leib  ein  und dieselbe, ohne den mindesten Unterschied. Wenn sie nun, vom Licht durch das Auge, vom Schall durch das Ohr getroffen, so spezifisch verschiedene Empfindungen erhält; so kann dies nicht an ihr selbst liegen, sondern nur an der Art, wie sie affiziert wird. Diese aber hängt ab teils von dem fremden Agens, von dem sie affiziert wird (Licht, Schall, Duft), teils von der Vorrichtung, durch welche sie dem Eindruck dieses Agens ausgesetzt ist, d. h. vom Sinnesorgan. Daß im Ohr der Nerv des Labyrinths und der Schnecke, im Gehörwasser schwimmend, die Vibrationen der Luft, durch die Vermittlung dieses Wassers, erhält, der Sehnerv aber die Einwirkung des Lichts, durch die im Auge es brechenden Feuchtigkeiten und Linse, dies ist die Urache der spezifischen Verschiedenheit beider Empfindungen; nicht der Nerv selbst (5). Demnach könnte auch der Gehörnerv sehen und der Augennerv hören, sobald der äußere Apparat beider seine Stelle vertauscht. - Immer aber ist die Modifikation, welche die Sinne durch eine solche Einwirkung erleiden, noch keine Anschauung, sondern ist erst der Stoff, den der Verstand in eine Anschauung umwandelt. Unter allen Sinnen ist das Gesicht der feinsten und mannigfaltigsten Eindrücke von außen fähig: dennoch kann es ansich bloß Empfindung geben, welche erst durch die Anwendung des Verstandes auf dieselbe zur Anschauung wird. Könnte jemand, der vor einer schönen weiten Aussicht steht, auf einen Augenblick alles Verstandes beraubt werden, so würde ihm von der ganzen Aussicht nichts übrig bleiben, als die Empfindung einer sehr mannigfaltigen Affektion seiner Retina, den vielerlei Farbflecken auf einer Malerpalette ähnlich, - welche gleichsam der rohe Stoff ist, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf (6). - Das Kind, in den ersten Wochen seins Lebens, empfindet mit allen Sinnen: aber es schaut nicht an, es apprehendiert nicht: daher starrt es dumm in die Welt hinein. Bald jedoch fängt es an, den Verstand gebrauchen zu lernen, das ihm vor aller Erfahrung bewußte Gesetz der Kausalität anzuwenden und es mit den ebenso  a priori  gegebenen Formen aller Erkenntnis, Zeit und Raum, zu verbinden: so gelangt es von der Empfindung zur Anschauung, zur Apprehension: und nunmehr blickt es mit klugen, intelligenten Augen in die Welt. Da aber jedes Objekt auf alle fünf Sinne verschieden wirkt, diese Wirkungen dennoch auf ein und dieselbe Ursache zurückleiten, welche sich eben dadurch als Objekt darstellt; so vergleicht das die Anschauung erlernende Kind die verschiedenartigen Eindrücke, welche es vom nämlichen Objekt erhält; es betastet was es sieht, besieht was es betastet, geht dem Klang nach zu dessen Ursache, nimmt Geruch und Geschmack zu Hilfe, bringt schließlich auch für das Auge die Entfernung und Beleuchtung in Anschlag, lernt die Wirkung des Lichts und des Schattens kennen und schließlich, mit vieler Mühe, auch die Perspektive, deren Kenntnis zustande kommt durch die Vereinigung der Gesetze des Raums mit dem der Kausalität, die beide  a priori  im Bewußtsein liegen und der Anwendung bedürfen, wobei nun sogar die Veränderungen, welche, beim Sehen in verschiedene Entfernungen, teils die innere Konformation der Augen, teils die Lage beider Augen gegeneinander erleidet, in Anschlag gebracht werden müssen: und alle diese Kombinationen macht für den Verstand schon das Kind, für die Vernunft, d. h. in abstracto, erst der Optiker. Dergestalt also verarbeitet das Kind die mannigfaltigen Data der Sinnlichkeit, nach den ihm  a priori  bewußten Gesetzen des  Verstandes,  zur  Anschauung,  mit welcher allererst die Welt als Objekt für dasselbe da ist. Viel später lernt es die Vernunft gebrauchen: dann fängt es an, die Rede zu verstehen, zu sprechen und eigentlich zu  denken

Das hier über die Anschauung Gesagte wird noch einleuchtender werden durch eine speziellere Betrachtung der Sache. Zur Erlernung der Anschauung gehört zu allernächst das Aufrechtsehen der Gegenstände, während ihr Eindruck ein verkehrter ist. Weil nämlich die von einem Körper ausgehenden Lichtstrahlen, bei ihrem Durchgang durch die Pupille, sich kreuzen; so trifft der Eindruck, den sie auf die Nervensubstanz der Retina machen und den man unrichtig ein Bild derselben genannt hat, in verkehrter Ordnung ein, nämlich das von unten kommende Licht zuoberst, das von oben kommende zuunterst, das von der rechten Seite auf der linken und  vice versa.  Wäre nun, wie man angenommen hat, hier ein wirkliches Bild auf der Retina der Gegenstand der Anschauung, welche dann etwa von einer im Gehirn dahinter sitzenden Seele vollzogen würde, so würden wir vom Sehen den Gegenstand verkehrt sehen, wie dies in jeder dunklen Kammer, die durch ein bloßes Loch das Licht von äußeren Gegenständen empfängt, wirklich geschieht: allein so ist es hier nicht; sondern die Anschauung entsteht dadurch, daß der Verstand den auf der Retina empfundenen Eindruck augenblicklich auf seine Ursache bezieht, welche sich eben nun dadurch im Raum, seiner ihn begleitenden Anschauungsform, als Objekt darstellt. Bei diesem Zurückgehen nun von der Wirkung auf die Ursache, verfolgt er die Richtung, welche die Empfindung der Lichtstrahlen mit sich bringt; wodurch wieder alles an seine richtige Stelle kommt, indem jetzt am Objekt sich als oben darstellt, was in der Empfindung unten war. - Das zweite zur Erlernung der Anschauung Wesentliche ist, daß das Kind, obwohl es mit zwei Augen sieht, deren jedes ein sogenanntes Bild des Gegenstandes erhält, und zwar so, daß die Richtung vom selbigen Punkt des Gegenstandes zu jedem Auge eine andere ist, dennoch nur  einen  Gegenstand sehen lernt. Dies geschieht eben dadurch, daß vermöge der ursprünglichen Erkenntnis des Gesetzes der Kausalität, die Einwirkung eines Lichtpunktes, obwohl jedes Auge in einer anderen Richtung treffend, doch als von  einem  Punkt und Gegenstand ursächlich herrührend anerkannt wird. Die zwei Linien von jenem punkt durch die Pupillen auf jede Retina heißen die Augenachsen, ihr Winkel an jenem Punkt der optische Winkel. Hat, indem ein Gegenstand betrachtet wird, jeder  Bulbus  [Augapfel - wp] zu seiner  Orbita  [Augenhöhle - wp] respektiv dieselbe Lage als der andere, wie es im normalen Zustand der Fall ist; so wird in jedem der beiden Augen die Augenachse auf  einander entsprechenden, gleichnamigen  Stellen der Retina ruhen. Nun entspricht aber nicht etwa die äußere Seite der einen Retina der äußeren Seite der andern; sondern die rechte Seite der linken Retina der rechten Seite der rechten Retina usw. Bei dieser gleichmäßigen Lage der Augen in ihren Orbiten, welche bei allen natürlichen Bewegungen der Augen immer beibehalten wird, lernen wir nun empirisch die auf beiden Retinen einander genau entsprechenden Stellen kennen, und von nun an beziehen wir die auf diesen analogen Stellen entstehenden Affektionen immer nur auf ein und denselben Gegenstand als ihre Ursache. Daher nun, obwohl mit zwei Augen sehend und doppelte Eindrücke erhaltend, erkennen wir alles nur einfach: das  doppelt Empfundene  wird nur ein  einfaches Angeschautes:  eben weil die Anschauung intellektual ist, und nicht bloß sensual. - Daß aber die Konformität der affizierten Stellen jeder Retina es sei, nach welcher wir uns bei jedem  Verstandesschluß  richten, ist daraus erweislich, daß während die Augenachsen auf einen entfernteren Gegenstand gerichtet sind und dieser den optischen Winkel schließt, alsdann ein näher vor uns stehender Gegenstand doppelt erscheint, eben weil nunmehr das von ihm aus durch die Pupillen auf die Retinen gehende Licht, zwei nicht analoge Stellen derselben trifft: umgekehrt sehen wir, aus demselben Grund, den entfernteren Gegenstand doppelt, wenn wir die Augen auf den näheren gerichtet haben und auf diesem den optischen Winkel schließen. Auf der meiner Abhandlung "Über die vierfache Wurzel" in der zweiten Auflage beigegebenen Tafel findet man die anschauliche Darstellung der Sache, welche zum vollkommenen Verständnis derselben sehr dienlich ist. Eine ausführliche und durch viele Figuren sehr einleuchtend gemachte Darstellung der verschiedenen Lagen der Augenachsen und der durch sie herbeigeführten Phänomene findet man in ROBERT SMITHs  Optics,  Cambridge 1738.

Mit diesem Verhältnis zwischen den Augenachsen und dem Objekt ist es im Grunde nicht anders, als damit, daß der Eindruck den ein betasteter Körper auf jeden der zehn Finger macht, und der nach der Lage jedes Fingers gegen ihn verschieden ist, doch als von  einem  Körper herrührend erkannt wird: nie geht aus dem bloßen Eindruck, immer nur aus der Anwendung des Kausalitätsgesetzes, und mithin des Verstandes, auf ihn, die Erkenntnis eines Objekts hervor. - Daher, beiläufig gesagt, ist es so sehr absurd, die Kenntnis des Kausalitätsgesetzes, als welches die alleinige Form des Verstandes und die Bedingung der Möglichkeit irgendeiner objektiven Wahrnehmung ist, erst aus der Erfahrung entspringen zu lassen, z. B. aus dem Widerstand, welchen die Körper unserem Druck entgegensetzen. Denn das Kausalitätsgesetz ist die vorhergängige Bedingung unserer Wahrnehmung dieser Körper, welche wieder erst das Motiv unseres Wirkens aus sie sein muß. Und wie sollte doch, wenn der Verstand nicht das Gesetz der Kausalität schon besäße und fertig zur Empfindung hinzubrächte, dasselbe hervorgehen aus dem bloßen Gefühl eines Drucks in den Händen, welches ja gar keine Ähnlichkeit damit hat! (Vergl. Welt als Wille und Vorstellung, dritte Auflage, Bd. 2, Seite 41-44 [Bd. 4, Seite 183f dieser Gesamtausgabe] und: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, zweite Auflage, Seite 74 [Bd. 1, Seite 113 dieser Gesamtausgabe]) Wenn Engländer und Franzosen sich noch mit dergleichen Possen abschleppen, kann man es ihrer Einfalt zugute halten, weil die kantische Philosophie bei ihnen noch gar nicht eingedrungen ist und sie sich daher noch mit dem dürftigen Empirismus LOCKEs und CONDILLACs herumschlagen. Wenn aber heutzutage deutsche Philosophaster sich unterfangen, Zeit, Raum und Kausalität für Erfahrungserkenntnisse auszugeben, also dergleichen seit siebzig Jahren völlig beseitigte und explodierte Absurditäten, über die schon ihre Großväter die Achsel zuckten, jetzt wieder zu Markte bringen (wohinter inzwischen gewisse Absichten lauern, die ich in der Vorrede zur zweiten Auflage des "Willens in der Natur" bloßgelegt habe); so verdienen sie, daß man ihnen mit dem GOETHE-SCHILLERschen  Xenion  begegne:
    "Armer empirischer Teufel! du kennst nicht einmal das Dumme in dir selber! es ist, ach!  a priori  so dumm.!
Inbesondere rate ich jedem, der das Unglück hat, ein Exemplar der dritten Auflage des "Systems der Metaphysik" von ERNST REINHOLD, 1854, zu besitzen, diesen Vers auf das Titelblatt zu schreiben. - Eben weil die Apriorität des Kausalitätsgesetzes so sehr evident ist, sagt sogar GOETHE, der mit Untersuchungen diser Art sich sonst nicht beschäftigt, bloß seinem Gefühl folgend:  "der eingeborenste Begriff,  der notwendigste, von Ursache und Wirkung". ("Über Naturwissenschaft im allgemeinen"; in den nachgelassenen Werken, Bd. 10, Seite 123) Doch ich kehre zu unserer Theorie der empirischen Anschauung zurück.

Nachdem die Anschauung längst erlernt ist, kann ein sehr merkwürdiger Fall eintreten, der zu allem Gesagten gleichsam die Rechnungsprobe gibt. Nämlich nachdem wir viele Jahre hindurch jeden Augenblick die in der Kindheit erlernte Verarbeitung und Anordnung der Data der Sinnlichkeit nach den Gesetzen des Verstandes geübt haben, können diese Data uns verrückt werden, durch eine Veränderung der Lage der Sinneswerkzeuge. Allbekannt sind zwei Fälle, in denen dies geschieht: das Verschieben der Augen aus ihrer natürlichen, gleichmäßigen Lage, also das Schielen, und zweitens das Übereinanderlegen des Mittel- und Zeigefingers. Wir sehen und tasten jetzt  einen  Gegenstand  doppelt.  Der Verstand verfährt wie immer richtig: allein er erhält lauter falsche Data: denn die vom selbigen Punkt gegen beide Augen gehenden Strahlen treffen nicht mehr auf beiden Netzhäuten die einander entsprechenden Stellen, und die äußeren Seiten beider Finger berühren die entgegengesetzten Flächen derselben Kugel, was bei der natürlichen Lage der Finger nie sein konnte. Hieraus entsteht das Doppeltsehen und das Doppelttasten, als ein falscher Schein, der gar nicht wegzubringen ist; weil der Verstand die so mühsam erlernte Anwendung nicht sogleich wieder fahren läßt, sondern immer noch die bisherige Lage der Sinnesorgane voraussetzt. - Aber eine noch auffallendere, weil viel seltenere Rechnungsprobe zu unserer Theorie gibt der umgekehrte Fall, nämlich daß man  zwei  Gegenstände als  einen  erblickt; was dadurch geschieht, daß jeder von beiden mit einem anderen Auge gesehen wird, aber in jedem Auge die gleichnamigen, d. h. denen im andern entsprechenden Stellen der Retina affiziert. Man füge zwei gleiche Pappröhren parallel aneinander, so daß der Raum zwischen ihnen gleich ist dem Raum zwischen den Augen. Im Objektivende jeder Röhre sei etwa ein Achtgroschenstück in senkrechter Stellung befestigt. Indem man nun mit beiden Augen durch die Röhren sieht, wird sich nur  eine  Röhre und  ein  Achtgroschenstück darstellen; weil die Augenachsen den optischen Winkel, der dieser Entfernung angemessen wäre, nicht schließen können, sondern ganz parallel bleiben, indem jedes seiner Röhre folgt, wodurch nun in jedem Auge die entsprechenden Stellen der Retina von einem anderen Achtgroschenstück getroffen werden, welchen doppelten Eindruck jetzt der Verstand ein und demselben Gegenstand zuschreibt und daher nur ein Objekt apprehendiert, wo doch zwei sind. - Hierauf beruth auch das neuerlich erfundene Stereoskop. Zu diesem nämlich werden zwei Daguerrotype desselben Objekts aufgenommen, jedoch mit dem geringen Unterschied der Lage desselben, welcher der Parallaxe vom einen zum anderen Auge entspricht: diese werden nun, in dem eben dieser Parallaxe angemessenen sehr stumpfen Winkel, aneinandergefügt und dann durch den Binokulartubus betrachtet. Der Erfolg ist 1. daß die einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen von den gleichen Punkten der beiden Bilder getroffen werden; und 2. daß jedes der beiden Augen auf dem ihm vorliegenden Bild auch noch  den  Teil des abgebildeten Körpers sieht, der dem anderen Auge, wegen der Parallaxe seines Standpunkts, bedeckt bleibt; - wodurch erlangt wird, daß die zwei Bilder nicht nur in der intuitiven Apprehension des Verstandes zu  einem  zusammenschmelzen, sondern auch, infolge des zweiten Umstandes, sich vollkommen als ein solider Körper darstellen; - eine Täuschung, welche ein bloßes Gemälde, auch bei der größten Kunst und Vollendung, nie hervorbringt; weil es uns seine Gegenstände stets nur so zeigt, wie ein Einäugiger sie sehen würde. Ich wüßte nicht, wie ein Beweis der Intellektualität der Anschauung schlagender sein könnte. Auch wird man nie, ohne die Erkenntnis dieser, das Stereoskop verstehen; sondern vergeblich mit rein physiologischen Erklärungen versuchen.

Wir sehen also alle jene Jllusionen dadurch entstehen, daß die Data, auf welche der Verstand seine Gesetze anzuwenden in der frühesten Kindheit gelernt und ein ganzes Leben hindurch sich gewöhnt hat, ihm verschoben werden, indem man sie anders stellt, als sie im natürlichen Verlauf der Dinge zustande kommen. Zugleich nun aber bietet diese Betrachtung uns eine so deutliche Ansicht des Unterschieds zwischen Verstand und Vernunft dar, daß ich nicht umhin kann, darauf aufmerksam zu machen. Nämlich, eine solche Jllusion läßt sich zwar für die Vernunft beseitigen, nicht aber für den Verstand zerstören, der, eben weil er reiner Verstand ist, unvernünftig ist. Ich meine folgendes: bei einer solchen absichtlich verunstalteten Jllusion,  wissen  wir sehr wohl,  in abstracto,  also für die  Vernunft,  daß z. B. nur  ein  Objekt da ist, obwohl wir mit schielenden Augen und verschränkten Fingern zwei sehen und tasten, oder daß zwei da sind, obwohl wir nur  eines  sehen: aber trotz dieser abstrakten Erkenntnis bleibt die Jllusion selbst noch immer unverrückt stehen. Denn der Verstand und die Sinnlichkeit sind für die Sätze der Vernunft unzugänglich, d. h. eben unvernünftig. Auch ergibt sich hier, was eigentlich  Schein  und was  Irrtum  ist: jener Trug des  Verstandes,  dieser Trug der  Vernunft:  jener der  Realität,  dieser der  Wahrheit  entgegengesetzt.  Schein  entsteht allemal entweder dadurch, daß der stets gesetzmäßigen und unveränderlichen Apprehension des Verstandes ein ungewöhnlicher (d. h. von dem, auf welchen er seinen Funktionen anzuwenden gelernt hat, verschiedener) Zustand der Sinnesorgane untergelegt wird; oder dadurch, daß eine Wirkung, welche die Sinne sonst täglich und stündlich durch ein und dieselbe Ursache erhalten, einmal durch eine ganz andere Ursache hervorgebracht wird: so z. B. wenn man eine Malerei als ein Relief ansieht oder ein ins Wasser getauchter Stab gebrochen erscheint, oder der Konkavspiegel einen Gegenstand als vor ihm schwebend, der Konvexspiegel als hinter ihm befindlich zeigt, oder der Mond sich am Horizont viel größer, als am Zenit darstellt, was nicht auf Strahlenbrechung, sondern allein auf der vom Verstand vollzogenen, unmittelbaren Abschätzung seiner Größe nach seiner Entfernung und dieser, wie bei irdischen Gegenständen, nach der Luftperspektive, d. h. nach der Trübung durch Dünste, beruth. -  Irrtum  hingegen ist ein  Urteil der Vernunft,  welches  nicht  zu etwas außer ihm in derjenigen Beziehung steht, die der Satz vom Grund, in derjenigen Gestalt, in welcher er für die Vernunft als solche gilt, erfordert, also ein wirkliches, aber falsches Urteil, eine grundlose Annahme  in abstracto.  Schein kann Irrtum veranlassen: dergleichen wäre z. B. beim angeführten Fall das Urteil: "hier sind zwei Kugeln", was zu nichts in der besagten Beziehung steht, also keinen Grund hat. Hingegen wäre das Urteil: "ich fühle eine Einwirkung gleich der von zwei Kugeln", wahr: denn es steht zur empfundenen Affektion in der angegebenen Beziehung. Der Irrtum läßt sich tilgen, eben durch ein Urteil, welches wahr ist und den Schein zum Grund hat, d. h. durch eine Aussage des Scheins als solchen. Der Schein aber läßt sich nicht tilgen: z. B. durch die abstrakte Vernunfterkenntnis, daß die Abschätzung nach der Luftperspektive und die in horizontaler Linie stärkere Trübung durch Dünste den Mond vergrößert, wird er nicht kleiner. Jedoch kann der Schein allmählich verschwinden, wenn seine Ursache bleibend ist und dadurch das Ungewohnte gewohnt wird. Wenn man z. B. die Augen immer in der schielenden Lage läßt; so sucht der Verstand seine Apprehension zu berichtigen und, durch richtige Auffassung der äußeren Ursache, Übereinstimmung zwischen den Wahrnehmungen auf verschiedenen Wegen, z. B. zwischen Sehen und Tasten, hervorzubringen. Er tut dann von neuem was er im Kind tat: er lernt die Stellen auf der Retina kennen, welche der von  einem  Punkt ausgehende Strahl jetzt, bei der neuen Lage der Augen, trifft. Darum sieht der habituell Schielende doch alles nur einfach. Wenn aber jemand durch einen Zufall, z. B. ein Lähmung der Augenmuskeln,  plötzlich  zu einem konstanten Schielen gezwungen wird, so sieht er in der ersten Zeit fortdauern alles doppelt. Dies bezeugt der Fall, den CHESSELDEN (Anatomy, Seite 324, dritte Auflage) erzählt, daß durch einen Schlag auf den Kopf, den ein Mann erhielt, seine Augen eine bleibende verdrehte Stellung annahmen: er sah nunmehr alles doppelt, anch einiger Zeit aber wieder einfach, obgleich die unparallele Lage der Augen blieb. Eine ähnliche Krankengeschichte steht in der ophtalmologischen Bibliothek, Bd. 3, Seite 164. Wäre der dort geschilderte Kranke nicht bald geheilt worden, so würde er zwar fortdauern geschielt, aber schließlich nicht mehr doppelt gesehen haben. Noch ein Fall dieser Art wird von HOME erzählt in seiner Vorlesung in den  philos. transact. for 1797. - Ebenso würde, wer immer die Finger übereinandergeschlagen behielte, zuletzt auch nicht mehr doppelt tasten. Solange aber einer jeden Tag in einem anderen optischen Winkel schielt, wird er alles doppelt sehen. - Übrigens mag es immer sein, was BUFFON behauptet (Hist. de l'acad. des Sciences 1743), daß die sehr stark und nach innen Schielenden mit dem verdrehten Auge gar nicht sehen: nur wird dies nicht von allen Fällen des Schielens gelten.

Da nun also keine Anschauung ohne Verstand ist, so haben unstreitig alle Tiere Verstand: ja, er unterscheidet Tiere von Pflanzen, wie die Vernunft Menschen von Tieren. Denn der eigentlich auszeichnende  Charakter der Tierheit ist das Erkennen,  und dieses erfordert durchaus Verstand. Man hat auf vielerlei Weise versucht, ein Unterscheidungszeichen zwischen Tieren und Pflanzen festzusetzen, und nie etwas ganz Genügendes gefunden. Das Treffendste blieb noch immer  motus spontaneus in victu sumendo.  [Spontane Bewegung zur Einnahme von Nahrung - wp] Aber dies ist nur ein durch das Erkennen begründetes Phänomen, also diesem unterzuordnen. Denn eine wahrhaft willkürliche, nicht aus mechanischen, chemischen oder physiologischen Ursachen erfolgende Bewegung geschieht durchaus nach einem  erkannten  Objekt, welches das  Motiv  jener Bewegung wird. Sogar das Tier, welches der Pflanze am nächsten steht, der Polyp, wenn er mit seinen Armen seinen Raub ergreift und ihn zum Mund führt, hat ihn (wiewohl noch ohne gesonderte Augen) gesehen, wahrgenommen, und selbst zu dieser Anschauung wäre es niemals ohne Verstand gekommen: das angeschaute Objekt ist das Motiv der Bewegung des Polypen. - Ich würde den Unterschied zwischen unorganischem Körper, Pflanze und Tier also festsetzen:  Unorganischer Körper  ist dasjenige, dessen sämtliche Bewegungen aus einer äußeren Ursache geschehen, die, dem Grad nach, der Wirkung gleich ist, so daß sich aus der Ursache die Wirkung messen und berechnen läßt, und auch die Wirkung eine völlig gleiche Gegenwirkung in der Ursache hervorbringt.  Pflanze  ist, was Bewegungen hat, deren Ursache durchaus nicht, dem Grad nach, den Wirkungen gleich sind und folglich nicht den Maßstab für letztere geben, auch nicht eine gleiche Gegenwirkung erleiden: solche Ursachen heißen  Reize.  Nicht bloß die Bewegungen der sensitiven Pflanzen und des  hedysarum gyrans  [Telegraphenpflanze - wp], sondern alle Assimilation, Wachstum, Neigung zum Licht usw. der Pflanzen, ist Bewegung auf Reize.  Tier  endlich ist das, dessen Bewegungen nicht direkt und einfach nach dem Gesetz der Kausalität, sondern nach dem der Motivation erfolgen, welche die durch das Erkennen hindurchgegangene und durch dasselbe vermittelte Kausalität ist: nur  das  ist folglich Tier, was erkennt, und  das Erkennen ist der eigentliche Charakter der Tierheit.  Man wende nicht ein, das Erkennen könne kein charakteristisches Merkmal abgeben, weil wir, als außer dem zu beurteilenden Wesen befindlich, nicht wissen können, ob es erkennt oder nicht. Denn dies können wir allerdings, indem wir nämlich beurteilen, ob dasjenige, worauf seine Bewegungen erfolgen, auf dasselbe als  Reiz  oder als  Motiv  gewirkt hat; worüber nie ein Zweifel übrig bleiben kann. Denn obgleich sich Reize auf die angegebene Weise von Ursachen unterscheiden, so haben sie doch noch dies mit ihnen gemein, daß sie, um zu wirken, allemal des Kontakts, oft sogar der Intussusception [Einstülpung - wp], stets aber einer gewissen Dauer und Intensität der Einwirkung bedürfen; da hingegen das als Motiv wirkende Objekt nur wahrgenommen zu sein braucht, gleichviel wie lange, wie entfernt, wie deutlich, sobald es nur wirklich wahrgenommen ist. Daß in mancher Hinsicht das Tier zugleich Pflanze, ja auch anorganischer Körper ist, versteht sich von selbst. - Diese hier nur aphoristisch und kurz dargelegte, sehr wichtige Unterscheidung der drei Kausalitätsstufen findet man gründlicher und spezieller ausgeführt in den "Beiden Grundproblemen der Ethik", Kap. 3 der ersten Preisschrift, Seite 30f [Bd. 7, Seite 63f dieser Gesamtausgabe], sodann auch in der zweiten Auflage der Abhandlung "Über die vierfache Wurzel", § 20, Seite 45 [Bd. 1, Seite 81f dieser Gesamtausgabe].

Ich komme jetzt endlich zu dem, was die Beziehung des bisher Gesagten auf unseren eigentlichen Gegenstand, die  Farben,  enthält, und gehe damit zu einem gar speziellen und untergeordneten Teil der Anschauung der Körperwelt über: denn wie der bis hierher in Betracht genommene intellektuelle Anteil derselben eigentlich die Funktion der so beträchtlichen 3 bis 5 Pfund wiegenden Nervenmasse des Gehirns ist; so habe ich im folgenden Kapitel bloß die Funktion eines feinen Nervenhäutchens, auf dem Hintergrund des Augapfels, der  Retina,  zu betrachten, als deren besonders modifizierte Tätigkeit ich die Farbe, welche als eine allenfalls entbehrliche Zugabe die angeschauten Körper bekleidet, nachweisen werde. Nämlich die Anschauung, d. h. die Apprehension einer objektiven, den Raum in seinen drei Dimensionen ausfüllenden Körperwelt, entsteht, wie oben im allgemeinen gezeigt, im bereits angezogenen § 21 der Abhandlung "Über die vierfache Wurzel" aber näher ausgeführt worden ist, durch den Verstand, für den Verstand, im Verstand, welcher, wie auch die ihm zugrunde liegenden Formen Raum und Zeit, die Funktion des Gehirns ist. Die Sinne sind bloß die Ausgangspunkte dieser Anschauung der Welt. Ihre Modifikationen sind daher vor aller Anschauung gegeben, als bloße Empfindungen, sind die Data, aus denen erst im Verstand die erkennende Anschauung wird. Zu diesen gehört ganz vorzüglich der Eindruck des Lichts auf das Auge und demnächst die Farbe, als eine Modifikation dieses Eindrucks. Diese sind also die Affektion des Auges, sind die Wirkung selbst, welche da ist, auch ohne daß sie auf eine Ursache bezogen wird. Das neugeborene Kind empfindet Licht und Farbe, ehe es den leuchtenden, oder gefärbten Gegenstand als solchen erkennt und anschaut. Auch ändert kein Schielen die Farbe. Verwandelt der Verstand die Empfindung in eine Anschauung, dann wird freilich auch diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen und übertragen, und dem einwirkenden Körper Licht, oder Farbe, als Qualitäten, d. h. Wirkungsarten, beigelegt. Dennoch wird er nur als das diese Wirkung Hervorbringende anerkannt. "Der Körper ist rot" bedeutet, daß er im Auge dir rote Farbe bewirkt. Sein ist überhaupt mit Wirken gleichbedeutend: daher auch im Deutschen, überaus treffend und mit unbewußtem Tiefsinn, alles was ist,  wirklich,  d. h. wirkend, genannt wird. Dadurch, daß wir die Farbe als einem Körper inhärierend auffassen, wird ihre diesem vorhergegangene unmittelbare Wahrnehmung durchaus nicht geändert: sie ist und bleibt Affektion des Auges: bloß als deren Ursache wird der Gegenstand angeschaut: die Farbe selbst aber ist allein die Wirkung, ist der im Auge hervorgebrachte Zustand, und als solcher unabhängig vom Gegenstand, der nur für den Verstand da ist: denn alle Anschauung ist eine intellektuale.
LITERATUR - Arthur Schopenhauers sämtliche Werke in zwölf Bänden, Bd. 12, Stuttgart 1895
    Anmerkungen
    1) Hist. de l'acad. d. sc. 1743
    2) ERASMUS DARWINs  Zoonomia,  auch in den Philos. transact. Vol. 76
    3) Ophtalmologische Bibliothek, Bd. 1, St. 2
    4) Abgedruckt in Parerga, Bd. 2, Seite 165 [Bd. 10, Seite 184f dieser Gesamtausgabe].
    5) CABANIS, Des rapports du physique et du moral: Memoir III, § 5.
    6) Hier gehen die Seiten an, welche Herr Professor ANTON ROJAS in Wien sich angeeignet hat, worüber und fernere Plagiate dessselben berichtet worden ist im "Wissen in der Natur", zweite Auflage, Seite 14f. [Bd. 6, Seite 248 dieser Gesamtausgabe].