tb-1LiebmannBenekeVaihingerBahnsenLange     
 
EDUARD von HARTMANN
Neukantianismus, Schopenhauerianismus
und Hegelianismus

[1/3]

"Alle Popularisierung ist ihrer Natur nach mehr oder minder Trivialisierung, denn sie installiert den gemeinen Menschenverstand als den Dauphin, zu dessen Gebrauch das Originelle hergerichtet wird."

I.
Einleitung

1. Friedrich Albert Lange

FRIEDRICH ALBERT LANGE (geb. 1828, gest. 1875) ist bekannt durch seine "Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der der Gegenwart und durch seine Schrift über "Die Arbeiterfrage". Ferner veröffentlichte derselbe: "Die Grundlegung der mathematischen Psychologie. Ein Versuch der Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart und Drobisch"; "Mills Ansichten über die soziale Frage und die angebliche Umwälzung der Volkswirtschaft durch Carey", und verschiedene zerstreute Abhandlungen, unter denen hervorzuheben der Artikel "Seelenlehre" in der SCHMIDTschen "Enzyklopädie der Pädagogik".

Für die Feststellung seiner philosophischen Weltanschauung fällt wesentlich nur sein erstgenanntes Hauptwerk ins Gewicht. Dasselbe ist weder ein geschichtliches noch ein systematisches Werk, sondern eine durch geschichtliche Studien angeschwollene Tendenzschrift. Selbst VAIHINGER gesteht ein, daß das Werk "nicht streng harmonisch, ja eigentlich sogar ein Torso" sei. Die Tendenz der Arbeit geht dahin, zu zeigen, daß von allen dogmatischen Systemen der Materialismus das natürlichste und dem menschlichen Verstand angemessenste sei, daß aber auch der Materialismus ebenso wie aller andere Dogmatismus durch den erkenntnistheoretischen Idealismus KANTs überwunden sei. So tritt LANGE einerseits als Verteidiger des Materialismus gegen die anderen metaphysischen Systeme, andererseits als Verteidiger des subjektiven Idealismus gegen allen Realismus auf. Die geschichtliche Darstellung gilt ihm nicht als Zweck, sondern als Mittel, um dieser seiner Tendenz entsprechenden Reflexionen anzuknüpfen: die Auseinandersetzungen am Schluß über seinen eigenen Standpunkt lassen an Vollständigkeit, Präzision und Klarheit der Begründung viel zu wünschen übrig und gehen nicht über aphoristische Andeutungen hinaus. Schon sein Verehrer COHEN hat es als einen Mangel des Werkes hervorgehoben, daß nur für den modernen Materialismus, aber nicht für den erkenntnisteoretischen Idealismus die historischen Antezdenzien [Voraussetzungen - wp] berücksichtigt sind, wobei er namentlich auf PLATO hinweist. Schwerer als dieser geschichtliche Mangel scheint mir der Umstand, den selbst VAIHINGER einräumt, ins Gewicht zu fallen, daß man eine philosophische Weltanschauung von LANGE gar nicht erwarten und verlangen darf; sein Standpunkt besteht eben in der Behauptung, daß es eine objektiv gültige philosophische Weltanschauung überhaupt nicht geben kann, und in der Erlaubnis für jedermann, sich für seine subjektiven Bedürfnisse eine Weltanschauung nach seinem Geschmack zurechtzudichten. Seine Philosophie als Wissenschaft geht nur bis zum Bekenntnis des Nichtwissens, und die positive Ergänzung ist die Verweisung auf die Dichtung nach persönlicher Neigung ohne Anspruch auf objektive Gültigkeit. Statt vermuteter Barzahlung wird der wissensdurstige Leser mit einem Wechsel auf "das Reich der Schatten" abgefunden (wie SCHILLER einst die Welt der Ideale bezeichnete).

Daß eine solche schriftstellerische Erscheinung für Beobachter aus gewissen Gesichtspunkten als "ein glänzend aufleuchtender Meteor" erscheinen konnte, ist VAIHINGER zuzugeben, nicht aber, daß "dessen Spuren unverlöschlich sind". Eine Philosophie, die sich auf Poesie und Erkenntnistheorie reduziert, und eine Erkenntnistheorie, die zur Ignoranztheorie, d. h. zu einem rein negativen System aus "Ignoranzbegriffen" zusammenschrumpft, kann jederzeit nur als die Verlegenheitsphilosophie einer Übergangsperiode auftreten, die selbst nur ein "Notbehelf" ist, wie sie ihre Fundamentalbegriffe für solche ausgibt. Ihre geschichtliche Berechtigung reicht nicht weiter als die des Skeptizismus, der sich hier zum ersten Mal in ein subjektivistisches Gewand hüllt. Die allgemeine geschichtliche Aufgabe desselben ist, überwundene Standpunkte zu zersetzen, um dadurch lebensfähigeren Neubildungen den Boden zu bereiten; gerichtet ist er durch die Unfähigkeit, über die zerstörende Negation hinaus zu einer positiven Weltanschauung zu gelangen, an die er selbst zu glauben vermöchte, - und ohne solche hat die praktische Philosophie keinen Boden.

LANGE besitzt einen philologisch geschulten, klaren, ruhigen und scharfen Verstand, der sich mit einem warmen und edlen Herzen paart, und nur da die Nüchternheit und Gesundheit seines Urteils verliert, wo er von letzterem dominiert wird; aber ein eigentlich philosophischer Kopf, ein mit der Kraft spekulativer Synthese ausgerüsteter Denker ist er nicht, und versteht nicht einmal die kongeniale Reproduktion der spekulativen Gedankengänge Anderer. Er ist zu ehrlich, um die anscheinend vorgefundenen Widersprüche zu vertuschen, und doch unfähig, sie durch pilosophische Synthesen zu überwinden; deshalb bleibt er überall vor Antinomien als vor der letzten Formulierung der philosophischen Probleme stehen, und schwingt sich auf dem Flügelroß der Dichtung in eine Sphäre des Ideals hinüber, wo ein erträumtes harmonisches Weltbild für die rauhe Wirklichkeit entschädigt. Mit dem soliden Fleiß des geduldigen Sammlers vereinigt er eine sorgfältige Verarbeitung des zusammengeschichteten Materials zu einer konzisen [gerafften - wp] Darstellung von bedeutender schriftstellerischer Gewandtheit. Seine Werke lesen sich so angenehm, weil nichts Gesuchtes darin ist, und der Ausdruck bei aller Natürlichkeit und Schlichtheit doch meistens treffend ist. Dazu kommt, daß LANGE mit den modernen Naturwissenschaften bekannter als die meisten Philosophen ist und die dort geltende mechanistische Weltanschauung als bleibende Wahrheit des Materialismus festzuhalten sucht, sowie daß er den zeitbewegenden sozialen Fragen einen offenen Blick und eine warme Teilnahme entgegenbringt. Rechnet man endlich hinzu, daß sein Standpunkt mit dem in Frankreich und England dominierenden Positivismus sich näher als derjenige irgendeines anderen deutschen Philosophen der Gegenwart berührt, und erwägt man, wie ehrfurchtsvoll der Deutsche eine in der Fremde geprägte deutsche Berühmtheit anblickt, so darf man sich fast nur  darüber  wundern, daß LANGEs Hauptwerk nicht schon eine weit größere Zahl von Auflagen erlebt hat, und kann trotz alledem die Meinung festhalten, daß LANGE kein eigentlicher Philosoph, sondern nur ein unvollkommener Historiograph und nebenbei philosophischer Populärschriftsteller war.

Sein Mangel an Verständnis für wirkliche Philosophen macht ihm dieselben antipathisch, und weil ihm alle Metaphysik und Spekulation antipathisch ist, behandelt er deren berufene Vertreter aller Zeitalter in einer geringschätzigen und verächtlichen Weise, welche grell absticht gegen die Nachsicht, Sympathie und Hochachtung, mit welcher er um die historische "Rettung" der gedankenärmsten Gattung von Metaphysik, des Materialismus und seiner Vertreter bemüht ist. Diese zur Schau getragene Verachtung gegen alle spekulative Philosophie im Verein mit der Referenz gegen die Naturwissenschaften und der Hätschelung des Materialismus ist es, was LANGE die Sympathien der Positivisten und philosophisch angehauchten Naturforscher in England und zum Teil auch in Frankreich erworben hat; es sind also gerade sein  Mangel  an philosophischer Begabung und dessen psychologische Konsequenzen, denen er seinen ausländischen Ruf verdankt, und Deutschland hat wahrlich in diesem Fall am wenigstens Grund, sich von dem so erlangten europäischen Renommé imponieren zu lassen und auf einen solchen "deutschen Philosophen" stolz zu sein.

Die erste Auflage seiner "Geschichte des Materialismus" sieht einer geschichtlichen Monographie noch ähnlicher als die zweite, deren bedeutende Erweiterungen wesentlich nur der vorwaltenden "didaktischen und aufklärenden Tendenz" zu gute kommen. Aber nicht nur einen breiteren Raum nehmen in der neuen Gestalt die tendenziösen Reflexionen ein, sondern sie sind auch schärfer pointiert, und drängenn sich anspruchsvoller hervor, ohne daß doch andererseits eine ausreichende Klarheit und Vollständigkeit in der Darstellung des eigenen Standpunktes erreicht wäre. So macht die zweite Auflage im Ganzen einen noch unruhigeren und zerfahreneren Eindruck als die erste, zumal die Behandlung der Zeitfragen dann doch schon die Grenze der Wissenschaftlichkeit nach der Seite der Populärschriftstellerei berührt, wo nicht überschreitet. Der feste Boden der Kantischen Erkenntnistheorie ist von LANGE durch Aufgeben ihrer realistischen Bestandteile definitiv verlassen, obwohl das Bewußtsein von disem Bruch mit dem Kantianismus fehlt; andererseits sind doch wesentliche Voraussetzungen des verlassenen Standpunktes beibehalten, und dadurch gerät die Darstellung in eine Unsicherheit, ein Schwanken der Behauptungen und ein zweideutiges Schillern der Gedanken, daß man den Standpunkt nur noch als  Konfusionismus  bezeichnen kann. Den Nachweis hierfür im Einzelnen zu liefern, hieße der philosophischen Bedeutung LANGEs schon zu viel Ehre antun; übrigens ist derselbe in ausreichender Weise von Professor GIDEON SPICKER geführt worden. (1)


2. Hans Vaihinger

Vielleicht wäre es LANGE gelungen, wieder ein Jahrzehnt später sich aus diesem Konfusionismus heraus und zu einem präzisen Standpunkt hindurchzuarbeiten, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sein Werk dann nochmals zu überarbeiten. Noch besser aber hätte er bei längerem Leben getan, die verfehlte Form seines Hauptwerks nicht noch weiter zu verunstalten, sondern den Standpunkt, zu dem er kommen mußte, in einer besonderen neuen Schrift allseitig klar und scharf im Zusammenhang auseinanderzusetzen. Was LANGE nicht vergönnt war, hat HANS VAIHINGER vollbracht, (2) der, obwohl nicht in persönlichen Beziehungen zu LANGE stehend, doch so in dessen Fußstapfen getreten ist, daß er als sein Schüler zu bezeichnen ist. VAIHINGER gibt nicht nur ein Resumé des philosophischen Standpunktes seines Meisters, sondern er vermeidet auch in den Hauptpunkten dessen Konfusionismus und führt die Anläuf und Velleitäten [Willensbekundungen - wp] LANGEs dem Ziel entgegen, das ihnen durch den ganzen Gedankengang des Verstorbenen als das einzig mögliche vorgezeichnet war. Er entfernt sich dabei nicht weiter von den Aussprüchen seines Meisters, als daß er seine eigenen Aufstellungen noch für bloße Interpretationen der wahren Absichten und Meinungen desselben ansehen und ausgeben kann, und sucht zugleich durch die Zusammenstellung dieser Lehren mit modernen Beispielen idealistischer und materialistischer Philosophie die Überlegenheit der ersteren darzutun. Weil aber VAIHINGER bescheiden genug ist, auf eine Geltendmachung des eigenen Standpunktes zu verzichten, und nur eine Interpretation der LANGEschen Lehre zu geben beansprucht, haftet er noch in vielen Stücken zu eng an derselben, um das von ihm richtig erkannte Ziel dieser Tendenzen (nämlich des subjektivistischen Skeptizismus) frei von allen dogmatischen Schlacken zu ergreifen. Vielleicht gelingt es dem jungen Autor, das in seiner Erstlingsarbeit noch nicht ganz erreichte Ziel seines Weges in späteren reiferen Arbeiten in voller Reinheit und Schärfe zu erfassen, und damit erst den Bestrebungen LANGEs einen Platz in der Geschichte der Philosophie zu sichern, auf welchen dessen Gedanken in der konfusen und unreifen Gestalt, wie er sie in der "Geschichte des Materialismus" vorgetragen hat, keinen Anspruch haben.

VAIHINGER bestrebt sich mit Glück, die übersichtliche Stoffeinteilung, die konzise Verarbeitung und die gemeinverständliche Diktion LANGEs nachzuahmen. Aber auch die Fehler desselben kehren bei ihm wieder: die Bevorzugung der Popularität auf Kosten erschöpfender Gründlichkeit, die Hätschelung des Materialismus und seiner Vertreter, und die Antipathie gegen Idealismus, Metaphysik und Spekulation. Wenn in ersterer Hinsicht die Entstehung seines obengenannten Buches aus mündlichen Vorträgen es gebietet, aus der hier gelieferten Probe auf die Leistungsfähigkeit des Autors überhaupt zu schließen, so ist in letzterer Hinsicht anzuerkennen, daß er sich jedenfalls immer noch einer größeren Objektivität und Gerechtigkeit gegen die spekulativen Philosophen befleißigt, als LANGE, der z. b. ARISTOTELES, HEGEL, und mich geradezu verächtlich behandelt. VAIHINGER läßt sich seinerseits die Mühe nicht verdrießen, das "System" des von ihm gewählten Vertreters des naiven Realismus und vulgären modernen Materialismus aus vielfach unklaren und unzulänglichen Andeutungen zusammenzustellen, und etwaige Lücken liebevoll zu ergänzen, während ihm für die Reproduktion meiner spekulativen Gedankengänge öfters das rechte Verhältnis fehlt, so daß er wieder meinen Standpunkt im Ganzen zutreffend erfaßt, noch auch im Einzelnen sich vor irrigen Darstellungen meiner Ansichten zu wahren weiß. Den sichersten Beweis von seiner sympathischen Überschätzung des Materialismus und seiner antipathischen Geringschätzung gegen wirkliche Metaphysik gibt er durch die Tatsache, daß er mich mit einem DÜHRING - wenn auch nur antithetisch - zusammenkoppelt, also gewissermaßen auf gleicher Stufe behandelt. (3)


3. Julius Frauenstädt

JULIUS FRAUENSTÄDT hat es sich zur Hauptlebensaufgabe gemacht, für die Verbreitung, Erläuterung und Verteidigung der SCHOPENHAUERschen Philosophie zu wirken; daneben hat er selbständige Arbeiten von weniger metaphysischen und spekulativen als populär-philosophschen Inhalt veröffentlicht. Zu der ersteren Reihe von Arbeiten gehört die Herausgabe neuer Auflagen der SCHOPENHAUERschen Schriften, sowie der Gesamtausgabe seiner Werke, ferner: 1. Briefe über die Schopenhauersche Philosophie; 2. Arthur Schopenhauer, Lichtstrahlen aus seinen Werken (4); 3. Arthur Schopenhauer, von ihm, über ihn, ein Wort der Verteidigung von Ernst Otto Lindner, und Memorabilien, Briefe und Nachlaßstücke von Julius Frauenstädt; 4. Schopenhauer-Lexikon in 2 Bänden, und endlich 5. Neue Briefe über die Schopenhauersche Philosophie (1866). Die zweite der genannten Reihen besteht aus folgenden Schriften: 1. Die Naturwissenschaft in ihrem Einfluß auf Poesie, Religion, Moral und Philosophie; 2. der Materialismus, seine Wahrheit und sein Irrtum, eine Erwiderung auf Büchners "Kraft und Stoff", 3. Briefe über die natürliche Religion; 4. das sittliche Leben, ethische Studien; 5. Blicke in die intellektuelle, physische und moralische Welt. Hierzu treten noch zahllose Journalartikel (hauptsächlich in der "Vossischen Zeitung" und den "Blättern für literarische Unterhaltung"), welche bald der einen, bald der anderen Richtung dienen, meist aber beide zu vereinigen suchen. In seiner journalistischen Tätigkeit hat FRAUENSTÄDT unermüdlich die Aufgabe verfolgt, die neu erscheindende philosophische und verwandte Literatur aus einem SCHOPENHAUERschen Gesichtspunkt zu beleuchten, und damit dem Journalpublikum die reale Existenz dieses Gesichtspunktes immer neu zu Bewußtsein zu bringen und mit seiner Eigentümlichkeit vertraut zu machen. Auch diejenigen Anhänger SCHOPENHAUERs, welche mit FRAUENSTÄDTs Auffassung desselben nicht einverstanden sind, müssen doch seine Verdienste um die SCHOPENHAUERsche Philosophie anerkennen, und diese Verdienste sind umso größer, als er der  Einzige  war, der seine volle Kraft dauernd dieser Aufgabe gewidmet hat. Wenn es viele tätige Kantianer, Hegelianer und Herbartianer gegeben hat und noch gibt, so gibt es doch nur einen eigentlichen Schopenhauerianer in diesem Sinne. Da ihm kein akademischer Lehrstuhl zu Gebote stand, so mußte er seinen Zweck mit anderen Mitteln verfolgen, aber sein Zweck ist ein analoger wie der jener anderweitigen  "-ianer"  auf dem Katheder, und auch das Niveau dieses  ianertums  ist in beiden Fällen ungefähr das gleiche.

Hiermit ist schon gesagt, daß FRAUENSTÄDT kein origineller Denker ist; ein solcher hält es gar nicht aus, Jahrzehnte lang in der Lehre eines Dritten die Wahrheit (unbeschadet gewisser Vorbehalte) zu sehen und im Dienste fremder Gedanken sein philosophisches Tagewerk zu verrichten. Er schöpft nicht aus eigenen Mitteln, sondern wirtschaftet als treuer und sorgsamer Haushälter mit dem Erbe seines Meisters, in dessen Gedankensystem er sich ganz hineingelebt hat. Das Ergänzungsmaterial entlehnt er nicht sowohl der eigenen Anschauung und Beobachtung, als anderen Büchern, aus denen er mit gesundem Blick das Gute wählt. Sein Denken ist schlicht, klar, wohlgeordnet, nüchtern und sachlich, also ganz geeignet, die Aufgabe der Popularisierung eines Meisters bis zur Durchsichtigkeit für das Verständnis zu lösen. Daß es dabei ohne Verflachung abgeht, kann man freilich nicht behaupten; alle Popularisierung ist ihrer Natur nach mehr oder minder Trivialisierung, denn sie installiert den gemeinen Menschenverstand als den Dauphin, zu dessen Gebrauch das Originelle hergerichtet wird. FRAUENSTÄDT selbst repräsentiert den  common sense  auf Basis der Pietät vor der SCHOPENHAUERschen Autorität. Er entbehrt ebenso sehr der spekulativenn Befähigung wie der Phantasie, der Tiefe wie des Schwungs, Eigenschaften, welche allerdings seinem Lebenszweck mehr hinderlich als förderlich gewesen wären. Von seinen selbständigen Arbeiten verdienen wohl die ethischen Studien die meiste Beachtung. Aber auch hier ist ein Ton der Popularphilosophie angeschlagen, der wohl viele schätzenswerte Einzelheiten zur Geltung gelangen läßt, jedoch jede  prinzipielle  Förderung der Moral, jede  Vertiefung  der ethischen Grundprobleme ausschließt.

Die früheren Veröffentlichungen FRAUENSTÄDTs ließen seine Vorbehalte gegen die Lehren des Meisters nur in vereinzelten Andeutungen erkennen, aus denen er weit entfernt war, die Konsequenz der Notwendigkeit einer vollständigen Umbildung des SCHOPENHAUERschen Systems von Grund auf zu ziehen. Ziemlich spät erst gelangt er dazu, einem "seit längerer Zeit für sich selbst gefühlten Bedürfnis" Genüge zu tun, nämlich sich "Rechenschaft abzulegen über die Einheits- und Differenzpunkte zwischen ihm und SCHOPENHAUER (Neue Briefe, Seite 2). Als "ehrlicher Wahrheitsforscher" verhehlt er nicht, daß er "jetzt (1875) als ein  Anderer  zur SCHOPENHAUERschen Philosophie zurückkehrt, als er 1854 bei der Herausgabe seiner ersten Briefe über dieselbe war" (ebd.), da "die Zeit auf keinen ohne Einfluß bleibt", und inzwischen "in der philosophischen Literatur manches vorgegangen" ist. "Hierher gehören nicht bloß die ausdrücklich auf die SCHOPENHAUERsche Philosophie, seii es im Ganzen oder auf einzelne Teile derselben sich beziehenden Schriften, sondern auch neue Systeme, die eie Fortbildung und Verbesserung derselben sein wollen, wie die HARTMANNsche "Philosophie des Unbewußten", oder Systeme, die wie die DARWINsche Entwicklungstheorie, Grundlehren der SCHOPENHAUERschen Philosophie umzustoßen scheinen" (ebd.). Der Darwinismus berührt sich nur in dem  einzigen  Problem der teleologischen Naturentwicklung mit dem Schopenhauerianismus; der Standpunkt der Philosophie des Unbewußten dagegen berührt sich mit demselben  fast auf allen  Punkten und in noch höherem Grade mit dem FRAUENSTÄDTschen Umbildungsstandpunkt. Als je enger die Verwandtschaft zwischen den beiden letzteren sich bei näherer Betrachtung herausstellt, desto mehr muß man bedauern, daß FRAUENSTÄDT mit seinem Umbildungsversuch nicht um sieben Jahre früher hervorgetreten ist, wo derselbe unstreitig einen noch größeren geschichtlichen Wert gehabt hätte.

Immerhin ist auch jetzt die Bedeutung dieser Kundgebung nicht zu unterschätzen. Wenn der treueste Anhänger und langjährige Verteidiger eines bestimmten Systems sich endlich zu dem unumwundenen Geständnis genötigt sieht, daß dieses System, um ferner lebensfähig zu bleiben, einer vollständigen Umbildung bedürfe, so darf man überzeugt sein, daß dies ein mit schwerem Herzen der Pietät abgerungenes Opfer auf dem Altar der Wahrheit ist. Jede einzelne Konzession, daß eine bestimmte Seite des Systems mit anderen im Widerspruch stehe und vor der Kritik unhaltbar sei, hat im Mund eines so genauen Sachkenners und eines so warmen Fürsprechers ein ganz anderes Gewicht, als die Kritik eines Draußenstehenden, und man wird es der Vergangenheit eines solchen Jüngers zugute halten dürfen, wenn er durch künstliche und gewaltsame Interpretation des Meisters seinen eigenen Umbildungsstandpunkt als einen mit der eigentlichen und innersten Meinung des Meisters möglichst übereinstimmenden darzustellen bemüht ist. Einer von Pietät und Impietät gleich unbeirrten historischen Kritik wird sich freilich das Bild der ursprünglichen und wahren SCHOPENHAUERschen Lehre anders darstellen müssen, als es durch die Brille der FRAUENSTÄDTschen Pietät erscheint, und es wird nicht unnütz sein, durch einen entschiedenen Hinweis auf diese Diskrepanz den Mißverständnissen vorzubeugen, zu welchen jüngere Studierende durch dieselbe verleitet werden könnten. Möge aber das Hervortreten FRAUENSTÄDTs mit seinen "Neuen Briefen" wenigstens das Gute stiften, daß es einen Merkstein bezeichnet, mit welchem ebenso die einseitige Verherrlichung wie die einseitige Verketzerung SCHOPENHAUERs aufhört, und eine Zeit der objektiven historischen Würdigung  sine ira et studio  [in besonnenen Studium - wp] beginnt, bei welcher die reichen Gedankenkeime des großen Denkers erst ihre rechten und echten Früchte zeitigen werden.


4. Julius Bahnsen

JULIUS BAHNSEN ist eine der eben besprochenen ganz entgegengesetzte Persönlichkeit. Er ist ein  durchaus origineller Philosoph,  und die Originalität ist bei ihm so scharf eingeprägt, daß sie har an die Grenze des Bizarren streift, nicht selten sogar dieselbe überschreitet. Ein spekulatives Talent, das sich mit Vorliebe gerade in die dunkelsten Untiefen der Probleme des Kopfes und des Herzens versenkt, und eine üppig wuchernde Phantasie, welche die dialektischen Spekulationen unter einem tropischen Bilderreichtum fast zu verschütten droht, vereinigen sich, um eine ganz ungewöhnliche Erscheinung hervorzubringen. Fügt man hinzu, daß BAHNSENs Dichten und Trachten mit dem edelsten Herzblut des deutschen Idealismus getränkt ist, so ergibt sich eine Mischung von Eigenschaften, die zur Lösung der höchsten Aufgaben berufen schiene, wenn ein  klarer, logischer Verstand  hinzukäme, um der dialektischen Entwicklung Ziel und Wege zu weisen, Regel und  Ordnung  in die trübe Gärung der Probleme zu bringen, und den Anteil der Phantasie auf das ihr in der Wissenschaft gebührende  Maß  zurückzuführen. Es ist mit einem Wort die  Nüchternheit,  die diesem Denken fehlt, und deshalb vermag es nicht geradlinig und unentwegt auf ein ins Auge gefaßtes Ziel loszugehen, sondern taumelt wie trunken nach rechts und links und bleibt zuletzt wohl auf halbem Weg stecken.

BAHNSEN selbst sagt (5): "Es mag sich nämlich ein Leser, der mich bis hierher geleitet hat, gesagt sein lassen, daß nicht weniger als ihm dem Schreibenden selber in diesem Abschnitt oft zumute gewesen ist, als müßten wir uns auf einem sumpfigen Terrain bewegen, wo jeder Schritt vorwärts die Gefahr mit sich bringt, tiefer ins Bodenlose zu geraten. Da entsteht von selber  eine Zickzack-Bewegung, die in ziellosen Kreuz- und Quergängen eigene wie fremde Kraft vergebens abzumartern scheint,  und mit der Geradlinigkeit des Fortschreitens scheint jede feste Disposition aus der Erwägung zu verschwinden - so sehr, daß sich selbst die Überschriften dieser letzten Kapitel zum Teil hinter Unbestimmtheiten füchten mußten. Dennoch glaube ich, im Hin und Her dialektischer Thesen und Antithesen dem  intelligenti, d. h. inter lineas legenti  [zwischen den Zeilen lesen - wp] auch die Synthesen nicht vorenthalten zu haben." Dieses Geständnis für einen speziellen Abschnitt ist charakteristisch für alles was BAHNSEN schreibt: die Hauptsache muß man  zwischen  den Zeilen lesen. Er kann keine noch so einfache Behauptung hinschreiben, ohne sie gewissenhaft durch entgegengesetzte einzuschränken und diese wieder einzuschränken usw. Was nun bei diesem Hin und Her seine eigentliche Meinung ist, läßt er absichtlich möglichst unklar in der Schwebe, um nur nicht in dogmatische Einseitigkeit zu verfallen. Nimm man hinzu, daß dieses Gedanken-Zickzack mist nicht in deutlicher Begriffssprache, sondern in vieldeutiger bildlicher Redeweise ausgedrückt und in bandwurmartige Perioden gepfropft ist, die durch zahllose (oft nur mit Gedankenstrichen angedeutete) Parenthesen [Einschübe - wp] zerhackt sind, so wird es begreiflich, daß BAHNSENs Stil und Darstellung trotz aller Anschaulichkeit und allen Gedankenreichtums geradezu abschrecken wirken, und das Haupthindernis für eine Beachtung seiner Schriften in weiteren Kreisen bilden.

Dabei ist trotz aller Gespreiztheit des Gebahrens in Ernst und Humor, trotz aller Forciertheit des Effekts nichts künstlich Gemachtes in diesem Stil; BAHNSEN kann wirklich nicht anders schreiben, weil er genau so denkt wie er schreibt - und deshalb ist das Übel hoffnungslos. Der Mangel an Klarheit, Nüchternheit und logischer Gradlinigkeit des Denkens, der jede Präzisierung bestimmter Resultate verhindert, verurteilt sein Philosophieren in formeller Hinsicht ganz ebenso zu einer fragmentarischen Beschaffenheit, wie der von ihm ergriffene prinzipielle Standpunkt des pluralistischen Individualismus in sachlicher Beziehung tut, und es ist nur zu bedauern, daß BAHNSEN nicht die Muße findet, seine Gedankenarbeit fortzuführen, da gerade dann dieser ihr zweifach innewohnende fragmentarische Charakter erst recht zweifellos sich offenbaren würde. Bei alledem sind die vorangestellten Vorzüge BAHNSENs so hervorragend, daß er  das einzige Talent  der SCHOPENHAUERschen Schule genannt werden muß. Die wirklich philosophischen Köpfe sind eben auch im Lande der Denker eine solche Rarität, daß der Freund der Wissenschaft aufrichtig erfreut sein muß, einem solchen unter den Mitlebenden zu begegnen und nur mit tiefem Bedauern sehen kann, daß man eine solche Kraft im hintersten Teil von Hinterpommern verkümmern läßt.

Wer es noch über sich bringt, JEAN PAUL zu lesen, der wird auch an BAHNSEN, welcher von ersterem stark beeinflußt ist, nicht scheitern, und wird von seinen Schriften nicht ohne tiefere Belehrung, vielseitige Anregung und reichen Genuß scheiden. Seine Stärke liegt wie diejenige SCHOPENHAUERs im Apercu [geistreiche Bemerkung - wp], in der geistvollen Auffassung und anschaulichen Wiedergabe des Wirklichen, namentlich in der Beobachtung und Analyse der feineren psychologischen Verschlingungen der Gefühle und Begehrungen. Er ist hierbei ebenso geschickt in der Distinktion der feinsten Nuancen, wie er es versteht, den Leser mit der Kraft gewaltiger, fast poetischer Imagination in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens, seines Jammers wie seiner Zerknirschung hinabzuführen.

Hier aber kommen wir an einen zweiten wunden Punkt, der nicht mehr bloß die Form, sondern den Inhalt betrifft. Wir werden sehen, daß BAHNSEN eigentlich nur einen unlogischen Zweck der Erscheinungswelt gelten läßt, nämlich denjenigen, der Selbstentzweiung und Selbstzerfleischung des Willens einen möglichst günstigen Tummelplatz zu gewähren.  Die Selbstquälerei wird zum Selbstzweck,  der eben in seiner logischen Widersinnigkeit die Bestätigung für eine realdialektische Wahrheit und Wirklichkeit finden soll. Das Elend des Daseins ist hoffnungslos; weder das Individuum noch das All-Eine kann je einen Ausgang aus der Hölle der Selbstzerfleischung finden. Aus der bei SCHOPENHAUER nur für einen gelegentlichen Einfall zu nehmenden Bemerkung, daß die Welt die schlechteste von allen möglichen sei, macht BAHNSEN bitteren Ernst (Zur Philosophie der Geschichte, Seite 52 - 53); der Pessimismus hört bei ihm auf, tragisch erhebend zu wirken, und sinkt zur deprimierenden Desperation herab. Mit der vorgefaßten Meinung, daß überall nicht das Logische, sondern das Dialektische bestimmend ist für die Wirklichkeit, kann er gar nicht umhin, überall nach der empirischen Bestätigung dafür zu suchen, daß das Wesen der Welt die  Selbstquälerei  ist; nichts darf hiervon unberührt bleiben, und kein Objekt ist zu winzig, um nicht als Beleg für diese Grundansicht zu dienen.

Hieraus entsteht nun ein Zweifaches: erstens ein "kleinmeisterliches Herumkritteln und -Mäkeln an allem Wirklichen (6), das nur zu leicht in grillige, grollende und grämliche Nörgelei ausartet, und zweitens eine Tendenz, die Selbstquälerei, welche durchaus in allem gefunden werden soll, durch dieses grämliche und nörgelnde Suchen erst heraufzubeschwören. In ersterer Hinsicht verdient der desparate Pessimismus die zu anderen Zwecken erfundene Bezeichnung "Miserabilismus", in letzterer Hinsicht entartet er zu einer hypochondrischen, um nicht zu sagen hysterischen Weltbetrachtung. Dieser hypochondrische Miserabilismus nun drückt der ganzen Physiognomie des BAHNSENschen Philosophierens einen unzweideutig  pathologischen  Zug auf, der das Gewicht seiner Anschauungen und die Wirksamkeit seiner Argumente durch eine Verdächtigung ihrer Unbefangenheit zu beeinträchtigen geeignet ist, ja sogar den Humor den Humor mit Galle tränkt und seiner befreienden Kraft beraubt. BAHNSEN selbst verrät durch einen überall hervorbrechenden Groll gegen die "Gesunden", daß er sich dieses pathologischen Zuges bewußt ist, durch den er auf dem Gebiet der Philosophie in eine ähnliche Stellung gerückt wird, wie HEINRICH HEINE auf dem Gebiet der Poesie und ROBERT SCHUMANN auf demjenigen der Musik.


5. Johannes Volkelt und Johannes Rehmke

JOHANNES VOLKELT ist der jüngste der hier besprochenen Autoren, und der glücklichen Mischung seiner Anlagen nach derjenige, der die größten Hoffnungen für die Zukunft erweckt. Seine spekulative Befähigung kommt derjenigen BAHNSENs, die Klarheit und Nüchternheit seines Verstandes derjenigen FRAUENSTÄDTs mindestens gleich, an philosophischer Schulung, an Objektivität des Urteils, an Weite des Gesichtskreises und an logischer Schärfe ist er beiden überlegen; in der Feinheit der Beobachtung und in geistvollen Apercus kann er sich freilich mit BAHNSEN ebensowenig messen wie in der Originalität der Auffassung. Gleichwohl fehlt es ihm keineswegs an Frische und Unmittelbarkeit der Anschauung, und die Summe seiner Eigenschaften erzeugt nicht nur eine große Leichtigkeit der wissenschaftlichen Behandlung, sondern auch eine bedeutende schriftstellerische Gewandtheit, wie sie besonders in seinen journalistischen Essays (7) hervortritt. Ein solcher Schriftsteller erweckt die Erwartung, daß er jedem Sattel gerecht wird, und es bleibt nur zu wünschen, daß er die rege gemachten Erwartungen nicht unerfüllt lassen möge. Denn allerdings sind die bsiher veröffentlichten historisch-kritischen Studien (8), Monographhien (9) und Vorträge (10) weniger als positive Leistungen denn als Proben der Leistungsfähigkeit zu betrachten, wenn sie auch die Leistungen manches wohlbestallten Professors an Umfang und Inhalt weit überragen.

Es ist kaum anzunehmen, daß VOLKELT in seinem Vaterland Österreich von dem dort herrschenden Herbartianismus zu einer akademischen Verwertung seiner Kraft zugelassen werden sollte; im deutschen Reich dagegen dürften bei ihm selbst diejenigen Bedenken wegfallen, (11) welche einer akademischen Verwerndung BAHNSENs etwa im Weg stehen könnten. Gerade VOLKELT dürfte der berufene Vertreter eines zeitgemäß umgebildeten Hegelianismus für die nächste Generation werden, wenn die bisherigen älteren Vertreter des ursprünglichen Hegelianismus vom Schauplatz abgetreten sein werden. Der Hegelianismus ist als Schule des spekulativen Denkens und als notwendiger Durchgangspunkt für die Entwicklung der deutschen Philosophie viel zu wichtig, und seine Überlieferung durch das gesprochene Wort zur Gewinnung neuer Schüler zu unentbehrlich, um nicht mit Bedauern den für das nächste Jahrzehnt in Aussicht stehenden Verfall der Hegelschen Schule ins Auge zu fassen, und der jüngere Nachwuchs in dieser Richtung ist so spärlich, daß ein Talent wie VOLKELT als ein wirklicher Gewinn für die Zukunft des philosophischen Studiums begrüßt werden muß. Der Schopenhauerianismus ist in einer weit günstigeren Lage, weil die Originalwerke des Meister fortfahren, für sich selber Propaganda zu machen, was von denen HEGELs wohl niemand behaupten wird. Bei BAHNSEN handelt es sich in erster Linie darum, dem Talent die materielle Möglichkeit und Muße zur schriftstellerischen Entfaltung zu gewähren, was durch eine Beurlaubung mit Pension noch wirksamer als durch ein akademisches Lehramt zu erreichen wäre; bei VOLKELT hingegen handelt es sich in erster Linie um eine Verwertung als Apostel im Dienste eines mit der Zeit fortgeschrittenen Hegelianismus vom Katheder herab und erst in zweiter Linie um die Beförderung seiner schriftstellerischen Tätigkeit. -

JOHANNES REHMKE ist ebenso wie VOLKELT noch ein junger mann, der Geburt nach gleich BAHNSEN ein Holsteiner, der in Zürich unter BIEDERMANN Theologie und Philosophie studierte, und gegenwärtig als Professor am Gymnasium zu St. Gallen wirkt. Es sind mir bisher nur zwei Publikationen desselben bekannt geworden, deren erstere zu meiner Metaphysik, deren letztere zu meiner praktischen Philosophie, insbesondere meinem Pessimismus, Stellung nimmt. (12) Beide Arbeiten zeichnen sich durch maßvolle Objektivität, konzise Prägnanz und Erfassen der wichtigen Probleme in ihrer fundamentalen Bedeutung vor der Menge der gegen mich gerichteten Streitschriften vorteilhaft aus und erwecken die besten Hoffnungen für des Verfassers weitere Leistungen. Zugleich beanspruchen dieselben ein besonderes Interesse dadurch, daß sie wesentlich aus dem Anschauungskreis BIEDERMANNs herausgewachsen sind, der, ohne an der Form der HEGELschen Methode zu haften, einer der treuesten Bewahrer des HEGELschen Geistes und zugleich einer der spekulativsten Denker der Gegenwart genannt werden muß. So wird man auch REHMKE im weiteren Sinn noch als Hegelianer bezeichnen dürfen, obwohl seine Arbeiten denen der HEGELschen Schule im engeren Sinne gar nicht ähnlich sehen, und er sich offenbar auch schon wiederum weiter als BIEDERMANN von strengen Hegelianismus entfernt hat.
LITERATUR - Eduard von Hartmann, Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus, Berlin 1877
    Anmerkungen
    1) Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie. Mit besonderer Berücksichtigung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft und der "Geschichte des Materialismus" von F. A. LANGE, Berlin 1874. Gegen einige Punkte der Ansichten LANGEs habe ich mich bereits gelegentlich geäußert; vgl. "Philosophie des Unbewußten", Bd. 1, Seite 441 - 444, Bd. II, Seite 475 - 477; "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus", Seite 91 - 95; "Wahrheit und Irrtum im Darwinismus", Seite 167 - 168.
    2) In seiner Schrift "Hartmann, Dühring und Lange", zur Geschichte der deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert", Iserlohn 1876. Außerdem hat derselbe Verfasser noch eine Festrede "Goethe als Ideal universeller Bildung", Stuttgart 1875, und einige Abhandlungen in den  Philosophischen Monatsheften  veröffentlicht.
    3) LOUIS BÜCHNER hat als Materialist und naiver Realist einen tausendmal größeren Einfluß auf das geistige Leben in Deutschland geübt als DÜHRING; dasselbe gilt von ÜBERWEG als naiven Realisten und Materialisten, und von MARX und LASSALLE als sozialistischen Optimisten. Jeder von diesen hat seinen Standpunkt weit klarer erfaßt und wirksamer vertreten als DÜHRING, in dessen seichter Trivialphilosophie man vergebens nach irgendeiner Originalität des Gedankens oder nach einem Funken von Geist suchen würde. Als Sozialist ist er bei den Männern der Wissenschaft wie bei den Arbeitern gleich einflußlos. Die einzige seiner philosophischen Schriften, welche wissenschaftlich in Betracht kommen kann (die "natürliche Dialektik"), ist vielleicht am wenigsten bekannt, und die Erwartungen, welche man an dieselbe knüpfen durfte, sind unerfüllt geblieben. Seine "Kritische Geschichte der Philosophie" (vgl. meine Rezension in den "Blättern für literarische Unterhaltung", 1870, Nr. 1) erfreut sich einer gewissen Beliebtheit in solchen studentischen Kreisen, wo ein hochfahrendes Absprechen über alles ohne eigentliche Sachkenntnis als bewunderungswürdiges und nachahmenswertes Vorbild gilt. In gewundenen und affektierten Phrasen redet er nicht sowohl  über  seinen Gegenstand, als  um  denselben  herum,  und verhüllt so mit geschickter Unklarheit die klägliche Dürftigkeit seines geistigen Besitzes. - VAIHINGER kam auf DÜHRING offenbar durch den Wunsch, die oben genannten verschiedenen Richtungen in einem einzigen Vertreter vorzuführen, und ließ sich dann nachträglich verleiten, einen obskuren Namen zum Träger von Kulturströmungen emporzuschrauben, die aus ganz anderen Quellen fließen.
    4) Die hieran sich anschließenden Lichtstrahlen aus KANT fallen außerhalb beider Serien.
    5) JULIUS BAHNSEN, Beiträge zur Charakterologie, mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen, Leipzig 1867, Seite 271 - 272.
    6) BAHNSEN, Zur Philosophie der Geschichte, eine kritische Besprechung des Hegel-Hartmannschen Evolutionismus aus Schopenhauerschen Prinzipien, Berlin 1872, Seite 58
    7) Die Entwicklung des modernen Pessimismus ("Im neuen Reich", 1872, Nr. 25). Zur Geschichte der Philosophie der Liebe (ebd. 1873, Nur. 27). Der Ideengehalt in Hamerlings Dichtungen (ebd. 1874, Nr. 24 und 26).
    8) Das Unbewußte und der Pessimismus. Studien zur modernen Geistesbewegung, Berlin 1873. - Ferner: Kants Stellung zum unbewußt Logischen, Philosophische Monatshefte, Bd. IX, Heft 2 und 3). Pantheismus und Individualismus im System SPINOZAs, Ein Beitrag zum Verständnis des Geistes im Spinozismus, Leipzig 1872
    9) Die Traumphantasie, Stuttgart 1876
    10) Kants kategorischer Imperativ und die Gegenwart, Vortrag gehalten im Leseverein der deutschen Studenten Wiens, Wien 1875.
    11) Derselbe hat sich im Herbst 1876 in Jena als Privatdozent habilitiert.
    12) Hartmanns Unbewußtes, auf die Logik hin kritisch beleuchtet, Zürich 1873. - Die Philosophie des Weltschmerzes, St. Gallen 1876.