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HANS-JOACHIM STÖRIG
Wilhelm von Ockham

"Die Logik definiert er als die Wissenschaft von den Zeichen. Bloße Zeichen (signa, termini) sind insbesondere auch die von jenen Realisten so hoch bewerteten Allgemeinbegriffe oder Universalien. Nichts Wirkliches entspricht ihnen."

Die von WILHELM von OCKHAM vorgenommene Erneuerung des Nominalismus bedeutete einen Angriff auf die Grundlagen der Scholastik und das Signal für den Anbruch einer neuen Zeit. WILHELM von OCKHAM (lat. Occam) um 1290 geboren. Er studierte und lehrte in Oxford und Paris, wo ihm sein Scharfsinn und seine Gewandtheit im Disputieren den Ehrennamen des Unbesieglichen (doctor invincibilis) eingetragen haben.

Daß der frühere Nominalismus von der Kirche verworfen worden war, hatte seinen unmittelbaren Anlaß gehabt in dem Einfall des ROSCELLINUS, seine nominalistischen Argumente auf das Dogma der Trinität zu richten. Daß die Kirche ihn so radikal unterdrückte, geschah aber aus der bewußten oder unbewußten Erkenntnis, daß ein konsequenter Nominalismus zwar nicht den christlichen Glauben, aber jedenfalls seine eigenartige Vermählung mit der antiken Philosophie, das heißt der Scholastik, in den Grundfesten erschüttern mußte. Denn die scholastische Methode, unter Verzicht auf unmittelbare Naturbeobachtungen alles Wissenswerte aus anerkannten Autoritäten herzuleiten, hatte im Grunde die Überzeugung zur Voraussetzung, daß in den allgemeinen Glaubens- und Lehrsätzen schon alles einzelne enthalten und gesagt sei und nur herausgezogen werden müsse. Denn nur wenn das Allgemeine, wie es der scholastische Realismus annahm, ursprünglicher und 'realer' ist und alles einzelne schon in vollem Umfang in sich begreift, ist jene Methode sinnvoll.

Für Wilhelm nun ist das Verhältnis genau umgekehrt. Indem - so sagt er - die "realistischen" Scholastiker mit dem Allgemeinen anfingen und daraus die Individualität herzuleiten suchten, haben sie das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen versucht und alles verkehrt angefangen. Denn das Einzelne ist als solches wirklich, es allein ist wirklich; das Allgemeine ist es, was erklärt werden muß. Das letztere versucht Wilhelm in seinen umfangreichen und nicht leicht zu lesenden Untersuchungen.

Wir heben nur den Grundgedanken heraus. Die Logik definiert er als die Wissenschaft von den Zeichen. Bloße Zeichen (signa, termini) sind insbesondere auch die von jenen Realisten so hoch bewerteten Allgemeinbegriffe oder Universalien. Nichts Wirkliches entspricht ihnen. Selbst im Geiste Gottes sind nicht die "universalia ante res". Das stützt Wilhelm mit dem theologischen Argument, daß dann das Dogma von der göttlichen Schöpfung aus dem Nichts nicht aufrechterhalten werden könne, weil ja in diesem Fall die Universalien schon vor den Dingen da wären. - Es gibt nirgends eine "Woheit" oder "Wannheit", sondern nur ein Wo und ein Wann; es jeweils nur ein Wie und ein Wieviel, keine Qualität und Quantität als selbständig Seiendes. Es gibt in der Wirklichkeit keine "Relation" (Beziehung) als Selbständiges, sondern nur die bezogenen Dinge. Die Beziehung besteht nur in unserem Kopfe.

Es gibt keine "Vielheit", sondern nur viele Dinge. Eine Beziehung noch neben den bezogenen Dingen, eine Vielheit neben den vielen Dingen anzunehmen, ist eine unnütze Verdoppelung oder Vervielfältigung, widerspricht dem Grundsatz aller Logik und Wissenschaft, nämlich nicht mehreres anzunehmen, wo eines zur Erklärung genügt. - Mit der Kategorienlehre des Aristoteles werden nicht die Sachen eingeteilt und erfaßt, sondern nur unsere Zeichen für sie, die Worte oder Namen, die wir ihnen beilegen. Wilhelm legt also den Aristoteles ganz im Sinne seines Nominalismus aus, was auf Grund der von ARISTOTELES an PLATON geübten Kritik, auch durchaus möglich ist.

Der Gefahr, sein Nominalismus, auf christliche Dogmen angewandt, diese erschüttern könnte, entgeht Wilhelm von vorneherein dadurch, daß er nicht nur einzelne Mysterien des Glaubens (wie THOMAS von AQUIN) aus dem Bereich der vernunftgemäßen Erfassbarkeit herausnimmt, sondern (wie DUNS SCOTUS, aber radikaler als dieser) die ganze Theologie. Die Dogmen der Dreieinigkeit, der Menschwerdung Gottes und anderes sind für Wilhelm nicht nur übervernünftig, sondern widervernünftig und müssen als solche hingenommen werden.

Es gibt auch keine vernunftgemäßen Beweise für die Existenz oder bestimmte Eigenschaften Gottes. Da die Grundlage allen Wissens die vom einzelnen ausgehende Erfahrung ist, wir aber von Gott keine Erfahrung haben können, ist ein eigentliches, natürliches Wissen von Gott für den Menschen unmöglich. Das bedeutet unter anderem, daß eine Theologie als Wissenschaft, mit exakten Beweisen und so weiter, nicht möglich ist. Was schon Duns Scotus ausgesprochen hatte: daß ein Satz für den Theologen wahr, für den Philosophen aber falsch sein könne, das ist bei Wilhelm durchgehende Überzeugung. Das alte "credo quia absurdum" (ich glaube, weil es absurd ist) tritt wieder in Kraft.

Es ist nur folgerichtig, daß Wilhelm die Trennungslinie, die er zwischen Theologie einerseits, weltlicher Wissenschaft und Weltlichkeit andererseits zieht, auch in der Praxis, das heißt in der Kirchenpolitik, im Verhältnis der Kirche zur Welt, beachtet sehen will. Die Verweltlichung der Kirche, die weltliche Machtpolitik des Papstes Bonifaz VIII., greift er rücksichtslos an. Unter Berufung auf das Beispiel Jesu und der Apostel verlangt er - wie es auch den strengen Grundsätzen des Franziskanerordens entspricht - in seiner "Disputation zwischen dem Geistlichen und dem Soldaten" Absage an das Weltlich und Beschränkung der Kirche auf ihre geistlichen Aufgaben.

Seine Einkerkerung durch den damals in Avignon residierenden Papst war die Folge. Er entzog sich der Haft durch die Flucht nach München. Bei dem mit der päpstlichen Herrschaft in Fehde liegenden Kaiser Ludwig dem Bayern fand er Zuflucht. Zu ihm soll er die berühmten Worte gesprochen haben: "Verteidige du mit dem Schwerte, ich will dich mit der Feder verteidigen." In München ist er 1349 gestorben.

1339 wurde das Lehren nach WILHELM von OCKHAM an der Pariser Universität verboten. Gleichwohl wurde der Nominalismus zu beherrschenden Geistesrichtung. Das zeigte sich, als ein Edikt, durch welches im Jahre 1473 alle Lehrer der Pariser Universität auf den Realismus, also gegen Wilhelm verpflichtet wurden, bereits wenige Jahre später wieder aufgehoben werden mußte.

Mit Wilhelms Nominalismus und seinen Folgerungen ist das von der Scholastik in Jahrhunderten geknüpfte Band zwischen Theologie und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen praktisch zerschnitten. Beide Bereiche stehen nun für sich. Es gibt eine 'doppelte Wahrheit' (ähnlich wie es AVERROES schon viel früher behauptet hatte). Tatsächlich ist dies, von seiner Zeit bis zur Gegenwart, die schwerwiegende Folge und Folgerung von Wilhelms Tat gewesen: Wissen und Glaube, Philosophie und Wissenschaft auf der einen, Religion und Theologie auf der anderen Seite wandeln von nun an in getrennten Bahnen. Jede entwickelt sich ihrer Eigengesetzlichkeit gemäß und ohne Rücksicht auf die andere. Das Gespräch zwischen Glauben und Wissen kommt für lange Zeit fast zum Verstummen. Dieser Zwiespalt durchzieht unsere ganze moderne Kultur.

Das bedeutet für die Philosophie und die sich ihr gegenüber allmählich verselbständigende Wissenschaft, daß sie, aus dem scholastischen Dienst der Theologie entlassen und immer stärker nach dem wegweisenden Beispiel Roger Bacons auf die unmittelbare äußere Erfahrung als ihre Quelle zurückgehend, jenen unerhörten Aufschwung hat nehmen können, der die Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte erfüllt. Für den religiösen Bereich bedeutet es, daß der übervernünftige Inhalt des Glaubens ohne Rücksicht auf Philosophie und rationale Theologie unmittelbar ausgesprochen werden kann - wie es zunächst und vor allem in der großen deutschen Mystik geschieht.
LITERATUR - Hans-Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Bd. 1, Frankfurt-Main/Hamburg 1971