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HANS VAIHINGER
Hartmann, Dühring und Lange
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"Es mußte die Belehrung der Vergangenheit gesucht werden, um zu erklären, woran es denn eigentlich liege, daß unter allen Wissenschaften nur die Philosophie nicht in den Gang eines geregelten und gesicherten Fortschritts gelangen könne, daß ihre Systeme stets wie hell aufleuchtende, aber auch ebenso rasch wieder verschwindende Meteore am Himmel unserer Gedankenwelt erschienen."

Einleitung

"De tribus impostoribus" [Das Buch von den 3 Betrügern - wp], meinte ein skeptischer Freund, sollte ich diesen Essay betiteln, in welchem ich eine kritisch-komparative Darstellung der drei bedeutendsten Systeme der Philosophie zu geben versuchen werde, welche im modernen, im "jüngsten Deutschland" (1) aufgestellt worden sind. Allein wenn ich auch nicht leugnen will, daß mancher Philosophe "sich selbst und andere betrogen" hat, so bin ich doch nicht Skeptiker genug, um am relativen Wert aller und so auch der vorliegenden System von HARTMANN, DÜHRING und LANGE ohne weiteres zu verzweifeln. Ich glaube im Gegenteil, daß die genannten drei Denker einem lebhaft gefühlten und häufig ausgesprochenen Bedürfnis ihrer Zeitgenossen mit unleugbarem Erfolg entgegengekommen sind, und so stelle ich mir dann die Aufgabe, in einer vergleichenden Übersicht zu untersuchen, ob und inwieweit diese Systeme eine neue und zeitgemäße Grundlegung der Philosophie angebahnt haben und wie sich dieselben sowohl im Ganzen als in Bezug auf die Beantwortung und Lösung der einzelnen philosophischen Probleme zueinander verhalten.

Als nach dem "großen Krach" der HEGELschen Philosophie sich alles in wirrer Auflösung getrennt hatte, zerfiel die deutsche Philosophie, noch mehr als zuvor, in eine Menge von Schulen und Richtungen, und verlor dadurch mit Recht die Bedeutung und die Geltung, die ihr bis dahin unstreitig zugekommen war. (2) Bei dieser Zerklüftung der Parteien konnte es dem  Materialismus  nicht schwer fallen (3), das deutsche Publikum für sich zu gewinnen, umso weniger, als er, wenn auch mit auffallender Einseitigkeit, bisher vernachlässigten Seiten des Seins zum Ausdruck verhalf. Ein weiterer Grund, dessen Zusammenhang mit der geistigen Entwicklung zwar unleubar, aber ebenso dunkel und unberechenbar ist, war die  politische Stagnation,  die den Materialismus zu einer raschen Blüte brachte. Ja, ist stehe nicht an zu behaupten, daß die lange Friedensära jenem Gewächs günstig war, in dem sich in einer solchen leicht der  praktische Materialismus,  die Hast des Erwerbs und damit der Egoismus ausbildet, die, was die Verbreitung des  theoretischen Materialismus  im großen Haufen betrifft, einen fruchtbaren Boden für denselben abgeben. Den neuen Anlauf, den die deutsche Philosophie seit einem Dezennium gemacht hat, führe ich nun hauptsächlich auf  zwei  Ursachen zurück. Die  Eine  erhellt sich aus dem Gesagten: es ist der  politische Aufschwung,  den die deutsche Nation genommen hat, der auch diesem Gebiet neue Anstöße gegeben zu haben scheint. Ein frischer, belebender Luftzug ist durch unsere Nation gefahren; ein neues Geistesleben und neue Strömungen intellektueller und ethischer Impulse sind entstanden; "aus den Ruinen bricht allerwärts neues Leben" und so haben wir eine begründete Hoffnung, auch auf unserem Gebiet einer neuen und noch mächtigeren Entwicklung entgegen zu gehen. Als eine andere Ursache des neuen Ansatzes, den die Philosophie genommen hat, betrachten wir die  Philosophie  SCHOPENHAUERs; welchen mächtigen und tiefgehenden Einfluß sein System auf die Entwicklung der neuesten Philosophie und insbesondere auf HARTMANN und DÜHRING gehabt hat, dies zu konstatieren, ist eine Aufgabe, die wir im Verlauf der Darstellung zu erfüllen suchen werden. (4)

Der menschliche Geist kann auf eine philosophische Gesamtansicht niemals Verzicht leisten; (5) diese ist aber ohne prinzipielle, zentrale Gesichtspunkte nicht möglich; da sich aber Wissenschaft und Leben in einem steten Fluß befinden, da sie im Großen und Ganzen Fortschritte oder jedenfalls auf- und absteigende Bewegungen zeigen, so muß die Philosophie, der Pegel dieser Flut, stets ihren Stand wechseln und in einer funktionellen Beziehung, in einem proportionalen Exponentialverhältnis zu jener Bewegung stehen. (6) Man kann nun nicht leugnen, daß vor etwa zwei Dezennien dieses Verhältnis keineswegs ein normales war. Wissenschaft und Leben, die theoretischen Erkenntnisse und die praktischen Verhältnisse hatten sich mächtig verändert, ohne in der Philosophie einen entsprechenden und zeitgemäßen Ausdruck zu finden. Es entstand ein Zustand der Spannung, der sich in dem Bedürfnis nach einem neuen System aussprach. Man verlangte, "man müsse nun eben wieder einmal von vorn anfangen, den Riesenbau der Philosophie von den Fundamenten an noch einmal aufbauen, man müsse die in der Naturwissenschaft errungenen Resultate und überhaupt alle Elemente des modernen Lebens zu gesicherten Basis der Pyramide machen, man müsse den Materialismus auf seinem eigenen Boden und mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, besiegen, und ihn in dem neuen System ohne Rest aufgehen lassen." Die Philosophie, hieß es, müsse sich an der Naturwissenschaft orientieren; sie müsse von unfruchtbaren Spekulationen und Schulzänkereien zurückkehren auf den realen Boden der positiven Wissenschaften. Kein System wir auf eine allgemeinere Geltung Anspruch erheben können, das diese Anforderungen, insbesondere die verlangte Assimilation des Materialismus, nicht erfülle; kein Philosoph wird auf den Thron erhoben werden, der nicht "mit einem Tropfen  materialistischem  Öl gesalbt ist." Und andererseits sollte man doch auch den  Idealismus  durchaus nicht als "überwundenen Standpunkt" betrachten dürfen. Gegenüber den schwächlichen Versuchen einer neuen Systembildung verlangte man eine aufgrund genauerster Kenntnis der Naturwissenschaft und eingehender Berücksichtigung der sozialen Probleme angebahnte Neubegründung der Philosophie, eine totale Umgestaltung des spekulativen Bewußtseins. - So lautete die Parole der Philosophie und der Naturwissenschaft vor einem bis zwei Dezennien. -

Es fehlte und es fehlt in Deutschland nicht an mannigfachen Versuchen zur Erfüllung dieser Aufgabe, allein nur wenige genügen den berechtigten Ansprüchen und geben eine universelle Welt- und Lebensauffassung aus  einem  Guß und von einem  einheitlichen  Gesichtspunkt aus. Die meisten Probleme der theoretischen und der praktischen Philosophie hatten ganz neue Angriffs- und Gesichtspunkte gewonnen; (7) meistens aber ging man auf ältere und daher fast immer veraltete Systeme zurück und doch ging es nicht an, "den neuen Wein in alte Schläuche zu fassen;" alle Kombinationen der Ergebnisse der Naturwissenschaften mit älteren Systemen erschienen als Kompromisse ohne dauernde Gewähr, als Palliativmittel ohne wahrhafte Heilung des Kampfes, und die tiefer Denkenden wollten doch nicht glauben, daß der Materialismus der Kern sein sollte, um den sich die Philosophie der Zukunft kristallisieren könnte. Auch verlangte man mit Recht eine Beurteilung der  sozialen  Probleme von einem universellen Gesichtspunkt aus, ich möchte fast sagen, aus der Vogelschau des ruhigen, philosophischen Beobachters; man verlangte eine Vollberücksichtigung aller unsere Zeit im Tiefinnersten bewegenden, theoretischen und praktischen Probleme. Wohl waren diese im Einzelnen mit ungemeiner Sachkenntnis, aber auch mit unglaublicher Erbitterung von den verschiedenen Parteistandpunkten behandelt; aber mit Recht erwartete man von einer Einordnung derselben in die Gesamtheit des Wissens eine Erweiterung des Horizontes, eine Klärung der Kontroversen. Man harrte auf den Messias der Philosophie, der diese aus ihrer Zersplitterung retten, der einen neuen Mittelpunkt des allgemeinen Denkens schaffen, eine neue universelle Welt- und Lebensauffassung begründen sollte. -

Zum Bedeutendsten nun, was auf diesem Gebiet seit einem Dezennium zutage gefördert worden ist, gehören die Werke von HARTMANN, DÜHRING und LANGE. (8) Im Folgenden werde ich HARTMANN und DÜHRING, die beiden  systematischen Dogmatiker,  gegenüberstellen, um sie so gegenseitig in ein möglichst scharfes Licht zu bringen und sie als Extreme aufzuweisen, zwischen denen LANGE wahrhaft vermittelnd, nicht charakterlos lavierend, als  Kritizist  und  Relativist  und gleichsam als Korrektiv mitten drin steht; er verzichtet darauf, mit einem "neuen System" die Welt zu beglücken und sieht den Fortschritt der Wissenschaften weniger in voreiligen Lösungsversuchen, als in einer immer exakteren Formulierung der Probleme im Anschluß an KANT, dessen System  nicht  veraltet ist, weil man es jetzt erst ganz und voll versteht. Alle drei erheben den gewichtigen Anspruch, auf der  vollen Höhe der Gegenwart zu stehen;  und insbesondere glaubt jeder, daß die so heißt und seit langer Zeit ersehnte  Vermählung von Philosophie und Naturwissenschaft  in seinem System gefeiert wird. Dies ist ihre gemeinsame Tendenz, die ihr gemeinsames Programm, das freilich dann jeder auf seine eigentümliche Weise zu erfüllen sucht.

Ich will im Folgenden in übersichtlicher, systematischer Gruppierung die Lehren dieser drei hervorragendsten Denker der Gegenwart in Deutschlad (natürlich abgesehen von den noch lebenden  älteren  Repräsentanten der  systematischen  Philosophie, einem LOTZE, FECHNER, ULRICI, FORTLAGE, FICHTE jr., DROBISCH, CARRIÉRE, K. FISCHER, PLANCK, SIGWART, ERDMANN, MICHELET, ROSENKRANK, HARMS, FRAUENSTÄDT, BÜCHNER u. a.) vergleichend zusammenstellen, indem ich die allgemeinen wissenschaftlichen Gesichtspunkte herausheben werde, unter denen diese hochinteressantenn Erscheinungen des modernen Denken zu betrachten sind, und indem ich sie so in einem gewissen inneren, ich möchte sagen, dialektischen Zusammenhang erfasse. Es scheinen mir die genannten Systeme in einem gewissen Sinn die Spitzen zu sein, in die unser ganzes modernes Denken ausläuft; in ihnen kristallisieren sich die gewaltigen Ideen unserer Zeit, die gährenden Gedanken, die dieselbe im Innersten aufwühlen. In ihnen spricht sich auch jener Trieb der  Umgestaltung  aus, der in wissenschaftlicher und  gesellschaftlicher  Beziehung gewaltige Veränderungen verlangt, ein Zug, dessen  Existenz  nicht zu leugnen ist, dessen Existenzberechtigung aber freilich den gerechtesten Zweifeln unterliegt.

Ist auch das moderne Denken mit diesen Systemen hoffentlich und voraussichtlich nicht abgeschlossen, und eröffnen sich auch dem rastlosen Menschengeist immer neue Gesichtspunkte, so ist mit diesen Erscheinungen doch ein gewisser Ruhepunkt gegeben, von dem aus wir Rück und Umschau halten können, um zu sehen, ob und inwieweit die oben gestellten Anforderungen der Neuzeit erfüllt sind,, ob sich lebensfähige Produkte aus der allgemeinen Zersetzung heraus neu gebildet und welche Früchte das Studium der positiven Wissenschaften und der Geschichte der Philosophie getragen habe. Sind auch diese Leistungen nicht so epochemachend wie die eines KANT, nicht so titanenhaft wie die eines FICHTE, nicht so tiefsinnig wie die eines SCHELLING, oder so geschlossen wie die eines HEGEL, so verdienen sie doch volle Beachtung, als die Resultate der bisherigen Entwicklung und der früheren Denkbewegungen. Auch hat das strenge und gewissenhafte Studium der  Geschichte der Philosophie,  wie es in Deutschland gepflegt wurde, in diesen Systemen unverkennbare Früchte getragen. (9) Sie werden in der Geschichte der Philosophie einen würdigen Platz einnehmen, wenn es auch freilich heute noch nicht möglich ist, ein ganz unparteiisches und historisch unanfechtbares Urteil über sie zu fällen. Sie bilden nicht bloß ein Stück  Zeit- und Kulturgeschichte,  indem in ihnen, wie in jeder Philosophie, alle die Probleme, alle Streit- und Zeitfragen, sich widerspiegeln mit deren Lösung der moderne Geist beschäftigt ist. In ihnen sind ferner auch fast alle Parteien vertreten, die unsere Wissenschaft und Gesellschaft bestimmend beeinflussen und deren Schicksal, sei es nun ein Unterliegen oder ein Obsiegen, noch in die Zukunft gehüllt ist. Endlich kehren in ihnen - und darauf werde ich überall besonders aufmerksam machen - alle Gegensätze der streitenden Weltanschauungen wieder, wie sie bisher aufgetreten sind und wie sie sich nun in der Gegenwart zugespitzt haben. Sie vertreten die natürlichen Gegensätze, "die prinzipiellenn Widersprüche," die immanenten Antinomien, in denen user Denken sich bewegt und die es ausläuft. - Es wird sich aber auch zeigen, daß die Befürchtung, die Philosophie liegt in den letzten Zügen und ist schon der positiven Wissenschaft beerbt worden, unbegründet ist.

Ehe wir uns jedoch den  Systemen  selbst zuwenden, und untersuchen, ob dieser neue Aufschwung der Philosophie sich wieder bloß als Ikarusflug entpuppe oder ob aus ihm ein dauernder Gewinn zu hoffen sei, ehe wir einerseits auf die Verirrungen dieser neuen System und die daraus entspringende, keineswegs zu unterschätzende Gefahr, andererseits auf das in ihnen enthaltene Neue und Wahre aufmerksam machen, - wollen wir die  persönliche  Bekanntschaft unserer drei Philosophen machen. (10)

Was HARTMANN (11) und DÜHRING (12) betrifft, so sind beide erst aus anderen Lebenssphären (jener aus dem  Militär-,  dieser aus dem  Justizdienst)  in die Philosophie eingetreten und fanden die wahrhafte Bestimmung ihres Wesens erst nach mannigfach äußeren und inneren Kämpfen, nachdem sie auf anderen Gebieten des menschlichen Lebens sich bewegt und sich hier praktische Welt- und Menschenkenntnis erworben hatten. Inbesondere HARTMANN hat sich den GOETHEschen Spruch zu Herzen genommen:
    "Greift nur hinein ins volle Menschenleben,
    Ein Jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt,
    Und wo ihr's packt, da ist's interessant!"
Beide sind somit in der Philosophie eigentlich  Autodidakten,  besitzen aber nichtsdestoweniger eine seltene Universalität der Kenntnisse und eine große Gelehrsamkeit; beide, beinahe um zehn Jahre im Alter verschieden, begannen erst etwa seit einem Dezennium schrifstellerisch zu wirken und haben uns seitdem in einer staunenswerten Produktivität mit einer Menge Aufsehen erregender Schriften überrascht. Keine exklusive Schulmeinung hat ihre Entwicklung beeinflußt oder ihre selbständigen Denkregungen gehemmt, ein Vorzug und Vorteil, den auch LANGE mit ihnen teilt.

Beide waren heimgesucht von schweren körperlichen Leiden. Derjenige, der genas und in angenehmen Verhältnissen lebt, ist  Pessimist.  Der andere, dessen Auge ewige Nacht umhüllt und dessen Lebensstellung eine prekäre war, ist  Optimist. 

Beide sind Kinder der deutschen Reichshauptstadt und in den Werken des einen spiegelt sich der lebensmüde und blasierte Pessimismus ab, der in den höheren Klassen der angehenden Weltstadt tiefste Wurzeln geschlagen hat. Doch fehlte es ihm ebensowenig an seinem stark idealen Hintergrund, als seinem Gegner DÜHRING, in dem sich eine andere Seite des Berliner Wesens ausgedrückt hat; dieser ist ein Vertreter des sprichwörtlich gewordenen kalten Verstandes und des rücksichtslosen Rationalismus des Berliner und zugleich als Sozialist Vertreter der niederen Schichten und ihrer revolutionären Tendenzen; er ist ein Repräsentant des scharfverwundenden, ungemütlichen Witzes; als echter Berliner übergießt er alles mit der Lauge der ätzendsten Kritik; er ist ein negativer, zersetzender, mephistophelischer Geist; und auch seine eigenen positiven Aufstellungen bestehen meisten in spitzfindigen dialektischen Diskussionen. HARTMANN dagegen ist kein solcher destruktiv-kritischer Geist. Er ist eine systematische, aufbauende, spekulative Natur und hat eher ein Faustisches Temperament. In ihm vermeinen wir oft einen Nachklang der  romantischen  Periode in Berlin zu vernehmen; nennt ihn doch LANGE irgendwo einen "Spätling der spekulativen Romantik", derselben Romantik, mit welcher der Berliner Privatdozent SCHOPENHAUER in eingstem Zusammenhang stand, und als deren Restaurator SCHELLING im selben Jahr nach Berlin berufen wurde, in dem sein begeisterter Anhänger, der ihn mit SCHOPENHAUER verbindet, geboren wurde. und ist nicht andererseits DÜHRING, der Verehrer FEUERBACHs, ein Ausläufer der  linken Seite des Hegelianismus,  mit dem er, trotz seiner Antipathie gegen HEGELsche Begriffsdialektik, so viele Berührungspunkte darbietet, während HARTMANN die der Romantik näher verwandte  rechte Seite  der HEGELschen Schule fortpflanzt? So er geben sich uns hier ungeahnte Zusammenhänge und unterirdische Verbindungsfäden mit längst entschwundenen Richtungen und zeigen, daß der Kampf, der im alten Berlin und im ehemaligen Deutschland tobte, auch im neuen, wenn auch unter anderen Namen und zwischen anderen Vertretern fortlebt.

Auch LANGE (13) kam erst aus einem anderen Gebiet, der  Philologie,  zur Philosophie, und stand jenen beiden an universeller Gelehrsamkeit und naturwissenschaftlichen Kenntnissen, sowie an vielseitiger Lebenserfahrung nicht nach. (14) Auch er war von bitteren Schicksalen und schweren körperlichen Leiden heimgesucht; auch er hat - vielleicht nicht ohne Zusammenhang damit - pessimistische Elemente, die er aber im Feuer des edelsten Optimismus läutert. Gegenüber der sich überstürzenden Produktivität er Genannten hat er nur Weniges aufzuweisen, nur  ein  größeres Werk, aber "es ist ein Löwe!" Seine "Geschichte des Materialismus" ist ein Meisterwerk, an dem sich die Philosophie noch nach Dezennien zu orientieren haben wird. Alle drei treten mit jener Sicherheit und Selbständigkeit auf, die sie als originelle Denker kennzeichnet; während aber die beiden ersteren in prätentiöser [unbescheidener - wp] Selbstüberschätzung eine totale Revolution der Philosophie zu inaugurieren vermeinen, will LANGE die durch den dogmatischen Idealismus und Materialismus  unterbrochene Fortbildung des Kritizismus  wieder aufnehmen. (15)

Alle drei zählen bereits eine bedeutende Anhängerschaft; HARTMANN hat rasch eine Anzahl von Gleichgesinnten um sich zu scharen gewußt;; DÜHRING als Materialist und Sozialist hat natürlich in den solchen Ideen zugänglichen Kreisen sich einer zahlreichen Anhängerschaft zu rühmen. LANGE, dessen Ansicht nicht für eine große Menge berechnet ist, stand an der Spitze der sogenannten Neukantianer, sie sowohl unter den Philosophen von Profession, als besonder unter den Naturforschern zu suchen sind. (16) Das  weitere  Publikum aber hat vom  Standpunkt  LANGEs, der die gewöhnliche Fassungskraft der Menge (viel mehr, als die Ideen HARTMANNs und DÜHRINGs) übersteigt, nur sehr wenig Notiz genommen.

Zur provisorischen Orientierung ist zu bemerken, daß HARTMANN einen  Idealismus  und  Pessimismus  vertritt, der sich an SCHELLING, HEGEL, und SCHOPENHAUER anschließt, DÜHRING einen  Realismus  und  Optimismus,  der vieles von BRUNO, COMTE, FEUERBACH, aus dem  Materialismus  und aus verschiedenen anderen  naturalistischen  Systemen entlehnt, während LANGE nicht nur einem  Kritizismus  oder  idealistischen Naturalismus  (17) huldigt, der eine Modifikation des  Kantischen  Systems ist, sondern auch außerdem Optimismus und Pessimismus in organischer Verbindung verschmelzt. Jene beiden, teilweise mit der Vergangenheit brechend, haben mit jugendlicher Verwegenheit kühne, aber luftige Lehrgebäude errichtet, sie haben die Lücken unseres  Wissens  mit eigenmächtigen Kombinationen ausgefüllt, durch phantasiereiche Zukunftsbilder die natürliche und naive Neugier der Menschen zu befriedigen und zugleich dem  Wollen  eine eigentümliche Richtung zu geben versucht. LANGE dagegen entspricht mehr einem Satz, den JULIUS BERGMANN in richtiger Erkenntnis der gegenwärtigen Situation irgendwo aussprach, "daß Kühnheit dasjenige sein möchte, was in unserer Zeit der Philosophie am wenigsten Not tut;" uns so ist seine Weltanschauung mit männlich-ernster Resignation erfüllt.

Im  ersten  Abschnitt werde ich die einleitenden Vorbegriffe, die Methode und die allgemeinen Grundprinzipien der genannten Systeme entwickeln, im  zweiten  Abschnitt werde ich ihre Erkenntnistheorie darstellen, im  dritten  ihre Metaphysik nebst den Grundprinzipien der Natur- und Seelenlehre; im  vierten  endlich werde ich den Optimismus und Pessimismus derselben besprechen und daran eine kurze Skizze der Ethik, Geschichtsphilosophie, der sozialen sowie der religiösen Frage anknüpfen und sodann mit einigen allgemeinen, vergleichenden Bemerungen und kulturgeschichtlichen Rück- und Ausblicken schließen.
LITERATUR: Hans Vaihinger - Hartmann, Dühring und Lange zur deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert, Iserlohn 1876
    Anmerkungen
    1) Man kann unter dem Namen:  "Jüngstes Deutschland"  eine Menge von hervorragenden Männern der Gegenwart aus allen Gebieten: dem öffentlichen Leben, der Wissenschaft, Kunst, Literatur usw. zusammenfassen, die von einem gemeinsamen, modern-nationalen Geist beseelt sind, aber keinen so abgeschlossenen Kreis bilden, wie seinerzeit das "Junge Deutschland". Den Charakter des letzteren, einer literarisch-politischen Gruppe, bezeichnet man bekanntlich als den der Negation, Kritik und Zersetzung. Wenn wir nun einem "Jüngsten Deutschland" sprechen, so beschränken wir uns dabei nicht auf die Literatur, sondern fassen darunter alle diejenigen bedeutenden Geister des modernen Deutschlands gruppieren. Wenn man das "tolle Jahr 1848" und die darauf folgende Reaktion mit den Freiheitskriegen und der auf diese folgenden großen Europäischen Reaktion parallelisiert, so schließt sich daran ungezwungen eine Vergleichung des "Jungen Deutschland" seit 1830 und des "Jüngsten Deutschland" etwa seit 1860 oder !866 an. Entsprechend der total veränderten Weltlage ist auch der Geist dieser neuen Richtung ein wesentlich anderer, als der des "Jungen Deutschland". War der Charakter des Letzteren vorwiegend ein negativer, kritischer, oppositionell-revolutionärer, einreißender und zersetzender, der zudem größtenteils auf jugendlich-idealistischer Schwärmerei beruhte, so ist der Geist des "Jüngsten Deutschland" wesentlich positiv, aufbauend, national, und anstelle jugendlicher Schwärmerei trat männlich-ernster Realismus. Dort galt es, im Widerstand und Gegensatz gegen die politische, soziale und religiöse Reaktion die alten Formen einzureißen; hier gilt es, im Einklang und Zusammenwirken mit der politischen Erhebung der Nation die neuen Formen mit frischem Lebensgehalt zu erfüllen. Es wäre unschwer, die Hauptvertreter des solchergestalt von uns aufgefaßten "Jüngsten Deutschland" namentlich aufzuzählen; wer nur einigermaßen Fühlund mit den Fortschritten der Zeit zu behalten sucht, dem sind die von einem gemeinsamen Geist, einer einheitlich-nationalen Tendenz beseelten Koryphäen der  Politik, Nationalökonomie  und  Jurisprudenz der  Kunst  und  Literatur,  der  Naturwissenschaft  und  Philosophie  geläufig. - Ich holte absichtlich so weit aus, um den Leser darauf hinzuweisen, daß die versuchte Neubegründen der Philosophie, wie sie von den von mir behandelten Philosophen vertreten ist, im engsten Zusammenhang steht mit der allgemeinen Erhebung des deutschen Nationalgeistes im letzten Dezennium. Die Geistesströmungen sind nie isoliert, wie sie in den Spezialgeschichten der einzelnen Geistesgebiete notwendig dargestellt werden müssen; unsichtbare Verbindungsbahnen, unbewußte Anstöße und Anrgegungen stellen einen Zusammenhang der getrennten Gebiet her, den zu schildern Sache des Kulturhistorikers ist. Daß die Philosophie nicht zurückbleiben wird, daß auch in ihr der Geist des "Jüngsten Deutschland" erwachen und neue Blüten treiben wird, war zu erwarten. Mit dem Jahr 1860, von wo an der Stern  Preußens  sich zu erheben begann, fing man auch an auf KANT zurückzugreifen; die KANT-Strömung wuchs seitdem jährlich an und erreichte mit dem Erscheinen der "Geschichte des Materialismus" von LANGe ihren Höhepunkt im Jahre 1866.
    2) Es trat jener Zustand ein, den GOETHE mit folgenden charakteristischen Worten vorhergesagt hatte: "Es sind nun schon bald 20 Jahre, daß alle Deutschen transzendieren. Wenn sie es einmal gewahr werden, werden sie sich wunderlich vorkommen!" Vgl. JÜRGEN BONA-MEYER, Philosophische Zeitfragen, 2. Auflage 1874, Seite 6f: "Große Niederlagen hat die Philosophie erlitten, weil sie Leben und Wissen beherrschen wollte ohne genügende Kraft und Berechtigung. [...] Sie wollte den Ursprung und das Ziel des Werdens aus der Anschauung des Unendlichen oder aus dem Begriff heraus konstruieren. [...] Anstatt die Religion zu beherrschen, leistete die Philosophie in arger Selbsttäuschung abermals dem theologische Dogma Magddienste. [...] Kurz, die Philosophie, anstatt auf dem von KANT richtig begrenzten Boden fortzuschreiten, versuchte wiederum ihre Macht über Gebühr und Recht auszudehnen; sie verlor darüber sich selbst aus den Augen und büßte nach dem Taumel einer kurzen Herrschaft ihr angemaßtes Ansehen ein." usw. Diese "Auflösung der Hegelschen Schule" hat der Hegelianer ERDMANN sehr unparteiisch und übersichtlich dargestellt im  Grundriß der Geschichte der Philosophie II,  2. Auflage 1870, Seite 607f
    3) Ähnlich sind heute die Fortschritte der  Sozialdemokratie  nicht zum geringsten Teile eine Folge der Spaltung und Zerklüftung der  liberalen  Partei.
    4) Eine Darstellung  des Einfluses Schopenhauers auf die Weiterentwicklung der deutschen Philosophie  steht noch zu erwarten. Dieser Einfluß ist viel tiefgehender, als man gewöhnlich anzunehmen geneigt ist; daß das System SCHOPENHAUERs auf das Publikum, insbesondere auf die  literarischen  und  künstlerischen  Kreise (MÖSER, SACHER-MASOCH, HAMERLING, BULWER, GOTTSCHALL, MARBAH, RICHARD WAGNER, HIERONYMUS LORM, DUPREL, J. B. von SCHWEITZER u. a.), großen Einfluß gewann, gibt man zwar gerne zu, ohne jedoch den Einflüssen desselben auf die  Philosophie  selbst nachzuforschen. SCHOPENHAUER vollendete nicht nur den Sturz des nachkantischen Idealismus, wie er in HEGEL seinen Höhepunkt erreicht hatte, sondern seinem Einfluß ist zum guten Teil der Rückgang auf KANT zuzuschreiben; dieser letztere Prozeß ist in der Philosophie der Gegenwart der bei weitem wichtigste Faktor. Diese Hinweisung auf KANT war in doppelter Weise fruchtbar: einmal  negativ  gegen dem Materialismus, dessen Haltlosigkeit sich immer deutlicher zeigte und der von SCHOPENHAUER aus teils vertieft, teils gestürzt wurde, indem insbesondere namhafte Naturforscher (ROKITANSKY, FICK, MEYNERT, HELMHOLTZ, ZÖLLNER u. a.), teils sonstige hervorragende Schriftsteller von SCHOPENHAUER aus den  materialismus vulgaris  bekämpften. Andererseits wurde und ist die KANTströmung ein wesentliches Ferment in der  positiven  Weiterentwicklung der Philosophie selbst. Während die  direkten  Wirkungen des SCHOPENHAUERschen Systems auf die Entwicklung der Philosophie nur bei HARTMANN und den unmittelbaren Fortbildnern des SCHOPENHAUERschen Systems, bei FRAUENSTÄDT (in seinen "Neuen Briefen über Schopenhauersche Philosophie", Leipzig 1876), BAHNSEN u. a. hervortreten, lassen sich die  indirekten  Wirkungen desselben im weitesten Umfang schon nicht mehr verkennen; diese Wirkungen pflegt man zwar gewöhnlich zu übersehen, aber sie treten mit der Zeit immer stärker hervor. Wie gerade SCHOPENHAUER das Wiederaufleben des  Kritizismus  begünstigt, davon ist z. B. GÖRINGs "System der kritischen Philosophie" ein deutlicher Beweis, das von SCHOPENHAUER wesentlich beeinflußt ist; sehr imprägniert von SCHOPENHAUER ist ferner LUDWIG NOIRÉ, der (ähnlich wie LANGE) von demselben auf KANT und SPINOZA zurückgeht; endlich muß darauf hingewiesen werden, daß SCHOPENHAUER zuerst in der neueren Zeit auf die  intellektuelle Tätigkeit bei der Sinnesanschauung  hingewiesen hat; und "wenn seine Ideen mit den Hypothesen, welche gegenwärtig in der  Physiologie  der Sinnesorgane die verbreitetsten sind, durchweg zusammentreffen" (WUNDT), so darf hier gewiß ein  genetischer  Zusammenhang statuiert werden. Der Grund, daß man diesen mächtigen und täglich stärker hervortretenden Einfluß des SCHOPENHAUERschen Systems häufig übersieht und sogar nicht selten leugnet, scheint mir, wenigstens teilweise, darin zu liegen, daß das SCHOPENHAUERsche System es zu keiner eigentlichen  Schule  brachte, daß es ihm an Männern fehlte, welche auf der Basis jenes Systems stehend von dieser aus die Grungedanken desselben durch einzelne Disziplinen hindurchgeführt hätten; der Grund hiervon ist, wie schon ÜBERWEG bemerkt, daß, um sich dauernd zu behaupten, dieser Doktrin eben die wesentlichste Bedingung fehlt, nämlich die Möglichkeit einer allseitigen und in sich selbst wirklich  harmonischen  systematischen Durchführung. Da somit das SCHOPENHAUERsche System eine eigentliche  Schule  nicht heranzubinden vermochte,  (Anhänger  hat es freilich viele; außer den obengenannten erwähnen wir noch ASHER, ROMUNDT, KLEE, NITZSCHE, LIINDNER, BÄHR, J. C. BECKER, Männer, die das Erbe SCHOPENHAUERs ängstlich hüten), so glaubte man, das System habe nur eine vorübergehende Wirkung hervorzubringen vermocht. In Wahrheit aber verhält es sich ganz anders:  die ganze heutige Generation ist mit Schopenhauerschen Gedanken imprägniert;  vermochte das System SCHOPENHAUERs keine  geschlossene Schule  zu zeugen, so hat es um so mehr auf Unzählige eine tiefe, nachhaltige Wirkung ausgeübt, und der Anstoß, den es der Philosophie erteilte, gelangt jetzt zu offener Wirkung. Das hieße, den  Geist der Zeit  total verkennen, wollte man diese Wirkungen - über deren Wert man ja verschiedener Ansicht sein kann - leugnen oder unterschätzen. Daß diese Wirkungen freilich nicht immer auf der Hand liegen, sondern häufig sich unterirdisch fortpflanzten, lag im Wesen der Sache - Es war also angezeigt das SCHOPENHAUERsche System  weiterzubilden;  denn, wie schon ÜBERWEG betont, "nur als Momente eines befriedigenderen und widerspruchslosen Systems können die in SCHOPENHAUERs Doktrin unleugbar enthaltenen Wahrheiten sich dauernd behaupten." Der Versuch, diese Wahrheiten herauszunehmen und mit anderen Gedanken zu amalgamieren, konnte nun freilich auf sehr verschiedene Weise gemacht werden, je nachdem der Einzelne veranlagt ist, je nachdem er auf das System reagierte, und je nachdem er entweder durch  neue  Einflüsse bestimmt wurde, denen sich das System akkomodieren mußte, oder sich gezwungen sah, das  später  kennengelernte System mit  früher  eingesogenen Ansichten ins Gleichgewicht zu setzen und zu  apperzipieren.  Im Allgemeinen waren vom SCHOPENHAUERschen System aus  drei  verschiedene Fortsetzungen möglich: entweder, - und das war das Naheliegendste - man suchte das System mit den bisher geltenden  spekulativen Systemen  zu verschmelzen: zu dieser Verschmelzung eigneten sich nun am ehesten SCHELLING und HEGEL, während eine Verschmelzung mit mit HERBART wohl untunlich war; und es zeigt sich hierbei, daß die beiden beliebten antithetischen Zusammenstellungen SCHOPENHAUERs, das einemal mit HERBART, (so von Seiten der  Hegelianer,  besonder von ZELLER, Geschichte der deutschen Philosophie, Seite 873f und von ERDMANN mehrfach, besonders in FICHTEs Zeitschrift 1852, Seite 209), das andere mal mit HEGEL (sehr häufig, so besonders von den  Herbartianern  und den Gegnern der spekulativen Philosophie, u. a. von HORWICZ, Psychologische Analyse II, Seite 36; GRÜN a. a. O. Seite 39. LUDWIG NOACK ("Deutsche Jahrbücher" 1862) und von FOUCHER de CAREIL (Hegel et Schopenhauer, Paris 1862) - daß diese beiden Antithesen, jede in ihrer Art, berechtigt waren, indem das antithetisch sich Gegenüberstehende bald unvereinbar (so hier SCHOPENHAUER und HERBART), bald vereinbar sein kann, (so hier SCHOPENHAUER und HEGEL). - Jene Verschmelzung wurde bekanntlich von HARTMANN vollzogen. Er realisierte die erste Möglichkeit, die darin bestand, die  idealistisch-dogmatische  Seite des Systems festzuhalten, die in demselben liegenden, klaffenden Widersprüche zu lösen durch eine Weiterbildung des  subjektiven  Idealismus zum  objektiven  Idealismus, welch letzterer sodann mit dem naturwissenschaftlich Realismus eine gewisse Verbindung einging. Die Konsequenzen dieser Weiterbildung waren, daß, unbeschadet des fundamentalen Monismus, doch die Idee, das Ideale zu einem koordinierten Prinzip mit dem  Willen  erhoben wurde, und daß der dadurch, d. h. durch die Intussusception [Einstülpung - wp] HEGELs entstandene,  Dualismus  mit Hilfe der "positiven Philosophie" oder Mythologie SCHELLINGs wieder in einen unversellen Monismus aufgelöst wurde; sodann war eine notwendige Konsequenz hiervon eine gewisse Verbindung des  optimistischen Evolutionismus  mit dem absoluten, keine Entwicklung kennenden  Pessimismus;  dies führte dann weiter zu den von uns hinreichend gekennzeichneten mythologischen Konsequenzen. Denselben Versuch, der in der Natur der Sache lag, machten auch FRAUENSTÄDT und BAHNSEN, jener mehr an SCHELLING, dieser mehr an HEGEL sich anschließend. Auch ASHER hat einen solchen Versuch angekündigt. - (Vgl. hierzu DÜHRING, Kritische Geschichte der Philosophie, 2. Auflage, Seite 491). - - - Die zweite Möglichkeit war die Fortbildung der  realistisch-dogmatischen Elemente  des Systems. Diese Möglichkeit hatten schon ÜBERWEG und BÜCHNER seiner Zeit angedeutet, und A. CORNILL in seinem Buch "Arthur Schopenhauer als eine Übergangsformation von einer idealistischen in eine realistische Weltanschauung", 1856 verkündet. Verwirklicht wurde diese Möglichkeit durch DÜHRING, der die realistischen Elemtene des Systems mit dem Materialismus, mit dem es ja in seiner "realistischen Tendenz auf die Wirklichkeit" viele Anknüpfungspunkte hatte, verschmolzen hat. Die Konsequenzen dieser Verschmelzung liegen auf der Hand: an die Stelle des  Pessimismus  mußte ein  Optimismus  treten, der freilich seine Geburt aus dem SCHOPENHAUERschen Ei noch überall zeigt, indem der Pessimismus sich auf die Gegenwart und Vergangenheit wirft, und nur die Zukunft für die optimistische Konstruktion übrig bleibt; anstelle des  Willens  mußte die  Materie  treten, die aber ihre Entstehung aus dem Ersteren deutlich durch die dualistischen Eigenschaften zeigt, die wir im Verlauf unserer Darstellung an derselben hervorgehoben haben; denn mit dem besten Willen gelang es DÜHRING nicht, allen Idealismus zu eliminieren; diesen Weg hat außer DÜHRING noch A. MAYER betreten; und auch sonst läßt sich der Einfluß SCHOPENHAUERs auf neuere Realisten und Empiristen, so auf den schon genannten GÖRING und auf RIEHL nicht verkennen. - - - Die  dritte  Möglichkeit endlich war die Ausbildung der  idealistisch-kritischen Seite  am SCHOPENHAUERschen Systeme; man hielt den subjektiven Idealismus  streng  fest, wodurch konsequenterweise der absolute  Pessimismus,  wie der  Wille  wegfallen mußte, Elemente, die hinausgestoßen werden mußten, wenn der  Kantische Ansatz  des Systems rein hervortreten sollte. Dies war also einfach ein Rückgang auf KANT, zunächst auf den  subjektiven  Idealismus, der noch dogmatisch ist, dann auf den  kritischen  Idealismus, der den Materialismus als aufgehobenes Moment in sich enthält. Auf diese Weise war auch hier jene  Verschmelzung mit dem Materialismus  erreicht, welche als gemeinsames Programm verkündet war, und ohne welche kein System wagen durfte, vor das Publikum zu treten. Wenn ich sagen werde, daß dies LANGE tat, so werde ich hiergegen vielen Widerspruch finden, umso mehr als eingezogee Erkundigungen das Resultat ergaben, daß LANGE durch SCHOPENHAUER  nicht  beeinflußt worden sein  soll.  Indessen fragt es sich, ob aus dem Mangel an Nachrichten hierüber oder aus dem Schweigen LANGEs in seinem Werk dies notwendig folgt; und jedenfalls kann diese Beeinflussung auch  gegen  Wissen und Willen stattgefunden haben. Es wäre doch merkwürdig, wenn LANGE, dessen geistige Entwicklung gerade in die Zeit fiel, in welcher SCHOPENHAUER Mode war, nicht dadurch irgendwie beeinflußt worden wäre; und wenn er (Geschichte des Materialismus II, Seite 2) davon spricht, "daß die Schopenhauersche Philosophie für viele  gründlicheren  Köpfe einen Übergang zu KANT gebildet habe", so dürfen wir vermuten, daß dies auch bei LANGE selbst der Fall gewesen sei. Ich freue mich, in dieser Vermutung mit EDUARD von HARTMANN zusammenzutreffen, der gerade in der  ablehnenden  Haltung LANGEs gegen SCHOPENHAUER ein Symptom der Beeinflussung erblickt. Den Zusammenhang zwischen SCHOPENHAUER und der "hyperkantischen Richtung" hebt auch KARL GRÜN in dem eben erschienen Werk "Die Philosophie in der Gegenwart, Leipzig 1876, hervor. Unter dnen, welche ebenso wie LANGE, von SCHOPENHAUER aus zu KANT zurückgingen, sind noch OTTO LIEBMANN, sowie die genannten Naturforscher, besonders ZÖLLNER zu nennen. Einen besonderen Wert legt man hier auf die  Sinnesphysiologie,  deren wesentliche Resultate SCHOPENHAUER antizipierte. Aber nicht bloß in der Sinnesphysiologie, sondern überhaupt in der ganzen  Erkenntnistheorie  hat SCHOPENHAUER unverkennbar einen tiefen Einfluß auf die Gegenwart und höchst wahrscheinlich auch auf LANGE ausgeübt. Vor allem ist seinem Einfluß die Vereinfachung des bei KANT so schwerfälligen erkenntnistheoretischen Apparates zuzuschreiben, sowie die Ableitung von Sinnlichkeit und Verstand aus einer gemeinsamen Wurzel und der erneute Hinweis auf die  Anschauung  und  Erfahrung.  Und hier kreuzt sich auch der Einfluß, welchen SCHOPENHAUER auf die Weiterentwicklung der deutschen Philosophie ausgeübt hat, mit den Anstößen, welche LUDIWG FEUERBACH derselben gab. Ist auch der Einfluß des Letzteren nicht so bedeutend, wie der des Ersteren, so nimmt er doch unter den konstituierenden Faktoren der modernen Weltanschauungen einen überaus hervorragenden Platz ein. DÜHRINGs System ist wesentlich fast gleichmäßig aus FEUERBACHschen und aus SCHOPENHAUERschen Elementen gemischt. Auch auf LANGE scheint FEUERBACH einen bedeutenden Einfluß ausgeübt zu haben. (Vgl. Geschichte des Materialismus II, Seite 73f und öfter). SCHOPENHAUER und FEUERBACH bilden auch sonst z. B. in Bezug auf Pessimismus und Optimismus der interessantesten Gegenstand einer eingehenden Parallele und sind zweifellos die wichtigsten Fermente in der heutigen philosophischen Gärung. Insofern, wie bemerkt, außer SCHOPENHAUER noch der  Materialismus  das wichtigste Element der Weiterbildung der Philosophie war, so können wir auch von hier aus jene drei Möglichkiten konstruieren, die wir oben von SCHOPENHAUER aus hervorhoben. Man konnte also (von FEUERBACH aus) den  Materialismus rückwärts  wieder mit HEGEL in Verbindung bringen und außerdem mit dem unterdessen mächtig gewordenen anderen idealistischen Systeme SCHOPENHAUERs verschmelzen, was HARTMANN tat; oder aber man konnte den Materialismus  weiter bilden und seine Einseitigkeiten durch die Aufnahme idealistischer Elemente aus SCHOPENHAUER korrigieren; das tat DÜHRING. Oder endlich: man konnte konsequent logisch einerseits den Materialismus  aus denken und  weiter führen und gelangte so notwendig zum Kritizismus und Idealismus; und andererseits konnte man ebenso konsequent logisch die Wurzeln der SCHOPENHAUERschen Philosophie  rückwärts  bis zu KANT verfolgen und von da aus die SCHOPENHAUERschen Einseitigkeiten verwerfen. Auf  beiden  Wegen gelangte man  zugleich  an demselben Ziel an, bei KANT. Das Letztere tat LANGE, der also gründlicher und tiefer zu Werke gegangen ist, als die beiden Ersteren; und dasselbe gilt auch in Bezug auf Optimismus und Pessimismus, worin LANGE gegenüber FEUERBACH und DÜHRING einerseits, SCHOPENHAUER und HARTMANN andererseits eine  kritisch  vermittelnde Stellung einnimmt. - - - Diese Andeutungen werden im Verlauf unserer Darstellung an den geeigneten Orten weiter ausgeführt werden. Vorderhand genügen diese Bemerkungen jedenfalls, um zu beweisen, daß SCHOPENHAUER nicht bloß, wie die landläufige Meinung ist, einen "kulturellen Einfluß" ausgeübt, sonder  sehr entscheidend mit seinem System in die Entwicklung der Philosophie eingegriffen hat. 
    5) Insbesondere die Positivisten in Frankreich und England, und in Deutschlad u. a. besonders O. F. GRUPPE, der 1875 gestorbene Gegner des HEGELschen Systems (Wendepunkt der Philosophie im 19. Jahrhundert", Berlin 1834; "Gegenwart und Zukunft der Philosophie in Deutschland*, Berlin 1855 und besonders"Antäus", Berlin 1831) erhoben zwar den Ruf: "Kein System mehr!" Inwiefern die Zeit der philosophischen Systemarbeit vorbeit und jener Ruf also zu rechtfertigen sei, darüber vgl. JÜRGEN BONA-MEYER, a. a. O. Seite 461f. Vgl. Seite 205 dieser Schrift.
    6) "Oft hat man von Seiten der empirischen Forschung die Metaphysik wegen ihrer Wandelbarkeit angeklagt; und doch ist diese Wandelbarkeit schließlich nur eine Folge der gewaltigen Umgestaltungen, welche die einzelnen Wissenschaften selbst fortwährend erleiden, und welche uns zu einer abschließenden Erkenntnis niemals gelangen lassen." Vgl. WUNDT, "Über den Einfluß der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften", akademische Antrittsrede, Leipzig 1876, Seite 22. "Die Geschichte der Philosophie gewinnt einen wesentlichen Teil des Interesses gerade daraus, daß das ganze wissenschaftliche Bewußtsein der Zeiten sich in den philosophischen Anschauungen spiegelt." (ebd. Seite 26).
    7) Insbesondere die Fragen nach dem Verhältnis von  Kraft  und  Stoff, Organischem  und  Unorganischem, Tier  und  Mensch, Leib  und  Seele, Gehirn  und  Geist, Natur  und  Geschichte  usw. hatten mächtige Umgestaltungen durch die modernen Wissenschaften gewonnen; unter dem Druck dieser Fortschritte erlosch allmählich der innere Kampf der philosophischen Parteirichtungen und die philosophische Arbeit konzentrierte sich auf die Bearbeitung des von außen zuströmenden empirischen Materials, und auf den Versuch, diejenigen Streitigkeiten zu schlichten und diejenigen Schwierigkeiten zu lösen, mit denen die Spezialwissenschaften nicht fertig werden konnten; die Philosophie ist ja von jeher als das "Austrägalgericht" [Schiedsgericht - wp] betrachtet worden, vor das diejenigen unerledigten Prozesse der Einzelwissenschaften zu bringen seinen, welche deren Fähigkeit und Kompetenz überschritten.
    8) Andere Versuche der Neubildung und Neubegründung einer universellen Welt- und Lebensauffassung sind zahlreich, aber teils noch unvollendet, teils zu wenig selbständig, so die Versuche von AVENARIUS, BAUMANN, BAUMGÄRTNER, BERGMANN, CASPARI, CZOLBE, DELFF, DROSSBACH, GÖRING, CONRAD HERMANN, HALLIER, HÄCKEL, KAULICH, von KIRCHMANN, KYM, LIEBMANN, LÖWENTHAL, von LILIENFELD, NOIRÉ, POETTER, RIEHL, RADENHAUFEN, SCHUPPE, SPIR, STEUDEL, STRAUSS, ÜBERWEG, WINDELBAND, ZEISING u. a. (natürlich ganz abgesehen von epochemachenden Leistungen eines BRENTANO, HORWICZ, LAZARUS, STEINTHAL, WUNDT u. a. in den philosophischen Hilfswissenschaften der Logik, Psychologie usw.). Aus dem oben aufgeführten Namensverzeichnis, das sich leicht noch vermehren ließe, ersieht man, daß die  Produktion  neuer Systeme hinter der  Nachfrage  nicht zurückgeblieben ist. - Die Gegenwart charakterisiert sich  als gärende Übergangszeit  in der Philosophie auch dadurch, daß sich in derselben Männer aus allen Lebens- und Berufskreisen oft in merkwürdiger Weise zusammenfinden.
    9) In dieser Hinsicht bemerkt JÜRGEN BONA-MEYER a. a. O., Seite 7: "Die letzte Überspannung ihrer Erwartung und die folgende Enttäuschung haben der Philosophie eine höchst nützliche Aufklärung über sich selbst und über ihre Stellung zum praktischen Leben sowohl wie zu den übrigen Wissenschaften gebracht. In dem nach der Enttäuschung eingetretenen Stadium der Selbstbesinnung mußten zunächst historische Rückblicke auf die lange Reihe der vorliegenden Versuche zur Gewinnung einer befriedigenden philosophischen Weltanschauung besonders passend erscheinen; es mußte die Belehrung der Vergangenheit gesucht werden, um zu erklären, woran es denn eigentlich liege, daß unter allen Wissenschaften nur die Philosophie nicht in den Gang eines geregelten und gesicherten Fortschritts gelangen könne, daß ihre Systeme stets wie hell aufleuchtende, aber auch ebenso rasch wieder verschwindende Meteore am Himmel unserer Gedankenwelt erschienen. [...] Es ist ein Segen für die philosophische Wissenschaft, daß die unwissende Willkür der neuen Systemjäger in die Zucht eines strengen und gewissenhaften historischen Studiums genommen worden ist." usw. Vgl. die Forderung der  geschichtlichen  Aufnahme und Weiterführung der Probleme bei TRENDELENBURG "Logische Untersuchungen", Vorwort VIII.
    10) Was das gegenseitige  literarische Verhältnis  derselben betrifft, so bemerke ich kurz, daß DÜHRING sich gegen HARTMANN zu den ungerechtfertigtsten und maßlosesten Ausfällen hinreißen ließ, (sowohl in seiner "Kritischen Geschichte der Philosophie" als in seinem "Kursus der Philosophie"), die, anderwärts wiederholt, sogar zu Presseprozessen führten. Gegen die Neukantianer ist er natürlich ebenfalls aufgebracht, da sie die "Souveränität des Verstandes" einschränken sollen; außerdem ist er noch ein erbitterter Gegner LANGEs in national-ökonomischer Hinsicht, weil Lange die Umwälzung der Nationalökonomie durch CAREY bestritt und sich dafür an MILL anschloß. LANGE seinerseits steht dem Realismus DÜHRINGs schroff gegenüber, ohne ihn jedoch so stark und scharf anzugreifen, wie den Mystizismus HARTMANNs, den er eine "barbarische Tendenz innerhalb der modernen Naturwissenschaft nennt." HARTMANN endlich zeichnet sich durch maßvolle Haltung aus, hat jedoch in seiner gegen KANT und die moderne Kantströmung gerichteten Schrift: "Kritische Grundlegung des transzendentalen Realismus", sowie in den Nachträgen zur VII. Auflage seines Hauptwerkes, und in der Schrift über den Darwinismus sich sehr bitter gegen LANGE ausgesprochen. LANGEs Kritizismus steht natürlich den Dogmatisten gleichermaßen im Wege, die es dann auch nicht an Polemik gegen jenen fehlen lassen. Jedenfalls ist so viel sicher, daß keienr der drei Geschilderten damit zufrieden sein wird, auf gleicher Stufe mit den beiden andern behandelt oder auch nur in ihrer Gesellschaft genannt zu werden.
    11) Vgl. HARTMANNs Autobiographie, zuerst erschienen in LINDAUs "Gegenwart, wieder abgedruckt als erste Nummer in den "Gesammelten Studien und Aufsätzen gemeinverständlichen Inhaltes", Berlin 1876. EDUARD von HARTMANN ist 1842 in Berlin geboren als Sohn des preußischen Generals, war anfangs Offizier und lebt jetzt in Berlin als Privatmann, nachdem eine Krankheit ihn seinen Stand aufzugeben gezwungen hat. Derselbe ist auch künstlerisch und poetisch hoch begabt. Die genannte Autobiographie gibt höchst interessante Aufschlüsse über die subjektive Genesis des Systems HARTMANNs. Er begann seit 1868 schriftstellerisch zu wirken und promovierte 1868 in Rostock.
    12) EUGEN DÜHRING, geboren in Berlin 1833, hat sein Lebensschicksal in seinem "Kursus der Philosophie" ausführlich geschildert in dem Abschnitt. "Studium und Entwicklung der Wirklichkeitsphilosopie". Derselbe, anfänglich Jurist, verließ den Justizdienst, widmete sich, wie er in seinem  curriculum vitae  sagt, "ingenio et forte ductus" [starke Führungsqualitäten - wp] der Philosophie und habilitierte sich an der Universität Berlin im Jahre 1865. Ein Augenleiden raubte ihm die Sehkraft vollständig; trotzdem schrieb er seine bekannten Werke, insbesondere die vielgerühmte "Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik".
    13) FRIEDRICH ALBERT LANGE ist am 28. Sept 1828 zu Wald bei Solingen als Sohn des dortigen Pastors, späteren Professors in Zürich geboren. Er studierte in Zürich und Bonn Philologie und promovierte mit einer Abhandlung über Metrik. Später wandte er sich der Philosophie zu und habilitierte sich für diese Wissenschaft 1855 in Bonn. Außerdem beschäftigte er sich lebhaft mit Pädagogik. Später ging er wieder zum praktischen Schulfach über, mußte aber in der preußischen Konfliktszeit seine Stellung aufgeben und lebte nachher als Redakteur und Buchhändler zu Duisburg und Winterthur, stets mit Nationalökonomie und Philosophie beschäftigt. Während dieser Zeit erschien sein Hauptwerk, die "Geschichte des Materialismus". Später wurde er Professor für Philosophie in Zürich und zuletzt in Marburg, woselbst er, viel zu früh für die Wissenschaft und das Vaterland, am 21. Nov. 1875 nach langen Leiden starb. Professor COHEN in Marburg, der Freund LANGEs, hat in den "Philosophischen Monatsheften", Bd. 1, 1876, Seite 46f (vgl. die Vorrede zur 3. Auflage der "Geschichte des Materialismus"), sowie in den "Preußischen Jahrbüchern", Bd. 37, 4. Heft, April 1876, Seite 353f eine zusammenhängede Darstellung des Lebens und Wirkens LANGEs gegeben. Einen von einem Bild LANGEs begleiteten Nekrolog aus meiner Feder enthält die "Jllustrierte Zeitung", Nr. 1711 (vom 15. April 1876, Seite 289). LANGE war ungemein tätig, sowohl theoretisch als insbesondere praktisch und entwickelte als Lehrer, Redner, Agitator, Beamter, Schriftsteller, Gelehrter einen großartigen, überall vom besten Erfolg begleiteten Eifer. Trotz seiner rastlosunruhigen Lebensweise gelang es ihm doch, in der "Geschichte des Materialismus" ein Werk zu schaffen, das dauernden Wert behält und eine Zierde der deutschen Philosopie ist.
    14) Den hohen Anforderungen, die LANGE an den Philosophen stellte (siehe Geschichte des Materialismus II, Seite 142f), hat niemand besser ausgesprochen, als LANGE selbst. Er verlangt vor allen Dingen eine  streng logische Durchbildung  in ernster und angegestrengter Beschäftigung mit den Regeln der  formalen Logik  und mit den Grundlagen aller modernen Wissenschaften, der  Wahrscheinlichkeitslehre  und der  Theorie der Induktion  [...] Die zweite Forderung ist ein  ernstes Studium der positiven Wissenschaften,  wenn auch nicht, um sie alle im Einzelnen zu beherrschen, was unmöglich ist und überdies unnütz wäre, wohl aber um aus der historischen Entwicklung heraus ihren gegenwärtigen Gang und Zustand zu begreifen, ihren Zusammenhang in der Tiefe zu erfassen und ihre Methoden aus dem Prinzip aller Methodologie heraus zu verstehen. Erst in dritter oder vierter Linie käme für eine richtige philosophische Schulung das eingehende Studium der  Geschichte der Philosophie. 
    15) Wohl tritt auch LANGE mit jener Sicherheit auf, die die Mitgift jedes Selbstdenkers ist, aber nicht mit der Prätension,  wesentlich  Neues der Welt geben zu können und mit originellen, aber unhaltbaren Einfällen den unermeßlichen Augiasstall der Philosophie von Neuem anzufüllen, den er vielmehr als HERAKLES zu reinigen gesucht hat, sondern mit der Überzeugung,  daß auf Kant zurückgegangen werden müsse.  Anstelle der spekulativen Metaphysik will LANGE eine  kritische Aufklärung über die Prinzipien  setzen.
    16) Diese Richtung der  Jungkantianer  hat unseres Erachtens die  Zukunft  für sich, weil sie sich am meisten auf die realen Erkenntnisse und idealen Bedürfnisse der  Gegenwart  stütz und auf ein erprobtes System der  Vergangenheit  zurückgeht, dessen wunderbare Mannigfaltigkeit und zentrale Bedeutung erst heutzutage ganz ans Licht tritt.
    17) So nennt ERDMANN, Grundriß II, Seite 714, LANGEs Anschauung. Man bezeichnet diese Richtung bekanntlich auch als  kritischen Idealismus,  (vgl. "Verhandlungen der philosophischen Gesellschaft zu Berlin"; Erstes Heft: Dr. FREDERICHS, "Die Prinzipien des kritischen Idealismus", Leipzig 1875.) Die Charakteristik der drei Systeme im Text ist natürlich nur ganz allgemein und vorläufig; genauere Determinationen folgen in den späteren Teilen. - Ich füge hier die Bemerkung hinzu, daß die im Folgenden gegen HARTMANN und DÜHRING geltend gemachten kritischen Einwände fast durchaus  zugleich  die ganze  spiritualistische und materialistische Richtung  treffen. Bei DÜHRING ist das klar, da der Materialismus oder Realismus ja in seinen einzelnen individuellen Gestaltungen sich nicht sehr unterscheidet. Beim Spiritualismus liegt das nicht so offen auf der Hand, da ja die einzelnen spiritualistischen Richtungen sehr weit auseinanderzugehen scheinen; und sie gehen faktisch in den  Konsequenzen  und in der Ausgestaltung des  Einzelnen  sehr weit auseinander, sind aber umsomehr einverstanden im  Prinzip  und in der  Methode und gegen  diese beiden  richtet sich auch fast durchgängig unsere Kritik. Nicht bloß hat der Materialismus und Optimismus in DÜHRING einen typischen Vertreter gefunden, sondern aus der Spiritualismus HARTMANNs ist ein zugespitzte Gestaltung dieser ganzen Richtung, die nur da, wie sie  inkonsequent  ist, nicht so weit geht wie HARTMANN.  Es ist dies eben das Bemerkenswerte, daß Hartmann und Dühring als letzte Ausläufer jener beiden Richtungen zu fassen sind.  Dagegen werden zwar nicht die Materialisten wohl aber die verschiedenen Sekten der Spiritualisten Protest erheben und "diesen Wechsel nicht einlösen" wollen; allein HARTMANN ist mit  einem  Wort das  Enfant terrible des Spiritualismus,  der mit einer anerkennenswerten Konsequenz diese Richtung auf ihre  Spitze  getrieben und in ihrer ganzen Unrichtigkeit enthüllt hat. Und weil Spiritualismus und Materialismus hier auf die  Spitze  getrieben sind, darum sind sie auch an ihrem  Ende  angelangt und bereiten den Boden vor für den Kritizismus; freilich hat dieser auf so allgemeine und bereitwillige "Anerkennung des Publikums" keins Aussicht, weil er eben die  rohe Neugier  nicht befriedigt. - Es ist wohl kaum nötig zu bemerken, daß das Wort "Idealismus" zwei ganz verschiedene Bedeutungen im Laufe der Zeit für die Philosophie gewonnen hat. Bald bezeichnet man damit den  Spiritualismus,  bald den  Kritizismus.  Demgemäß haben auch wir das Wort, da wo kein Mißverständnis möglich war, bald in dieser, bald in jener Bedeutung gebraucht.